Cover


Endlich ist der Frühling da!




Neugierig steckte Pivie ihre kleine Elfennase aus dem Eichhörnchennest der Birke und zog die frische Morgenluft ein.
„Ich glaube, es riecht nach Frühling“, sprach sie zu sich selbst. „Und es hört sich auch nach Frühling an“, fügte sie hinzu, nachdem die fröhlichen Vögelgesänge an ihr Ohr gedrungen waren.
Pivie konnte es kaum mehr erwarten. Den ganzen Winter lang hatte die Elfe bei Mugo, dem Eichhörnchen, verbracht. In den warmen Nestern der friedlichen Waldbewohner waren die Elfen sicher vor der klirrenden Kälte und den eisigen Gefahren, die Väterchen Frost alljährlich über das Land schickte.
„Steh auf Mugo!“, rief Pivie fröhlich über ihre Schulter und betrachtete das zusammengerollte Fellknäuel im hinteren Teil des Baumlochs. „Los, alter Faulpelz, der Frühling ist da!“
„Du machst mir Spaß!“, brummte es. „Wer hat dir denn den ganzen Winter lang Nüsse gebracht, während du gemütlich in der warmen Höhle gesessen hast? Es war gar nicht so einfach so viele Nüsse zu finden.“
Pivie drehte sich um und blickte tadelnd in das Gesicht des rotbraunen Eichhörnchens. „Du weißt genau, dass wir Elfen nicht nach draußen dürfen, wenn Väterchen Frost über das Land regiert. Die Kälte des Winters würde unsere Flügel gefrieren lassen und sie in tausend Stücke zerreißen.“ Zur Demonstration bewegte sie ihre zarten Flügel. „Außerdem habe ich dir schon immer gesagt, dass du die Stellen markieren sollst, an denen du deine Nüsse versteckst. Dann hättest du auch keine Mühe sie später wieder zu finden.“
Das Eichörnchen drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse und rollte sich wieder zusammen. „Wenn ich meine Verstecke kennzeichnen würde, bräuchte ich meine Nüsse nicht zu vergraben. Ich könnte sie gleich an jedes andere Nagetier verteilen“, motzte Mugo beleidigt.
„Sei nicht gleich eingeschnappt! Es war doch nur ein Vorschlag“, entgegnete Pivie. „Komm, lass uns lieber schauen, ob die anderen auch schon aus ihrem Winterschlaf erwacht sind“, drängte sie.
Mugo war noch immer beleidigt. „Ich habe keinen Winterschlaf gehalten“, murrte er, trotzdem raffte er sich auf und setzte sich zu Pivie an den Höhlenausgang. Mit zusammengekniffenen Augen schnupperte er die Frühlingsluft.
„Wo wollen wir zuerst hin?“, fragte Pivie. „Möchtest du zu Mila, zu Nino oder zu Tiri?“
„Ich glaube, da ist jemand früher aufgewacht als du“, grinste Mugo.
Pivie fuhr empört auf: „Wie meinst du das?“
Mugo deutete mit der rechten Pfote in die Luft. Als Pivie seinem Fingerzeig folgte, verfinsterte sich das Gesicht der Elfe. „Tarus!“, knirschte sie abwertend, als sie den gutaussehenden Elfen erblickte. Zu ihrem größten Ärger schien er auch noch direkt auf sie zuzukommen.
„Er kommt hierher“, schnaubte sie verächtlich. „Hat der Kerl nichts Besseres zu tun, als mich zu belästigen?“
Mugo grinste: „Ich weiß gar nicht was du hast, Pivie. Er ist doch ein hübscher junger Elf und der mutigste weit und breit. Jede andere Elfe wäre glücklich, von ihm bewundert zu werden.“
Pivie verschränkte die Arme und machte ein beleidigtes Gesicht. „Er ist ganz und gar nicht mutig. Er ist unvorsichtig und spielt ständig mit seinem und dem Leben anderer. Außerdem ist er eitel, eingebildet und affig!“
Tarus hatte Pivie entdeckt und steuerte auf sie zu. Mit stolz erhobener Brust stellte er sich vor ihr auf und musterte sie freundlich.
Tatsächlich war Tarus das, was alle anderen Elfen einen Casanova-Elf nennen. Sein Körper steckte in engen blauen Gewändern, die seine stattliche Figur betonten. Seine Gesichtszüge waren gleichmäßig und fein, nicht eine Furche oder ein Grübchen war in der zartgrünen Haut zu sehen. Tarus´ Haare waren so rot wie eine Moonblume und standen senkrecht zum Himmel.
„Hallo Pivie! Einen schönen Frühling wünsche ich dir!“, begrüßte er sie.
„Danke!“, antwortete Pivie kalt. „Hast du nichts Besseres zu tun, als dich hier im Wald herum zu treiben?“
Tarus schnalzte mit der Zunge: „Charmant wie immer. Aber genau das liebe ich ja an dir!“ Er grinste verschmitzt und fuhr Pivie mit dem Zeigefinger über die Wange. Wütend versuchte sie seine Hand wegzuschlagen, doch Tarus war schneller und sprang lachend davon.
„Wir sehen uns später, Pivie!“, rief er und verschwand irgendwo zwischen den Bäumen.
„Wir sehen uns später!“, äffte Pivie den Elf nach. „Was fällt diesem Kerl eigentlich ein? Er soll bloß bleiben, wo der Pfeffer wächst.“
Mugo grinste amüsiert: „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass du ihn auch gern hast.“
Pivie fuhr herum. „Den gern haben?“, fauchte sie, „Ich dachte du bist mein Freund. Jetzt fällst du mir in den Rücken!“
Mugo sprang auf einen Ast und schaute sich nach Pivie um. „Natürlich bin ich dein Freund, deshalb sage ich es dir ja. Du solltest dich lieber des Frühlings erfreuen. Ich für meinen Teil werde mich jetzt nach einer hübschen Eichhorn-Frau umsehen.“ Sprach er und sprang davon.
Pivie schüttelte den Kopf. Es war doch jedes Jahr das Gleiche mit Mugo. Bis zum Herbst würde sie das Eichhörnchun nur noch selten zu Gesicht bekommen. Seufzend sprang sie in die Tiefe, schwirrte zweimal um den Baum herum und schickte sich an, zur großen Elfenwiese zu fliegen. Dort verbrachten die Elfen die Monate bis zum Winter.


Schockschwere Not!




Auf der großen Blumenwiese war die Hölle los. Alle Elfen waren aus ihrem Winterschlaf erwacht und nun jagten sie zwischen den ersten Schneeglöckchen und Grashalmen hindurch, spielten Fangen oder tanzten Reigen. Manche von ihnen hockten aber auch einfach beisammen, tratschten, quasselten und erzählten von ihren wenig aufregenden Wintertagen.
Pivie streifte sich eine ihrer schwarzen Haarsträhnen hinter das Ohr und blickte sich genauer um. Rasch hatte sie Mila, Tiri und Sina entdeckt, die im Kreis auf einer Butterblume saßen und schnatterten. Fröhlich flog sie zu ihnen herüber.
„Schönen Frühling!“, begrüßte sie ihre Freundinnen.
Mila, Tiri und Sina hielten im Gespräch inne und hießen Pivie lachend willkommen.
„Schön, dass du da bist! Setz dich zu uns und erzähl, was es Neues gibt! Wie war dein Winter? Du kommst spät!“, quasselte Mila sofort drauf los.
Pivie ließ sich auf die Blüte plumpsen. Ihr Gesicht verfinsterte sich. „Ich wurde aufgehalten. Von Tarus, diesem..., mir fehlen die Worte!“
„Tarus? Du hast ihn schon gesehen?“, rief Mila begeistert und faltete die Hande vor der Brust. „Er ist so ein wundervoller Elf!“
Tiri verschränkte die Arme und schüttelte verständnislos mit dem Kopf. „Du lernst es nie, Mila. Tarus ist ein eingebildeter Widerling. Er ist es nicht wert, bewundert zu werden.“
„Das finde ich ganz und gar nicht“, schnappte Mila. „Tarus ist kühn, mutig und charmant.“
Pivie winkte ab: „Vergiss es! Tarus könnte sich in ein Warzenschwein verwandeln und sie würde noch immer für ihn schwärmen.“
„Das ist nicht wahr!“, knirschte Mila beleidigt.
Pivie zuckte mit den Achseln und wendete sich voller Neugier einem anderen Thema zu: „Jetzt erzählt endlich, was ihr im Winter erlebt habt!“
Mila lachte. „Ich habe den Winter mit Marta verbracht, der alten Klatschbase! Die hat mir ein paar Geschichten erzählt, kann ich euch sagen!“
Pivie, Sina und Tiri rückten näher. „Erzähl! Erzähl!“, riefen sie begeistert.
Und nun begann Mila – bei jedem dritten Wort kichernd und giggelnd – zu berichten: "Stellt euch vor, Migosch und Schira haben ihren Winter gemeinsam verbracht. Sie haben sich noch im Herbst verlobt und wollen bald heiraten.“
Tiri und Sina schnappten nach Luft und kicherten hinter hervorgehaltenen Händen. Nur Pivie verzog wütend das Gesicht.
„Ich werde niemals heiraten!“, verkündete sie trotzig. „Das würde mir noch fehlen, schmachtend in den Armen eines Elfen zu liegen!“
Mila wollte etwas erwidern und Pivie von den schönen Dingen der Liebe erzählen. Doch Mila blieb jedes Wort im Halse stecken. Plötzlich tauchte ein riesiges, rotgeschlitztes Auge hinter Pivie auf.
„Ein Frosch!“, kreischte Mila außer sich, wich zurück und polterte rücklings die Blume herunter. Tiri und Sina schwirrten ebenfalls auf und retteten sich im Sturzflug ins dichte Gras.
Pivie, die gar nicht begriff, was los war, wandte sich um. Als sie den Verursacher des Schreckens erkannte, stand sie empört auf und stützte die Hände in die Hüften.
„So ist meine Pivie“, hörte sie eine Stimme sagen, „während alle anderen davon eilen, bleibt sie mutig und stellt sich der Gefahr.“
Pivies Blut geriet in Wallung. Auf dem Kopf des Frosches stand Tarus!„Was fällt dir ein uns so zu erschrecken?“, fuhr sie den Elf an. „Das macht dir wohl Spaß! Ich will, dass du auf der Stelle verschwindest!“
„Ich wollte niemanden erschrecken“, widersprach Tarus. „Wenn ich dich erschreckt haben sollte, tut es mir leid. Ich dachte, du kennst meinen großen, grünen Freund. Das ist Todd.“
„Und wenn er ein Silberschwan wäre, es interessiert mich überhaupt nicht, wer deine Freunde sind. Ich habe schon gehört, dass du dich seit dem vergangenen Sommer mit einem Frosch herumtreiben sollst. Das passt zu dir! Frösche sind unsere Feinde. Sie fressen Elfen, hast du das schon vergessen?“
„Todd frisst keine Elfen!“, empörte sich Tarus. „Er weiß wohl eine Elfe von einer Fliege zu unterscheiden.“
„Schön für dich. Nur wissen das die anderen Elfen nicht. Jetzt nimm deinen widerlichen Freund und geh!“, schimpfte Pivie.
Jählings tauchte Mila hinter Pivie auf. Der Schreck stak der Elfe noch immer in den Knochen und sie war kaum fähig, auch nur einen Flügelschlag zu tun. Auf allen Vieren rutschend, das blondgelockte Haar vom Sturzflug völlig zerzaust, krabbelte sie in den Schutz von Pivies Rücken und sah staunend über ihre Schulter. Als sie Tarus erblickte, versteckte sie sich mit einem lauten „Ups!“ hinter Pivies Rücken und richtete rasch ihre Haare.
„Hallo Tarus!“, säuselte sie, nachdem sie hinter Pivie hervor getreten war.
„Hi“, antwortete Tarus, der Mila nicht kannte.
„Du kannst jetzt trotzdem verschwinden!“, schmetterte Pivie gereizt.
Zum ersten Mal meldete sich Todd zu Wort. „Nun lass uns doch endlich gehen“, bat er den Elf.
„Gut, aber nur, um Pivie deinen Anblick zu ersparen“, lachte Tarus und setzte sich in den Nacken des Frosches. Der quakte vergnügt und hüpfte davon.
„Ach“, seufzte Mila verliebt, „er ist so mutig und kühn.“
„Mutig und kühn“, wiederholte Pivie abwertend. „Er ist vollkommen rücksichtslos! Oder würdest du mit einem unserer größten Feinde auf der Elfenwiese auftauchen?“
„Einem unserer größten Feinde?“, fragte Mila staunend.
„Mila“, seufzte Pivie verärgert, „warum bist du nur immer so schwer von Begriff? Im letzten Jahr verschwanden zehn Elfen spurlos von unserer Wiese. Migosch hat erzählt, dass er auch beinahe von einem Frosch verspeist worden wäre. Die gucken doch gar nicht darauf, ob sie eine Fliege oder eine Elfe schnappen. Ihre gierige Zunge holt alles aus der Luft!“
„Ja, sicher hast du Recht. Trotzdem kann doch Tarus´ Frosch anders sein“, gab Mila zu bedenken.
„Ach was!“, zischte Pivie. „Frosch ist Frosch und Tarus bleibt Tarus. So, jetzt müssen wir aber Tiri und Sina suchen. Sie können ja nicht weit sein.“
Mit diesen Worten schraubte sich Pivie in die Luft und flog in die Richtung, in die Sina und Tiri zuvor geflohen waren. Mila folgte ihr dicht auf.

Tarus saß unterdessen mit seinem Freund Todd abseits des Geschehens.
„Ach...,“ seufzte der Elf, „egal was ich anstelle, Pivie ist immer abweisend zu mir. Was soll ich nur tun?“
Todd schnaubte verächtlich: „Da fragst du mich? Schlag sie dir aus dem Kopf! Du kennst meine Meinung zu dieser Elfe.“
„Ich weiß, aber was kann ich nur tun, damit sie mich auch ein bisschen mag?“
Wieder kam von Todd nur ein verächtliches Schnauben. „Damit sie dich mag? Damit sie dich mag?“, wiederholte er fassungslos. „Sag nur, du willst ihr imponieren. Um der zu gefallen müsstest du die Sterne vom Himmel holen.“
Tarus blickte seinen Freund böse an. „Du sollst nicht immer so abwertend von Pivie sprechen! Ich liebe sie!“
„Oh“, säuselte Todd überzogen, „ich liebe dich! Du bist meine Sonne in der Nacht, meine Laube im Regen!“
„Du bist gemein!“, schimpfte Tarus und sprang auf. „Aber was kann ich schon von einem Frosch erwarten! Du hast doch keine Ahnung was Liebe ist.“
„Zum Glück! Ich möchte mich jedenfalls nicht vor einer Frau zum Affen machen, so wie du es gerade tust. Fehlt nur noch, dass du ihretwegen einen Topf Honig stibitzt.“
Tarus lachte amüsiert. „Aber Todd! Honig! Ich mag verliebt sein, aber nicht verrückt. Du weißt doch, wie knauserig die Bienen mit ihrem Honig sind. Nie würden sie uns Elfen freiwillig etwas davon abgeben. Und stibitzen? Nein, nein, das ist viel zu gefährlich.“
„Deshalb gab ich es ja auch als Beispiel. Du bist jedenfalls leichtsinnig genug, um dich in einen Bienenstock zu wagen, nur um dieser Elfe zu imponieren.“
Tarus lachte. „Nein, Todd. Keine Bange. Ich werde mir etwas anderes einfallen lassen. Etwas ganz Besonderes. Vielleicht sollte ich ihr einen Pegasus fangen.“
Todd lachte laut. „Ein Elf, ein klitzekleiner Elf will ein fliegendes Pferd fangen.“
„Warum nicht? Das würde Pivie doch bestimmt imponieren."
Todd schüttelte belustigt den Kopf: „Steig auf! Ich glaube ich muss dir mal deinen Kopf zurechtrücken.“

Endlich hatten Pivie und Mila Sina gefunden. Sie lehnte erschöpft an einem Tulpenstängel, während sich Tiri besorgt über sie gebeugt hatte und ihren Kopf streichelte.
Pivie und Mila ließen sich fragend neben den beiden nieder.
„Was ist mit Sina?“, fragte Pivie.
„Sie hat sich erschreckt.“ Tiri wurde von einem lauten Hicksen, dass von Sina kam, unterbrochen. „Sie hat Hickseritis“, erklärte Tiri, während sie ratlos auf ihre Freundin deutete.
„Hickseritis?“
Wieder ertönte ein lautes Hicksen.
„Hickseritis“, nickte Mila.
Pivie legte ihre Hand vorsichtig auf Sinas Stirn. Wieder musste die Elfe hicksen. Pivie sprang erschrocken zurück: „Tut das weh?“
Sina schüttelte den Kopf. „Nein... hick... es ist nur...“, wieder hickste sie, „ein seltsames Gefühl.“
„Wie kriegt man so was?“, fragte Mila.
„Hick! Keine Ahnung“, antwortete Sina.
„Dagegen muss man doch etwas tun können“, raunte Mila.
„Bestimmt ist es ja gleich wieder vorbei“, vermutete Pivie.
Tiri schüttelte den Kopf. „Das geht schon so, seit wir vor diesem Frosch geflohen sind“, erklärte sie.
„Also ist Tarus wieder an allem Schuld“, grollte Pivie.
„Tarus?“, rief Tiri verwundert. „Was soll Tarus damit zu tun haben?“
Mila schwärmte: „Er ist auf dem Frosch geritten.“
Pivie wollte wegen Milas erneuter Schwärmerei wütend auffahren, doch Sinas Hicksen nahm ihr die Worte von den Lippen. „Das kann ich mir nicht länger anhören“, schwenkte sie um. „Wir müssen sie zu Doktor Tabb bringen!“, beschloss sie kurzerhand.
„Gute Idee“, nickte Tiri, „Doktor Tabb kann ihr bestimmt helfen.“
Sina war einverstanden und die Freundinnen flogen los. Doch das Fliegen fiel Sina schwer. Mit jedem Hickser vergaß die Elfe die Flügelchen zu bewegen. So stürzte sie immer wieder in die Tiefe und musste sich unter schwersten Anstrengungen wieder in die Luft schrauben, nur um nach abermaligem Hicksen wieder abzustürzen.


Honigmedizin



Doktor Tabb, ein alter erfahrener Marienkäfer, hatte seine Praxis in einem verlassenen Mäuseloch eingerichtet. Als er die geplagte Sina zu seiner Tür hereinspazieren sah, rückte er verwundert seine kleine Nickelbrille zurecht.
„Was hat sie?“, fragte er verdutzt.
„Das wollten wir eigentlich von ihnen erfahren, Doktor Tabb“, versetzte Pivie.
Doktor Tabb schnalzte mit der Zunge: „Natürlich, natürlich.“ Er rückte abermals die Brille zurecht und musterte Sina eingehend. „Äh, am besten legt ihr sie erst einmal auf das Sofa“, schlug er vor und wedelte wild mit der Hand um Tiri und Pivie anzutreiben.
„Seit wann hat sie diesen Sprachfehler?“, brummte Doktor Tabb, als er sein Ohr prüfend über Sinas Mund hielt.
„Ich...“, ein Hickser unterbrach Sina, „habe Hickseritis“, verbesserte sie.
„Hickseritis?“, staunte Doktor Tabb. „Und seit wann hast du das?“
Pivie, Mila und Tiri erzählten rasch von den Geschehnissen auf der Blumenwiese. Doktor Tabb blätterte dabei in einem seiner klugen Bücher.
„Hier ist es!“, rief er entzückt. Ausgiebig studierte er den Text. Sein Gesicht wurde dabei immer besorgter und sein Brummen unheilvoller. Pivie, Tiri und Mila wagten kaum zu atmen.
„Oje oje oje!“, rief Doktor Tabb endlich und schlug das Buch zu.
„Oje? Was soll das heißen?“, fuhr Pivie auf.
„Alles lässt darauf schließen, dass Sina am gefürchteten Elfenschluckauf leidet.“
Entsetzt holten die Freundinnen Luft. Sina konnte nichts anderes tun als zu hicksen.
„Ausgelöst wird diese Krankheit durch einen abrupten, medial abnormen Muskelreflex“, fuhr Doktor Tabb fort, „mit anderen Worten: sie hat sich erschreckt.“
„Kann man denn gar nichts dagegen tun? Vielleicht muss man sie einfach noch einmal erschrecken und dann geht es wieder weg“, schlug Mila vor.
„Meine Frau wäre dazu bestimmt in der Lage“; brummte Doktor Tabb nachdenklich. „Lieber nicht!“, widersprach er sich sofort, „wir könnten den Schluckauf damit nur noch verstärken. Nein,. In meinem Buch steht, dass es gegen den gefürchteten Elfenschluckauf nur ein Heilmittel gibt: einen Becher Honig mit einigen Kamillenblüten. Das hört sich doch viel einfacher an.“
„Einen Becher Honig? Wo sollen wir denn den herbekommen?“, fragte Tiri entsetzt.
„Von den Bienen natürlich“, meinte Doktor Tabb selbstverständlich.
Pivie verschränkte die Arme. „Die Bienen würden sich eher einen Flügel ausreißen, bevor sie uns Honig gäben.“
„Ach was“, widersprach Doktor Tabb, „wenn ihr ihnen erklärt, wofür ihr den Honig benötigt und sie höflich darum bittet, werden sie euch schon ein Becherchen abgeben.“
„Das glaube ich nicht“; versetzte Pivie. „Die Bienen sind immer geizig mit ihrem Honig gewesen. Und ich werde nicht darum betteln, um letztlich doch abgewiesen zu werden.“
Doktor Tabb blickte über seine Brille. „Du irrst dich gewaltig mein Kind. Ich für meinen Teil mag Bienen gut leiden. Du wirst deine Meinung ändern, wenn du sie erst einmal richtig kennen gelernt hast.“
Teilnahmslos nickte Pivie Sie hatte sich ihre Meinung über die Bienen schon lange gebildet und ihr war klar, dass sie von diesen geizigen Wesen nichts zu erwarten hatte. Pivie beschloss kurzerhand sich nachts in den Bienenstock einzuschleichen und den Honig zu stibitzen. Ein kleines Becherchen würde wohl kaum auffallen.
„Ich werde den Honig besorgen“, erklärte Pivie.
„Oh fein! Oh fein!“, rief Doktor Tabb, der nicht ahnte, was Pivie vorhatte. „Wusste ich doch, dass du vernünftig bist. Dann wird eure Freundin bald geheilt sein.“
„Richtig“, nickte Pivie verlegen, „ich breche am besten gleich auf.“
„Ja, tu das. Ich werde inzwischen die Kamillenblüten sammeln. Heute Nachmittag sehen wir uns wieder hier.“
„Äh, nein!“, rief Pivie erschrocken, denn sie musste die Nacht abwarten. „Morgen früh ist es bestimmt besser“, suchte sie nach einer Ausrede. „Die Bienen sind mit Sicherheit alle ausgeflogen und sammeln Honig. Ich werde vielleicht lange warten müssen, bis sie wieder zu Hause sind.“
Doktor Tabb lächelte amüsiert. „Es sind immer Bienen im Stock. Sie müssen schließlich ihr Heim vor Eindringlingen schützen.“
Pivie schnaubte verärgert. Natürlich wusste sie, dass die Bienen ihren Stock niemals unbewacht ließen. Gerade deshalb musste sie ja versuchen nachts hineinzukommen. Im Dunkeln würde man sie hoffentlich nicht bemerken.
„Ich müsste aber vorher noch bei Nino vorbeischauen. Wir haben uns den ganzen Winter nicht gesehen“, wich Pivie aus.
„Willst du mich etwa... hick... die ganze Zeit... hick... hier so ... liegen lassen?“, empörte sich Sina.
Pivie hatte Mühe ernst zu bleiben. Sina wurde mit jedem „Hick“ leicht vom Sofa gehoben.
„Ist ja gut“, sagte Pivie schließlich. „Dann gehe ich gleich.“ Das sagte Pivie aber nur, weil sie keine Ausrede mehr fand.
„So ist es recht“, nickte Doktor Tabb.
Sina hickste ein zufriedenes "Danke!"
„Wir werden dich begleiten“, schlug Mila plötzlich vor.
„Das kommt gar nicht in Frage!“, empörte sich Pivie, die niemanden bei ihrem Unternehmen gebrauchen konnte. „Ihr müsst Sina Gesellschaft leisten. Ich komme schon alleine zurecht.“
„Gut, das ist mir sowieso lieber“, piepste Tiri dankbar.
Pivie verabschiedete sich von den anderen und machte sich auf den Weg.
Der Bienenstock hing an einem großen Apfelbaum außerhalb der Elfenwiese. Ganz in der Näche versteckte sich Pieve und wartete die Nacht ab.


Alles für einen Becher Honig



Die Nacht war dunkel und unheimlich. Noch nie zuvor war Pivie in der Nacht ausgeflogen. In der Dunkelheit lauerten Gefahren durch Eulen, Igel und anderes Getier, die gerne Insekten fraßen. Pivie hatte schreckliche Angst. Seltsame Geräusche drangen an ihr Ohr. Die Nacht schien überall Augen zu haben, und selbst die Blumen lächelten ihr auf geheimnisvolle Weise zu.
Pivie fasste sich ein Herz und flog langsam zum Bienenstock. Da tauchte plötzlich eine Eule vor ihr auf. Pivie flog im Sturzflug hinter einen Stein, doch die Eule nahm von Pivie keinerlei Notiz von der Elfe und Pieve flog weiter.
Um den Bienenstock herum war es ruhig. Pivie suchte den Eingang und blickte sich forschend um. Als sie keine Biene erblickte, schlüpfte sie rasch hinein.
Auch innen war der Stock unbewacht. Pivie sah sich fasziniert um. Sie war noch nie in einem Bienenstock gewesen. Die Baukunst der Insekten beeindruckte sie zutiefst. Sie schlug eine der Abzweigungen ein und folgte einem verschlungenen Pfad, bis sie tatsächlich auf die Honigkammern stieß.
Nachdem sich Pivie vergewissert hatte, dass keine Biene in der Nähe war, nahm sie ihr Becherchen und füllte es mit der goldgelben Flüssigkeit. Sie konnte nicht widerstehen und trank selbst etwas von dem süßen Saft. Dann trat sie den Rückweg an.
Aus dem Bienenstock herauszukommen erwies sich als viel schwieriger. Mit einem Male tummelten sich Dutzende der Wachbienen in den Gängen. Pivie musste sehr vorsichtig sein, um nicht entdeckt zu werden.
Da! Endlich der Ausgang!
Pivie rannte los. Sie wollte so schnell als möglich verschwinden. Dabei vergaß sie jedoch alle Vorsicht. Und schon passierte es! Kräftige Hände packten sie und zwei grimmig dreinschauende Augenpaare starrten sie an.
„Ich ... ich, ich wollte nur... ich habe nur...“, stammelte Pivie.
Die Augen der einen Biene fielen auf den Honigbecher in Pivies Hand. „Ich sehe schon, was du wolltest“, zischte sie. „Du kommst jetzt mit zur Königin. Sie wird entscheiden, was wir mit dir machen.“
„Wagt es nicht! Lasst mich sofort frei!“, empörte sich Pivie.
Die beiden Wachbienen zwinkerten sich zu, packten Pivie noch fester und nahmen sie mit zur Königin.

Die Königin eilte in den Thronsaal, in dem Pivie schon angespannt wartete.
„Was ist denn so dringend?“, fragte sie die beiden Wachbienen genervt. Als sie Pivie entdeckte, nickte sie und seufzte. „Schon wieder eine dieser diebischen Elfen. Ihr tätet gut daran euren Honig selbst zu sammeln. Sperrt sie zu den anderen..“
Mit diesen Worten nahm die Königin Pivie den Becher mit der Honigmedizin ab und war schon wieder am Gehen.
„Halt!“, rief Pivie. „Das können sie doch nicht machen! Ich verlange einen ordentlichen Prozess!“
Die Bienenkönigin blickte über ihre Schulter. „Ich habe viel Arbeit. Ich muss meine Eier ablegen, damit aus ihnen junge Bienen schlüpfen können. Im Allgemeinen töten wir Eindringlinge, aber ihr seid Elfen und nur deshalb drücke ich ein Auge zu. Vielleicht ist es euch eine Lehre, eingesperrt zu sein und ihr überlegt es euch das nächste Mal, ob ihr unseren Honig stehlt.“
„Bitte! Lassen sie mich gehen. Ich verspreche auch, es nie wieder zu tun!“, flehte Pivie.
Die Königin schüttelte den Kopf. „Ich mache keine Ausnahmen“, sprach sie und damit verschwand sie genauso schnell wie sie gekommen war.
Die Wachbienen packten die protestierende Pivie und schleppten sie in ihr Gefängnis. Dort kauerte sie sich enttäuscht zusammen.
„Und das alles für einen Becher Honig“, seufzte sie.
„Wer bist du?“, hörte Pivie plötzlich eine Stimme neben sich sagen. Verwundert sah sie auf und begegnete den Augen einer anderen Elfe.
„Noch eine Elfe“, rief Pivie verwundert.
„Ja, ich bin Tina. Wer bist du?“
„Ich bin Pivie. Aber wie kommst du hierher?“
Die Elfe lächelte. „Wahrscheinlich auf dem gleichen Weg wie du. Ich wollte nur etwas Honig naschen. Leider waren die Bienen schlauer als ich.“
„Ich wollte keinen Honig naschen. Ich brauche Honig für meine Freundin. Sie leidet am quälenden Elfenschluckauf“, erklärte Pivie.
„Ja klar, mir kannst du viel erzählen“, lachte Tina und strich Pivie einen Honigrest von den Lippen.
„Ich konnte nicht widerstehen“, erklärte Pivie verlegen.
„Ich auch nicht“, antwortete Tina achselzuckend, „ebenso wie all die anderen.“
„Was meinst du damit?“, fragte Pivie.
Plötzlich traten neun weitere Elfen aus dem Schatten des Gefängnisses.
„Ihr habt alle Honig gestohlen?“, schrie Pivie auf.
„Gestohlen haben wir überhaupt nicht, nur genascht!“, empörte sich ein Elf.
„Ebenso wie du, Pivie“, hörte Pivie eine bekannte Stimme sagen.
„Balbo!“, erkannte Pivie richtig. „Du lebst? Ich dache dich hätte ein Frosch verspeist!“ Sie rannte auf den Elf zu und umarmte ihn erleichtert.
„Wie du siehst, nein. Die Bienen haben mich schon seit dem letzten Frühling hier eingesperrt.“
„Dann sind alle Elfen, die letztes Jahr spurlos verschwunden sind, von den Bienen eingesperrt worden?“
Eine andere Elfe erklärte: „Wie du siehst, sind wir hier. Und die Bienen werden dafür sorgen, dass wir noch einige Zeit bleiben.“
„Das können die doch nicht machen!“, rief Pivie.
„Natürlich können sie das. Siehst du doch!“, seufzte eine andere Elfe.
Pivie schüttelte den Kopf. „Und das alles für einen Becher Honig“, seufzte sie.


Tarus greift ein



Die Kunde von Pivies plötzlichem Verschwinden verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Elfen. Nachdem Doktor Tabb den ganzen Nachmittag und auch die Nacht auf sie gewartet hatte, beschlich ihn das Gefühl, dass Pivie etwas zugestoßen sein könnte. Mila und Tiri schwärmten sofort aus, um Pivie zu suchen. Schon bald war die ganze Elfenwiese darüber informiert, dass Pivie verschollen war. Auch Tarus hatte die Nachricht bald erreicht. Mila traf den Elfen am Rand der Wiese. Dort veranstalteten die Frösche gerade ein Wetthüpfen, an dem auch Todd teilnahm. Tarus saß auf einem großen Fliegenpilz und sah dem Treiben zu. Außer Atem ließ Mila sich neben ihm nieder. Sie war so aufgeregt, dass sie darüber ganz vergaß Tarus anzuhimmeln.
„Tarus!“, keuchte Mila. „Hast du Pivie gesehen? Sie ist seit gestern Abend verschwunden!“
Tarus blieb der Mund offen stehen: „Pivie ist verschwunden?“
„Ja. Sie wollte Honig für Sina besorgen...“
Tarus wollte nicht glauben, was er da hörte: „Sie wollte was besorgen?“
„Honig für Sina“, fauchte Mila, die nicht begriff was man daran nicht verstehen konnte.
„Nur eine verrückte Elfe würde sich zu den Bienen wagen, um Honig zu holen.“
„Nein, so ist es nicht. Doktor Tabb hat Pivie zu den Bienen geschickt. Sina hat den gefürchteten Elfenschluckauf, weil sie sich gestern vor deinem Frosch erschreckt hat. Gegen diesen Schluckauf hilft nur ein Becher Honig mit einigen Kamillenblüten. Pivie wollte zu den Bienen gehen und um Honig bitten...“
„Pivie wollte um etwas bitten?“, rief Tarus belustigt, „Pivie bittet nie um irgendetwas. Sie ist eigensinnig und starrköpfig.“
„Sie hat Doktor Tabb aber versprochen die Bienen zu bitten“, trotzte Mila.
„Hat sie es wirklich versprochen, oder hat sie es nur gesagt?“, fragte Tarus.
In einer dunklen Vorahnung verneinte Mila seine Frage.
„Dann hat sie sich in den Bienenstock eingeschlichen. Ganz sicher!.“
Mila schrie vor Entsetzen auf und legte die Hand auf den Mund: „Glaubst du etwa die Bienen haben ihr etwas angetan?“
„Nein“, antwortete Tarus gequält, „die Bienen sind ein soziales Volk, sie würden nie den Stachel gegen einen Elf oder eine Elfe richten. Trotzdem ist es seltsam, dass Pivie nicht zurückgekehrt ist.“
Mila malte schwarz: „Vielleicht ist sie gefressen worden. Vielleicht von einer Eule oder einer Fledermaus.“
„So ein Quatsch! Pivie passt schon auf sich auf. Du fliegst jetzt zurück zu deiner schluckaufgeplagten Freundin. Mir wird schon etwas einfallen. Hier kann ich dich auf jeden Fall nicht gebrauchen.“
Mila seufzte leidenschaftlich und fiel Tarus kurzerhand um den Hals. „In Ordnung“, hauchte sie. „Ich tue alles was du sagst.“
„Schon gut“, entgegnete Tarus und schob die Elfe von sich weg, „bis später.“
„Ja, bis später“, säuselte Mila. Nur schwer trennte sie sich von dem Elf und flog in Doktor Tabbs Praxis zurück.

Tarus, der kurzerhand einen Plan fasste, pfiff nach seinem Freund Todd. Der Frosch sah verwundert auf und hüpfte zu dem Elfen herüber.
„Was ist los? Ich bin gleich an der Reihe“, sagte er.
„Du kannst das Rennen nicht beenden. Ich brauche deine Hilfe. Wir müssen sofort zum Bienenstock“, erklärte Tarus.
„Zum Bienenstock?“, rief Todd außer sich. „Hat dich die Elfe auf dumme Gedanken gebracht? Möchtest du jetzt doch Honig für diese Pivie stibitzen? Du bist verrückt!“
„Pivie ist verschwunden. Sie hat sich wahrscheinlich in den Bienenstock eingeschlichen und sich in Schwierigkeiten gebracht. Wir müssen ihr helfen.“
„Die würde dir auch nicht helfen. Für diese Pivie lasse ich mein Rennen jedenfalls nicht sausen!“
„Bitte Todd, tu es für mich!“ flehte Tarus.
„Verdammt!“, fluchte Todd, „ich hätte dieses Rennen wirklich gewinnen können!“
„Ich weiß, aber jemandem zu helfen ist wichtiger als jedes Rennen“, versetzte Tarus.
„Ich hoffe nur, sie wird sich dafür auch bedanken und mein Opfer würdigen“, seufzte Todd.
Sie machten sich auf den Weg. Tarus gab Todd Anweisungen, am Fuße des Bienenstocks zu warten und sich auf gar keinen Fall weg zu bewegen, selbst wenn es blitzen und donnern würde. Dann begab er sich zum Eingang.
Drohend stellten sich die dort postierten Bienen in seinen Weg. Tarus verbeugte sich höflich und bat um Einlass. Die Wachbienen lachten schallend.
„Wir lassen keine Elfen in unseren Stock. Verschwinde!“
„Ich möchte zu eurer Königin“, erklärte Tarus.
„Unsere Königin ist beschäftigt. Sie hat keine Zeit für Elfen“, erklärte die andere Wachbiene schroff.
„Nun,“ meinte Tarus schulterzuckend, „wenn ich euch dann bitten dürfte, einen Blick vor den Apfelbaum zu werfen.“
Die Bienen schauten sich zögernd an.
„Es könnte ein Ablenkungsmanöver sein“, knirschte die eine. „Geh du nachschauen. ich passe auf, dass er sich nicht einschleicht.“
Die erste der beiden Bienen trat zwei Schritte vor und blickte nach unten. Dort sah sie Todd, der gelangweilt auf der Wiese saß und in der Luft nach Essbarem suchte.
Die Biene drehte sich fragend um.
„Dieser Frosch gehört mir“, erklärte Tarus breit grinsend, „und ich fürchte, er stellt eine ernsthafte Gefahr für euch dar, wenn ihr mich nicht einlasst. Todd hat viele Freunde und sie alle würden gerne vor eurem Bienenstock auf Nahrung lauern.“
Die zweite Biene warf Tarus einen verärgerten Blick zu. „Bleib hier und bewache das Flugloch. Ich werde unseren Gast zur Königin führen“, sprach sie zu der anderen.
„Dankeschön“, lächelte Tarus zufrieden.
Die Wachbiene führte Tarus durch zahlreiche Gänge, bis hin zum Thronsaal. Dort ruhte sich die Bienenkönigin von ihren Arbeiten aus.
„Verzeiht, Majestät“, entschuldigte sich die Wachbiene.
„Doch nicht schon wieder eine dieser diebischen Elfen“, seufzte die Königin verärgert.
„Nein, Majestät. Dieser Elf verlangt Euch zu sprechen. Er drohte damit, uns die Frösche auf den Hals zu hetzen“, erklärte die Wachbiene.
„Er tat was?“, schnappte die Königin. „Welch unhöfliches Verhalten!“
„Es war nötig, Eure Majestät“, erklärte Tarus, „Sonst hättet Ihr mich nicht angehört.“
„Wohl kaum“, antwortete die Königin. „Lass uns alleine, Marie. Ich werde diesen Elfen anhören.“
Marie nickte gehorsam und verschwand. Tarus blieb mit der Königin alleine zurück.
„Danke, Eure Majestät“, sagte Tarus ehrlich.
„Angesichts deiner Drohung blieb mir wohl nichts anderes übrig. Was ist dein Begehr?“
„Ich möchte für die Elfe sprechen, die gestern versuchte euren Honig zu stehlen.“
„Das ist zwecklos, junger Mann. Seit jeher versucht ihr Elfen unseren Honig zu stehlen. Im letzten Jahr beschloss ich daher, dass ich jede Elfe, die es wagt hier einzudringen, einsperren werde.“
Tarus nickte. „Ich verstehe Euch, Majestät. Aber bedenkt, dass wir Elfen ein lebensfrohes Volk sind. Das Fremde zieht uns magisch an und es reizt uns Verbotenes zu tun.“
„Ich weiß“, unterbrach die Königin, „aber irgendwie müssen wir uns wehren. Erst am Ende des Sommers werde ich alle Elfen frei lassen. Das wird ihnen eine Lehre sein, sich keine Dinge zu nehmen, die sich andere in mühseliger Arbeit zusammengesammelt haben.“
„Aber Majestät, man darf uns Elfen nicht einsperren. Ja, wir treiben manchmal zu viel Schabernack, aber wir schaden doch niemandem.“
„All das ist mir wohl bekannt. Auch ich mag dein Volk. Dennoch müssen wir uns vor Dieben schützen, auch wenn es sich nur um einen Becher Honig handelt. Wir brauchen den Honig. Ohne ihn würden wir verhungern.“
„Gewiss, Majestät. Dennoch möchte ich um Gnade für diese Elfen bitten. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen die anderen in Euren Bienenstock eingedrungen sind. Aber Pivie nahm den Honig nicht für sich selbst. Sie wollte ihn ihrer Freundin bringen, die am Elfenschluckauf erkrankt ist. Nur ein Becher Honig mit einigen Kamillenblüten vermag diese Elfe zu heilen.“
„Eine Elfe ist krank?“, rief die Königin. „Aber da braucht ihr uns doch nur zu fragen. Wenn jemand unsere Hilfe benötigt, sind wir gerne zur Stelle.“
„Aus diesem Grund hat Doktor Tabb Pivie zu Euch geschickt“, erklärte Tarus.
„Doktor Tabb? Er hat schon vielen meiner Bienen geholfen. Das gibt dieser Pivie aber noch lange kein Recht ohne zu fragen von unserem Honig zu nehmen!“
„Auch ich verurteile Pivies Verhalten. Sie ist sehr stolz, ihr fällt es nicht leicht um etwas zu bitten oder sich zu bedanken. Aber vielleicht zeigt ihr euch großzügig und verzeiht ihr.“
„Du gefällst mir. Du scheinst vernünftig zu sein und mutig bist du auch. Ich werde die Elfen freilassen. Aber ich möchte, dass euer Rat das Verbot verhängt sich unserem Stock zu nähern.“
„Er wird dieser Bitte mit Sicherheit nachkommen.“
„Gut.“ Die Königin lächelte zufrieden. „Ich werde die Wachbienen damit beauftragen die Elfen frei zu lassen.“
„Danke, Eure Majestät! Vielen Dank!“
„Auf Wiedersehen, junger Elf. Ich hoffe, wir werden künftig keine Elfen mehr in unserem Stock vorfinden!“
Tarus lächelte. „Das hoffe ich auch!“
Die Bienenkönigin klatschte in die Hände. „Marie!“, rief sie und sofort war die Wachbiene zur Stelle. „Bitte bringe diesen Elf zum Gefängnis und befreie die übrigen Elfen. Fürs Erste lassen wir noch einmal Gnade walten.“
Marie nickte gehorsam und begab sich zur Tür.
„Und Marie!“, rief die Königin ihrer Wachbiene nach, „wenn diese Pivie höflich nach Honig fragt, darf sie sich einen Becher nehmen.“
Marie nickte abermals.
„Vielen, vielen Dank“, sagte Tarus überschwänglich, „das werde ich Euch nie vergessen!“ Und mit diesen Worten verließ er den Thronsaal und folgte der Wachbiene.


Nur fliegen ist schöner!



Marie hatte Tarus durch zahlreiche Gänge geführt. Nun standen sie in einem entlegenen Teil des Bienenstocks. Nach einem kurzen Gespräch mit einer anderen Biene und einem noch kürzern Abschiedsgruß an Tarus, kehrte sie wieder auf ihren Posten zurück.
Nun stand Tarus vor einer sechseckigen Wachstür. Für einige Minuten kostete er seinen Triumph aus. Es drangen viele Stimmen durch die Tür, doch eine erhob sich schimpfend und rasend vor Wut über all die andern: Pivies Stimme!
Die Drohne, eine männliche Biene, die vor der Tür Wache hielt, ließ erschöpft die Fühler hängen und blickte Tarus an.
„Willst du sie nicht endlich mitnehmen? Ich kann es nicht länger ertragen. Das Gemeckere dauert schon die ganze Nacht. Diese Elfe raubt mir noch den letzten Nerv.“
„Ich denke, sie sollte noch schmoren. Schließlich hat sie völlig eigensinnig und falsch gehandelt, als sie sich in euren Stock einschlich“, sagte Tarus achselzuckend.
„Ja, natürlich“, stimmte die Drohne seufzend zu, „aber das ist eher eine Strafe für mich, anstatt für sie.“
Tarus grinste über beide Ohren. So war Pivie eben. Zu gerne hätte er ihren Beschimpfungen noch eine Weile gelauscht, doch er hatte ein Einsehen mit der Drohne und so forderte er sie kurzerhand auf die Gefängnistür zu öffnen.
Nichts in der Welt tat die Drohne in diesem Moment lieber! Ihre Fühler reckten sich mit einem Male wie Antennen. Sie stürzte sich auf die Tür, schloss diese auf und verabschiedete sich mit einem schnellen: „Ich warte dann vorne im Gang!“
Tarus hatte keine Zeit der Drohne nachzublicken, denn kaum war die Tür geöffnet, stand Pivie darin. Ihre Hände wutschnaubend in die Seiten gestützt, wollte sie gerade zu einem Vortrag über Elfenrechte auffahren. Als sie Tarus erblickte, wurde ihr jedes Wort von den Lippen genommen. Mit offenem Mund sah sie den Elf an, bis sie ihre Sprache wiederfand.
„Das wurde auch Zeit!“, schimpfte sie. „Ich warte schon seit Stunden!“
„Ein einfaches Danke hätte es auch getan“, entgegnete Tarus gelassen.
„Danke?“, fuhr Pivie auf. „Du bist Schuld an dem ganzen Schlamassel hier! Wenn du Sina nicht erschreckt hättest, dann wäre ich auch nicht eingesperrt worden!“
„Wenn du gestern früh nicht so abweisend zu mir gewesen wärst, wäre ich nicht auf die Elfenwiese gekommen.“
„Und wenn du dich nicht mit diesem Froschpack herumtreiben würdest, hättest du gerne auf die Elfenwiese kommen können“; versetzte Pivie.
„Rede nicht so über Todd! Er hat nur wegen dir sein Wetthüpfen sausen lassen, obwohl er im Finale stand“, schimpfte Tarus.
Pivie stockte der Atem. „Das hat er getan?“, fragte sie ungewöhnlich sanft. Gleich darauf trotze sie in alter Form; „Na, das war ja auch das Mindeste! Schließlich trägt er die Hauptschuld daran, dass Sina Elfenschluckauf hat."
„Und du trägst die Hauptschuld daran, dass du eingesperrt wurdest. Wen du höflich nach Honig gefragt hättest, dann hätten dich die Bienen nicht eingesperrt.“
„Warum bist du denn nicht selbst Honig holen gegangen, wenn du alles besser weißt?“, fauchte Pivie.
„Du hast nicht gefragt“, antwortete Tarus schulterzuckend.
„Du hättest den Honig tatsächlich geholt?“, fragte Pivie wieder unerwartet sanft.
Tarus nickte. „Na klar. Ebenso wie ich hierher kam um dir zu helfen.“
Pivie strich sich verlegen eine Haarsträhne von der Stirn. „Danke“, sagte sie leise. „Danke, dass du mir geholfen hast.“
„Gern geschehen!“
Die übrigen Elfen, die an der Türschwelle gewartet hatten, traten nun aus dem Gefängnis heraus.
„Sind wir jetzt frei, Tarus?“, fragte Pivie.
„Ja. Die Bienenkönigin möchte aber, dass ihr künftig die Finger von ihrem Honig lasst“, antwortete Tarus.
„Selbstverständlich! Nie wieder Honig!“, hörte Tarus aus allen Elfenmündern gleichzeitig.
„Die Wachdrohne wartet am Ende des Ganges. Sie wird uns hinausführen“, erklärte Tarus und setzte sich in Bewegung. Aber plötzlich wurde er von Pivie festgehalten.
„Was ist mit dem Honig für Sina, Tarus? Ich habe es ihr doch versprochen!“
„Vielleicht solltest du die Bienen einfach darum bitten“, antwortete Tarus.
„Die Bienen darum bitten?“ Pivie wollte nicht glauben, was ihr Tarus da vorschlug. „Die haben mich eingesperrt! Normalerweise müssten sie mir den Honig eimerweise hinterher schleppen. So könnten sie das Geschehene wieder gut machen.“
„Das werden sie nicht tun“, antwortete Tarus kühl.
Pivie ließ den Kopf hängen. Die Gruppe der Elfen hatte sich inzwischen der Wachdrohne angeschlossen und war auf dem Weg nach draußen.
Am Flugloch des Bienenstocks angekommen, verabschiedeten sich die Elfen von Tarus und Pivie und etwas verlegen von den Wachbienen. Dann flogen davon. Todd beobachtete die Szene vom Boden aus. Tarus hatte also wieder einmal das Unmögliche geschafft.
„Wir sollten jetzt auch gehen“, meinte Tarus zu Pivie, die noch immer den Kopf hängen ließ. Pivie zögerte einen Augenblick und fasste all ihren Mut zusammen. Dann fragte sie eine der Wachbienen zaghaft: „Ich... ich möchte bitte etwas Honig für meine kranke Freundin. Nur einen kleinen Becher. Doktor Tabb sagt, das macht sie wieder gesund.“
Die Biene lächelte . „Unsere Königin hat dir einen Becher Honig für deine Freundin gewährt. Ich habe ihn bereits hier“, erklärte sie. Pivie stutzte. Sie hatte erwartet, dass die Bienen sie abwiesen, sie sogar fortjagten für diese freche Frage.
„Danke“, flüsterte Pivie.
„Das nächste Mal, wenn eine Elfe an dem gefürchteten Elfenschluckauf erkrankt, fragt ihr uns besser gleich nach Honig. In so einem Fall bekommt ihr gerne einen Becher von uns ab“, erklärte sie freundlich.
Pivies Herz hüpfte vor Freude. „Vielen, vielen Dank“, rief sie überschwänglich. „Das werde ich euch nie vergessen!“
„Keine Ursache. Jetzt geht! Eure Freundin erwartet den Honig sicher mit großer Ungeduld.“
„Ja, das ist richtig. Tarus, kommst du mit in Doktor Tabbs Praxis?“
„Gerne“, antwortete Tarus. Dann fügte er leise hinzu. „Darf Todd auch mitkommen?“
Pivie nickte. „Auf jeden Fall darf Todd mitkommen. Sollte auch nur eine Person auf der Elfenwiese etwas gegen diesen Frosch sagen, wird sie es eigenhändig mit mir zu tun bekommen.“
Mit diesen Worten schraubte sich Pivie in die Luft und flog so schnell sie konnte in Doktor Tabbs Praxis.
Dort erwartete man Pivie voller Ungeduld. Pivie ersparte sich von ihrem peinlichen Erlebnis zu berichten und erklärte – was nicht gelogen war – dass sie aufgehalten wurde. Mit dieser Entschuldigung gaben sich alle zufrieden.
Doktor Tabb rührte die Kamillenblüten in den Honig und übergab Sina den Becher.
Sina schlürfte den Honig mit großem Genuss. Kaum war der Becher leer, verschwand der Schluckauf.
Im gleichen Augenblick kam Tarus in die Praxis. Mila wäre um ein Haar vom Stuhl gefallen, sie schaffte es jedoch sich erfolgreich festzuhalten und verfiel sofort ins Schwärmen.
„Hallo Tarus, da bist du ja!“ begrüßte Pivie den Elfen.
Jetzt fiel Mila vom Stuhl. DIe anderen blickten sie besorgt an.
„Ist dir etwas passiert?“, fragte Doktor Tabb und half Mila auf.
„Mit mir ist alles in Ordnung“, sagte Mila.
Tarus machte Milas Staunen komplett, als er Pivie fragte: „Kommst du mit zum Froschwetthüpfen? Die Frösche haben das Finale verlegt. Todd kann jetzt doch daran teilnehmen.“
„Ja!“, rief Pivie. „Ich komme gerne mit!“
Und damit verabschiedete sie sich von ihren Freundinnen und Doktor Tabb und folgte Tarus nach draußen.
„Ich bitte aufzusitzen!“, begrüßte Todd sie freundlich.
Pivie bedankte sich, flog auf Todds Rücken hinter Tarus und legte ihre Arme um den Elfen.
Mila, Sina und Tiri drängten nach draußen und gafften die verwandelte Pivie an.
„Wir sehen uns später!“, rief Pivie zum Abschied und Todd eilte mit großen Sprüngen zum Froschteich.
„Gefällt es dir?“, fragte Tarus unterwegs.
„Ja!“, rief Pivie. „Nur fliegen ist schöner!“

Damit nahm das Leben auf der Elfenwiese fast seinen gewohnten Gang. Mila schwärmte nicht mehr für Tarus, denn mit dem war nun Pivie zusammen. Dafür hatte sie sich jetzt unsterblich in Maoris verliebt. Sina und Tiri verbreiteten den neusten Klatsch auf der Butterblume, aber hatten fortan überhaupt keine Angst mehr vor Fröschen. Pivie und Tarus reisten mit Todd in entlegene Orte weit ab der Elfenwiese.
Nur für Doktor Tabb änderte sich nach Pivies Abenteuer eine Menge. Auf geheimnisvolle Weise hatte sich der Elfenschluckauf zu einem Virus ausgebreitet. Jeden Tag wurde seine Praxis von dutzenden Elfen aufgesucht, die alle an dem gefährlichen Elfenschluckauf litten.

Impressum

Texte: © 2011, Alexandra Bauer Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /