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Kapitel 1



Der Wald erstreckte sich über eine weite Strecke. Er war dunkel und nur durch ein paar Löcher die zwischen all den dichten Ästen zu erkennen waren strömte gleißendes Mondlicht auf den weichen mit Tannennadeln übersäten feuchten Waldboden. Allerlei Geräusche hallten durch den dichten Wald, dabei waren das Kreischen aufgescheuchter Eulen, das Knacken dürrer Äste, das Getrappel der Rehe die einen Unterschlupf suchten und das Geheul des Windes der sich mit den Baumkronen der Nadelbäume vergnügte. Es war nicht viel zu erkennen, doch das was zu erkennen war sah aus wie eine Frau. Sie lag mit geschlossenen Augen am Rücken. Die Frau war mit einer kurzen dunklen Short und einem langen schlabberigem T-Shirt bekleidet. Plötzlich öffnete die Schwarzhaarige schnell ihre Augen und setzte sich mit einem Mal hin. Sie blickte um sich und stand dann vollends auf. An ihren nackten Füßen war nasser weicher Boden zu spüren. Nadeln klebten ihr in den gewellten Haaren auf der braunen Haut und an T-Shirt und Short. Der Kopf am Rumpf drehte sich einmal nach rechts und nach links.
Er schüttelte sich.
Die Beine bewegten sich und so drehte sich der ganze Körper der Frau. Das Gesicht richtete sich gen Himmel. Die kiwigrünen Augen konnten nichts anderes erkennen als Dunkelheit und das Gewirr aus dichten Ästen und Nadeln.
„Wo bin ich?“, schrie die Frau in den Wald hinein.
Ein Echo kam ihr entgegen und es hallte in ihren Ohren wieder. Dann verschwand es wieder und war nur mehr Vergangenheit. Die Sonnengebräunte wartete kurze Zeit und entfernte sich dann etwas von ihrem derzeitigen Standort. Dieser Ort war ihr bekannt, hier war sie schon als kleines Kind gewesen, aber trotzdem kam er ihr auf einmal auch so fremd vor. Auf einmal fröstelte die Frau. Der kalte Wind hatte sie gestreift und nun spielte er sich auch noch mit ihren Haaren. Diese wirbelten ihr um den Kopf und versperrten ihr die Sicht.
„Lillian!“, schrie eine tiefe warme Stimme ihren Namen.
Die Frau blickte sich um und suchte nach der Stimme. Verzweifelt marschierte sie durch den Wald. Die Verirrte stolperte über Wurzeln die sich den Weg über die Erde erkämpft hatten, über Steine und über ihre eigenen Füße. Ihre Kleidung verfing sich an den Ästen, mit voller Kraft zerrte Lillian bis diese riss und sie frei war. Einer ihrer Ärmel war weg. Ein großes Loch prangte am Rückenteil und ein Stück ihrer Short fehlte. Lillian lief weiter in den dunklen Wald hinein. So lange bis ihre Beine nicht mehr mitmachten. Die Frau stürzte und landete mit dem Gesicht voran in ein kleines Häufchen Nadeln. Etwas war zu hören. Dumpfe schwere Schritte die näher an ihren Körper heranzukommen schienen. Ängstlich hob Lilly ihren Kopf und schaute sich um. Die Augen kullerten in den Augenhöhlen hin und her, fanden jedoch kein Ziel. Das rasend schnell pochende Herz schlug der Schwarzhaarigen bis zum Hals. Sie atmete unregelmäßig und Angstschweiß bildete sich auf der im Mondschein blassen Stirn.
Die 19-jährige schluckte schwer.
Plötzlich berührte etwas ihre Schulter. Lillian schnellte herum und sah ins leere. Niemand war zu erkennen. Aber sie hatte es doch gespürt! Hatte ihr der Körper einen Streich gespielt?
„Komm! Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde dich beschützen.“, sprach die Stimme von vorhin erneut und wieder konnten Lillians Augen kein Lebewesen ausmachen.
Die Schwarzhaarige wollte aufstehen doch ihre Beine spielten nicht mit.
„Wer bist du und wo bist du? Wie willst du mich beschützen wenn du dich mir nicht einmal zeigen kannst?“, schrie die Ängstliche in die Dunkelheit hinein.
Niemand antwortete ihr und die warme tiefe Stimme blieb aus. Aus den Augenwinkeln konnte Lillian erkennen, dass sich etwas bewegte. Zunächst sah es noch wie ein weißer Fleck aus.
Dann drehte die Frau ihren Kopf und erkannte eine prachtvolle Raubkatze. Diese war weißschwarz gestreift. Die großen Pfoten des gefährlichen Tieres traten elegant auf den weichen Boden auf und hinterließen tiefe Fußspuren. Lillian konnte es nicht fassen, ein Albinotiger im Wald, noch dazu in dieser Gegend. Der musste bestimmt wo ausgekommen sein. Der Tiger kam auf die am Boden Kauernde zu. Er wedelte mit seinem Schwanz hin und her. Das Tier schien nicht hungrig oder gar aggressiv zu sein. Aber auch der Schein konnte trügen. Nur dieses Mal nicht. Die Raubkatze tapste immer dichter und dichter auf sie zu. Lilly hielt ihren Atem an und traute sich nicht zu bewegen. Der warme Atem des Tieres blies der jungen Frau entgegen, so nahe war er bereits bei ihr angekommen. So nahe bei sich erkannte Lillian nun die rosarote Nase, die Barthaare und diese wundervollen orangebraunen Augen.
Plötzlich hob sich die linke Pranke des Tigers und legte sich auf die Schulter der 19-jährigen. So als wollte das Tier sie beruhigen oder trösten. Der Albino strich nun auch seinen Kopf an ihren Haaren entlang.
„Wo bleibt jetzt mein Beschützer?“, fragte sich die Schwarzhaarige und fand mit der Zeit gefallen an dem Kuscheln mit dem gefährlichen Raubtier.
Nachdem sie das gedacht hatte ließ das Tier wieder von ihr ab und blickte ihr direkt ins Gesicht.
„Ich bin doch hier, siehst du mich denn nicht?“, fragte eine Stimme die direkt in ihrem Kopf wiederhallte.
Verwirrt legte die Frau ihren Kopf schief und betrachtete das vor ihr stehende Wesen. Vielleicht war der Tiger ihr Beschützer, doch diesen Gedanken verwarf sie sofort. Aber sonst war keiner hier und nun wusste sie auch woher diese warme tiefe Stimme her gekommen war. Diese wurde direkt in ihr Gedächtnis geleitet.
„Du bist es! Ich weiß es. Weshalb bist du hier?“, sprach Lillian mit dem Tier und kam sich auch schon wieder vollkommen bescheuert vor.
Doch der Albino ging einen Schritt weit von ihr weg und schloss kurz seine Augen. Die Schwarzhaarige kannte diese Geste schon von ihrer Katze zu Hause und vermutlich würde das nicht wirklich etwas anderes bedeuten. Das Tier meinte es ernst und entfernte sich wieder etwas von ihr. Die 19-jährige versuchte aufzustehen, doch ihre Beine verweigerten immer noch deren Job. Sie versuchte es erneut, dieses Mal schaffte Lilly es sich mit Hilfe des eines Baumstamms aufzurappeln. Aber sobald sie losließ schwankten ihre Beine auch schon wieder und ihr Körper drohte erneut in sich zusammenzufallen. Doch bevor dies passieren konnte hechtete die Raubkatze auf die Verirrte zu. Lillian landete mit voller Wucht auf seinem weichen Rücken. Die Katze gab keinen Laut von sich, sondern nahm es einfach hin.
„Ich werde dich wohl tragen müssen. Leg deine Beine noch herauf. Gott sein Dank bist du nicht schwer.“, hallte die Stimme wieder durch ihren Kopf, sie hörte sich etwas angestrengt an.
Nun war sich die Frau ganz sicher, dass es die Stimme des weißen Albinotigers war. Schwungvoll legte die Sonnengebräunte ihre Beine zu sich herauf. Schon spurtete der Tiger davon. Lillian krallte sich im Fell fest und fragte sich wo er sie hinbringen würde.
Das Tier kannte sich so sah es aus äußerst gut aus, denn es stoppte kein einziges Mal und lief durch den Wald als gäbe es kein Ziel. Die schweren Pfoten berührten nur wenige Sekunden den Waldboden und so flog die Erde in die Luft. Nach längerer Zeit blieb der Tiger so abrupt stehen, dass es Lillian beinahe vorne übergeworfen hätte. Die beiden standen an einer Lichtung, versteckt hinter einer kleineren Tanne die noch all ihre Nadeln daran hatte.
„Was...“, sprach die Frau, verstummte jedoch als sie den ermahnenden Blick der Raubkatze erblickte.
Der Tiger schloss erneut kurz seine Augen und richtete diese dann auf die helle Lichtung. Lilly tat es ihm gleich.
Beide warteten mucksmäuschenstill, wobei die Katze wusste worauf und die Frau nicht.
Aber dann bewegten sich Äste einer Tanne der gegenüberliegenden Seite. Ein Mann mit dunkelbraunen kurzen Haaren und einem vor Angst verzehrtem Gesicht rannte auf die Lichtung und blickte sich immer wieder nach hinten um, so als ob ihn etwas verfolgen würde. Als der Verfolgte dann im Licht des Mondscheins stand und um sich selbst drehte um sich zu vergewissern, dass er seinen Verfolger abgeschüttelt hatte erkannte Lillian ihn.
„James?“, fragte sie sich.
Die junge Frau wollte sofort zu ihm laufen, doch der weißeschwarz gestreifte Albinotiger warf ihr erneut einen ermahnenden Blick zu. Also ließ die 19-jährige es sein und starrte weiter auf ihren Exfreund.
Plötzlich bewegte sich die Tanne von wo James her gekommen war. Verschreckt drehte sich der junge Mann in diese Richtung und schluckte. Es war an seinem Adamsapfel zu erkennen der sich auf und ab bewegte. Schritt für Schritt entfernte sich Lillys Exfreund vom Rand der Lichtung auf die Mitte zu. Etwas knackte, er war auf einen spröden Ast der am Boden lag getreten. Der Braunhaarige zuckte augenblicklich zusammen und war für kurze Zeit abgelenkt. Dies nutzte sein Verfolger sofort.
Lillian sah wie etwas zwischen den Nadelbäumen hervor und sich auf ihren früheren Freund stürzte. Doch das Etwas war zu schnell um es erkennen zu können. Der in der Mitte Stehende schrie auf und warf seine Arme vor sein Gesicht um es zu Schützen, doch das Wesen war brutal und gnadenlos. Es zerfetzte seine Arme und machte sich dann am Gesicht zu schaffen. James schrie vor Schmerz und brach in sich zusammen. Das Wesen ließ kurze Zeit von ihm ab und umkreiste ihn.
Nun war zu erkennen was es war, nämlich ein Tiger. Er war orangeschwarz gestreift und das Fell war mit Blut des am Boden Liegenden durchtränkt und zwischen seinen Reißzähnen befand sich ein Fleischbrocken, der aus James Arm zu kommen schien. Genüsslich kaute das mörderische Tier das Stückchen Fleisch mit seinen blutverschmierten scharfen spitzen Zähnen und ließ es in seinen Magen wandern. Jetzt stoppte der Tiger das Kreisziehen und sprang erneut auf den am Boden liegenden Menschen zu. Dieser währte sich gar nicht mehr, er lag bewegungslos am hell erleuchteten Waldboden.
Die blaugrauen Augen des Mannes starrten leer in den Nachthimmel empor. Aus den tiefen Fleischwunden, die ihm die unzähmbare Bestie zugefügt hatte floss unaufhaltsam an seinem Gesicht und Armen hinunter auf den Boden und durchsickerte die weiche Erde. Die Blutlache in dem der verunstaltete Körper lag schimmerte im Licht des Mondes und spiegelte die Umrisse der Bäume wider.
Und dann, ein paar Augenblicke später konnten Lillian und der Albino ein lautes Knacken von Knochen vernehmen.
Die tierische Bestie hatte James mit einem Ruck den Kopf von seinem Rumpf getrennt. Das Tier packte diesen mit seinen Reißzähnen und schleuderte ihn mit voller Wucht zwischen den Tannen hindurch, dort wo Lillian sich mit ihrem Beschützer versteckt hielt. Der zerkratzte vor Blut triefende Kopf kullerte der Frau mit dem Gesicht nach oben vor ihre Füße. Sie wollte schreien, kreischen und sich von diesem Anblick abwänden. Aber der Schock, der ihren gesamten Körper gelähmt hatte gewährte Lillian dies nicht. So musste die 19-jährige weiter in die weit aufgerissenen und leeren Augen sehen. In das Gesicht, das beinahe bis zur Unkenntlichkeit aufgeschlitzt und verunstaltet war.
Lillys Augen füllten sich mit salzigen wässrigen Tränen. Sie kullerten ihr an ihren Wangen hinab und auf die Nasenspitze nur um dann als großer schwerer Tropfen auf das blutverschmierte Antlitz vor den Füßen der jungen Frau zu fallen und in dem geöffneten Mund wieder zu verschwanden.
„Rette mich!“, flüsterte die Stimme ihres Exfreunds James Otter ihr zu.

„James!“, schrie Lillian Nickel, öffnete ihre Augen und setzte sich ruckartig in ihrem Bett auf.
Die Erwachsene atmete unregelmäßig und schnell. Aber dann erkannte sie, dass sich nicht der Wald und der Kopf mit den dunkelbraunen Haaren vor ihr befanden. Die junge Frau atmete wieder etwas langsamer und auch der Herzschlag der sich plötzlich fast überschlagen hätte normalisierte sich. Mit ihren zittrigen Fingern fuhr sich Lilly durch ihre vor Schweiß nassen Haare. Sie gab sie Decke von ihrem Körper und erhob sich aus ihrem Bett. Die Schwarzhaarige drehte sich noch einmal um und schreckte zurück. Im ersten Moment dachte sie es würde von Blut durchtränkt sein, doch es war nur ihr Schweiß der das Tuch dunkler erscheinen ließ. Nicht so wie in dem Traum der Boden. Genau es war nur ein fürchterlicher Traum gewesen.


Kapitel 2



„Du kannst dir nicht vorstellen was ich heute geträumt habe!“, schrie Lillian beinahe in ihr altmodisches Handy.
Sie hatte das Nokiahandy zwischen ihrem Ohr und der Schulter eingeklemmt und zog sich daneben auch noch ihre Schuhe an.
Plötzlich verspürte sie einen leichten Schmerz in einem ihrer Finger.
„Mist!“, fluchte sie und streckte ihre Finger aus.
Die 19-jährige starrte auf ihren Ringfinger und blies sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Was ist denn passiert?“, kam es erschrocken von der anderen Leitung.
„Ich hab mir einen Fingernagel abgebrochen. Überhaupt was machst du eigentlich?“, beschwerte sich Lilly bei ihrer Freundin Alice.
An der anderen Leitung war nichts zu hören bis auf das Tippen von Computertasten.
„Tut mir leid was hast du gesagt? Ich bin ziemlich abgelenkt, ich muss nämlich noch diese Aufgabe für Deutsch schreiben und du kennst doch die alte Klars. Die tickt doch schon völlig aus wenn man auch nur einen Fehler im Diktat hat.“, beichtete Alice Lillian und machte sich wieder an die Arbeit.
„Verdammt!“, fluchte Lilly und raufte sich die frischgewaschenen Haare.
Die Freundin auf der anderen Leitung seufzte, stoppte kurz das Getippe und blätterte etwas um.
„Du hast es schon wieder nicht. Bei dir ist es doch wirklich schon egal. Ob eine Aufgabe mehr oder weniger kommt es bei dir nicht mehr an.“, meinte Alice und die Verbindung wurde plötzlich abgebrochen.
Das alte Nokia gab ein paar Pieptöne von sich und dann war es vollkommen still. Lilly starrte auf ihr Display und blickte auf ihren Empfang. An ihrem lag es wohl nicht. Vermutlich steckte ihre Freundin gerade in einem Funkloch, was nicht selten in dem Kaff war in dem sie wohnte. Lillian zuckte mit ihren Schultern und steckte ihr Mobiltelefon in die hintere Hosentasche. Dann machte sie sich wieder bei ihren Schuhen ans Werk und schaffte es endlich den Reißverschluss zu zubekommen. Danach sprintete sie in die Küche, die ein Raum von der kleinen zwei Zimmer Wohnung war und holte sich etwas zu trinken und ein Sandwich aus dem Einbaukühlschrank. Lillian öffnete die Limo und es fuhr aus.
„Muss denn heute wirklich alles schief gehen?“, fragte sich die Erwachsene und holte einen Lappen aus der Spüle.
Sie hockte sich hin und wischte die klebrige Flüssigkeit vom Boden weg. Sie erhob sich wieder und drückte ihn unter laufenden warmen Wasser aus.
Zufrieden blickte Lilly auf den Boden und schnappte sich das Sandwich und die Limo vom Küchentisch.
„Da soll Paps noch einmal sagen, dass ich schlampig bin.“, dachte sich die Erwachsene, nahm ihren Schlüsselbund von der Eichenholzkommode und verließ ihre Wohnung mitsamt ihrer Umhängetasche die sie als Schultasche benutzte.
Lilly sperrte hinter sich die Tür zu und rannte die Treppe hinunter zum Eingang. Unten angekommen drehte sich die Schwarzhaarige noch einmal um meinte: „Ein Fahrstuhl wäre auch nicht schlecht in diesem Gebäude.“
Dann drehte sie sich wieder um und rannte direkt in den 43 Jahre alten unfreundlichen Hausmeister. Für sein Alter sah der Mann einfach grässlich aus. Er hatte eine halbe Glatze und die übrigen Haare die ihm noch blieben waren mausgrau. Der 43-jährige war auf einem Auge Blind wie ein Maulwurf, deswegen auch diese hässliche Hornbrille. Jedoch hatte der Alte ein beinahe zu gutes Gehör. Außerdem war er viel zu groß und das konnte einem richtig Angst machen, denn neben ihm kam man sich so klein und hilflos vor.
„Na der hat mir ja gerade noch gefehlt.“, dachte sich die Frau und ging an ihm vorbei.
Doch sehr viel weiter als bis zur Eingangstür kam sie nicht.
„Stehen geblieben! Normalerweise entschuldigt man sich oder? Also ich warte.“, raunte der Hausmeister.
„’tschuldigung!“, meinte Lillian unbeeindruckt und rannte nach draußen zu ihrem roten Nissan.
Die Frau sperrte ihn auf, stieg ein und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Sie drehte ihn herum und schon heulte der Motor gequält auf. Lilly stieg auf das Gaspedal und fuhr einige Meter rückwärts bevor er ihr auch schon wieder abstarb.
Der alte Hausmeister der von außen aus zuschaute schüttelte nur den Kopf und sah wie die Schwarzhaarige wutentbrannt gegen den Himmel im Auto schlug.
Danach ließ Lillian vom Himmel ab und versuchte es erneut ihre alte Karosserie zu starten. Dieses Mal gab der Nissan nur ein gurgelndes Geräusch von sich und sprang erst gar nicht an.
„Nein! Lass mich nicht im Stich, ich bin doch sowieso schon zu spät dran.“, flehte sie und versuchte es noch ein einziges Mal.
Wieder nichts. Lilly gab es auf, nahm den Schlüssel aus dem Schloss, öffnete die Autotür und stieg aus.
Mit voller Wucht schlug die Frau die Tür zu und lehnte sich kurz verzweifelt gegen ihren Wagen.
„Der Bus!“, kam es ihr plötzlich in den Sinn und schon rannte sie auch schon mit ihren hochhackigen Stiefeletten die Einfahrt entlang auf die befahrene Straße.
Lillian blickte zur Bushaltestelle und dort stand er, der orange Linienbus. Die Leute stiegen gerade ein und bald würde sie keine Zeit mehr haben hinzukommen. Ohne zu schauen ob ein Auto kommt spurtete sie über die Straße. Die Schwarzhaarige vernahm ein langes Lautes Hupen und sie drehte sich in die Richtung aus der das Geräusch kam. Wie ein verschrecktes Reh starrte Lillian dem Kombi entgegen und rührte sich nicht von der Stelle. Sie blickte auf die Windschutzscheibe und auf den Fahrer. Es war ein Mann, der erschrocken mit weit aufgerissenen Augen auf sie zufuhr. Dann spürte sie wie ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Die Erwachsene flog durch die Luft und landete auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Graben. Dank des Schocks spürte sie rein gar nichts. Lilly hatte keinerlei Schmerzen. Nur das warme Blut das ihr über die Arme floss und einen leichten Druck in ihrem Schulterblatt konnte sie wahrnehmen. Plötzlich hörte die 19-jährige Schritte hören, die auf sie zukamen und dann war sie auch schon in einen Strudel aus schwarzer Finsternis gesunken.
„Du bist gescheitert! Er wird sterben und nur du allein bist Schuld daran. Nur weil du ihn nicht gewarnt hast! Du Egoistin!“, flüsterte eine tiefe kalte Stimme.
„Nein, sie kann es noch schaffen! Ich weiß es, gebt ihr noch eine Chance.“, flehte die tiefe und warme Stimme des Albinotigers, der ihr zuvor in ihren Träumen von James Mord berichtet hatte.
„Nur damit du sie wieder davon abhältst?“
„Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Vergiss es!“
„Lillian!“
Die Erwachsene wachte langsam wieder auf, sie bewegte ihre Finger und dann wollte sie ihre Augen öffnen. Doch diese spielten nicht mit, die Augenlider fühlte sich schwer an so als wögen sie ein Zentner.
„Miss Nickel?“
Da war schon wieder diese warme Stimme, aber träumte sie dieses Mal schon wieder oder hörte sie diese Stimme wirklich und wahrhaftig?
Lillian öffnete langsam ihre Augen und blickte in die orangebraunen Augen, die sie auch schon einmal gesehen hatte. Jedoch konnte sich die Erwachsene nicht mehr erinnern wo.
„Es tut mir Leid! Ich bin derjenige, der Sie angefahren hat.“
Plötzlich wurde sich Lilly ihrer Situation wieder im Klaren. Sie war angefahren worden als sie den Bus erwischen wollte. Ach wie dumm von ihr nicht nach links oder rechts zu sehen. Die Schwarzhaarige legte sich die Hand auf ihre Stirn und fühlte einen Verband.
„Was ist mit mir passiert?“, fragte Lillian und raffte sich auf.
Langsam ließ sich die Erwachsene in die weißen Polster sinken und atmete geräuschvoll aus.
„Sie haben eine Platzwunde am Kopf, eine gebrochenes Bein und eine tiefe Schnittwunde an Ihrer Schulter. Die Ärzte wollen Sie jedoch noch etwas länger hier lassen, wegen der Vermutung, dass Sie auch noch andere innere Verletzungen haben.“
Lillian lächelte den Mann vor sich an und betrachtete ihn etwas genauer.
Er hatte schlohweißes Haar, eine kleine Stupsnase, volle rote Lippen und rotbraune Augen die dem des Tigers genau glichen. Seine Haut war blass und er hatte große männliche Hände.
„Was sehen Sie mich den so an? Ist es etwa wegen meiner Haare? Wenn es das ist, ich bin ein Albinomensch?“
Die Verletzt schüttelte den Kopf.
„Nein es ist nicht wegen Ihrer Haare, es ist die Stimme, die Augen, ja auch die Haare und das Sie ein Albino sind! Ein Lebewesen aus meinem Traum war genau gleich, nur dass es eben kein Mensch war.
Ich habe eine verrückte Frage an Sie und vermutlich rührt das von meiner Kopfverletzung her aber sind oder waren Sie jemals ein Tier? Ein Albinotiger?“
Dem Schuldigen an Lillians Verletzungen entgleisten die Gesichtszüge.
„Tut mir Leid, das war eine dumme Frage, ich...“
„Ja ich bin einer! Aber sag es nicht weiter, denn falls es jemand außer dir und mir erfährt, na ja eigentlich dürftest du nicht einmal wissen, dass ich, ich bin. Hach das ist alles so kompliziert!“, meinte der Mann theatralisch wirkend.
„Wirklich witzig! Sie machen über mich lustig nicht wahr?“
„Nein gar nicht!“
„Ach vergessen Sie es!“
Der Albino stand auf und ging in Richtung Tür.
„Nein, bitte gehen Sie nicht weg! Ich will nicht alleine sein.“
Doch der Mann drehte sich nicht einmal um oder blieb stehen, er ging einfach weiter und verließ das Krankenzimmer.

3.Kapitel



Lilly war jedoch nicht lange allein. Denn nach kurzer Zeit kam auch schon ihr Exfreund James bei der Tür herein. Außer Atem und seine Hände auf seine angewinkelten Knie gestützt stand der Dunkelhaarige vor ihrem Bett. Lillian starrte ihn nur mit vor Schreck geweiteten Augen an. James hielt seinen Kopf gesenkt. Er war noch nie ein sonderlich guter Sportler gewesen, aber so außer Atem hatte Lilly ihren Ex noch nie gesehen. Er hob eine Hand und streckte seinen Zeigefinger nach oben. Das war das Zeichen dafür, dass sie warten sollte. James hob seinen Kopf wieder und schaute ihr ins Gesicht. Er sah ihr in die immer noch vor Schreck weit geöffneten Augen. Lilly blinzelte schnell und sah James normal an. „Was machst du hier?“
Ein unguter Unterton schwang in ihrer Stimme mit.
„Was soll das denn schon wieder?“
Lillian verdrehte ihre Augen und blickte auf die Seite.
Sie seufzte.
„Sag mir einfach was du hier machst und geh dann wieder!“
James nahm seine Hände von seinen Knien und stellte sich senkrecht hin. Er ließ seine Arme nach unten baumeln und blickte seine ehemalige Freundin an.
„Da macht man sich Sorgen und rennt wie der Irre von Zuhause hier her. Und was passiert? Man wird einfach links liegen gelassen und angemotzt.“
James warf seine Arme in die Luft und stemmte sie dann in seine Hüften.
„Jame...“
Aber weiter gewährte der Dunkelhaarige seine Ex nicht zu sprechen.
„Lass es! Ich weiß, dass du immer noch sauer auf mich bist. Aber ich habe nicht sie geküsst, es war genau umgekehrt.“
Lilly öffnete ihren Mund um etwas zu erwidern, dann sprach James jedoch wieder weiter.
„Ich bitte dich, nein, ich erwarte von dir, falls du noch irgendetwas für mich empfindest, dann glaube mir und weise mich nicht ab.“, sagte der junge Mann und sah mit zusammengekniffenen Augen zu Lilly, die nun beschämt auf ihre Bettdecke starrte.
„Ich jedenfalls, habe noch Gefühle für dich, sehr große sogar und ich liebe dich Lilly. Ich will, dass du das weißt. Es ist mir sehr wichtig, dass du weißt was ich für dich empfinde.“
James schwieg und drehte sich etwas um, um zu gehen. In der Drehung blieb er plötzlich hängen. Er bewegte seinen Kopf noch einmal nach hinten. „Ach ja, ich wollte dir sagen, dass ich und mein Dad in den Wald gehen.“, meinte James und Lilly wurde hellhörig.
Sie riss ihren Blick von der Decke und starrte James auf den Hinterkopf, denn er hatte sich wieder nach vorne gedreht. Lilly erinnerte sich an ihren Traum, an das viele Blut und den Kopf der ihr vor die Füße gerollt war. Sie schluckte nun und suchte nach einer vernünftigen und plausiblen Erklärung weshalb er in den Wald gehen würde. Aber sie war so aus dem Wind, dass ihr nichts dazu einfiel. Deshalb fragte sie: „In den Wald?“
James nickte und drehte sich wieder völlig um.
„Ja, ein paar Leute dachten, sie hätten einen schwarzen Panther gesehen. Verrückt! Nicht wahr?“
Lillian verflocht ihre Finger ineinander und schaute auf diese hinab. Sie schüttelte ihren Kopf und schloss ihre Augen.
„Mach das bloß nicht!“
„Was soll ich nicht machen?“, fragte James etwas verwirrt und kam etwas näher auf das Bett zu.
„In den Wald gehen! Dir wird etwas Schreckliches passieren und ich will dich nicht verlieren!“
Den letzten Abschnitt hatte sie im Flüsterton ausgesprochen und überhaupt gar nicht sagen wollen. James lächelte und setzte sich nun auf die Bettkante.
„Mir wird schon nichts zustoßen. Ich verspreche es.“
Er legte seine Hand auf Lillys Wange und streichelte sie sanft mit seinem Daumen. Die 19-jährige zuckte bei dieser Berührung zusammen, jedoch genoss sie es.
„Aber...“
Weiter kam sie nicht, da hatte James schon seine Finger auf ihre Lippen gelegt und sie zum Verstummen gebracht.
„Sch...“, machte er und kam Lillians Gesicht mit seinem immer näher. Lilly schaute nur zwischen seinen Augen und seinem Mund hin und her. Liebevoll schauten seine grauen Augen in ihre grünen. James versiegelte ihre weichen rosaroten Lippen mit seinem Mund. Ganz sachte legte er seine Lippen auf ihre und küsste sie. Lilly schloss ihre Augen und spürte nur die Wärme, die James Lippen in sich hatten. Lillian war mit ihren Gedanken weit weg von dem Traum und dem schwarzen Panther. Die beiden ließen erst nach längerer Zeit voneinander ab. Lillian hielt ihre Augen noch kurze Zeit geschlossen. Obwohl James Lippen schon längst von ihren getrennt waren, spürte sie diese noch immer. Lilly öffnete ihre Augen wieder und sah auf den grinsenden Mann ihr gegenüber.
„Schön, dass du es genießt. Da weiß ich wenigstens, dass du noch etwas für mich empfindest.“
Lillian schluckte.
„Nicht nur das James. Ich liebe dich und habe es seit dem Zeitpunkt an getan, als du mich das erste Mal geküsst hast. Ich war einfach so sauer und es hat mich sehr tief verletzt. Doch ich wusste nicht, dass...“
„Ist schon in Ordnung. Dann heißt das jetzt, dass es noch eine Chance für uns gibt?“, fragte James und stand auf.
Lilly nickte und blickte ihm ins Gesicht.
„Dann komme ich um so eher unversehrt zurück!“
Der junge Mann freute sich irrsinnig und verließ sofort das Zimmer. Lillian hörte ihn draußen am Gang jubeln und sie sah durch das Fenster der Tür wie er Luftsprünge machte. Sie lachte in sich hinein und lehnte sich an den hinteren Eisenbettrahmen.
„Ihm wird schon nichts passieren! Außerdem war es doch nur ein Traum und die sind für gewöhnlich Schäume.“
Aber dann wurde Lilly plötzlich aus ihren Gedanken gerissen. Die Tür öffnete sich langsam und herein trat der Besucher von vorhin. In jeder Hand einen Plastikbecher aus dem heißer Dampf quoll. Lillian starrte den Albino an und sah zu wie er die Tür mit seinem Fuß zuschlug und diese einer Krankenschwester vor den Kopf stieß.
„So passen Sie doch auf! Haben Sie keine Augen im Kopf?“
Der weißhaarige Mann drehte sich langsam nach hinten um.
„Tut mir leid, aber ich besitze tatsächlich keine Augen im Hinterkopf!“, meinte er ironisch und drehte sich wieder um.
Der Besucher lächelte die im Bett Liegende freundlich an und kam auf sie zu. Er stellte die Becher am Beistelltisch ab. Die Schwester war in der Zwischenzeit ganz rot angelaufen. Nun plusterte sie sich auf und stemmte verärgert ihre Hände in die Hüften.
„Was stellen Sie sich eigentlich vor wer Sie sind, mich einfach so anzublaffen?“
Das Lächeln des Albinos verflog sofort und er drehte seinen Kopf in Richtung Tür in dessen Rahmen die mollige, brünette Krankenschwester stand. Der Mann lachte bösartig auf und die Schwester zuckte etwas zusammen, jedoch blieb sie standhaft und starrte ihm nur weiter entgegen.
„Wer ich bin?“, fragte der Besucher und zog seine Augenbrauen etwas zusammen.
Die Frau im Türrahmen nickte. Lillian sah den beiden gespannt zu und verfolgte den Albino mit ihrem Blick als er langsam, bedrohlich und zugleich elegant auf die Frau zuschritt.
„Mein Name ist Micke“, meinte der Albino und umrundete die Krankenschwester.
„und ich bin der Sohn desjenigen, dem dieses Gebäude hier gehört.“
Er sah an ihr hinunter.
„Also lassen Sie mich in Ruhe und gehen Sie anderen Machenschaften nach als mich zu nerven.“
Die Krankenschwester wurde auf einmal ganz bleich. All die Farbe wich ihr aus dem Gesicht.
„B-b-bitte entschuldigen Sie mein Verhalten. Ich h-hatte doch keine Ahnung mit wem...“, stotterte die Frau und traute sich nun nicht einmal mehr dem Mann in das Gesicht zu sehen. Der Mann unterbrach die Angestellte: „In Ordnung, nun verschwinden Sie schon!“
Die mollige Frau nickte hastig, deutete einen leichten Knicks an und verschwand hinter der Tür die auf den Flur führte.
Micke atmete erleichtert aus und drehte sich um, um wieder auf Lillians Bett zu zugehen. Diese schaute ihm nur mit erhobener Augenbraue ins Gesicht.
„Ich mag generell keine Krankenschwestern.“
Lilly schüttelte den Kopf und ließ die Augenbraue wieder sinken.
„Das meine ich doch gar nicht! Sind Sie wirklich der Sohn, des Inhabers dieses Gebäudes?“
Der Mann nickte. Mit gesenktem Kopf und den Händen in den Hosentaschen kam es auf sie zu. Am Bett angekommen hob er seinen Kopf wieder
„Ich bin aber nicht stolz darauf!“
„Oh!“, machte Lilly bloß.
Der Albino holte sich einen Stuhl der an dem Tisch an der Wand stand und rückte diesen an das Bett heran. Er setzte sich und nahm einen der Becher in die Hand.
„Warum sind Sie eigentlich wiedergekommen?“, fragte Lillian und lugte in den Plastikbecher.
Eine braune Flüssigkeit war zu erkennen.
„Warum wiedergekommen? Ich war doch nur draußen um mir einen Kaffee zu holen. Möchtest du auch einen?“
Da sagte die 19-jährige nicht nein und nahm den zweiten Becher Kaffe entgegen.
„Danke!“
Dann nahm sie auch schon den ersten Schluck des köstlichen Kaffees. Auch Micke gönnte sich einen kräftigen Schluck und stellte ihn dann auf den Beistelltisch. Er blickte zur Tür und dann wieder zu Lillian, die sich am warmen Becher ihre Finger wärmte.
„Was ist los?“
Verwirrt dreinblickend schaute der Mann Lilly entgegen.
„Warum was soll denn sein?“
„Sie starren doch die ganze Zeit auf die Tür! So als ob Sie Angst davor hätten, dass sie jeden Moment aufgehen könnte. Erwarten Sie jemanden?“, fragte Lillian.
Der Albino schüttelte seinen Kopf.
„Ich habe mich nur gefragt in welcher Verbindung dieser Mann mit dir steht. Ist er einer deiner Freunde?“
Lillian legte den Kopf schief und sah Micke von der Seite an.
„Was?“, fragte dieser.
„Das ist nicht weshalb Sie...“
„Duze mich doch!“, unterbrach Micke Lilly und lächelte ihr entgegen.
Die Erwachsene nickte.
„Das ist nicht weshalb du dort hinsiehst. Ich spüre, dass du lügst.“
Der Mann hob eine seiner Augenbrauen nach oben.
„Tatsächlich?“
Lilly nickte erneut und beantwortete seine Frage von vorhin.
„Das war James Otter! Und nein er ist nicht einer meiner Freunde. Ich weiß zwar nicht was dich das angehen sollte oder warum ich dir das sage aber er ist mein fester Freund und wir lieben uns. Willst du vielleicht noch etwas wissen, wo ich nun so im Erzählfieber bin?“, meinte Lillian ironisch und blies sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Warum hast du mich vorhin gefragt ob ich ein Tiger bin?“, fragte Micke und wartete gespannt auf Lillys Antwort. Aber die kam nicht. Stattdessen senkte sie ihren Kopf und ihre schwarzen Haare fielen ihr wie ein Vorhang ins Gesicht. Der Albino hörte wie sie versuchte langsam und regelmäßig zu atmen. Doch daraus wurde nichts. Immer wieder pustete sie ihren Atem geräuschvoll aus. Denn nun kamen ihr Zweifel, ob ihr Traum tatsächlich nur ein Traum war oder mehr.

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Tag der Veröffentlichung: 27.03.2010

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