Ronie Radegger beschloss, das Durchschalten der Fernsehprogramme sein zu lassen und schlafen zu gehen.
Das Abendessen, das seine Frau gekocht hatte, war hervorragend gewesen.
Sie war eine gute Köchin und Mutter.
Wie so oft hatten sie sich jedoch nach dem Essen wegen Kleinigkeiten in die Haare gekriegt. Aus Kleinigkeiten wurden Zankereien und danach entbrannte oft ein richtiger Streit. So auch heute Abend.
Das Streiten kostete ihm die letzte Energie.
Seine Frau hatte ihn mit ihrem Blick angesehen und war wutentbrannt schlafen gegangen.
Alles schien ermüdend zu sein.
Die Arbeit, die Zeit vor der Arbeit, die Zeit nach der Arbeit, die Frauen, die Kinder, ja selbst die Wochenenden erschienen ihn nicht mehr so zu beglücken, wie das früher der Fall war.
Damals war er noch mit einem Kumpel namens Harald Koblmüller öfters zum Fischen gefahren. Es war immer reichlich Bier und Ruhe dabei.
Doch die regelmäßigen Treffen hatten aufgehört.
Harald, den er schon längere Zeit nicht mehr gesehen hatte, hockte wohl auch nur noch stupide zuhause herum und wartete auf bessere Zeiten.
Ronnie ging pinkeln, putzte sich die Zähne und sah in den Spiegel. Müde, faltige Augen sahen ihm entgegen.
Es fehlte ihnen an Zuversicht und Feuer.
Er versuchte es mit einem Lächeln.
Es misslang ihm.
Er musste lachen. Dieses Mal ging es gut.
Er drehte das Licht im Bad ab und machte die Türe hinter sich zu.
Seine Frau schnarchte, als er sich neben sie ins Bett lag und seine Bettdecke über den Körper zog. Er schlief sofort ein.
Als er die Augen öffnete, stand er auf der Straße.
Neben ihm stand sein Briefträger.
Er hatte die Sonntagszeitung unter dem Arm und plauderte ungefragt los:
„Der Strom ist ausgegangen. Können Sie das sehen?
Die Leute überall? Schauen Sie doch. Überall kommen sie raus gekrochen und wissen nicht mehr, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen.“
Ronnie sah zu seinen Beinen hinunter.
Er war barfuss und trug nur Boxershorts. Doch das schien keinen zu stören.
Der Briefträger hatte Recht.
Es waren viel mehr Leute unterwegs als an einen gewöhnlichen Sonntag im Oktober.
Der Briefträger war noch nicht fertig.
„Sie sind alle verstört. Vollkommen aus dem Häuschen. Wissen Sie auch, warum? Sie sind verwirrt, weil sie jetzt nicht mehr in die Glotze schauen können. Oder ihre Alte verprügeln. So was würden sie ja nicht in der Öffentlichkeit tun.
Sogar die Kinder haben sie rausgelassen. Schauen Sie mal, wie sie herumlaufen! Nicht einmal ihre Kinder können sie heute verprügeln.“
Der Briefträger lachte abfällig.
„Aber das ist wohl nicht mal das Schlimmste. Schauen Sie sich die mal genauer an. Sie sind deswegen vollkommen am Ende, weil ihre Scheiß-Handys nicht funktionieren.“
Und wieder musste ihm Ronnie zustimmen. Verzweifelte Frauen und Männer zogen an ihnen vorbei, das Mobilfunkgerät in der Hand, das Notebook in der Hand, ihr nicht mehr funktionierendes Leben in der Hand.
Es schien Mittag zu sein, denn die Nebelfelder verschwanden und es zeigte sich eine kalte Sonne.
„Wenigstens diese Energiequelle haben sie ihnen gelassen.“ grinste der Postmann.
„Seit wann sind wir ohne Energie?“ fragte Ronnie.
Der Briefträger schaute ihn an, lachte und verschwand.
Plötzlich hörte er ein Schreien. Er schaute in die Richtung des Geräusches.
Am linken Block der Straßenzeile entdeckte er eine Scharr von Menschen. Zwei davon glaubte er zu erkennen. Es waren seine Kinder, aber sie sahen 20 Jahre älter aus.
Die Menschenmenge trat zur Seite. Am Boden lag eine Frau. Sie hatte graue Haare und trug eine dunkelblaue Bluse und einen grauen Rock.
Obwohl sie reglos dalag, war sich Ronnie sicher, dass sie noch lebte.
Er wollte zu den Leuten gehen, doch er konnte keinen Fuß vor den anderen setzen. Er rief nach Hilfe, doch keiner der Menschen schien ihn zu hören oder sich für ihn zu interessieren.
Sie starrten noch immer ihre Handys und Notebooks an und schlenderten oder hasteten an ihm vorbei.
Seine Füße schienen am Gehsteig angeklebt zu sein. Es war unmöglich, sich zu bewegen.
Ronnie fluchte und sah wieder zur Menschenmenge. Die Frau bewegte ihren Kopf.
Schließlich setzte sie sich auf und stützte sich mit den Händen am Asphalt ab.
Sie sah in seine Richtung.
Es war Helene. Seine Frau. Sie sah ihn nur an. 20 Jahre älter. Mindestens.
Er rief ihr zu: „Ist alles in Ordnung?“
Sie sah ihn weiterhin nur an. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn ansah oder durch ihn hindurch starrte. „Helene, bist du okay?“
Keine Antwort.
Ronnie bekam es mit der Angst. Er rief nach seinen Kindern.
Keine Reaktion.
Wieder und wieder versuchte er von der Stelle zu kommen. Keine Chance. Die Sonne verschwand hinter den Wolken. Die Menschenmenge rund um seine Frau begann sich wieder zu schließen.
War sie aufgestanden? Würde sie zu ihm kommen, um ihm zu helfen?
„Scheint so, als ziehen dunkle Wolken auf!“ Ronnie erschrak.
Neben ihm grinste der Briefträger. Er hatte keine Zähne mehr.
Hatten sie ihm davor auch schon gefehlt?
Ronnie öffnete den Mund.
Doch anstatt Wörter fielen kleine Mobilfunkgeräte aus seinem Mund, drehten ellipsenförmige Runden und glitten zu Boden.
Hatte er den Verstand verloren?
Er sah auf ein Display.
Es zeigte die Uhrzeit an.
31:12 Uhr.
Er überlegte krampfhaft, ob das Display mit dem Silvesterabend zusammenhängen konnte. Silvester im Oktober?
Das würde genauso wenig Sinn ergeben wie der Umstand, dass er sich nicht mehr bewegen, sprechen oder mit seiner Frau und seinen Kindern kommunizieren konnte.
Ein Alptraum. Das musste die Lösung sein. Alles nur ein böser Traum.
Ronnie entschloss, sich zu entspannen. Es funktionierte nicht.
Er wollte lachen, aber stattdessen ging er in die Knie (was funktionierte) und begann, all die kleinen Handys aufzuessen.
Der Briefträger gab ihm einen Tritt.
Hinter sich hörte er seine Frau und seine Kinder lachen.
Er drehte sich um.
Niemand war zu sehen.
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2014
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Widmung:
Beitrag zum 66. Wortspiel