Cover

Introduction und Inhalt

 

Elvi Mad

 

Mica - Obsession
Arriba los que luchan por el poder del amor!

 

Erzählung

 

 

L'amour, c'est comme la foudre : on n'en est nulle part à l'abri.

William Faulkner

Ich habe noch nie er­lebt, wie man empfindet, wenn ein für verschollen Gehaltener plötzlich wieder auftaucht, aber viel intensiver kann es auch nicht sein, wie das, was ich emp­fand, als ich Joscha in der Uni begegnete. Er war auch zu Hause geblieben. Nein, gut gehe es ihm nicht. Er habe sehr unter unserer Trennung zu leiden, erklärte Joscha. Wir sprachen nicht viel, wollten uns nur intensivste Liebkosun­gen und Zärtlichkeiten zukommen lassen, wie sie möglich sind, wenn man sich im Foyer gegenüber steht. In der anschließenden Vorlesung konnte ich mich nicht konzentrieren. Ein Euphemismus. Ich konnte die Stimme der Professorin nicht ertragen, die meine Ohren quälte. Am liebsten wäre ich nach unten ge­rannt, hätte ihr das Mikro abgeschaltet und sie verdroschen. Kein Wort ver­stand ich, hörte nur das schnarrende Geräusch der Dozierenden, das mir enorm auf die Nerven ging. Jedes Wort von jedem hätte ich jetzt als Belästi­gung empfunden. Es hatte keinen Sinn, ich musste da raus und fuhr nach Hau­se. Warf mich aufs Bett, trommelte auf die unschuldigen Kissen und schrie ein­fach. Meine Mutter, die reinkam, herrschte ich an: „Lass mich in Ruh.“ Das hat­te sie von mir noch nie gehört. Mein Liebster muss leiden. Eine unerträgliche Vorstellung. Als ob mir jemand ätzende Flüssigkeit in offene Wunden gösse, so schmerzte es. Ich litt, schrie und weinte für Joschas Qualen. Woran ich sonst noch litt und dachte, und was mir durch den Kopf lief, weiß ich nicht mehr genau, ein Tobsuchtsanfall meiner Seele, als ob sich alles in mir verkrampfte. Irgendwann muss ich wohl vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Als ich am Nachmittag wach wurde, kam ich mir geläutert vor, wie erwacht aus einem Koma ähnlichen Nie­mandsland. Jetzt konnte ich auch wieder mit Mutter sprechen. Wir waren beide ratlos. Als ich Joscha einige Tage später wieder traf, lief es fast identisch ab. Ich versuchte mich immer in der Gewalt zu behalten, redete mir etwas ein, aber es blieb ohne Konsequenzen. „Mica, das geht doch nicht. Wir werden dich irgendwann in der Psychiatrie besuchen müssen.“ bewertete meine Mutter ängstlich mein Verhalten. Nein, zum Psychotherapeuten wollte ich trotzdem nicht. „Ich kann es nur nicht ertragen, Joscha zu treffen. Sonst ist doch alles o. k.. Wir müssen uns nur aus dem Wege gehen, dürfen uns nicht sehen.

 

Mica - Obsession - Inhalt

Mica - Obsession 3

Joscha 3

Kümmerdasein am Küchentisch 4

Hohe Kapelle der Kommunikation 5

Ich muss noch einkaufen 6

Gemischtgeschlechtliche, jüngere Zweierbanden 7

Was willst du überhaupt von mir? 7

Sofort in den Himmel 8

Nackte, wirkliche Menschen 9

Höchster Gipfel der Glücksgefühle 10

Beide gedopt 12

In Drachenblut gebadet 13

Wie Schlangen sich lieben 14

Königssohn und seine Cinderella? 16

Irritationen 17

Vertreibung aus dem Paradies 18

Nicco 20

Gelähmte Tage 21

Tobsuchtsanfall meiner Seele 23

Das machen wir aber nie wieder 25

Alleine kein gescheites Leben 27

Sternennacht 28

Besuch bei Ruth 29

Nur Genuss und Sinneslust 33

Obsession mit festem Wohnsitz 35

 

 

Mica - Obsession - Joscha

„Montag ist Ruhetag“, sagt Joscha, aber Joscha ist ein bisschen plemplem. Am Montag sollen wir uns nicht stören. Wir stören uns nämlich immer nur. Andere würden vielleicht sagen: „Die lieben sich.“, aber so war das nicht. Ich liebte ja Nicco, und das war ganz anders. Joscha, der gehörte mir, war in mir, gleich vom Nachmittag an, als wir uns kennenlernten. Ich habe ihn ganz aufgenom­men, alles von ihm ist in mir, er gehört zu meiner Person. Bei Menschen ist das schon sehr kompliziert, selbst bei toten Gegenständen funktioniert das ja nicht vollständig, es bleibt immer ein Rest, den du nicht erkennen kannst. Sogar bei einem Fahrrad kannst du nicht alles voll erkennen und in dich aufnehmen. Die molekulare Struktur seines Rahmens zum Beispiel, wird dir immer verborgen bleiben. Menschen verfügen über eine weit größere Anzahl molekularer Struk­turen und darüber hinaus über vieles, was du auch sonst nicht erkennen kannst. Dir stehen nur die Kapazitäten deiner Wahrnehmungsorgane und ihre Interpretationsmöglichkeiten zur Verfügung. Was nicht bereits in dir ist, kannst du nicht erkennen, und davon gibt es bei einem anderen Menschen meistens nicht wenig. Trotzdem wusste ich mehr von Joscha, als er von sich selbst. „Jo­scha, ist das dein richtiger Name, oder steht auf deiner Geburtsurkunde etwas anderes?“ hatte ich ihn gefragt. „Aljoscha steht dort, aber für alle bin ich eben nur der Joscha.“ bekam ich zur Antwort. „Bist du traurig darüber? Möchtest du, dass ich Aljoscha zu dir sage?“ erkundigte ich mich. Mit einem lang gezogenen „Nein!“ fuhr Joscha lachend auf, „Aljoscha, so nennt mich doch niemand.“ „Na prima, Al Joscha das mag ich auch nicht. Hört sich an wie El Cordobés, nicht wahr? Und ein Stierkämpfer, das bist du doch nicht, oder?“ lautete meine An­sicht. Wir redeten immer Blödsinn miteinander, störten uns eben. Nein, so stimmt es überhaupt nicht. Wir sprachen ernst und engagiert, es war uns wich­tig und wir diskutierten sehr involviert. Nur unsere Zwerchfelle waren trotzdem ständig einsatzbereit und lauerten auf eine Gelegenheit, uns lachen zu lassen. Wenn ich gewusst hätte, dass er Aljoscha heißt, hätte ich ihn nicht einfach von mir aus Joscha, Jossy oder Alexey genannt. Du solltest andere Menschen bei ihrem Namen nennen. Es ist ihr Name, er gehört ihnen, wenn du eine Abkür­zung, ein Diminutiv oder eine Koseform benutzt, sagt es etwas über dich aus. Du hast dich des Namens deines Mitmenschen bemächtigt, und verwendest ihn nach deinem Belieben. Das ist frech. Die Menschen, die Günther mit Günni be­nennen, haben ihn in der Regel nicht gefragt. Mein Name? Was ist denn eigent­lich mein Name? Lautet er Michaela, so wie es im Pass steht, oder bin ich Mica, so wie mich alle nennen, seit ich mich erinnern kann. Michaela, den Namen habe ich mir selbst nicht gegeben. Er stammt von meinen Eltern, ich mag ihn nicht, und meine Eltern nennen mich auch nie so. Wenn ich Mica genannt oder gerufen werde, dann bin ich das, ich mag den Namen und identifiziere mich damit. Aber in Telefonbüchern, im Internet, sonstigen Namensverzeichnissen und an der Uni existiere ich nicht, eine Mica Herward kommt nirgendwo vor. Ständig und überall taucht aber diese Michaela auf, mit der ich nichts zu tun haben will. Mit ihr kann ich mich nicht identifizieren, das bin ich nicht. Ich habe mich schon mit Leuten gestritten, ob ich Mica oder Michaela heiße, habe ihnen angedroht, nicht mehr mit ihnen zu reden, wenn sie mich weiter Michaela nennen würden, worauf sie bestanden hatten, weil das mein richtiger Name sei. Den Namen kennen sie schon alle, aber die wirkliche Mica Herward kennt niemand. Die wirkliche Mica existiert schon, nur ich kenne sie ja selbst nicht einmal vollständig. Wenn ich an mich denke, habe ich eine Vorstellung von mir. Meine Vorstellung hat niemand sonst, wenn er meinen Namen sagt. Jede und jeder hat seine nur ihr beziehungsweise ihm eigenen Assoziationen und Bilder, wenn sie meinen Namen nennen und hören, und trotzdem können wir uns verständigen. Wenn ich sowieso für jede und jeden jemand anders bin, wäre es da nicht auch gleichgültig, wenn sie mich Michaela nennen würden, nur ich mag nicht hören, dass ich das sein soll.

 

Kümmerdasein am Küchentisch

Ob ich nicht endlich mal beginnen wolle, erwachsen zu werden, hatte meine Mutter sich mehr fordernd als fragend an mich gewandt. Was wollte sie denn jetzt für obskure pädagogische Ritualien an mir exemplifizieren? Hochgezogene Brauen bei geschlossenen Lidern und skeptisch abwertend breit gezogenen Lip­pen verdeutlichten meiner Mutter, dass ich wohl nähere Erläuterungen wünsch­te. „Mica, als Kind war das ja meistens lustig, aber heute können deine Son­derwünsche und Spezialansichten schon mal nerven.“ erklärte sie. „Und was sollte ich machen, damit deine Tochter endlich erwachsen würde?“ wollte ich es genauer wissen. „Sich einfach mal schlicht so verhalten, wie es gewöhnlich ist, wie es andere auch tun, ohne jede Art von Extravaganzen.“ wusste meine Mut­ter dazu. „Und jetzt konkret, was ist es da, was gewöhnlich wäre, und was die anderen auch täten.“ wollte ich es für diesen Moment wissen. Angenehm war Mutter die gesamte Situation auch nicht, aber es hatte sie wohl irgendetwas bedrängt. „Na ja,“ begann sie zögerlich, „einen schlechten Tag hab' ich doch auch mal, bin auch mal mies drauf. Das haben ja alle Menschen, Julian (das war mein Vater) hat das auch. Aber es reicht doch, wenn du selbst darunter leidest. Du musst doch nicht auch die anderen damit quälen.“ bezog es Mutter auf meine Stimmung, die ihr wohl nicht entgangen war. „Du meinst schön lus­tig sollte ich spielen, tun als wenn nichts geschehen, und ich glücklich wäre? Erwachsen ist das nicht, das ist gelogen.“ gab ich meinen Kommentar dazu. „Los erzähl schon. Was ist passiert?“ reagierte Mutter. „Nix ist passiert. Ich hab' mich nur aufgeregt. Die Bettina, die kennst du doch auch, hat heute ein Referat gehalten. Da fehlten wesentliche Aspekte neuerer Diskussion, und die Bibliographie wies auch bedeutsame Lücken auf. Warum tut sie das? Dass Bet­tina es nicht besser auf die Kette kriegt, kann nicht sein. „Das ist genug, das muss reichen.“ sagt sie sich, genauso wie bei den Hausaufgaben früher in der Schule. Wo und wer ist sie denn selbst dabei? Sie ist eine, die etwas für andere fabriziert, und da tut sie nicht mehr, als dass es soeben reicht. Sie selbst spielt darin gar keine Rolle, sie hat sich abgegeben. Wenn sie das bei dem Referat so macht, tut sie es doch auch anderswo. Hat ihr eigenes Leben abgegeben, tut das, was andere von ihr wollen und erwarten. Sie lebt nicht selbst voll in dieser Welt, sondern führt ein Kümmerdasein am Küchentisch.“ erzählte ich vom Grund meiner Aufregung.


Hohe Kapelle der Kommunikation

Wir hörten uns beide immer sehr gut zu, versuchten uns genau zu verstehen, Mutter mich besonders, aber jetzt scherzte sie: „Im Moment führen wir ja auch ein Leben am Küchentisch.“ bemerkte sie und schmunzelte. Direkt am Küchen­tisch führten wir öfter unser Leben. Ein Kümmerdasein war es aber absolut nicht. Am Spätnachmittag oder kurz vorm Abendbrot trafen Mutter und ich uns gewöhnlich hier. Einen Kaffee wollten wir gemeinsam trinken. Kaffee schmeckt gut, aber wenn wir zusammenkamen wurde ein Licht angezündet, ein glanzvol­les, strahlendes, warmes Licht in der hohen Kapelle menschlicher Kommunika­tion. Ob allein durch unseren Kontakt jetzt mehr Energien flossen? Das siehst du ja nicht, die sollen ja magisch sein, aber dass allein durch unser Zusam­mentreffen das Hintergrundempfinden um mehrere Level angehoben wurde, das spürtest du sehr deutlich, es waren ja deine Gefühle. Mutter hatte ich nicht in mich aufzunehmen brauchen. Sie war schon in mir, bevor wir uns anblicken konnten. Isa, die eigentlich Isabella hieß, was ich viel schöner gefunden hätte, habe ich es mal erklärt. Sie hatte gemeint: „Du und deine Mutter, ihr seid rich­tige Freundinnen, nicht war?“ „Ja, sehr gute, alte Bekannte sind wir.“ hatte ich gescherzt, „Isa, ich bin meine Mutter. Alles was du von mir siehst, anfassen, befühlen und kneifen kannst, alles nur von meiner Mutter. Von ihrer Nahrung und der Luft, die sie geatmet hat, bin ich entstanden und seit der Geburt ver­mehrt und erneuert sich das alles nur. Sie sagt, ich sei nicht nur in ihrem Bauch gewachsen, sondern von Anfang an auch in ihren Gefühlen, in ihrer See­le, in ihrem Herzen, und da könne man nicht geboren werden, da gebe es kei­ne Nabelschnur, die man durchtrennen könne. Da bliebe ich immer, für ihr gan­zes Leben. Seitdem sei sie ein anderer Mensch als vorher, jetzt gehöre auch ich dazu. Weißt du, Isa, alles an mir ist meine Mutter und ich bin ganz in ihr, wir gehören uns. Freundinnen? Ist das nicht ein absolut schlaffes Wort, ziemlich daneben, oder?“ „Weißt du noch, als du gesagt hast, der Tisch gehöre jetzt dir?“ erkundigte sich Mutter. „Natürlich, du hast mich doch gefragt, ob ihr denn dann auch noch daran sitzen dürftet.“ wusste ich noch. „Und dann hast du er­klärt, dass du sehr lange nachgedacht hättest. Alles, was man über den Kü­chentisch denken könne, sei jetzt in deinem Kopf, es gehöre zu dir, der Tisch sei jetzt ein Teil von dir. Ich habe nur gestaunt. Du warst ja noch ganz klein.“ ergänzte Mutter. „Aber im Grunde ist das doch nichts Ungewöhnliches. So eig­nen sich Menschen doch die Welt an, so lernen sie, indem sie sich voll auf et­was einlassen, sich nur noch mit dieser Sache befassen, bis sie es verinnerlicht haben, bis es ein Teil von ihnen ist.“ bemerkte ich dazu. „Ja, ich glaube, das ist den Menschen angeboren, Kinder tun es automatisch und Erwachsenen gefällt es auch besser. Das Baby ja schon, ist nur in seine Welt des Saugens und Schluckens involviert. Alles andere existiert nicht, bevor es satt ist.“ sah es Mutter. „Ich weiß nicht, ob du so ganz Recht hast? Für Kinder trifft das sicher zu, aber ob es Erwachsenen auch immer besser gefällt? Das wissen sie doch meistens gar nicht, sie können das überhaupt nicht erkennen. Die meisten leben doch so, wie sie es gewohnt sind, tun das, was sie tun, so wie sie es alle machen, was andere von ihnen verlangen oder erwarten und davon so viel, dass es reicht.“ entgegnete ich.


Ich muss noch einkaufen

Es gibt unendlich vieles, bei dem du dich nicht selbst einbringst. Millionen klei­ner Wahrnehmungen, die sich dir jeden Tag aufdrängen und von denen dir das Allermeiste nicht bewusst wird, aber es gibt auch Angelegenheiten, auf die du dich gar nicht tiefer einlassen möchtest. Warum, das weißt du oft nicht einmal genau. Mit Nicco, meinem Freund zum Beispiel, ist alles in Ordnung so wie es ist. Mehr will ich dazu gar nicht wissen. Oder in manchen Seminaren oder Vor­lesungen gibt es eine fortlaufende Fülle komplexer Informationen, die du nur speichern, verarbeiten und memorieren musst. Du persönlich bist da fehl am Platze. Eine Chance, dich einzubringen und dich zu verwirklichen, existiert nicht. Bei dem Seminar, in dem Bettina in der letzten Woche ihr Referat gehal­ten hatte, war das völlig anders für mich. Da war ich engagiert, total involviert, es war mein Seminar, ich lebte es. Gerade deshalb war Bettinas Referat mit ih­rem daraus ersichtlichen Verhalten für mich auch so ärgerlich. Heute gab es ein anderes Referat, es bot zu heftigen Diskussionen Anlass und ich unterhielt mich auch mit meinem Nachbarn. Wir redeten nach dem Ende des Seminars weiter. Warum? Und worum ging's? Wir waren schon weit in anderen Berei­chen, aber wenn der Junge etwas sagte, musste ich doch Stellung dazu bezie­hen. Er blickte mir manchmal so sonderbar in die Augen. Mein tiefstes Inners­tes wollte er, glaube ich, nicht erkennen. Mir kam es eher vor, als ob er sich vergewissern wolle, dass ich bei dem gemeinsamen Streich auch wirklich mit­machen würde. Na klar, würde ich doch. Das Lächeln um meinen Mund, wenn ich ihn anblickte, was hätte das sonst bedeuten sollen. Mittlerweile redeten wir über wissenschaftstheoretische Fragen. Besonders firm waren wir da beide nicht, so verlief die Diskussion auch viel bewegter und sprunghafter, hatte die öden, eintönigen Pfade eines glatten Diskussionsverlaufes verlassen. Sehr ernsthaft und gewichtig trugen wir unsere Argumente schon vor, nur waren sie eben häufig von diesen unverständlichen Blicken und dem zusammenhanglo­sen Lächeln begleitet. Mir fiel auch auf, dass ich dem Jungen nie widersprach. Keinesfalls war ich mit allem einverstanden, was er sagte, aber ich verhielt mich anders als gewöhnlich. „Annett, du siehst das aus einer völlig falschen Warte.“ hätte ich gesagt. Jetzt bei dem Jungen sagte ich nur: „Ach, meinst du?“ und fragte nach, wie er zu dieser idiotischen Ansicht gekommen war. Aber das machte nichts, ich meinte zu empfinden: „Der darf das.“ Wir mussten raus, der Raum sollte geschlossen werden. Aber unsere Diskussion, die war doch nicht zu Ende, die konnten wir doch nicht einfach abbrechen. Welches Ziel hat­te das Gespräch denn? Welche Fragen waren denn noch offen? Törichte Gedan­ken. Wir diskutierten und wollten weiter miteinander reden. Reicht das nicht? „Es gibt nur ein Problem,“ begann der Junge, der Joscha hieß, wie er mir inzwi­schen verraten hatte, räsonierend, „ich muss noch einkaufen.“ Die Unsicherheit hat ihren eigenen Kitzel. Sollst du losplatzen? Hat er unbewusst so einen Un­sinn geredet oder vielleicht sogar absichtlich. Findest vielleicht nur du es urko­misch, weil dieser Joscha es gesagt hat, bei dem du immer darauf wartest, dass er etwas Kurioses tut? „Ja, ja, ich verstehe. Wenn du hinterher noch ein­kaufen musst, können wir uns nicht sinnvoll unterhalten. Du kannst dich nicht konzentrieren, kannst dich nicht voll auf das Gespräch einlassen, weil über dir ständig das Damoklesschwert des Einkaufens schwebt. „Ich muss noch einkau­fen, ich muss noch einkaufen, ich muss noch einkaufen.“ denkst du ständig und kannst meine Worte gar nicht voll aufnehmen und verstehen, wird es so sein?“ versuchte ich Joscha zu verstehen. „Mhm“ meinte der nur und zeigte durch sein anhaltendes Grinsen, dass es ihm gefiel. „Sollten wir eventuell zu­erst einkaufen und uns dann weiter unterhalten?“ schlug ich vor, „Dann könn­ten wir ja sogar beim Einkaufen selbst miteinander reden.“


Gemischtgeschlechtliche, jüngere Zweierbanden

Natürlich kauften wir gemeinsam ein, nur unsere Diskussion befasste sich da­bei eher mit Themen der skurrilen Wissenschaften beziehungsweise des bana­len, idiotischen Alltagsgeschehens. Von den Vorteilen, die den Kauf unbedingt erforderlich machten, versuchte ich Joscha zu überzeugen, weil er das Super Balloon Bubble Gum, das ich ihm in den Einkaufswagen gelegt hatte, zurückle­gen wollte. Über die dicke Fleischwurst, die ich ihm an der Kühltheke in den Wagen legte, sprach ich gar nicht mehr mit ihm. Zwei Steaks orderte er an der Fleischtheke. „Hey, zwei Steaks, die isst du doch alleine auf.“ monierte ich. „Entschuldigung, „Vier Steaks, bitte.“ Ich wusste ja nicht, dass du zum Abend­brot bleiben würdest.“ entschuldigte sich Joscha. „Papperlapapp, was redest du? Wir gehen gemeinsam einkaufen, ich stehe neben dir, da könntest du doch auch mal an mich denken.“ reagierte ich. Joscha suchte gar keine Argumente, warum er ausgerechnet dies oder jenes heute nicht benötige, wozu ich ihm dringend geraten hatte, er krümmte sich immer nur vor Lachen. „Nein!“ stöhn­te er auf, als er die Maggi-Tütensuppe an der Kasse auf's Band legen musste. Die Kassiererin nahm sie ohne jeden Kommentar vom Band und legte sie zur Seite, trotz meines intensiven Hinweises auf den hohen Flüssigkeitsbedarf des Menschen, auch in Form von Suppen. Ganz offensichtlich eine sehr erfahrene Frau, die sich im Umgang mit gemischtgeschlechtlichen, jüngeren, menschli­chen Zweierbanden auskannte. Ob wir im Shopping-Paradies die Diskussion geführt hatten, die uns auch vorher schon im Unbewussten kitzelte, deren Ver­balisierungen aber in der Uni zu den unaussprechlichen Worten gehört hatte? Seit dem Einkaufen war es endgültig evident, dass nicht nur Joschas oder Mi­cas geistreiche Argumente den anderen verzücken konnten.


Was willst du überhaupt von mir?

 

„Und zu Haus da packen wir es aus.
Sieht das nicht wie gelber Honig aus?
Sieht das nicht wie gelber Honig schier?
Und der Joscha nimmt es sanft aus dem Papier.
Und die eine Hälfte ist für Mica,
Und die andere bekommt der Joscha.
Für beide soll die Hälfte sein
Von dem eingekauften Päckchen Sonnenschein.“

zitierte ich in Abwandlung ein Gedicht von Christian Morgenstern. Joscha freute sich, zeigte einen breit lachenden Mund, und seine Augen sahen stark danach aus, als ob er mich am liebsten umarmen, drücken und küssen würde. So hat­te ich ihn schon öfter blicken sehen. Warum tat er's denn nicht einfach? Nein, nein es war schon besser so. Man konnte doch nicht einfach zwei Worte mitein­ander wechseln, zusammen einkaufen gehen und sich um den Hals fallen und küssen. Da war ein wenig Contenance schon angezeigter. Vielleicht hatte er ja auch eine Freundin und durfte nicht einfach fremde Mädels küssen. Das wusste ich ja alles nicht. Nichts wusste ich von ihm. Jetzt wusste ich, wo er wohnte, und dass er gern Steaks aß. Aber sonst? Ich wusste nicht einmal, warum er spanisch studierte. War er mit seinen Eltern immer an die Costa Brava gefah­ren? Oder fuhr er selbst manchmal zum Ballerman 6? Bei anderen hätte ich das für ein Verbrechen gehalten, aber so viel wusste ich von Joscha doch schon, dass es für mich bei ihm nicht unerlaubt war. Über seinen Ausdruck, seine Sprache, seine Mimik und Gestik verriet er so vieles von sich. Meine Sprache hatte nicht die passenden Worte dafür, um es umfassend zu beschrei­ben. Empfindungen, Bilder waren es in mir, die Joscha erzeugte. Alles Bunte, Visionäre rief er in mir wach, es leuchtete klar und hell und machte es mir un­möglich zu urteilen. Ich wollte nur immer mehr von ihm, wollte wissen, erfah­ren und lauerte auf Erscheinungsformen, die möglichst exaltiert und krass wa­ren. Dass ein Student und eine Studentin sich kennenlernen, sich schon bei den ersten Worten sympathisch und ganz nett finden, wäre ja nicht extrem au­ßergewöhnlich gewesen. Vielleicht hätte man dann gemeinsam einen Kaffee getrunken, und sich eventuell sogar verabredet, es zu wiederholen. Man hätte sich gegenseitig voneinander erzählt und es ganz nett gefunden. Wir hätten so etwas spielen können und uns dabei totgelacht. Mit Joscha und mir, das war fast vom ersten Moment an neben der Spur. „Joscha, was ist eigentlich mit dir los? Nimmst eine fremde Frau aus dem Seminar mit zum Einkaufen, schleppst mich mit zu dir nach Hause, was willst du überhaupt von mir?“ musste ich von Joscha in Erfahrung bringen. Er stutzte, dann lachte er lange stumm, bevor er etwas sagen konnte: „Ich weiß nicht, ich mag dich. Du bist so, na … so, so leb­haft.“ Ich platzte los und bekam mich nicht wieder ein. Joscha lachte auch. „Ja, Mica, was soll ich denn sagen? Ich finde dich toll, prima, klasse oder so einen Blödsinn? Auch wenn ich sage 'Ich mag dich.' oder 'Du gefällst mir.' ist das schon banaler Nonsens. Wenn ich Mica sage, sehe ich alles, was du in mir be­wegst, dann kann ich es empfinden, aber Worte habe ich dafür nicht. Worte benennen, verallgemeinern etwas, damit du es kommunizieren kannst, aber sie sind nicht das selbst, was ich empfinde, wenn ich dich sehe, an dich denke oder deinen Namen nenne.“ erläuterte Joscha.

 

Sofort in den Himmel

Joscha nutzte sehr stark seine Hände zur gestischen Unterstützung dessen, was er sagte. Er formulierte die Worte nicht nur mit seinen Lippen, sondern auch mit seinen Händen und Fingern. Nein, Gehörlosensprache verstand er nicht. Das Repertoire seiner Hände war auch viel umfangreicher, viel blumiger. Alles konnte er seine Hände in den unterschiedlichsten Nuancen und Ausprä­gungen sagen lassen. Ich müsste ihn verstehen können, wenn ich mir die Oh­ren zuhielte, aber seine Hände und Worte gehörten zusammen. Das Schauspiel seiner Hände allein glich einer Arie ohne Text. An Joschas kleinem Küchentisch spielten seine Hände und Finger beim Sprechen das Gesagte neben mir auf der Tischplatte. „Und dann haben sie den Laden zu gemacht, haben sich einfach verschlossen, eine Mauer errichtet. Wie wollen sie denn die jemals wieder weg bekommen?“ erzählte er, und seine rechte Hand symbolisierte auf der Hand­kante stehend diese Mauer. „Da kommt der große Bagger, öffnet sein Maul und schnapp ...“ weiter kam ich nicht, weil ich Joscha in die Hand biss. Vorsichts­halber hatte ich sie an der Handwurzel und den Fingerspitzen festgehalten. Er­schrocken und erstaunt zog Joscha seine Hand lachend mit einem Ruck weg. Ich hielt sie aber gut fest und ließ sie mir nicht entreißen. Er zog mich dadurch zu sich rüber, verlor das Gleichgewicht und kippte mit dem Stuhl und mir um. Jetzt lagen wir beide auf dem Küchenboden, Joscha auf dem Rücken, der Stuhl auf seinen Beinen und ich schräg auf seiner Brust. Joscha wollte gar nicht wie­der aufhören zu lachen. „Joscha, weißt du, wenn jetzt ein Unheil geschehen würde, wir beide vom Blitz getroffen wären oder bei einem Erdbeben unter den Trümmern begraben lägen, wir kämen sofort in den Himmel.“ erklärte ich. „Du auch? Bist du denn frei von jeder Schuld?“ erkundigte sich Joscha weiter la­chend. „Nein, kennst du denn nicht die Schrift, wo geschrieben steht: „ …, denn ihrer ist das Himmelreich.“, gemeint sind die Kinder. Ich erinnere mich an einige Situationen, als ich klein war. Da lebst du total direkt, bist voll du selbst. Ich sehe es auch bei anderen Kindern, absolut klasse finde ich das, nur später geht das nicht mehr. Du kannst es dir nicht wünschen oder vornehmen und dann ist es so. Vorbei, du bist kein Kind mehr, aber jetzt mit uns? Erleben wir es nicht so? Ist es da nicht genauso? Wir können reden wie erwachsene Roma­nistikstudenten, aber empfinden und verhalten wir uns nicht wie Kinder?“ ana­lysierte ich unseren momentanen Daseinszustand. „Ist das sehr unbequem so für dich?“ erkundigte ich mich nach Joschas Befinden.


Nackte, wirkliche Menschen

Wir standen auf. „Komm mit!“ sagte er und nahm mich an die Hand. Innerlich musste ich immer lachen. Es war ja nichts besonders Erhebendes, ich nahm wohl alles zehnfach verstärkt wahr. Dass Joscha mich an die Hand nahm und irgendwohin führte, ein absolut irres Gefühl. Was ich alles sah. Er führt mich ins Paradies. Nein, ins Schlafzimmer führte er mich. „Ich geh' aber nicht mit dir ins Bett.“ fuhr ich entsetzt auf. Joscha lachte sich wieder tot, und erklärte, dass es sich auf dem Bett bequemer unterhalten ließe als auf dem Fußboden in der Küche. Ob er sich hier wohl mit seiner Freundin liebte? Bestimmt, aber das wollte ich jetzt nicht denken. „Vielleicht hast du Recht, vielleicht können sich Menschen den Kindzustand im Unbewussten immer erhalten. Mir kommt es eher so vor, dass wir uns als reine, wirkliche Menschen sehen wollen. Mit allen Geboten, Verhaltenserwartungen und Rollenanforderungen umhüllst du dich je­des mal mit einem weiteren zusätzlichen Gewandt, steigerst deine Maske bis du selbst nicht mehr zu erkennen bist, wir wollten uns selbst sehen, nur wir di­rekt, wie wir wirklich, natürlich, nackt sind, so nahm ich schon unsere ersten Blicke war. Ich sah in dir, das du es auch wolltest, konntest und Lust darauf hattest.“ erklärte sich Joscha. „Und sieht man bei dem nackten, wirklichen Menschen denn auch, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt?“ frag­te ich nach. „Ach, das ist doch völlig unerheblich.“ tat es Joscha ab. „Joscha, mein Lieber, du willst mir doch nicht erklären, dass sich alles genauso entwi­ckelt hätte, wenn ich ein Mann gewesen wäre.“ widersprach ich. Hinter breiten Lippen lachte er stumm. „Sag mal, begehrst du mich eigentlich?“ wollte ich es genauer wissen. Jetzt lachte Joscha laut. „Mica, das ist so fern. Direkt habe ich das noch nicht gedacht. Wir werden es sublimiert haben.“ Joscha dazu. „Ja, kommunikativ haben wir permanent kopuliert, nicht war? Mit einem Höhepunkt nach dem anderen.“ bestätigte ich ihn. Zu Beginn hatte ich im Schneidersitz neben Joscha gesessen, jetzt lag ich wieder neben ihm und stützte mich auf seine Brust. „Es ist tatsächlich so, du kannst Glück in sehr unterschiedlicher In­tensität verspüren, und einem anderen Menschen unmittelbar direkt ganz nah zu sein, ist absolut das Höchste. Mica, ich kenne dich gar nicht, weiß überhaupt nicht, wer du bist, und trotzdem ist unser Zusammensein für mich berau­schend. Es könnten meine Bilder, meine Wunschvorstellungen sein, aber ich habe so etwas noch nie erlebt, ich konnte es nicht träumen oder mir vorstellen, ich kannte es nicht. Absolut neu ist es, der Gipfel.“ erklärte sich Joscha. Ja schon, mit Mutter hatten wir auch manchmal Momente, in denen wir beinahe überschnappten vor Glück. Aber jetzt mit Joscha war es noch ganz anders. Ich empfand die Situation mit uns beiden wie Leben im Urzustand. So war es be­stimmt auch an den ersten Tagen im Paradies gewesen. Die Menschen erken­nen sich gegenseitig und wissen, was sie sich einander als Mensch bedeuten, sonst nichts. Heute morgen noch war ich zugemüllt unter einem Berg von ge­sellschaftlichem Alltagsschrott unseres gewohnheitsgemäßen Lebens. Was ich alles zu tun hatte, woran ich denken musste, wie mein Tag verlaufen würde. Wie Schießbudentant empfinde ich es. Mit Joscha war ich frei, unbedrängt von all dem, wer ich wie zu sein hatte. Nur es war eine andere Welt. Ich fühlte mich göttlich. Ich war wach, absolute Vigilanz, aber trotzdem in Ekstase. Die reinen, ursprünglichen Menschen an sich, das war natürlich ein Fantasma. Wo und wie sollte es die denn geben, aber es war eine sonnige Vorstellung, die meinem Empfinden nicht fern lag. Dass Menschen prinzipiell mehr sind als ihre evolutionär bedingten Triebe, dass alle Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle ha­ben, die unabhängig von der kulturellen Sozialisation sind, das sah ich wohl auch so.


Höchster Gipfel der Glücksgefühle

„Könnte das nicht eine Metapher für den höchsten Gipfel deiner Glücksgefühle sein?“ schlug ich Joscha vor, wobei ich mit meinem Zeigefinger an seiner Na­senspitze wackelte. Er machte nur einen ganz breiten, wonnevollen Lachmund. „Den mühsamen Aufstieg konnten wir uns ersparen.“ wobei mein Finger über die Schräge seines Nasenrückens fuhr. „Auf den dunklen Wegen an den Augen der blauen Seen haben wir sofort das Licht des Gipfels erkannt.“ kommentierte ich, während meine Finger über Joschas Augenbrauen fuhren. „Bist du Schwede? Nein, die Westfalen haben ja auch blaue Augen.“ kommentierte ich die Farbe seiner Augen. „In Spanien ist das schon auffällig. Da sprechen dich öfter Leute darauf an.“ Joscha dazu. „Bist du häufig in Spanien?“ wollte ich wissen. „Ich habe sogar in Spanien angefangen zu studieren.“ antwortete Joscha. „Und warum bist du zurückgekommen?“ erkundigte ich mich. „Der Teufel von Salamanca hat uns verhext. Nein, nicht jetzt.“ unterbrach er sich. „Liebesprobleme?“ hakte ich trotzdem nach, aber Joscha wollte nichts erzählen. „Das ist schon eine alte Geschichte. Mit Cervantes hat es angefangen, und dann war es fast für mein gesamtes weiteres Leben verantwortlich. Heute ja auch noch, wie hätte ich dich sonst treffen können?“ Joscha darauf lächelnd und wieder mit diesem Blick, der verriet, das seine Lippen sich nach meinen sehnten. „Und du, was hast du für Beziehungen zu Spanien?“ erkundigte sich Joscha. „Gar keine.“ lautete meine knappe Antwort. „ARRIBA los que LUCHAN!“ „Vorwärts ihr Kämpfenden!“, über Lateinamerika, politisch bin ich zum Spanischen gekommen. Eine Freiheitskämpferin bin ich heute immer noch, auch hier. Das hast du bestimmt erkannt, dass ich frei sein will, frei von allem Oberflächenfetischismus.“ erklärte ich lachend, während mein Mittelfinger dabei über Joschas Stirn wanderte. Über die Wangenknochen gelangte er zu den Wangen. „Wir haben die umgrenzenden Hügelketten der pannonischen Tiefebene verlassen und gelangen jetzt in die weite Ebene der patagonischen Pampa. Das Gras ist heute kahl geschnitten, gut rasiert, nicht war?“ kommentierte ich die Reise meiner Fingerkuppe und fuhr fort: „Am Rande der Pampas erheben sich die Anden, da sitzen die beiden Dioskuren und bewachen den gräulichen Höllenschlund, in den der Joscha Steaks in kleinen Häppchen wirft, um sie in seinem tiefsten Innersten zersetzen zu lassen. Castor sitzt oben, der hat den besseren Überblick und Pollux achtet mehr auf die lukullischen Finessen.“ erläuterte ich während mein Finger über Joschas Lippen strich. Der tat gar nichts. Lag nur wonnestrahlend da und lauschte, als ob die Mami ihm eine süße Gutenachtgeschichte erzählte. „Was meinst du, ob sich unser beider Dioskuren auch wohl so nahe kämen wie wir, wenn sie sich treffen könnten?“ wollte ich von Joscha wissen, aber der lachte nur stumm und öffnete seine Lippen. Es ist was es ist, nur bei Joscha war nichts so wie es war. Da war alles immer etwas ungemein Spezielles. Ich touchierte nicht einfach sanft die Lippen eines Jungen, es waren Joschas Lippen, die ich berührte. Ich habe noch keinen Engel geküsst, vielleicht wird das ein ähnliches Gefühl sein. Dabei waren Joschas Lippen stinknormal, nur in meinem Kopf ließ ich alles zu kleinen Wundern avancieren. Warum? Ich wollte nichts, nahm mir nichts vor, hätte mir so etwas gar nicht ausdenken können. Ich war bekloppt, aber es fühlte sich ungemein gut an. Noch nie hatten unsere Lippen und Zungen die eines anderen gespürt. So musste es wohl sein. Vorsichtig und sanft erkundeten wir uns gegenseitig, und ein Lächeln umspielte unsere Augen. Plötzlich verschwand das Lächeln und die Berührungen hatten alles Zögerliche verloren. Wir saugten uns aneinander fest. Außen hatte Joscha seine Kleider und war auch in seiner Haut gefangen, jetzt erkundete meine Zunge ihn von innen. Wo Gaumen und Zunge sind, konnte auch sein Herz nicht fern sein. Was wir bislang mit Worten ausgetauscht hatten, saugte ich jetzt körperlich auf. Ich spürte überall in meinem Körper, wie es mich füllte, und auch dass Joscha ein Mann war, spürte ich jetzt zum ersten mal. Bestimmt hatte mein Unbewusstes auch schon vorher damit agiert, aber jetzt nahm ich es deutlich war. Vom Küssen erschöpft lagen wir nebeneinander auf dem Rücken. Joscha beugte sich über mich, lächelte zwar dabei, aber seine Mimik fragte und erwartete wohl Erklärungen von mir. Wozu denn? So war es eben, wenn zwei wirkliche, reine Menschen sich küssten. „Jetzt weiß ich auch innen alles von dir. Ich habe von allem in dir eine Kopie abgesaugt.“ ließ ich Joscha wissen. Er machte ganz breite Lippen, als ob er losplatzen wolle, umfing mich aber und wälzte sich mit mir. „Mica, Mica, Mica, oh, Mica!“ rief er dabei und gab mir wie zum Abschluss noch einen Kuss auf die Lippen. Jetzt konnte ich Joschas Gesicht auch mit Lippen und Zunge erkunden. Ich sollte immer die Landschaften benennen, in denen ich mich gerade befand. „Jetzt bewegen wir uns über die südlichsten Kämme der Kordilleren.“ kommentierte ich meine über seinen Hals gleitenden Lippen. „Wir wollen auf's Meer, wollen Kap Hoorn umsegeln und in die Weiten des Pazifiks, aber die kalbenden Gletscher versperren uns den Weg. Wir werden das Eis brechen und uns einen Pfad eröffnen.“ erklärte ich, während ich Joscha das Oberhemd aufknöpfte. „Ich wollte aber nicht dein T-Shirt küssen.“ stellte ich entrüstet fest. Joscha richtete sich auf und zog sich aus. Bevor er sich wieder hinlegte, um sich weiter verwöhnen zu lassen, legte er seine Wange an meine. Er musste absolut selig sein. Viel weniger selig war ich bestimmt nicht, sagte aber: „Oh, ein kräftiger, herber Männerodeur, wie mich das antörnt.“ „Was? Wieso? Nein!“ reagierte Joscha erschreckt. „Keine Angst, mein Liebster, süß-liebliches Duschgel verkündet dein Duft und ein kleines Fitzelchen riechst du auch nach Joscha. Das riecht noch besser als Duschgel.“ beruhigte ich ihn. Dazu mussten wir uns umarmen, blieben so, und meine Hände strichen über die Haut von Joschas Rücken. Kleine Mädchen hätten sich vielleicht nicht für den Rücken eines Mannes interessiert, aber Kinder waren wir trotzdem. Meine haptischen Rezeptoren konnten nicht erkennen, dass es Joschas Haut war, über die sanft meine Finger glitten. Mein Kopf spielte verrückt. Er wandelte die taktilen Informationen in Erlebnisse um, die er meinen ganzen Körper spüren ließ.


Beide gedopt

„Joscha, die Steaks, hattest du die nicht für heute gekauft? Oder wolltest du sie noch ein paar Tage abhängen lassen, damit sie den richtigen Hautgout be­kommen?“ wollte ich wissen. „Willst du jetzt etwa Steaks braten?“ Joscha ver­wundert. „Du hast schon Recht, Joscha. Wir meinen uns in deiner Wohnung zu befinden, aber in Wirklichkeit findet unser augenblickliches Leben anderswo statt. Nicht in einem anderen Land oder auf einer Insel, wir bewegen uns auf einem anderen Planeten. Aliens oder etwa Zombies gibt es hier nicht und auch nicht diese durch ihre Rollenanforderungen verunstalteten Monster, die ihr technologisiertes Alltagsleben dem Oberflächenfetischismus geweiht haben. Nur die reinen, natürlichen, nicht verunstalten, wirklichen Menschen leben hier. Du denkst, vieles aus deinem gewohnten Erdenleben zu kennen, aber nein, die Benennungen mögen identisch klingen, aber alle Begriffe haben hier einen anderen, einen neuen Gehalt. Wie zum ersten mal erlebt, erfahren wir alles, aber trotzdem sind wir Menschen wie die in der Alltagswelt. Unsere Physiologie ist nicht neu und verändert, sie fordert auch auf dem neuen Planeten Speise und Trank zu unserer Ernährung.“ erläuterte ich Joscha die Grundlagen für ein Bedürfnis nach den Steaks. Große Augen starrten mich an. Ob er nicht verstanden hatte? „Du meinst, Lust und Liebe würden würden reinen, wirklichen Menschen das Überleben garantieren. Wunschvorstellungen. Auch der absolut pure Mensch darf die Faktizität der Notwendigkeit des banalen Umsatzes von Lebensmitteln nicht leugnen.“ fügte ich als ernährungsphysiologischen Kommentar hinzu. Seit wir auf dem Küchenboden lagen hatten wir keine Worte für eine gehaltvolle Unterhaltung mehr gefunden, hatten uns nur noch mit uns selbst beschäftigt. Ob es sich wieder ändern würde, wenn wir jetzt in die kleine Küche zurück gingen? Ob das Bett nicht nur als Grundlage für unsere Körper gedient, sondern auch die Basis unserer Diskussionsinhalte dominiert hatte. Die Chancen standen nicht gut, dass wir jetzt wieder über neuere spanische Literatur oder Poder Popular reden würden. Ich vermutete stark, dass auch in der Küche unsere Themen eher im Bereich von 'el poder del amor y la alegria' (Macht der Liebe und Freude) liegen würden. Obwohl, das Wort 'Liebe' hatte bislang keiner von uns beiden verwendet. Es hätte nicht nur sonderbar geklungen, sondern wäre auch unpassend gewesen. Meiner Mutter und meiner Omi hatte ich besonders als Kind häufig erklärt, wie lieb ich sie habe. Das gefiel mir nicht nur selbst, sondern brachte auch in der Regel positive Konsequenzen mit sich. Na ja, und deinem Freund, mit dem du zusammen ins Bett gehst, sagst du es schließlich auch. Aber meinen Vater und Eva, meine Freundin, liebte ich gewiss, nur gesagt: „Ich liebe dich.“ hatte noch keinem von den beiden. Wenn ich gesagt hätte: „Joscha, ich liebe dich.“, wäre das ein Anlass zum Lachen für uns beide gewesen. Liebe ist ein Allerweltswort und für die verschiedensten Anlässe verwertbar. Was Joscha und mich verband, und was wir voneinander wollten, wussten wir ja selbst nicht genau, aber es 'Liebe' zu benennen, wäre uns als absolut unspezifisch und auch wie trivialer Schmus vorgekommen. Wir waren offensichtlich beide gedopt, hätten gar nicht anders gekonnt, und da bist du auch zu Aktivitäten und Verhaltensweisen in der Lage, für die es im gewöhnlichen Alltag gar keine Benennung gibt.


In Drachenblut gebadet

Die Rosmarinkartöffelchen zu den Steaks hatte ich zu braten. Zwischendurch musste ich immer mal wieder die Haut meiner Wange die von Joschas Rücken erfahren lassen, oder ich drückte ihn hinter ihm stehend an mich, wobei ich meinen Kopf auf seine Schulter legte. Auch beim Essen musste ich öfter das Messer weglegen, und meine Hand über Joschas Rücken gleiten lassen. „Es schützt dich Joscha. Meine Hand überzieht deinen Rücken mit einem unsichtba­ren Schutzfilm. Er wird dadurch unverletzbar und unangreifbar gegen alles Un­bill dieser Welt. Als ob du in Drachenblut gebadet hättest, so schützt es dich gegen die eisigen Winde, die aus den Nordlanden zu uns herüber kommen und auch gegen die beißenden Injurien deiner zänkischen Mitmenschen. „Nein, Joscha, dein Vorverdautes will ich nicht und ebenso nichts von deinem bloody Steak. Du kannst mich mit einem Kartöffelchen füttern, wenn dich danach gelüstet, und ich könnte ein Gleiches für dich tun.“ stellte ich klar, als Joscha mich mit vollem Mund küssen wollte. Diese gegenseitigen Fütterungsspiele hielt ich für abgeschmackte Verliebtheitsritualien die wirklicher Menschen unwürdig waren. Wir unterhielten uns noch über die Natürlichkeit von Braten und Kochen. „Nur weil alle Tiere ihre Nahrung so zu sich nehmen, wie sie in der Natur vorkommt, kannst du doch nicht alles andere als widernatürlich ablehnen. Du hättest ja deine Steaks auch ganz roh essen können. Alle kulturellen Errungenschaften der Menschen, willst du doch wohl nicht verurteilen, weil sie so in der Natur nicht vorkommen. Alle wundervollen Dinge, die der höheren Befriedigung unserer Sinne dienen, sind doch von Menschen geschaffene Werke, die es so in der Natur nicht gibt. Das hättest du doch schon als Jugendlicher bei Cervantes merken müssen.“ stellte ich klar. Joscha sinnierte: „Du meinst also, Kochen, Braten und Backen widerspreche nicht der Lebensweise eines natürlichen, wirklichen Menschen, sondern sei eher als hohe Kunst anzusehen, durch die es den Menschen gelungen sei, die allen eigenen Bedürfnisse nach gustatorischen Genüssen immer mehr und dezidierter befriedigen zu können?“ Das Kochen nicht nur gustatorische Bedürfnisse sondern auch kommunikative Lust befriedigen kann, was ich von den Erfahrungen mit meiner Mutter deutlich wusste, habe ich Joscha nicht erzählt.


Wie Schlangen sich lieben

Was wir nach dem Essen machen wollten, bedurfte keiner Frage. Natürlich wie­der ins Bett, was sonst. Zurück im Schlafzimmer meinte Joscha: „Willst du nicht auch was ausziehen?“ „Ich, was denn?“ meine Reaktion. Joscha zeigte durch Mimik und angehobene Schultern, dass er darauf auch keine Antwort wisse. Einen Moment später fiel sie ihm aber ein. „Alles.“ sagte er nur. Ich lachte auf: „Ich, jetzt, hier, alles ausziehen?“ „Wäre am besten.“ wusste Joscha als Begründung. Was ich in Windeseile alles für kuriose Gedanken durchspielen musste? „Na, gut,“ sagte ich, „dann musst du deine Hosen aber auch auszie­hen.“ Von Verlegenheit war in unserem Lächeln nichts zu erkennen, eher amü­siert über den weiteren Schritt in unserem Streich schienen wir zu sein, als wir uns nackt vorm Bett stehend umarmten. Das Adam Eva geliebt hat, davon steht in der Bibel auch nichts, nur gut sollte sie für ihn sein, und das waren wir beide uns allemal. Gut für das tiefste Bedürfnis, uns gegenseitig so nahe wie menschenmöglich zu sein. Wie auf einem Schieberegler könne man bei Men­schen Distanz und Nähe festlegen, hatte Joscha gemeint, zwischen null, völli­ger Distanz, und hundert, absoluter Nähe, sodass man fast verschmelze. „Und du hast den Regler bei uns auf Hundert gestellt, nicht wahr?“ hatte ich vermu­tet. „Das kannst du doch nicht selbst einstellen.“ hatte Joscha erklärt, „Du könntest es schon leicht verändern, aber die meisten Menschen kommunizie­ren, als ob ihnen nichts wichtiger wäre, wie die bestehende Distanz aufrecht zu erhalten, obwohl sie doch wissen müssten, wie schön und wertvoll es für sie wäre, einem anderen Menschen näher zu kommen.“ „Na, die Angst wird ihr Verhalten dominieren.“ hatte ich vermutet. „Angst, wovor?“ hatte Joscha wissen wollen. „Joscha, das ist ein Grundbedürfnis der Arterhaltung, sich vor bedrohlichen Gefahren zu schützen, nicht nur vor Unwetter, wilden Tieren und so etwas, sondern auch vor anderen Menschen, solange man nicht weiß, welche Gefahr sie für einen selbst in sich bergen.“ hatte ich ihn belehrt. Wir waren übereingekommen, dass wir bei unseren ersten Blicken auch dies schon sicher erkannt haben mussten, dass für Joscha von mir und für mich von Joscha keinerlei Gefahr ausgehen könne. Mittlerweile war ich mir da allerdings nicht mehr ganz so sicher. Was das alles zu bedeuten hatte, und was daraus werden sollte, was ich heute nachmittag begonnen hatte, solche Fragen wollte ich bei mir nicht zulassen. Gewiss, weil ich sicher war, darauf sowieso keine Antwort zu wissen, vor allem aber, weil es entsetzlich gestört hätte, sich jetzt mit derlei Gedanken zu beschäftigen. Wir lagen auf dem Bett und hielten uns aneinandergepresst eng umschlungen. Zunächst andächtig, dann lächelten wir uns an und küssten uns. „Joscha, wenn wir lange genug so liegen bleiben, bekomme ich bestimmt einen Orgasmus.“ teilte ich Joscha mit. Der lachte schmunzelnd, und ich meinte: „Hast du schon mal gesehen, wie Schlangen sich lieben? Wundervoll finde ich das, wie sie sich stundenlang umschlingen. Das sollte man als Symbol für die Liebe nehmen, sich umschlingende Schlangen und nicht dieses kitschige Herzchen. Schade, dass wir Menschen so etwas nicht können.“ „Wieso nicht? Wir haben doch vier Beine und vier Arme, reicht das nicht zum Umschlingen?“ war Joschas Ansicht. Im Grunde war es Balgen und ich lachte mich anfangs tot, aber dann wurde es ernster, war kein Spiel mehr. Es sagte: „Ich will dich, will alles von dir, und deinen Körper will ich ganz und überall.“ Meine Vulva rieb auf Joschas Oberschenkel, ich führte seine Hand dort hin, und es dauerte nicht mehr lange. Natürlich war es Ficken, aber du kannst auch alle die bekannten Synonyme befragen, keines beschrieb das, was wir erlebten. Neu eben, auf dem Planeten der wirklichen Menschen, und das vermittelt keine der trivialen Alltagsbezeichnungen. Vielleicht empfinden ja Schlangen genauso, aber das kannst du leider als Mensch nicht wissen. Eine Vorstufe im Prozess des miteinander Verschmelzens wird es gewesen sein. Von außen betrachtet vielleicht alles ganz banale Vorgänge, was sich seit heute Nachmittag zwischen uns ereignet hatte, aber unsere Köpfe hatten daraus dieses Leben in einer extraterrestrischen Wunderwelt werden lassen, und wir waren süchtig danach, es zu genießen. Wonneschmusend sagten wir uns in kleinen Sätzen mit wenigen Worten liebkosende Zärtlichkeiten, aber mich verlangte es auch, Grundsätzliches zu klären. „Joscha, mir gefallen deine Vorstellungen, die wirklichen menschlichen Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle zu erkennen und sein Leben ihnen entsprechend zu gestalten sehr gut, und ich möchte es ebenso leben. Nur die Beziehung zu einem Joscha, kommt bei mir darin direkt überhaupt nicht vor. Dass ich dich mag, extrem gut leiden mag, fast obsessiv besessen bin, das habe ich mir irgendwo und irgendwann in meinem Leben angeeignet. Du musst einem Wunschbild, einer Idealvorstellung, einer Vision von Mann entsprechen, die mir nicht angeboren, sondern sich irgendwann irgendwo durch in meinem Unbewussten verfestigt hat, und von der ich selbst nichts wusste. Bei dir kann es auch nicht anders sein. Was du für eine Frau hältst, und was du für sie empfindest, entstammt unseren derzeitigen gesellschaftlichen Vorstellungen. Vor hundert Jahren hättest du mich wegen meiner Kleidung allein schon vielleicht für eine Nutte oder Suffragette gehalten und jeden Kontakt mit mir gemieden, auch wenn ich ein noch so wirklicher Mensch gewesen wäre.“ kommentierte ich unsere Beziehung. Joscha dachte nach. „Wird schon so sein, wie du es gesagt hast, dass da auch etwas anderes ist, womit du mich gefangen nimmst. Vielleicht wollte ich es nicht wahrhaben, weil ich es nicht kannte, aber dass ich dich einfach so als Mann für eine attraktive und begehrenswerte Frau gehalten und deshalb den Kontakt zu dir gesucht hätte, so war es mit Sicherheit nicht. Ich denke eher, dass du für mich ein Glücksversprechen in dir trägst, das mir Lust macht und mich drängt. Es macht mich glücklich, einfach nur mit dir zusammen zu sein, alles mit dir macht mich glücklich, deine Nähe und wie ich dich erlebe sind beglückend und keinesfalls nur wenn wir gemeinsam Sex haben.“ lautete Joschas Ansicht dazu. Joscha verehrte mich nicht, er wollte mit mir aktiv sein, mit mir leben, sich mit mir austauschen, aber irgendwann in der Nacht meinte der Schlaf, dass es für heute reiche. Er schloss uns die Augen und den Mund und übergab unser Bewusstsein den Traumwelten.


Königssohn und seine Cinderella?

„Du kommst doch heute wieder?“ suchte Joscha am Morgen nur die Bestäti­gung einer Selbstverständlichkeit. Ich musste mich beeilen. Auf Mutters fra­gende Augen konnte ich nur antworten: „Ich weiß auch nichts, verstehe das al­les selbst nicht. Joscha heißt er. Übrigens, heute Nachmittag werde ich wieder zu ihm fahren.“ „Willst du ihn nicht mitbringen?“ fragte Mutter noch. Nein, das wollte ich auf keinen Fall. Joschas Appartement war unser Kokon, die Brutzelle unserer Idiotie. Ich wälzte und wälzte es ständig. Schon auf der Fahrt nach Hause hatte ich überlegt, ob es nicht vielleicht das beste wäre, heute nicht wieder zu Joscha zu fahren. Ein einmaliges, extraordinäres Erlebnis für einen Nachmittag und eine Nacht, es so stehen lassen als wundervolle Erinnerung. Ich musste über mich selbst lächeln, nette Gedanken, nur ich war mir auch schon sicher, dass ich so etwas heute Nachmittag nicht bringen würde. Ich wollte es verstehen, aber wie ich es auch zu betrachten versuchte, es blieb konfus. Jeder, der mir ein derartiges Verhalten prophezeit hätte, wäre ausge­lacht worden. Immer hatte ich mich in der Gewalt, immer unter Kontrolle, jetzt musste ich mir allerdings eingestehen, dass es offensichtlich nicht so war. Be­sessen von Joscha und unserem Zusammensein war ich. Welche Himmelreiche erlebte ich da nur? Ich kannte sie nicht, durfte sie nur empfinden. Den ganzen Tag über konnte ich mich nicht konzentrieren, auch wenn ich es mir fest vor­nahm, waren über kurz oder lang meine Gedanken wieder bei diesem Phäno­men. Litt ich vielleicht psychisch unter irgendeinem Mangelzustand, den Joscha auszugleichen und zu beheben versprach? Aber was sollte das denn sein. Mich peinigten keine unerfüllten Sehnsüchte und auch kein Leidensdruck einer un­befriedigten Wunschvorstellung. Spielte es sich in Traumwelten, die als kleines Kind durch Märchen in mir erzeugt worden waren, ab? Nur Männer kamen da doch gar nicht vor, alles Feen, Elfen und dergleichen weibliche Wesen. Nein, da gab es doch die schönen, edlen, jungen Prinzen und Königssöhne. Aber Joscha mein Königssohn und ich seine Cinderella? Das passte wohl auch nicht so gut. Ich kam zu keinem Ergebnis, konnte mir keinen Reim auf das sonderbare Geschehen machen, wusste nur, dass ich heute Nachmittag unbedingt wieder zu Joscha musste.


Eine fixe Idee, aber warum nur. Es geschah ja nichts. Wir redeten keineswegs nur Lovetalk, im Gegenteil. Wir unterhielten uns über Erfahrungen des Tages von der Uni, erweiterten es, oder erforschten gegenseitig unser Leben. Ansons­ten verbrachten wir die Zeit mit Dingen, die eine Hausfrau eben zu erle­digen hat. Allerdings hatte alles besondere Wesensmerkmale, die wir sonst nicht zu erleben meinten. Joschas Erzählungen aus seiner Biographie, erschie­nen mir wie die spannendsten Geschichten, die ich je gehört hatte. Vielleicht lag es nur daran, wie ich zuhörte, mich in Joschas Darstellungen hineinleben wollte, zuhörend absolut involviert war. Vom Müllcontainer zurückzukommen und mit strahlendem Lächeln und Umarmung begrüßt zu werden, warst du ja aus deinem sonstigen Alltag auch nicht gewohnt. Es wirkt ungemein be­glückend, ständig mit jemandem zusammen zu sein, der die Einzigartigkeit deiner Existenz anerkennt, begrüßt und liebt und es dich immer wieder spüren lässt. Es macht dich zu einem anderen Menschen, zu einer Frau, die du drau­ßen nicht sein kannst. So wie als Kind der Abend im Bett nur erträglich war, wenn ich meinen Teddy im Arm halten konnte, schien plötzlich glückliches Le­ben nur noch im Beisein von Joscha möglich.


Irritationen

Meine Wochenenden gehörten Nicco, meinem Freund. Nur jetzt, etwas mit Nic­co zu unternehmen, das Gewohnte leben, und auch mit ihm ins Bett gehen, während mein Kopf und ich auch sonst voll mit Joscha waren? Ich war krank. Außerdem musste ich auch arbeiten. Der Montag würde dafür nicht ausreichen. Auch wenn unsere Gespräche nicht gehaltlos waren und sich in vielem auf un­ser gemeinsames Studiengebiet bezogen, wurden ja davon keine Referate fer­tig oder andere Aufgaben erledigt. Eine ganze Woche hatte ich für's Studium nichts getan. Sascha und ich konnten über alles reden, irgendwelche Tabus wa­ren nicht denkbar, nur darüber zu sprechen, was und wie es denn mit uns wer­den solle, schien unsere Lippen zu verbrennen. Der wirkliche Mensch lebt im Hier und Jetzt, was morgen ist, wird er dann sehen. Vorschriften, Absprachen, Regulierungen für die Zukunft sind ihm wesensfremd. Absoluter Stuss und zu­dem völlig widersprüchlich, nur ich brachte es auch nicht über die Zunge, von Zukunft zu sprechen. Am zweiten Wochenende ging ich mit Nicco in die Oper und bekam anschließend entsetzliche Kopfschmerzen, anstatt mit ihm ins Bett zu gehen. Ich wurde mir immer unsicherer. Im Studium kam ich schon in arge Bedrängnis, auf Dauer ließ sich das so nicht aufrecht erhalten. Aber was tun? Sich nur abends treffen und dann miteinander ins Bett gehen. Nein, das wäre etwas anderes gewesen. Unser Glück bestand darin, dass wir miteinander leb­ten, und in dieser Zeit gehörten wir uns vollständig gegenseitig. Wenn ich bei Joscha war, schenkte er mir alles von sich, seine Aufmerksamkeit, seine Aner­kennung, seine Beachtung, seine Zuneigung, und das intensiv und mit seiner ganzen Person. Ich hatte Lust und suchte, womit ich ihn von mir glücklich ma­chen konnte. Süchtig war ich danach, aber es war nicht mit dem, wie ich als Studentin zu leben hatte, in Einklang zu bringen. Dieses Semester würde ich verlieren, und wodurch sollte es beim nächsten anders sein. Ich konnte es mir zwar nicht vorstellen, was sollte irgendwann und wodurch meine Gier nach dem Austausch mit Joscha verringern oder beeinträchtigen? Nur war ja von normalem Verliebtheitsrausch bekannt, dass er irgendwann abebbt. Zwischen Joscha und mir war es gewiss nicht weniger ekstatisch, aber wir bewunderten nicht einer den anderen, sondern waren fasziniert von dem Wunderwerk Mensch, das wir im anderen sehen und erkennen wollten und konnten, und das wir Lust hatten, in möglichst reiner Form zu leben. Das taten wir an drei Tagen in der Woche. Es in Harmonie mit den gleichzeitigen Erfordernissen einer Stu­dentin im gewohnten Alltagstrott zu bringen, sah ich keinen Weg.


Vertreibung aus dem Paradies

Am dritten Wochenende musste ich angeblich ungeheuer viel lernen, zu viel, um mich mit Nicco treffen zu können. Das hätte ich eigentlich auch gemusst, aber ich fuhr am Freitag nach der Uni direkt zu Joscha. Dass es so nicht ginge und immer so weiterlaufen könne, hatte ich am Mittwoch und Donnerstag schon mal erklärt, aber es war ein unangenehmes Thema und wurde bald durch etwas anderes verdrängt. Jetzt trafen wir uns gezielt, um Klärung in die­ser Frage zu schaffen. Wir, darüber reden, wie es mit uns weiterlaufen solle, wie es möglich sein könne, unsere Alltagserfordernisse mit unserem gemeinsa­men Leben zu verbinden, das konnten wir gar nicht. Nur beieinander und mit­einander glücklich sein, das konnten wir. Kinder eben. Wie wir Dienstags, Mitt­wochs und Donnerstags lebten, war in den Alltag der beiden Studenten nicht integrierbar, es passte nicht zueinander. Joscha ging es nicht besser als mir. Er hatte zwar am Wochenende keine Freundin zu versorgen, dafür aber seine sonstigen sozialen Kontakte auf Samstag und Sonntag verschoben. Im Studi­um ging es ihm auch nicht besser als mir, er hatte ja schon auf den freien Mon­tag gedrängt. „Es sind zwei verschiedene Leben, Joscha. Das eine lehnt das andere ab und ist gegen es gerichtet. Wir wollen unser Leben an den wirkli­chen menschlichen Bedürfnissen und Gefühlen ausrichten, das lässt der tech­nologisierte Alltag aber nicht zu. Da hast du zu funktionieren und dich an den vorgegebenen Rollenerwartungen zu orientieren, hast den Menschen zu spie­len, den man von dir erwartet, die wirklichen menschlichen Bedürfnisse und Gefühle interessieren da niemanden, sondern stören nur. Die ersten, die das so nicht wollen, sind wir bestimmt nicht.“ erklärte ich. „Und kennst du andere? Wie sind die damit umgegangen?“ wollte Joscha wissen. „Na klar, und du weißt es auch. Entweder oder, haben sie gesagt. Beides gemeinsam verträgt sich nicht. Entweder dieses Leben, das wir so nicht wollen, oder raus. Alles Beste­hende aufgeben und hinter sich lassen und nur das andere, das frei Leben ge­stalten. Aussteiger sagen die Leute zu denen.“ antwortete ich ihm. „Du meinst, es gibt nur die Alternative, so wie sonst zu leben, bevor wir uns kennengelernt haben, oder ganz raus. Das Studium aufgeben und in die Toskana gehen. Und was machen wir dann da? Schmuck verkaufen? Ich kann sonst nix.“ scherzte Joscha. Geglaubt haben wir es noch nicht, denn wir suchten immer noch nach anderen Lösungsmöglichkeiten. „Ich kann nicht mehr so leben wie bisher. Ich bin durch uns ein anderer geworden. Unsere Zeit wie eine nette Episode abhaken, lächerlich. Der Teufel von Salamanca scheint mich wirklich verhext zu haben.“ meinte Joscha. Er sollte es erläutern. In groben Zügen wusste ich ja, dass er sich mit seiner Freundin gestritten hatte und deshalb zurückgekommen war. „Ich liebe Carilla (so hieß die Freundin) immer noch. Was sollte meine Liebe zerstören. Wir haben uns nie gesagt, dass wir uns nicht mehr lieben würden. Es waren nur diese dämlichen, unterschiedlichen, moralischen Ansichten, bei denen es keine Klärung gab, die aber immer wieder Thema waren. Ich sah mich ausweglos genervt und konnte keine Änderung erkennen. Hab's einfach nicht mehr ertragen, bin geflüchtet, obwohl wir uns liebten.“ erläuterte Joscha. „Und jetzt hast du in mir Ersatz für Carilla gefunden?“ erkundigte ich mich allerdings nicht ganz ernst. „Nein, Quatsch, überhaupt nicht, das warst du niemals. Sonst hätten wir diese Beziehung nicht haben können. Ich habe Carilla nicht nur geliebt, sie scheint das Prinzip, was Liebe zu einer Frau ist, in mir festgelegt zu haben. Durch Carilla habe ich Liebe kennengelernt, und jetzt taucht unser Verhältnis immer auf, wenn es um Beziehungen zu einer Frau geht, meine Freundin könnte nur Carilla Nummer zwei sein. Bei dir habe ich überhaupt nicht an Freundin oder Frau gedacht, wir haben in uns vorrangig etwas anderes gesehen. Ich hätte mit dir nie so reden können, wie mit Carilla. Etwas beurteilen, und den anderen von der Richtigkeit seiner Meinung im Streit zu überzeugen versuchen, das wäre zwischen uns undenkbar.“ meinte Joscha. „In der Tat, automatisch ging so etwas nicht. Das ist mir schon damals sofort in der Uni aufgefallen. Meine Mutter sagte, wenn eine Frau mit ihrem Kind schimpfte: „Das Kind wird schon seine berechtigten Gründe haben, nur die Mutter kennt sie nicht, versteht sie nicht und versucht auch gar nicht sie zu erfahren und zu verstehen.“ So ist es fast permanent, unsere Meinung besteht zum größten Teil aus Urteilen, die unhinterfragt festgelegt wurden, aus Vorurteilen. Wir haben uns fast vom ersten Moment an akzeptiert und anerkannt, und dann kannst du nicht mehr urteilen, dann willst du nur noch verstehen.“ lautete meine Meinung dazu. „Zur Liebe passt so etwas doch eigentlich auch nicht. Vielleicht hatte unsere Liebe doch strukturelle Mängel, Liebe, wie man sich Liebe so gemeinhin vorstellt, was man von Liebe so weiß. So wie dich habe ich Carilla nie gesehen, zu klein zu dumm, zu unerfahren, aber ich glaube eher, es liegt daran, dass so etwas nur mit Mica möglich ist.“ Joscha dazu. Was unsere Einschätzung konkret zu bedeuten haben würde, welche realen Konsequenzen sich daraus ergäben, das mochten wir gar nicht besprechen. Es herrschte eine Atmosphäre, als ob alles immer so bleiben würde. „Joscha, wir haben uns getroffen, weil wir eine Klärung herbeiführen wollten. Ich denke, vieles haben wir schon geklärt, nur wir werden auch eine Entscheidung treffen müssen.“ forderte ich. „Was willst du sagen? Wir müssen uns entscheiden, ob wir demnächst in den Picos in Asturien Ziegenkäse produzieren wollen, oder so leben, wie wir es getan haben, bevor wir uns kannten? Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“ Joscha leicht entsetzt. „Joscha, wir haben lange nach einer Alternative gesucht. Uns ist nichts eingefallen, mir nicht und dir auch nicht. Nenne einen anderen Weg, durch nichts würdest du mich glücklicher machen.“ beurteilte ich die Lage. Wieder durchleuchteten wir alle Möglichkeiten, obwohl wir es doch schon mehrfach getan hatten. „Mica, hast du mal versucht, dir vorzustellen, wie es für dich sein würde, wenn wir nichts mehr miteinander zu tun hätten? Ich kann das nicht ertragen, es wird mich verrückt machen.“ erklärte Joscha. „Aber was willst du denn tun? Sollen wir einfach irgendwo hin flüchten wie Elvira Madigan mit ihrem Leutnant. Den Tod hat es ihnen gebracht, kein glückliches, freies Leben in Liebe. Das Leben hier, unser kapitalistischer Alltag, gefällt mir nicht, aber wenn mein Leben daraus bestehen sollte, dass ich Ziegen hüte und melke, brächte mich das um. Das weiß ich auch heute schon mit Sicherheit.“ lautete meine Einschätzung zum Aussteigen. Joscha weinte. „Ich sollte wieder gläubig werden, zur Kirche gehen und mir den Teufel austreiben lassen. Immer wenn mir das Glück erscheint, wir es zerstört. Ich darf es nicht erleben und genießen. Dem Teufel scheint doch meine Seele zu gehören, und er macht sich einen Spaß daraus, sie zu quälen.“ scherzte Joscha schon wieder. Realisieren, dass wir beide nichts mehr miteinander zu tun haben würden, konnte ich auch nicht. Joscha war in diesen drei Wochen zum festen Bestandteil meiner Person, meines Wesens, meines Lebens geworden. Joscha meinte: „Ein Leben ohne dich wird es nicht geben, auch wenn wir uns nicht mehr sehen sollten.Du bist in mir, gehörst zu mir mit allem, wie wir uns erlebt haben. Das ist nie wieder ungeschehen zu machen.“ Das zu erwartende Leid sehnte sich nach Tröstung. Schöne illusionäre Worte wären absolut verfehlt. Den anderen seine Zuneigung in zärtlichen Liebkosungen spüren lassen, würde den meisten Trost spenden. Das Bedürfnis nach körperlichem Trost war so intensiv, dass wir dazu das Bett aufsuchten. Zum letzten mal mit Joscha geschlafen, das wurde mir erst hinterher bewusst. Absolut irreal kam es mir vor, dass es dies alles niemals mehr geben sollte. Die Vertreibung aus dem Paradies war für die beiden gewiss eine unangenehme Angelegenheit, aber sie blieben doch zusammen. Wie schlimm musste die Verfehlung sein, die Joscha und ich begangen hatten? Wir hatten gegen die zentralen Wesensmerkmale unserer Gesellschaft verstoßen. Hatten schwer gesündigt, indem wir nicht die sein wollten, die wir zu sein hatten. Da gibt es eben nur Ausschluss oder härteste Strafen.


Nicco

In den folgenden Tagen wurde es mir nicht voll bewusst, dass die Zeit von Jo­scha und mir vorbei sein sollte. Wie ein langes Wochenende wollte es mir er­scheinen. Ich, total beschäftigt, hatte Versäumtes nachzuholen und alles Übri­ge zum Semesterende noch sinnvoll reguliert zu bekommen. Joscha und ich trafen uns ja auch in unserem gemeinsamen Seminar. Zärtlichste Begrüßung und auch während des Seminars verlangten meine Lippen danach, Joschas Wange zu touchieren. Ich hätte es besser, meinte er, weil er allein sei, aber im Moment hielt es sich in Grenzen. Ich würde ja jetzt mein übliches Leben wieder führen, so wie es war, bevor ich Joscha kennengelernt hatte, und dazu gehörte auch mein Freund Nicco. Sonderbar kam es mir schon vor. Er wusste ja von meinen Eskapaden nichts, und davon würde ich ihm mit Sicherheit nichts er­zählen. Ich liebte Nicco schon. Die gemeinsam erlebten angenehmen intimen Erlebnisse verbinden natürlich, aber obwohl ich mit meinem Vater oder Eva nie gemeinsam im Bett war, hatte unsere Beziehung eine anders geartete, selbst­verständliche Tiefe, die es mit Nicco nie geben würde. Trotz aller Nähe und In­timität blieb er doch immer auch der andere Mann. Ich hatte mir nie sonderlich Gedanken über unser Verhältnis gemacht. Ich empfand es nicht aufregend aber keineswegs in irgendeiner weise unangenehm. Jetzt verdeutlichte sich mir, dass ich meine Liebesbeziehung im Grunde so gelebt hatte, wie ich nicht leben wollte. War eine Beziehung eingegangen, wie man es eben so macht und hatte sie gelebt, wie es alle tun würden. Warum? Ich war gar nicht auf andere Gedanken gekommen, konnte mir gar nichts anderes vorstellen, und dann machst du es unüberlegt so, wie die anderen es auch tun. Dein Ding ist das nicht, du wirst dich selbst vergebens darin suchen. Nett fand ich Nicco damals schon, er mag mich außerordentlich und tut alles, wie ich es gerne möchte. Einen Platz in meinem Herzen hat er gewiss, aber dass ich in einer Beziehung leben soll, die der Wochenendehe eines älteren Ehepaares nicht unähnlich ist, stört mich gewaltig. Nur wie was ändern? Selbstverständlich gingen wir am Wochenende wieder miteinander ins Bett. Nicht nur meine Erfahrungen mit Jo­scha störten, ich war auch sonst nicht mehr unbelastet, nicht mehr unvorein­genommen. Meine Lust speiste sich aus der Erinnerung an schöne Erlebnisse, sehr dünn und unbefriedigend. Am nächsten Wochenende erklärte ich Nicco, dass ich mir Gedanken über unsere Beziehung mache, alles nicht ganz un­kritisch sähe und jetzt lieber nicht mit ihm ins Bett wolle. Nicco viel aus allen Wolken und wollte natürlich darüber reden. Ich hatte mir schon etwas ausge­dacht, damit es ihm nicht allzu weh täte, und er es eventuell nachvollziehen könne. Die Beziehung, wie wir sie lebten, prädestiniere Heirat und Kleinfamilie, was ich aber auf keinen Fall wolle. Wie meine Zukunft aussehen solle, wisse ich nicht, nur sei ich in unserer Beziehung nicht mehr frei, mich zu entscheiden. Natürlich diskutierten wir lange, und Nicco hob immer wieder unsere Verbun­denheit hervor, die man doch nicht einfach aufheben könne. Mir viel es ja auch nicht leicht, aber so wollte und konnte ich, besonders nach meiner Zeit mit Jo­scha, auf keinen Fall mehr weiterleben und im Hinblick auf meine Beziehung erst recht nicht. Mutter war immer aufrichtig freundlich zu Nicco, aber ihr Blick hatte auch noch einen Beiklang, den ich nicht interpretieren konnte. Ich hatte sie darauf angesprochen, aber sie lehnte es ab über Nicco zu reden. Das seien Entscheidungen, die nur ich für mein Leben zu treffen habe. Sie lehne es ab, sich dabei auf irgendeine Art und Weise einzumischen. Nicco sei nicht meine Liga gewesen, wusste sie jetzt. Erläuternd fügte sie hinzu, ich hätte ihn ge­braucht. Auf solche Gedanken war ich selbst nie gekommen, aber völlig un­recht hatte Mutter wohl nicht.


Gelähmte Tage

In den letzten Semesterwochen war ich permanent busy, und ich traf Joscha ja auch noch wenigstens einmal in der Woche. In den Ferien blieb ich zu Hause, hatte noch einiges nachzuholen und vieles vorzubereiten, denn ich wollte we­gen meines Französischstudiums für ein Semester nach Montpellier. Ich hätte auch arbeiten können, aber ich konnte auch morgens im Bett liegen bleiben und grübeln. Joscha und ich, das war doch mein Leben. Was konnte mir denn wichtiger sein als mein eigenes Leben? Dann sah ich wieder Szenen von uns und träumte. Wie konnte ich, die ihr Glück gefunden hatte, es aufgeben? Wo wollte ich es denn sonst finden? In meinem banalen Alltag, den ich überwunden hatte, doch wohl kaum. Als Lehrerin für Spanisch und Französisch etwa? Die Welt hatte kein derartiges Glück zu bieten. Sie verteilte nur Anerkennung, Lob und Reputation für fleißiges Arbeiten. Dass Menschen Liebe und Zuneigung brauchen, interessiert niemanden. Darum muss sich jeder privat kümmern. Ganze Tage konnte ich vergrübeln, weinte zwischendurch mal, versuchte mir vorzustellen, was Joscha jetzt wohl machte, einfach nur die Gedanken sich immer mit unseren gemeinsamen Tagen beschäftigen lassen. Das war ich, da lebte ich mich selbst. Es war nicht nur mein Glück, es war zu meiner Welt geworden, in der ich gelebt hatte und leben wollte. Dahinter konnte ich nicht mehr zurück. In der Zeit davor war ich nicht mehr zu Hause. Mit Joscha, das war mein Leben, so sollte mein Leben sein. Leben wie es sein musste, leben an sich, ursprüngliches Leben. Dahinter gab es für mich kein zurück. Aber es existierte nicht mehr. Leer, hohl und klappernd kam mir alles vor, was mich umgab, es bedeutete mir nichts mehr. Hatte Joscha Recht, hatten wir das gefunden, wonach sich Menschen wirklich sehnen, ein Leben, frei nach ihren tatsächlichen Bedürfnissen und Gefühlen, frei von allen fremden Vorgaben und Erwartungen, die man sonst verinnerlicht mit sich rumschleppte?Nichts mehr tun, weil man es so tat, weil es sich so gehörte, weil man es so erwartete, weil es andere für richtig hielten. Nur noch wir selbst, unser eigenes Leben. Einfach vorbei? Nur ein großes Loch in mir, und ich sah nichts, womit ich es hätte füllen können. Besessen davon, süchtig danach, das würde ich immer bleiben. Das wusste ich, weil ich es selbst war. An anderen Tagen ging es mir besser. Dann war meine Mutter eine große Hilfe für mich. Noch nie hatte ich es so bewusst wahrgenommen, was ihre Liebe mir bedeutet, sie umarmte mich, schützte mich, trug mich. Dann redeten wir viel über Joscha und mich, bis Mutter fast jede Sekunde unseres Zusammenseins kannte. „Im Grunde möchte ich so etwas auch schon mal gern erleben, aber wenn es konkret würde, hätte ich, glaube ich, doch zuviel Angst davor. Das müssen ja richtig ekstatische Zustände gewesen sein, und dabei ist man sich doch nicht sicher, was man da alles anstellen kann.“ erklärte sie. Einiges gefiel ihr ausgesprochen gut, sie wollte es in ihren Alltag integrieren, zum Beispiel die freudige Begrüßung bei der Rückkehr von der Mülltonne. „Na klar, was macht denn ein stärkeres Gefühl, als deinen Liebsten wiederzusehen, und so etwas registrierst du im Alltag gar nicht. Schlimm, nicht wahr?. Woher der Liebste dabei kommt, ist doch völlig irrelevant.“ kommentierte ich. Nur erledigte den Müll bei uns in der Regel mein Vater. Müll und Einkaufen war das einzige, was für ihn von der geplanten und vereinbarten gemeinsamen Bewältigung des Haushalts übrig geblieben war. Als er von der Mülltonne zurückkam, gab ich ihm einen Kuss und sagte dabei: „Danke, dass du den Müll rausgebracht hast.“ Mein Vater blieb wie angewurzelt stehen, machte große Augen, als ob er nichts mehr verstehe, lies seine Mimik dann aber zu einem wonnigen Lächeln hinübergleiten, als ob ein Engel ihm etwas zugeflüstert habe. Mutter lachte sich schief, und erklärte noch lachend, dass er sich daran gewöhnen müsse. Unsere Umgangsformen würden sich in zentralen Bereichen demnächst radikal ändern. Eine typisch Familie waren wir eigentlich gar nicht, eher eine Ansammlung von Typen mit völlig unterschiedlichen Interessen und Lebensweisen, die aber wie Yin und Yang exakt miteinander harmonierten. Für meinen Vater stellten seine Frau und ich das Leben dar. Das andere war die Fronarbeit, die er leisten musste, um dieses Leben genießen zu dürfen. Ich liebte ihn schon. Er sagte, in seinem Herzen würde die Sonne angeschaltet, wenn er mich sehe, und das ließ er mich deutlich spüren. Mit meiner Mutter stand es aber anders. Wir liebten uns nicht, jede war scharf auf die andere, wir hatten Lust aufeinander und suchten uns. Schon mal mussten wir erst ein paar Schritte miteinander tanzen, wenn wir uns in der Küche trafen. Sie beginne, sich sorgen zu machen, meinte sie, weil sich für sie überhaupt keine positive Entwicklung abzeichne. Die Tage, an denen ich nichts tun wollte, nichts tun konnte, nahmen eher zu als dass sich ihr Auftreten verringerte. Als direkt depressiv sah ich mich keinesfalls. So wie ich mich im Zusammensein mit Joscha in einer anderen Welt gewähnt hatte, war es jetzt ein Zustand, eine Stimmung, die mich lähmte. Es überfiel mich einfach, war einfach da, so wie die Trauer, der du auch nicht vorschreiben kannst, wann sie dich heimsuchen darf. Mutter empfahl mir, doch mal zu überlegen, ob ich nicht Hilfe von außen brauche, das hieß einen Psychotherapeuten aufsuchen. „Dann bin ich krank. Er wird mein Leben mit Joscha zu psychisch deviantem Verhalten erklären, in meiner Kindheit nach Defekten suchen, die mich so etwas entwickeln ließen, und mir helfen, dass ich derartige psychische Devianzen in Zukunft vermeiden kann. So ein Stuss! Dass will ich nicht. Ist mir doch egal, ob er es als psychisch krank bezeichnet, was Joscha und ich erlebt haben. Ich stehe dazu, will es nicht anders und will es mir erst recht nicht nehmen lassen. Abgesehen davon war meine Kindheit wunderbar und da will ich mir nachträglich auch keine Probleme implantieren lassen. Ich bin o. k., es gibt in mir keine Probleme, und erst recht keine, für die ich oder du verantwortlich wären. Er sollte sich mal fragen, ob nicht unsere Gesellschaft krank ist. Ob sie nicht Einstellungen, Sichtweisen und Wahrnehmungen von ihren Mitgliedern erwartet und verlangt, die nicht den natürlichen, wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen der Menschen entsprechen, sondern vorgegebene, verlogene Muster und Klischees sind, die der effizienten Nutzbarkeit für wirtschaftliche Interessen dienen. Aber so kann er nicht denken, so hat er's nicht gelernt.“ lehnte ich den Besuch eines Psychotherapeuten ab. Der schlimmste Vorwurf, den ich mir immer wieder machte, bestand darin, nicht auf die Idee gekommen zu sein, bis zum Semesterende einen zusätzlichen Ruhetag oder vielleicht sogar zwei Ruhewochen einzulegen, und wir hätten dann die ganzen Semesterferien noch für uns gehabt. Mehrmals war ich soweit, dass ich Joscha aufsuchen wollte. Die Vorstellung, dass wir jetzt zusammen sein könnten, wenn wir nicht so dumm gewesen wären, brachte mich fast um. Aber ich wusste ja auch gar nicht, wo er zur Zeit steckte. Bestimmt war er zu seiner Carilla nach Salamanca gefahren, um ihr zu erklären, dass jetzt alles ganz anders laufen würde.

 

Tobsuchtsanfall meiner Seele

Fast hatte ich mich schon daran gewöhnt, ab und zu mit einem Ausfalltag le­ben zu müssen. Im Semester würde es wieder anders laufen, dann sähe ich Joscha ja auch hin und wieder mal in der Uni. Wir hatten verabredet, uns nicht in Telefonaten oder Mails zu treffen, weil das ein Leben ohne den anderen nur erschweren würde. Joscha hatte solche Erfahrungen mit Carilla gemacht, wor­auf sie beschlossen hatten, sich nicht mehr zu schreiben. Ich habe noch nie er­lebt, wie man empfindet, wenn ein für verschollen Gehaltener plötzlich wieder auftaucht, aber viel intensiver kann es auch nicht sein, wie das, was ich emp­fand, als ich Joscha in der Uni begegnete. Er war auch zu Hause geblieben. Nein, gut gehe es ihm nicht. Er habe sehr unter unserer Trennung zu leiden, erklärte Joscha. Wir sprachen nicht viel, wollten uns nur intensivste Liebkosun­gen und Zärtlichkeiten zukommen lassen, wie sie möglich sind, wenn man sich im Foyer gegenüber steht. In der anschließenden Vorlesung konnte ich mich nicht konzentrieren. Ein Euphemismus. Ich konnte die Stimme der Professorin nicht ertragen, die meine Ohren quälte. Am liebsten wäre ich nach unten ge­rannt, hätte ihr das Mikro abgeschaltet und sie verdroschen. Kein Wort ver­stand ich, hörte nur das schnarrende Geräusch der Dozierenden, das mir enorm auf die Nerven ging. Jedes Wort von jedem hätte ich jetzt als Belästi­gung empfunden. Es hatte keinen Sinn, ich musste da raus und fuhr nach Hau­se. Warf mich aufs Bett, trommelte auf die unschuldigen Kissen und schrie ein­fach. Meine Mutter, die reinkam, herrschte ich an: „Lass mich in Ruh.“ Das hat­te sie von mir noch nie gehört. Mein Liebster muss leiden. Eine unerträgliche Vorstellung. Als ob mir jemand ätzende Flüssigkeit in offene Wunden gösse, so schmerzte es. Ich litt, schrie und weinte für Joschas Qualen. Woran ich sonst noch dachte, und was mir durch den Kopf lief, weiß ich nicht mehr genau, ein Tobsuchtsanfall meiner Seele, als ob sich alles in mir verkrampfte. Irgendwann muss ich wohl vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Als ich am Nachmittag wach wurde, kam ich mir geläutert vor, wie erwacht aus einem Koma ähnlichen Nie­mandsland. Jetzt konnte ich auch wieder mit Mutter sprechen. Wir waren beide ratlos. Als ich Joscha einige Tage später wieder traf, lief es fast identisch ab. Ich versuchte mich immer in der Gewalt zu behalten, redete mir etwas ein, aber es blieb ohne Konsequenzen. „Mica, das geht doch nicht. Wir werden dich irgendwann in der Psychiatrie besuchen müssen.“ bewertete meine Mutter ängstlich mein Verhalten. Nein, zum Psychotherapeuten wollte ich trotzdem nicht. „Ich kann es nur nicht ertragen, Joscha zu treffen. Sonst ist doch alles o. k.. Wir müssen uns nur aus dem Wege gehen, dürfen uns nicht sehen. Er könnte ja genauso gut anderswo studieren, er kommt doch nicht von hier. An­dererseits ist es aber mein Problem.“ beurteilte ich die Lage. Ich wollte zu ei­ner anderen Uni gehen. Unendliche Probleme und Unannehmlichkeiten. Erst als ein Professor, zu dem ich ein sehr gutes Verhältnis hatte, mit seinem Kollegen an der anderen Uni gesprochen hatte, wurde es in diesem speziellen Fall er­möglicht, dass ich auch während des Semesters aus medizinischen Gründen wechseln konnte. Mein Hausarzt wollte mich auch unbedingt zum Psychothera­peuten schicken, hatte aber nach meinen Erklärungen bestimmt gedacht: „Die spinnt sowieso.“ und mir selbst ein Gutachten geschrieben. Nur so hatte ich mir mein Leben erst recht nicht gewünscht. Alles fremd und unbekannt, das würde sich im Laufe der Zeit ändern, aber nicht mehr zu Hause, sondern ganz allein in meinem kleinen Appartement leben zu müssen, war mir höchst zuwi­der. Mit unserer Gemeinsamkeit in Joschas kleiner Behausung hatte das natür­lich nichts zu tun. Das Schlimmste aber waren die fehlenden Kontakte, die ich zu Hause hatte. Keinesfalls waren alle Leute, die zu uns kamen, meine Freun­dinnen und Freunde, aber sie bildeten einen Kreis von Menschen, zu denen un­terschiedliche Beziehungen bestanden. Wie bedeutsam dieses soziale Bezie­hungsgeflecht für mich und meine Identität war, spürte ich erst jetzt, als da nichts mehr war. Zu Hause war alles selbstverständlich, und jetzt musste ich jeden kleinsten Kontakt neu entwickeln und organisieren. Ich stürzte mich in die Arbeit, was sonst. Wenn ich am Wochenende nach Hause kam, umarmten Mutter und ich uns lange, und meistens kamen uns dabei die Tränen. Mutter hatte auch etwas verloren. Natürlich war sie für mich immer die erwachsene Frau gewesen, aber sie kam mir gleichzeitig auch wie meine Schwester vor. Schon als Kind sprachen wir von uns als „Wir Frauen“. Besondere Anerkennung hatte mir auch ihre Behauptung, dass sie nicht kochen könne verschafft. Noch heute kokettiert sie damit, aber ich war solange ich mich erinnern kann, eine angesehene Beraterin und Hilfe bei der gemeinsamen Lösung von Fragen und Problemen. Schon in der Grundschule waren es unsere gemeinsamen Gerichte, die auf dem Tisch standen. Was ich genau für sie bedeutete, weiß ich nicht. Als ihre Schwester empfand sie mich sicher nicht, aber dass ich ihr mehr gab und auch etwas anderes war als nur das geliebte Kind, die Tochter einer Mutter, war eindeutig. Doch auch an den Wochenenden wollte die alte, unbeschwerte Lust sich nicht einfach wieder einstellen. Ich dachte zwar oft an Joscha und unsere gemeinsame Zeit, konnte aber so leben. Meine Psyche verspürte kein Bedürfnis nach exaltierten Eskapaden mehr. Dafür fehlte aber etwas. Ein Dunstschleier, wie ein Morgennebel, der sich nicht auflösen will, lag auf meinen Tagen, jedem Tag ohne Ausnahme. Wie ein feines Netz verhinderte er das Aufkeimen von direkter Fröhlichkeit und von Lustempfindungen. Was glücklich sein wäre, konnte ich gar nicht sagen und empfinden, konnte es nur aus Erinnerungen benennen. Gegenstand meiner aktuellen Gedanken war es nicht. Das war eher die Zufriedenheit, die es bereitet, Anforderungen besonders gut entsprochen zu haben, für eine Arbeit Lob und Anerkennung zu erhalten. Dass ich mich damit im Gegensatz zu unserer gemeinsamen Welt mit Joscha befand, nahm ich gar nicht wahr. So war mein Alltag erträglich, eher zu grau tendierend, aber alles funktionierte.


Das nächste Semester in Montpellier war auch mit viel Arbeit verbunden. Als Schülerin hatte ich Montpellier und alles drumherum so toll gefunden, mir vor­gestellt, später mal hier leben zu wollen, jetzt nahm ich das gar nicht wahr. Ich interessierte mich nur für die Wissenschaft und Forschung hier und wollte viel lernen. Meine Examina waren hervorragend. Von zu Hause bekam ich ein neu­es Auto, und ich wollte promovieren. Man wüsste ja nicht, wie es sich entwi­ckeln würde, aber wenn ich mich auch noch habilitieren und einen Lehrstuhl für Französisch erhalten könnte, das wäre schon eine lukrative Perspektive. Als Lehrerin in die Schule, das hätte ich nicht mehr gekonnt. Mein Wissen im Fran­zösischen war immer umfangreicher gewesen und ich hatte mich kompetenter gefühlt, zumal ich auch in der Sprache perfekt war.


Das machen wir aber nie wieder

Ein wenig frankophil war ich schon, aber dem Spanischen galt meine heimliche Liebe. Ich wollte es auch keinesfalls unbeachtet lassen, weil ich ja jetzt meine Dissertation zu einem französischen Thema schrieb. Ein Kongress zur derzeiti­gen spanischen Literatur, mit mehreren Autoren und Professoren war ein Event, den ich nicht verpassen durfte. Sonderbarer weise veränderte die ganze Atmosphäre meine Stimmung, hob sie an. Alte Zeiten wurden wach. Ich wähn­te mich in früheren Seminaren. Meine Leistungen waren hervorragend gewe­sen, aber so erlebt, wie damals in den ersten beiden Semestern, habe ich es nie wieder. Eine Pause stand an. Ich bewegte mich ins Foyer. Mir stockte der Atem. Oh Welt! Der Mann dahinten im Foyer, der gerade noch in diese Richtung geschaut, sich jetzt aber umgedreht hatte und wegging, war Joscha. Kein Zweifel möglich. Ich rannte ihm nach. Schrie dabei: „Joscha!“, dass alle im Foyer annehmen mussten, ein Mann namens Joscha versuche gerade mich um­zubringen. Als ob ein Hebel umgelegt worden sei, das Leben, wie ich es fünf Jahre jeden Tag praktiziert hatte, existierte sofort nicht mehr. Ich war wieder bei Joscha. Wie gestern kam es mir vor. Nichts war vergessen, nichts versackt, alles war mit Joschas Anblick absolut präsent. Wir waren uns nahe, als ob wir gerade gemeinsam aus dem Bett aufgestanden wären. Nur haben wir uns dann nie so angestaunt. Jetzt hatte ich eine Erscheinung. Was wir derzeit machten und wo wir steckten? Solche Banalitäten interessierten uns im Moment nicht. „Das machen wir aber nie wieder, nicht wahr?“ verkündete ich als einen meiner ersten Sätze, wobei ich ihm das Wänglein streichelte, aber gar nicht wusste, was ich eigentlich genau damit meinte. Ob Joscha es wusste, denn er sagte: „Es gibt nur ein Problem. Ich bin verheiratet.“ „Carilla.“ reagierte ich vermu­tend. „Nein, eine Frau von hier. Ruth, heißt sie.“ antwortete Joscha. „Und Kin­der, hast du Kinder?“ wollte ich noch wissen. „Noch nicht, aber deswegen ha­ben wir geheiratet.“ erklärte Joscha. „Ist Ruth ein Ersatz für mich.“ fragte ich ihn. „Nein, direkt sicher nicht, Mica. Das geht doch gar nicht. Ruth ist aber schon Teil meines Lebens, meines neuen Lebens, das ich ohne dich finden musste.“ stellte es Joscha dar. Wir suchten uns einen Platz in einem Bistro, das zum Gebäudekomplex gehörte. „Ich bin damit nicht fertig geworden, Joscha. Ich lebe, wie ich es nie gewollt hätte. Habe meine Seele verkauft für billiges Lob und Anerkennung. Mich gibt es nicht mehr, mich selbst kannst du in dem, was ich tue, nicht mehr finden, nur noch das, was nach dem Common Sens lo­bens- und anerkennenswert ist. Ich bin nicht mehr zu erkennen, von mir exis­tieren nur noch verkümmerte Ruinen.“ verdeutlichte ich Joscha. Wir erzählen uns die Details. Joscha war beim Psychotherapeuten gewesen. Genau wie ich es vermutete. Viele Sitzungen hatte er gehabt, bis es ihm zu bunt wurde, weil der Therapeut jede Einsichtsfähigkeit verweigerte. „Mica, wir haben uns gut zugehört, weil wir uns gegenseitig verstehen wollten. Der Therapeut vermittelt dir nur diesen Anschein. In Wirklichkeit steht sein unanzweifelbares Urteil längst vorher fest. Du kommst dir auf den Arm genommen vor.“ erzählte Jo­scha von seiner misslungenen Therapie. „Hast du Ruth von uns erzählt?“ inter­essierte mich. „Schon, aber nur die Version des Therapeuten. So etwas kann schließlich jedem mal passieren, und jetzt ist es vorbei.“ Joscha dazu. „Und, ist es vorbei?“ erkundigte ich mich schelmisch. Eine Antwort bekam ich nicht. Da­für rückte Joscha zu mir umschlang mich und drückte fest zu. „Du hast damals gesagt, Carilla habe in dir das Prinzip der Liebe festgelegt, empfindest du, dass ich in dir auch etwas festgelegt habe?“ wollte ich wissen. „Mica, du warst gleich von Anfang an das Prinzip des anderen Menschen für mich. Du hast gesagt, dass viele sich in ihrem Alltag zu verunstalteten Monstern entwickelt haben. Als völlig frei davon habe ich nur dich erlebt. Bei allen anderen musst du im­mer Zugeständnisse machen. Ich bei mir selbst mittlerweile genauso gut. Was tue ich denn jetzt? Unterrichte als Lehrer wie alle anderen auch, gründe eine Kleinfamilie, will Kinder haben, Papa werden, wen interessieren denn da die wirklichen menschlichen Bedürfnisse und Gefühle? Alles genauso, wie die an­deren alle es auch machen.“ Joscha zu seiner Entwicklung. Wir sprachen noch über Ruth und Joschas Verhältnis zu ihr. Auch sonst hatten wir nicht selten über andere Menschen, Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrende an der Uni ge­sprochen. In sonderbarer Atmosphäre fand das immer statt. Wir unterhielten uns dabei, als ob Aphrodite und Apollon sich Geschichten von den armen Sterblichen da unten erzählten. Waren wir überheblich? In gewisser weise sicher schon. Wir sahen sie immer als die in ihren Ansprüchen und Rollenerwartungen Gefangenen, die keine Chance hatten, zu sich selbst zu finden, ihr Leben zu leben, ihre wirklichen Bedürfnisse und Gefühle zu erkennen und nach ihnen zu leben. Jetzt lebten Joscha und ich kein bisschen anders. Trotz unserer gemeinsamen Erfahrungen hatten wir uns vom technologisierten Alltag wieder voll einfangen lassen und fristeten unser Dasein darin.


Alleine kein gescheites Leben

Dass wir fünf Jahre getrennt waren, schien im Moment völlig bedeutungslos. Ein Gefühl, wie es damals immer herrschte, wenn wir zusammen waren. Offen­sichtlich entsprach das unserem normalen Seinszustand. Das waren wir selbst gewesen. So waren wir, und so wollten wir sein. Die Trennung hatte nicht nur eine Beziehung zerstört, sondern uns unser Leben entrissen. Wir hätten lange beim Kaffee sitzen können, aber ich wollte Joscha für keinen Moment wieder verlieren. Ausrasten würde ich nicht mehr, aber ich würde ihn erst gar nicht hergeben. Nur wie? „Du machst dir Sorgen. Quälst dich mit der Frage ob Ruth oder Mica, nicht wahr?“ wollte ich wissen, obwohl er im Moment überhaupt kein nachdenkliches Gesicht machte. „Nein, das habe ich noch gar nicht ge­dacht. Nur wie stellst du es dir denn vor. Jetzt geht es auf einmal mit uns bei­den. Jetzt brauchen wir nicht mehr in die Picos, oder wie?“ reagierte Joscha. „Wie soll ich das wissen? Ich habe nicht damit damit gerechnet, dass wir uns wieder treffen würden, und wenn ich es vorher gewusst hätte, würde ich in meinem Zustand gesagt haben: „Wir werden uns freundlich begrüßen und uns gegenseitig ein wenig über uns erzählen.“ Dass es so sein würde, konnte ich wohl kaum ahnen. Du kannst Gefühle doch nicht antizipieren. Es ist ja nicht nur so, dass es sehr schön war mit uns, und dass es sehr weh tat und schmerzte, als wir uns trennten, wir können alleine kein gescheites Leben hin­kriegen. Wir brauchen einander, wenn wir eine Aussicht haben wollen, nicht im technologisierten Alltag zu verkommen. Schau mal, was ich gemacht habe, ist nicht schlecht und ich bin auch stolz darauf, nur ich muss es verstehen und in Beziehung setzen können. Menschlich ist es wertlos, kein bisschen Liebe oder persönliche Anerkennung gibt es mir. Ich nehme es aber so, bewerte und ver­stehe es so,weil ich nichts anderes habe, und weil alle so verfahren. Wir kön­nen allein mit dem Alltagsschrott nicht umgehen, wir brauchen uns. Genauso wenig wie ich mit Ziegen züchten existieren kann, kann ich es hier ohne uns.“ verdeutlichte ich es. „Wenn es hier eine Möglichkeit für uns gibt, Mica, was soll dann noch fraglich sein. Ich sehe sie zwar im Augenblick noch nicht konkret, aber nichts wünsche ich mir mehr und erhoffe es natürlich auch. Mit Ruth, das ist allerdings ein sehr großes Problem. Es wird mir weh tun und außerordent­lich schwerfallen.“ Joscha darauf. „Du liebst sie, nicht wahr? Carilla Nummer 2?“ vermutete ich. „Nein, so nicht, aber wir lieben uns schon. Wir freuten uns ja auch auf unsere gemeinsame Zukunft.“ erklärte Sascha. Der Ärmste, jetzt würde er leiden müssen, wenn er mit mir zusammen sein wollte. Gleich würde er zu seiner Frau nach Hause fahren. Um Himmels willen, das durfte er doch nicht. „Sascha, weißt du was, ich fahre gleich nach Hause. Meine Mutter hat auch entsetzlich deinetwegen gelitten. Meine Tobsuchtsanfälle musste sie ertragen und noch viel mehr, alles nur deinetwegen. Sie weiß alles von uns. Unbedingt müsst ihr euch mal kennenlernen. Ruf doch deine Frau an, und sag ihr, du hättest einen alten Freund oder eine alte Freundin getroffen und würdest mit zu ihm fahren.“ schlug ich vor. Das musste Joscha zunächst mal in allen Richtungen abwägen. Ich denke,den Ausschlag gab, dass wir so noch länger zusammenbleiben würden.


Sternennacht

Jetzt war das Fabelwesen, zu dem nur ich in seiner kleinen Kemenate Zugang gehabt hatte, bei uns zu Hause. Mutter, der jedweder Anflug von Hysterie oder Nervosität wesensfremd war, drehte schon am Telefon durch. „Gar nix, er kommt einfach mit, und du schaust ihn dir an, und zum Abendbrot stellen wir einen Teller mehr auf den Tisch. Sonst nichts. Vorbereiten kann und darf man da überhaupt nichts.“ vermittelte ich ihr, weil sie doch gar nicht wisse, was sie jetzt tun solle. „Du siehst, da ist er leibhaftig. Es gibt ihn also wirklich. Ich hät­te ihn schon bald vergessen, aber er ist immer noch da.“ stellte ich Joscha scherzend meiner Mutter vor. Mit meinem Vater kam Joscha erstaunlich schnell in lebhafte Diskussionen. Ich ließ die beiden allein und ging zu Mutter. „Der ist ja ganz normal.“ meinte die fast erstaunt. „Ja,“ räsonierte ich leicht klagend, bedauerlich, „ich hätte auch lieber einen Superhero gehabt. Mutter, was kannst du für einen Stuss reden. Keiner von uns hat sich irgendjemanden gesucht, es hat sich zwischen zwei ganz normalen Menschen entwickelt. Sonst wäre es gar nicht möglich gewesen. Im Übrigen, wirkliche Superheros können nur ganz na­türliche, wirkliche Menschen werden, bei den anderen ist es nur täuschende Fassade und nicht mehr als oberflächlicher Glitter.“ „Du hast Recht.“ sinnierte Mutter, „Ein Arzt hätte euch für krank gehalten, aber so viel habe ich verstan­den, für mich wart ihr eindeutig eher Helden.“ Als Joscha in die Küche kam, wachte er auf. Schon nach den ersten Sätzen im Gespräch mit Mutter ironisier­ten und witzelten die beiden herum. Lachten und scherzten über mich und meine Erziehung, und Joscha wollte über konkretes Verhalten von mir wissen, ob ich dieses von Mutter geerbt hätte. „Mein Mann und ich wir sind beide so biedere, angepasste Leute, und das Kind ist mit der Renitenza im Blut auf die Welt gekommen.“ erklärte Mutter bei Joscha Mitleid suchend. „Ah ja? Joscha, du musst dir mal Beispiele von ihr nennen lassen, wo sie besonders bieder und angepasst gewesen ist, dann haben wir den ganzen Abend etwas zu lachen.“ mischte ich mich ein. „Ein bisschen frech, das könnte ich mir schon vorstellen und widerspenstig soll sie auch sein? Da muss man sich schon in Acht nehmen, nicht wahr?“ Joscha dazu. In dem Stil ging es scherzend, albernd und lachend bis zum Abendbrot weiter. Joscha am Abendbrottisch, hatte es je Abendbrot ohne Joscha gegeben? Am liebsten hätte ich ihm vorgeschlagen, doch gleich bei uns wohnen zu bleiben. Nur ich war ja selbst in der Woche nicht zu Hause. Sonderbar, auch mit meinen Eltern sprachen wir kein Wort darüber, was denn jetzt geschehen und ob sich etwas ändern würde. Dass Joscha verheiratet war, hatte ich nicht erwähnt. Mutter fragte auch nicht, wo er denn schlafen würde und ich doch erst recht nicht. In meinem Zimmer starrten wir uns mit lachen­der Mimik an. Dass wir zusammengehörten, war selbstverständlich, aber was wir jetzt miteinander zu veranstalten hätten, wusste offensichtlich keiner von uns beiden. Schamvoll, schüchtern, waren wir das? So wohl eher nicht, aber es herrschte nicht die Stimmung der Situation, in der wir damals bei Joscha zu­sammen ins Bett gegangen waren. In dieser Begegnung schienen wir uns fast neu zu sein. Vielleicht erlebten es Paare, die in der Hochzeitsnacht zum ersten mal miteinander schliefen, ähnlich. „Nein, nein, neu sind wir uns nicht.“ sah es Joscha, „Es ist, als ob wir einen kostbaren Schatz wiederentdeckt hätten. Wir sind uns einander ungeheuer wertvolle Edelsteine, die man staunend bewun­dert und nur vorsichtig berührt.“ „Ein Stein? Auch schön, er glitzert und strahlt, nicht wahr? Aber du glitzerst und strahlst für mich noch viel mehr als ein Dia­mant. Du bist für mich ein Stern, der Stern, der mich erlöst.

Es gibt noch Wunder, liebes Herz,
getröste dich,
Erlöste dich noch nie ein Stern aus deinem Schmerz,
des Strahlenspiel
vom hohen Zelt
in deiner Qualen
Tiefe fiel
und sprach: „Sieh, wie ich zu dir kam
vor allen andern ganz allein!“

zitierte ich Christian Morgenstern. „Sollen wir es nicht zu unserer Sternennacht werden lassen, weil jeder Stern von uns beiden heute den anderen erlöst hat?“ schlug ich vor. Joscha umschlang mich. Wir mussten unsere Körper lange mit­einander kommunizieren lassen. Vermutlich hatten sich in den fünf Jahren große Mengen in uns angesammelt, und die medialen Kräfte konnten es nicht so schnell bewältigen, sie nur wie einen Blitz vom einen zum anderen zu über­tragen. Horizontal führten wir es auf dem Bett liegend fort. Diese Nacht fand vor der kopernikanischen Wende statt. Der bestirnte Himmel über uns verlang­te unserem Gemüt immer wieder Bewunderung und Ehrfurcht ab, und das mo­ralische Gesetz in uns, wie stand es damit? Kant wäre stolz auf uns gewesen. Konnte der kategorische Imperativ in reinerer Form befolgt werden, als wie wir leben wollten? Was würden wir uns mehr wünschen, als dass unser Leben zur Grundlage einer Regelung für alle Menschen würde. Der Himmel voller Sterne hatte sich über uns gewölbte, und immer mal wieder viel einer zu uns herab, um unser Glück zu mehren und jegliche Erinnerung an die Schmerzen vergan­gener Tage zu tilgen.

 

Besuch bei Ruth

Am Sonntagmorgen, bevor Joscha nach Hause fuhr, vereinbarten wir unseren nächsten Kontakttermin. Zwei Tage später rief Joscha schon an. Er habe es Ruth direkt erklärt. „Sie zu betrügen und mich verhalten, als ob nichts gesche­hen wäre, das konnte ich nicht. Ich habe ihr verdeutlicht, wie es damals wirk­lich zwischen uns war. Ich glaube, sie hat mich sogar verstanden. Ich kann das nicht, Mica. Ich kann Ruth nicht sagen: „Du kannst gehen, ich brauche dich nicht mehr.“ Das stimmt auch nicht, sie ist ein Teil von mir, meinem Traum von einer glücklichen Zukunft. Ich bin glücklich, wenn sie es ist. Mica, Ruth hat geweint, das habe ich noch nie erlebt. Bei mir kommt es leichter dazu, aber Ruth ist eine Frau, die sich äußerst cool gibt. An ihr scheint die Unterdrückung der Frauen vorbei gegangen zu sein, weil sie die machtvolle Herrscherin demonstriert. Ich bin ihr Leben, ihre Seele, ihr Herz. Ich liebe sie, Mica.“ berichtete Joscha. Joscha wäge ab, ob er mit mir oder doch lieber mit Ruth leben wolle, so hätte ich es verstehen müssen, aber das konnte ich gar nicht denken. Ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte. Ihm sagen: „Komm zu mir, Joscha, dann wird alles gut sein.“? Am liebsten hätte ich das getan. „Du leidest sehr, mein Stern, nicht wahr? Ich möchte dir helfen und kann es nicht. Nicht nur untröstlich bin ich deshalb, es tut mir selbst weh, zu wissen, dass du dich quälen musst. Willst du nicht zu mir kommen, du brauchst meinen Trost.“ sagte ich ihm. „Das geht nicht, Mica, ich muss zur Schule, und ich möchte Ruth auch jetzt nicht allein lassen.“ Joscha darauf. „Das geht nicht? Wir können nicht zusammen sein? Das kann ich nicht glauben, Joscha. Sogar in der Kirche erklären sie den Paaren bei der Hochzeit: „Wo du hin gehst, da will ich auch hin gehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.“ Wir sind nicht verheiratet. Unsere Beziehung ist weniger wert?“ lautete meine Reaktion. „Denk nicht so, Mica. Du weißt, dass für mich, genauso wie für dich, unser Verhältnis über allem steht. Sind wir nicht verschmolzen oder verschweißt?“ fragte Joscha und lachte, „Willst du nicht zu mir kommen, wenn wir uns direkt sehen wollen? Natürlich muss ich Ruth zuerst fragen, aber ich glaube nicht, dass sie etwas dagegen haben wird, dich kennen zu lernen.“ antwortete Joscha. Den Samstag und die Nacht hatte ich im Rausch erlebt. Aber schon am Sonntag war ich ziemlich konsterniert. Das war für mein Leben nicht vorgesehen. Wenn ich vorher daran gedacht hätte, was geschehen würde, falls ich Joscha wiedersähe, hätte ich es bedächtig abgewägt. Ich war eine andere geworden. Keinesfalls hatte ich unsere Zeit vergessen, ich dachte sogar oft daran, aber meinem jetzigen Leben, war so etwas fern. Nur als ich Joscha sah, war das plötzlich alles weggewischt, und mein früheres Leben schien in einem Blitz zurückgekehrt. Am Montag konnte ich gar nicht arbeiten, nur noch an Joscha und mich und mein jetziges Leben denken. Alles kam mir total konfus vor. Jetzt sollte ich seine Frau besuchen, warum nicht auch das? Seine Frau war einverstanden und ich fuhr zu Joscha. Ruth war eine elegante Frau mit einem dominanten Blick. Das sie als Anwältin mit scharfzüngigen Argumenten ihre Gegner fertig machte, konnte ich mir sofort beim ersten Kontakt schon vorstellen. Ihr Verhalten zeigte aber milde, verständnisvolle Freundlichkeit. Was sollte ich hier? Joscha in seinem Leid trösten wollte ich. Jetzt saß Mica, der Besuch, auf der Couch bei Kaffee und Kuchen. Ich stellte mir vor, wie Joscha zärtlich zu Ruth war, wie sie sich küssten, streichelten und miteinander intim waren. Ein unangenehmes Bild, mein Joscha war das nicht. Der Joscha in meinen Erinnerungen tat so etwas nicht. Das Bild von meinem Joscha war alt, es stimmte nicht mehr. Meinen Joscha gab es nicht mehr. Er war ein anderer geworden, genauso wie ich selbst eine andere geworden war. Wiederfinden konnten wir uns gar nicht, weil es uns nicht mehr gab. Unsere Erinnerungen hatten sich getroffen und ein Fest daraus gemacht. Sollte dieser Joscha doch mit dieser Frau glücklich werden, ich würde mit dem in meinen Erinnerungen glücklich sein. Ich wollte da raus, wäre am liebsten sofort wieder nach Hause gefahren. Wir redeten artig Smalltalk, und Ruth erkundigte sich nach meiner Dissertation. „Willst du das wirklich wissen? Ist es das, was dich interessiert? Dann fahre ich jetzt nach Hause und hole einen Stick von dem, was ich schon fertig habe.“ erklärte ich leicht zynisch bestimmt. Beide schauten verdutzt, Ruth schien zu überlegen, ob sie beißen sollte, und Joscha schien es zu befürchten. Nach kurzer Pause kehrte aber die Ausgeglichenheit in Ruths Mimik zurück. „Mica, wie redet man denn über das, was wir zu besprechen hätten oder besprechen könnten. Ich bin völlig unbeholfen.“ erklärte Ruth. „Was wir zu besprechen hätten? Ruth, ich weiß gar nicht was es wäre. Etwa kriegst du ihn, oder bekomme ich ihn?“ sagte ich und lachte, „Ich ging davon aus, dass der Joscha, den ich kannte, nur zu seiner Carilla zurückkehren könnte. Aber nein, er hat wirklich ein völlig neues Leben begonnen. Von dem alten Joscha ist da nicht mehr viel zu sehen, der existiert nicht mehr, er ist ein anderer in einer anderen Welt, und die wollte ich mir gern mal anschauen.“ Joscha brauste auf: „Ja, ja, schau dir alles genau an, sie dich gut um, damit du meine Welt auch genau kennenlernst. Du spinnst doch, Mica. Natürlich haben wir uns in den fünf Jahren verändert, wir beide, du genauso, aber das haben wir uns ja auch schon gesagt. Nur unsere Zeit war doch kein Event, ein Erlebnis, das hinterher vorbei ist, und an das man sich allenfalls erinnern kann. Es hat doch unser Tiefstes im Kern betroffen, hat unsere Sichtweise vom Leben und Zusammenleben neu entwickelt, hat unser Wesen verändert. Du bist in mir, bist ein Teil von mir geworden, das lässt sich nicht revidieren oder verändern, wie auch immer sich die Umstände entwickeln mögen. Erinnerung kann das nicht sein, das sind wir selbst, Teil dessen, das uns zu denen hat werden lassen, die wir heute sind. Was motiviert dich, so zu sprechen?“ Ruth schaute stumm zu. Wenn ich Joscha in die Augen schaute, wurde bei mir schlagartig die Uhr um fünf Jahre zurückgestellt. Ich spürte die Sehnsucht nach unserer Gemeinsamkeit in seinen kleinen Räumen. Sagte jedoch: „Schon möglich, aber ich habe mich verändert. Du wirst dich nicht erinnern, aber du hast ganz zu Anfang gesagt, ich sei so lebhaft. Das bin ich nicht mehr. Ruhig, bedächtig und nachdenklich bin ich geworden. Selbst wenn es möglich wäre, weiß ich gar nicht, ob ich so ein Leben wie damals noch könnte oder wollte.“ Joscha war sprachlos, er starrte mich nur an. Nach längerer Pause brachte er ein erstaunt fragendes „Mica!?“ hervor. „Was ist mit dir los? Ich versteh dich überhaupt nicht mehr. Als wir uns trafen, bist du fast ausgeflippt vor Freude. Hast er klärt, dass wir uns jetzt aber nicht nochmal wieder trennen dürften. Du vermitteltest den Eindruck, als ob ich schon zu dir gehörte, und du mich am liebsten gar nicht wieder weglassen würdest. Was ist geschehen? Hast du jeden Tag völlig andere Gedanken und Empfindungen? Du möchtest gar nicht, dass wir zusammenleben? Mica, das kann ich dir nicht glauben.“ erklärte Joscha dann. Wieder sagte niemand etwas. Ich schaute zu Ruth, die unserem Gespräch mit großen Augen und leicht skeptisch herber Mimik folgte. „Joscha, du zerstörst dieser Frau das Leben, beraubst sie ihrer Hoffnung, nimmst ihr die Perspektive, verschleuderst ihr Vertrauen. Mein Joscha, den ich kenne, tut so etwas nicht, kann so etwas gar nicht. Ein Joscha, der so etwas macht, kann mein Joscha nicht sein und nicht werden. Mit ihm kann ich nicht glücklich sein.“ verdeutlichte ich mich. Ruth, die neben mir saß, starrte mich an. Der Anflug eines Lächelns legte sich auf ihre Mimik. Sie nahm meine Hand und legte ihre andere darüber. Ich meinte zu erkennen, dass ihre Augen sich stark benetzten. Sie lächelte mir zu. „Danke, Mica,“ sagte sie, „man erkennt doch eure Gemeinsamkeit. Ich war mir nicht sicher, ob ich es für Fanatismus oder ein bewundernswertes Erleben menschlicher Zusammengehörigkeit halten sollte, was Joscha mir erzählt hat, aber ich bin mir sicher, es kann nur das Letztere gewesen sein.“ „Fanatisch? Das waren wir sicher auch, nicht war, Joscha? Für uns galt nur das Leben in unserer Welt, wie wir sie sahen, als richtig und wertvoll. Alle anderen waren gequälte, verunstaltete Alltagsmonster.“ kommentierte ich. „Ja schon, aber wir hatten doch nicht eine Idee, die wir fanatisch realisieren wollten. Wir haben gelebt, waren glücklich und haben es so interpretiert.“ meinte Joscha dazu. „Ich weiß nicht, was ich von dieser Dichotomie halten soll. Wir, die das richtige Leben wirklicher Menschen führen und die andern, die durch ihre Rollenkonkretisierungen den wirklichen Menschen nicht erkennen können. Dass es wirkliche menschliche Gefühle und Bedürfnisse gegenüber den gewöhnlichen Klischeevorstellungen und nachgemachten Gefühlen gibt, das sehe ich mittlerweile auch so.“ äußerte sich Ruth dazu. „Absolut nichts, diese Dichotomisierung ist falsch und taugt nichts. Wir haben zwar oft so empfunden, und es fühlt sich nicht schlecht an, zu den makellosen Seelen zu gehören, aber du bist deine Geschichte. Vieles kannst du ändern oder überhaupt erst erkennen, aber du bleibst der Mensch, den diese ganz übliche Alltagswelt geformt hat, in ihr bist du aufgewachsen und zu dem geworden, der du bist. Sie ist in dir, du kannst dich nicht von ihr freisprechen.“ meinte ich dazu. „Aber was hat es dann so faszinierend für euch gemacht? Warum wart ihr so besessen verliebt?“ erkundigte sich Ruth. „Verliebt? Das waren wir gar nicht, besessen schon. Es kam ganz von selbst. Wir haben uns von Anfang an nicht mit der Distanz von Fremden gesehen. Ja, den wirklichen Menschen im anderen wollten wir erkennen, wollten ihn möglichst ganz erfassen und in uns aufnehmen mit allem was uns zur Verfügung stand, und das bedingt einen nicht enden wollenden Austausch. Die Sucht danach wirkte wie eine Droge. Wir hatten ja hinterher auch schwere Entzugserscheinungen.“ erläuterte ich. „Mica, mir kommt es vor, das Joscha der einzige Mann ist, den ich nicht besiegen muss. Ich habe nämlich einen Erbschaden, weißt du? Das Siegergen, das sonst nur Männer haben, besitze ich auch. Es tritt aber nur gegenüber Männern in Erscheinung und das schon seit meiner Kindheit. Ich konnte es nicht ertragen, dass die kleinen Jungs stärker waren. Das hat sich immer gehalten, ist zu einer unveränderbaren Charaktereigenschaft geworden. Ich stehe auch dazu, nur für persönliche Beziehungen ist es nicht gerade hilfreich.“ erklärte Ruth. „Und wieso Joscha nicht? Ist der etwa stärker als du?“ fragte ich nach und brachte dadurch beide zum Lachen. „Das können wir überhaupt nicht testen, weil Joscha der einzige Mann zu sein scheint, den so etwas überhaupt nicht interessiert. Er hat mich verunsichert, das war ungeheuerlich, dem musste ich nachgehen. Wir lieben uns schon sehr, Mica, und ich weiß nicht, mit welchen Entzugserscheinungen ich zu kämpfen haben werde, aber als er mir von eurem Wiedersehen erzählt und verdeutlicht hat, was damals tatsächlich zwischen euch bestand, wurde mir klar, dass er nicht mehr der Joscha, wie ich ihn sah, für mein weiteres Leben sein könnte. Auch wenn Joscha bei mir bliebe, müsste ich immer damit leben, dass du an vorderster Stelle in seiner Psyche lebst. Wenn er zärtlich zu mir ist, und du weißt, dass er es noch lieber zu Mica sein würde, ich bitte dich, könntest du das ertragen?“ erklärte Ruth. „Ich kann gut etwas erzählen, ich habe ja selbst keinen Mann, obwohl ich sie nicht bekämpfe. Individuell nicht, in ihrer patriarchalen Machtposition natürlich schon. Ich habe dieses Bild, schwächer zu sein als Jungs oder Männer, nie gehabt. Meine Mutter und ich waren immer die Frauen, und die Frauen waren die Blumen, während die männlichen Kretins nur das Gras auf der Wiese bildeten. Ziemlich dumm, nicht war?“ wusste ich zur Geschlechterrolle. „Aber das Gras bestimmt, ob eine Blume sich überhaupt entfalten darf.“ Ruth darauf, „Meine Einstellung ist ja genauso dämlich. Was hast du davon, wenn du als einzelne irgendwo gewinnst. In den Entscheidungs- und Machtpositionen sitzen doch alles Männer. Und wenn es mal eine Frau ist, versucht sie der bessere Mann zu sein. Mache ich ja auch, aber ich weiß nicht, was ich anders machen könnte und sollte.“ „Der wirkliche Mensch zu sein, du solltest versuchen, dich möglichst oft an den wirklichen, menschlichen Bedürfnissen und Gefühlen zu orientieren.“ antwortete ich. Wir lachten zwar zunächst darüber, unterhielten uns dann aber lange über andere Verhaltensmöglichkeiten im Alltag und auch im Beruf und die Auswirkungen auf die eigene Psyche. Ich blieb noch zum Abendbrot. Es war wirklich interessant geworden. Ruth erklärte, dass sie außer mit ihrer kleinen Schwester mit niemandem sonst so reden könne wie mit Joscha und mir. Auch wenn Joscha und ich zusammenleben würden, möchte sie den Kontakt zu uns nicht verlieren. „Mica, meine kleine Schwester musst du unbedingt mal kennenlernen. Du wirst sie bestimmt genauso klasse finden wie ich.“ meinte Ruth und lachte.


Nur Genuss und Sinneslust

„Nun benimm dich mal nicht so hysterisch.“ hatte eine Lehrerin damals in der Schule öfter gesagt, wenn ein Mädchen aufgeregte und ein wenig konfus sprach. Hysterisch bedeutete für mich seitdem immer aufgeregt und durchein­ander. Ich redete zwar nicht, aber in mir benahm sich alles aufgeregt und hek­tisch konfus. Klarheit konnten meine Gedanken nicht finden. In einem Anflug von Euphorie hatte ich direkt bei der Begegnung erklärt, wir dürften uns nie wieder trennen, jetzt stand es konkret an, und ich wusste gar nicht was ge­schehen sollte. Unser Leben damals und mein Leben hier waren zwei Welten. Wenn ich Joscha nicht sah, dominierte mein gegenwärtiges Leben. Das fand hier in meinem Appartement und an der Uni statt. Was würde ich denn mit Jo­scha machen? Er hatte schon Recht, ich war ein Teil von ihm und er ein Teil von mir. Nur es kam mir vor, als ob ich diesen Teil erst wiederfinden müsste. War er mir in meinem Alltag abhanden gekommen? Am nächsten Wochenende wollten wir uns wieder bei meinen Eltern treffen. Es war nicht zu fassen, bei mir zu Hause hielt mich mein jetziges Leben in Schach, wenn ich Joscha sah, war ich glücklich, dann wurde ein anderes Licht angezündet. „Wir waren es da­mals schon und sind es immer noch. Das scheint sich direkt erhalten zu haben. Wir wollen zusammenleben, aber wissen nicht wie. Völlig unfähig etwas zu or­ganisieren sind wir.“ erklärte ich beim Abendbrot. Mein Vater schmunzelte nur, und Mutter wollte wissen: „Die große Geste, gehört die auch zum wirklichen Menschen? Seit wann kannst du denn etwas nicht mehr organisieren, meine Liebste?“ „Natürlich, im Alltag ist alles kein Problem, nur wenn wir beide zu­sammen sind, dann wollen wir ausschließlich unser Glück genießen, wollen uns nur aneinander erfreuen, verstehst du? Gedanken darüber, was wie demnächst sein sollte und werden könnte, passen da gar nicht, das ist eine andere Welt. Der wirkliche Mensch lebt im Hier und Jetzt. Wenn ich Joscha sehe, möchte ich an ihn denken und nicht an Morgen.“ erklärte ich und lachte. Die anderen lach­ten auch. „Hedonismus ist das, blanker Hedonismus. Nur Genuss und Sinnes­lust zählen, alles andere ist wertlos.“ interpretierte es meine Mutter. „Ist das so, Joscha?“ wollte ich wissen. „Nein, nein, so ist das nicht.“ reagierte Joscha immer noch lachend, „Wir wollen uns immer besser kennenlernen, den bezie­hungsweise die andere immer tiefer verstehen, immer wieder etwas Neues entdecken, was uns bisher verborgen geblieben war, ihn beziehungsweise sie ganz erfassen. Ein vom Grunde her endloses Unterfangen, aber es treibt uns immer weiter in diesem Prozess, wir kommen uns immer näher, nur harte Ar­beit ist es. Es ist aber selbstbestimmte Arbeit und macht deshalb Spaß. Ge­nussvoll? Könnte man sie als genussvoll bezeichnen? Was meinst du, Mica?“ „Ist der nicht plemplem?“ lautete meine Einschätzung. Hier konnten wir ganz ruhig unsere Bedingungen und zukünftigen Möglichkeiten erörtern. Wenn ich allein bei mir war, benahmen sich meine Gedanken hysterisch. Üblicherweise machst du dir Gedanken über etwas und nimmst die, natürlich auch immer be­teiligten, Emotionen gar nicht war. Wenn ich mich mit Joscha befassen wollte, schienen meine Gedanken und Emotionen aber gemeinsam wilde Tänze aufzu­führen und legten die furiosesten Wirbel auf's Parkett meines Bewusstseins. „Ich will euch nichts einreden,“ begann Mutter nach längerer Diskussion, „aber wenn Joscha hier wohnte, brauchte er keine neue Wohnung und seine Schule ist ja auch hier. Du hast doch nur noch kaum Präsenzzeiten an der Uni, da brauchtest du doch nur selten zu fahren. Dein Zimmer hast du hier und für Jo­scha würde das Gästezimmer und das Bügelzimmer, das sowieso niemand braucht, eingerichtet. Also, wenn ihr euch dazu entschließen könntet, fänd' ich das absolut klasse.“ Joscha und ich begegneten uns in unseren Blicken. Wir waren sprachlos. Auf die Idee war noch keiner gekommen. Dann würde er ja wirklich immer hier am Abendbrottisch sitzen. Solche und eine Vielzahl ähnli­cher Szenen schossen mir in Windeseile durch den Kopf. „Joscha, dann gäbe es jeden Abend für uns eine Sternennacht.“ erklärte ich schon in Vorfreude dar­auf, dass er einverstanden sein würde. „Eigentlich müsste ich es mir jetzt reif­lich überlegen, aber ich bin davon überzeugt, dass es so für uns beide am bes­ten sein wird.“ sagte Joscha. Was er damit genau meinte, wollte ich gar nicht wissen. Ich sah nur immer die Bilder von Joscha bei uns in allen möglichen Si­tuationen und freute mich kindlich. „Dann werden wir bestimmt viel von den reinen Menschen lernen können.“ ironisierte mein Vater. „Ja, der Julian wird uns dann vielleicht auch mal einen Kuchen backen.“ witzelte meine Mutter. „Oder mit Joscha Steaks braten.“ fügte ich an. So scherzten wir weiter über unser zukünftiges Zusammenleben.


Obsession mit festem Wohnsitz

Jetzt hatte die Obsession ihren festen Wohnsitz gefunden, im Haus meiner El­tern. Würde sie erschlaffen? Zum rituellen immer wiederkehrenden Alltag ver­kommen und die Macht der besessenen Sucht nach der Gemeinsamkeit verlie­ren? „Joscha, wenn ich damals am Nachmittag zu dir kam, hast du mich immer begrüßt, als ob ein neuer Stern an deinem Horizont aufgegangen sei. Nicht an­ders kann es für dich sein, wenn wir zusammen wohnen. Die Mica, die heute Morgen im Bett neben dir wach wird, kann niemals die von gestern Morgen sein. Du kannst mich nicht einmal in dich aufnehmen wie ein Fahrrad oder einen Küchentisch, und dann bin ich in dir, und es reicht erstmal für fünf Jahre. Die von gestern bin ich nie, nicht mal die von vor einer Minute und der Blick deiner Augen, was sie sehen wollen und sehen können, ist auch jeden Tag un ständig ein anderer. Wenn du den wirklichen Menschen in mir suchen und se­hen willst, wirst du immerwährend nach ihm forschen müssen.“ erklärte ich meinem Erlöserstern. „Das weiß ich doch Mica, so haben wir ja gelebt, aber es tut gut, es dich sagen zu hören. Ich denke, die Gefahr, es vergessen zu kön­nen, ist nicht gering, wenn es zur selbstverständlichen Gewohnheit wird, dass wir immer zusammen sind.“ meinte Joscha dazu. „Ein Zurück kann es im Le­ben zwar nie geben, aber ich will es wiederhaben, mein altes, enthusiastisches Leben, wie es für mich existierte, als wir uns kennenlernten, will mich wieder engagiert selbst leben. Dass ich es überhaupt noch könnte, habe ich nicht ge­dacht, aber jetzt sehe ich gute Chancen. Ich habe befürchtet, dass ich es be­vorzugen würde, zu leben, wie ich es jetzt gewohnt bin. Ich weiß natürlich von unserer Zeit und dass da alles ganz anders war, aber so lebe ich jetzt nicht. Der Alltag hat mit seinen Anforderungen und Erwartungen eine völlig andere aus mir gemacht. Die wirklichen Gefühle und Bedürfnisse? Ich suchte gar nicht mehr danach. Lustbetontes Leben? Ich dachte gar nicht daran. Meine Stim­mung war immer auf dem gleichen seichten Level, Eskapaden gab es da nicht. Ich konnte sie gar nicht wünschen und mir empfindend vorstellen. Wie in Be­ton gegossen war meine Stimmung, heute, so morgen und so übermorgen. Immer würde sie so sein, unveränderbar. So wäre ich als Mensch eben, es sei meine Charaktereigenschaft, durch nichts zu beeinflussen. Wenn ich dich sehe, und wenn du zu mir sprichst, zündet es ein Licht an. Jetzt erst kann ich das andere erkennen, kann das sehen, was immer in mir war, und was ich wirklich bin. Dadurch dass du mich erkennst, kann ich mich selbst wieder wahrneh­men.“ erläuterte ich. Joscha bekräftigte es aus seiner Sicht: „Ich habe ja alles getan, habe alles erledigt, was anlag, hätte ich da nicht glücklich sein müssen? Andere sind es, nachgemachte Gefühle. Soweit ist es bei mir nicht gekommen. Aber wirkliches Glück gab es nie. Worin sollte denn seine Basis haben? Du brauchst es aber, in deinem Leben fehlt etwas Entscheidendes. Alle Tage sind Herbsttage, es regnet und stürmt zwar nicht, aber die Sonne fehlt, Herbsttage eben. Ich habe auch kurz überlegt, zu promovieren, aber die Motivationslage ist auch herbstlich schal. Es fehlt der Kick, es fehlt die Lust, dich zu engagie­ren. Für wen, wozu? Fragst du dich, ob du es selbst willst, ob es dir Lust berei­ten könnte, dich zu involvieren und voll darauf einzulassen, das kannst du nicht erkennen. Ein träges Klima dominiert deinen Alltag, aber du kannst es gar nicht anders denken. Vergessen hast du, dass es einen frischen Frühlings­wind geben könnte, der alles belebt, der alle grauen Schleier fortbläst und der Mica heißt.“ Ein frischer Frühlingswind war durch Joscha und mich in unser ge­samtes Haus eingekehrt. Ich hatte mit Mutter immer sehr viel gelacht, aber jetzt hatte es sich potenziert. Sogar mein Vater saß öfter zum Kaffee mit am Küchentisch. Früher hatte er die Küche gemieden, nur mal reingeschaut und gefragt: „Kann ich etwas helfen?“, aber in einer Tonlage, die daraus ein: „Ich muss doch wohl nicht unbedingt etwas helfen?“ machte. Mutter und ich hatten uns immer darüber amüsiert. Jetzt liebte er es besonders, mit Joscha ironisie­rende Gespräche zu führen. Wenn unsere Vorstellung vom lustbetonten Men­schen, der seine wirklichen Gefühle und Bedürfnisse erkennt und ein entspre­chendes enthusiastisches Leben führt, eine Idee war, die sich verbreiten sollte, wären meine Mutter und mein Vater gewiss die ersten beiden Mitglieder in un­serer Fan-Gemeinde geworden. Das Eva auch dem Fanclub beiträte, bedurfte keiner Frage. „Arriba los que luchan por el poder del amor!“ (Vorwärts ihr Kämpfenden für die Macht der Liebe!) würde unsere Parole lauten.

 

FIN

 

 

L'amour, c'est comme la foudre : on n'en est nulle part à l'abri.

William Faulkner

Ich habe noch nie er­lebt, wie man empfindet, wenn ein für verschollen Gehaltener plötzlich wieder auftaucht, aber viel intensiver kann es auch nicht sein, wie das, was ich emp­fand, als ich Joscha in der Uni begegnete. Er war auch zu Hause geblieben. Nein, gut gehe es ihm nicht. Er habe sehr unter unserer Trennung zu leiden, erklärte Joscha. Wir sprachen nicht viel, wollten uns nur intensivste Liebkosun­gen und Zärtlichkeiten zukommen lassen, wie sie möglich sind, wenn man sich im Foyer gegenüber steht. In der anschließenden Vorlesung konnte ich mich nicht konzentrieren. Ein Euphemismus. Ich konnte die Stimme der Professorin nicht ertragen, die meine Ohren quälte. Am liebsten wäre ich nach unten ge­rannt, hätte ihr das Mikro abgeschaltet und sie verdroschen. Kein Wort ver­stand ich, hörte nur das schnarrende Geräusch der Dozierenden, das mir enorm auf die Nerven ging. Jedes Wort von jedem hätte ich jetzt als Belästi­gung empfunden. Es hatte keinen Sinn, ich musste da raus und fuhr nach Hau­se. Warf mich aufs Bett, trommelte auf die unschuldigen Kissen und schrie ein­fach. Meine Mutter, die reinkam, herrschte ich an: „Lass mich in Ruh.“ Das hat­te sie von mir noch nie gehört. Mein Liebster muss leiden. Eine unerträgliche Vorstellung. Als ob mir jemand ätzende Flüssigkeit in offene Wunden gösse, so schmerzte es. Ich litt, schrie und weinte für Joschas Qualen. Woran ich sonst noch litt und dachte, und was mir durch den Kopf lief, weiß ich nicht mehr genau, ein Tobsuchtsanfall meiner Seele, als ob sich alles in mir verkrampfte. Irgendwann muss ich wohl vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Als ich am Nachmittag wach wurde, kam ich mir geläutert vor, wie erwacht aus einem Koma ähnlichen Nie­mandsland. Jetzt konnte ich auch wieder mit Mutter sprechen. Wir waren beide ratlos. Als ich Joscha einige Tage später wieder traf, lief es fast identisch ab. Ich versuchte mich immer in der Gewalt zu behalten, redete mir etwas ein, aber es blieb ohne Konsequenzen. „Mica, das geht doch nicht. Wir werden dich irgendwann in der Psychiatrie besuchen müssen.“ bewertete meine Mutter ängstlich mein Verhalten. Nein, zum Psychotherapeuten wollte ich trotzdem nicht. „Ich kann es nur nicht ertragen, Joscha zu treffen. Sonst ist doch alles o. k.. Wir müssen uns nur aus dem Wege gehen, dürfen uns nicht sehen.


 

 

 

 

Mica – Obsession – Seite 34 von 34

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Tag der Veröffentlichung: 20.08.2013

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