Cover

Introduction und Inhalt

 

Elvi Mad

 

Freue dich Laetitia
Essen sie gern kaltes Fleisch?

 

Erzählung

 

 

Und der Knabe, den Lust anrührt, von der er nichts weiß.
Jene Symtome, die ihm anzeigen eigene Glut,
Wundere sich lange und rufe: „Belehrt von welchem Verräter
Schrieb der Dichter da auf, was mir grad selbst widerfuhr?“

Ovid

Laetitia ist eine biedere Frau, Apothekerin und hat zwei Kinder. Heute Abend ist sie völlig frei. Auf der Geburtstagsféte bei ihrer Freundin Gundula spürt sie ein Hochgefühl, empfindet sich leicht high. Am Buffet lernt sie Pablo, den Neffen von Gundula, kennen. Der müsste Laetitia eigentlich schon öfter gesehen haben, aber erst heute Abend nimmt er sie wahr. Trotz Altersunterschied scheinen sie beide heute Abend in dem anderen etwas entdeckt zu haben, das nach weiterem Austausch und Klärung verlangt. Pablo lässt es nicht in Ruh und auch Laetitia beschäftigt die Begegnung mit Pablo weiter. Ab jetzt gehört Pablo zu Laetitias Leben, zu ihrem gemeinsamen Leben, jeden Donnerstagabend. Da treffen sie sich auf einer Insel. Vorschriften und Verhaltenserwartungen kennt man dort nicht, aber ohne Auswirkungen auf das gewöhnliche Leben an Land kann es nicht bleiben.

 

Freue dich, Laetitia - Inhalt

 

Freue dich, Laetitia 4

Essen sie gern kaltes Fleisch? 4

Anett 12

Manchmal habe ich auch Hunger 12

Traum von der Insel 16

An's warme Herz denken 19

Libibostörungen 20

Die Apothekerin und der Student 22

Die Adornoschülerin 22

Sag ihr einfach „a priori oder ex nativatem“ 24

Schnepfenstrich 27

Wo sind wir, Laetitia? 28

Das sind wir beide 31

Kein richtiges Leben im falschen mehr 32

Freue dich Laetitia 33

Festmahl 34

Im Café mit Saskia und Roger 35

Laetare Laetitiam, et omnes qui diligitis eam 37

 

 

Freue dich, Laetitia - Essen sie gern kaltes Fleisch?


„Essen sie gern kaltes Fleisch?“ fragte ich die Frau, die neben mir am Buffet stand. Sie stand ja nicht neben mir, ich hatte mich neben sie gestellt, wollte mit ihr ins Gespräch kommen. Sie sagte aber nichts, gab mir keine Antwort, musterte mich nur. „Es ist schon ganz in Ordnung mit mir. Alles steht auf tau­send Rechauds, damit es schön warm bleibt, aber sie nehmen sich kaltes Fleisch. Kann man da nicht mal fragen?“ rechtfertigte ich mich. „Natürlich kön­nen sie fragen. Entschuldigen sie, wenn ich sie dumm angeschaut habe. Dieses Fleisch muss man schon kalt essen, warm schmeckt es nicht. Deshalb steht es ja auch nicht auf einem der Rechauds.“ erläuterte die Frau, begleitet von ei­nem leicht schelmischen Schmunzeln, das sagte: „Sehn sie, so iss' es.“. „Tolles Buffet, nicht wahr? Ich werde das jetzt jeden Abend für unsere WG ordern.“ meinte ich grinsend. „Ah, sie wohnen in einer WG, dann sind sie der Neffe von Gundula, nicht wahr?“ erkundigte sich die Frau. Ich hatte nie Probleme, irgend­welche Leute anzusprechen, nur wenn ich den Hauch eines undefinierbaren, speziellen Interesses bei mir spürte, war alles blockiert. Alle Worte und jegliche vernünftigen Sinnzusammenhänge schienen dann unzugänglich vergraben. Hinzu kam noch, dass die Frau sich ständig im Gespräch mit anderen befand. Was wollte ich denn eigentlich von ihr? Nichts. Im Alter lagen meine Mutter und sie gewiss nicht viel auseinander, aber die Frau wirkte durch ihre fast wie bei Jugendlichen zerzausten Locken, aber auch im Gesicht insgesamt, vor al­lem aber in ihrem Gesichtsausdruck jünger. Nur hatte mich das überhaupt nicht interessiert. Wenn sie grüne Haare gehabt hätte, wäre sie mir auch direkt aufgefallen, aber einen Reiz, sie ansprechen zu wollen, hätte das nicht ausge­löst. Ich kann es nicht benennen, sie fiel mir sofort sehr angenehm auf, als ich kam. Angenehm ist ein so plattes Wort, aber was soll ich denn zu dem sagen, was ich empfand? Sie rührte in mir emotional etwas an, das nach Verifizierung oder Falsifizierung verlangte? Vielleicht so? Ich hatte sie hier noch nie gesehen. Schnell musste ich Gundula, meine Tante, die heute ihren Geburtstag feierte, nach ihr fragen. „Was, du kennst sie nicht? Das kann nicht sein. Laetitia ist das doch. Meine uralte Freundin, und du willst sie noch nie gesehen haben? Sie ist eine alte und vielleicht meine beste, Freundin. Wir kennen uns seit Studienzei­ten. Sie ist Apothekerin, in der Glocken Apotheke arbeitet sie. Aber es stimmt schon, wir sehen uns viel zu selten. Sie ist immer sehr beschäftigt mit Familie und Beruf.“ klärte Gundula mich auf. „Ja, hat meine Tante ihnen von mir er­zählt?“ wollte ich wissen. „Aber natürlich, wem hat sie noch nichts von ihnen erzählt?“ meinte die Frau und lachte. Meine Augen sagten wohl, dass ich mir keinen Reim darauf machen konnte. Folglich bekam ich eine Erläuterung: „Das wird Gundula ihr Leben lang ganz wertvoll in sich tragen, dass sie als kleines Kind Gundula gebeten hätten, ihre Mutter zu sein.“ „Ich war ja noch ganz klein, aber das werd ich auch nie vergessen. Ich hatte gesagt, meine Mutter wäre bestimmt froh, wenn sie mich los wäre. Zuerst haben sich die beiden Schwestern totgelacht, aber dann konnte ich mich wochenlang nicht vor Liebesbezeugungen meiner Mutter retten. Für nichts auf der Welt würde sie mich hergeben. Ich habe ihr alles angeboten, aber sie hat immer nur den Kopf geschüttelt. Nicht mal für eine richtig große Lokomotive würde sie mich hergeben. Das konnte ich nicht verstehen. Es war mir immer präsent, bis ich so alt war, um es kapieren zu können.“ ergänzte ich. „Ja, ja,“ sagte Laetitia versonnen, „die Bindungen an andere Menschen sind uns das Wichtigste und Teuerste. Sie können morgen ihr neues Auto zu Schrott fahren, da sind sie kurze Zeit wütend und ärgerlich, aber wenn ein Freund oder eine Freundin stirbt, das tut richtig weh und verfolgt sie ständig.“ „Haben sie das erlebt?“ fragte ich nach. „Entschuldigung, sie sind der herzallerliebste Verwandte von Gundula und ich bin wahrscheinlich ihre liebste Freundin, sollten wir uns da nicht besser mit Vornamen anreden? Ich heiße Laetitia.“ erklärte die Frau. „Ich werde, dank meiner Eltern, mein Leben lang mit meinem Vornamen zu kämpfen haben. Was tut man einem Kind an, wenn man es Pablo nennt. Warum können sie nicht einfach Paul sagen, das kennen alle und klingt gut?“ echauffierte ich mich. Laetitia lächelte mit ganz leicht offenen Lippen, und die Mimik um ihre Augen erweckte einen leicht schelmischen Eindruck. Ob sie mich auch „Paulchen“ nennen wollte, wie in der WG, wenn sie dachten witzig zu sein? Das gefiel mir aber überhaupt nicht. Laetitias Mimik wurde wieder ernst. „Das ist doch nicht schlimm. Ich finde deinen Namen sehr schön. Nichts Ausgefallenes aus der Südsee und auch kein Modename, wie sie jetzt ihre Kinder wieder Wilhelm und August nennen, das ist ein Verbrechen. Deine Eltern waren von Picasso begeistert, nicht wahr?“ meinte Laetitia dazu. „Nein, die Musik war's. Wenn ich nicht so geheißen hätte, würde mir Cello spielen vielleicht gefallen haben, aber einen zweiten Pablo Casals wollte ich nicht aus mir machen lassen. Ich habe ihn gehasst, weil er für meinen Namen verantwortlich war. Später habe ich immer erklärt, mein Name käme von Pablo Neruda. Casals war ja Katalane, und da hieß er richtig Pau. Pablo ist Castellano, die Spanier vereinnahmen eben alles, sogar die Vornamen der Katalanen.“ klärte ich auf. „Dann lass du dich doch einfach von den Deutschen vereinnahmen und nenn dich Paul. Soll ich lieber Paul zu dir sagen?“ fragte Laetitia und schmunzelte. Ich grinste unsicher. Ob ich das wirklich wollte? Paul, das war ich doch gar nicht. Mein bedenklich unsicheres Grinsen ließ Laetitia erklären: „Pablo, ich habe doch keine Probleme damit. Ich finde deinen Namen prima, nur dachte ich, dass es dir vielleicht lieber sein könnte.“ „Verstanden habe ich das schon, aber wir können doch nicht die Dinge einfach nach Lust und Laune umbenennen. In Wirklichkeit bin ich doch Pablo.“ ich dazu. „Wie, dein Name das bist du? Meinst du nicht, dass es ein bisschen dürftig wäre?“ fragte Laetitia eher rhetorisch. „Ja, du hast schon Recht, nur das trifft letztendlich auf alles zu. Der Name ist niemals das, was er bezeichnet. Der Begriff ist schließlich nicht die Wirklichkeit, das Ding an sich. Trotzdem ist der Name, die Benennung aber nicht unwesentlich.“ reagierte ich darauf. Laetitia schaute mich ungläubig an. So hatte sie es gar nicht gemeint. „Was machst du? Studierst du Philosophie? 'Das Ding an sich' ist das nicht Kant?“ wollte sie wissen. „Nein, Biochemie studiere ich.“ meinte ich darauf. „Und da gibt es auch den Schwerpunkt Metaphysik?“ fragte Laetitia spöttisch. „Sollte es schon besser geben, nicht wahr. Ob das Wirklichkeit ist, was Biochemiker machen, kann man schon anzweifeln. Niemand hat je ein Molekül gesehen und könnte aus seiner Wahrnehmung das Verhalten beschreiben. Also, alles nur Theorie, und Theorie ist ja nicht die Wirklichkeit selbst.“ lautete meine Ansicht. „Die Wirklichkeit, ob es sie überhaupt gibt, ist das nicht auch eine Frage? Ich kann das alles nicht mehr. Ist das nicht eigentlich unverzeihlich? Ich sollte mal wieder Kant lesen. In der Schule habe ich ihn noch verstanden, aber ob das heute auch noch so wäre? Befasst du dich denn ständig mit den letzten Fragen?“ wollte Laetitia wissen. „Ja, ich frage mich jeden Tag, ob ich zum Seienden oder zum Nichts gehöre.“ erklärte ich albernd, „Kant lesen ist natürlich immer gut. Er wusste ja schon, dass der Mensch von Natur aus mit Fragen belästigt wird, die er aber gar nicht beantworten kann, weil sie alles Vermögen der menschlichen Vernunft übersteigen. Wozu dann Metaphysik, wenn die Menschen es prinzipiell nicht klären können? Trotzdem stellen sich alle Menschen die Fragen nach den letzten Zusammenhängen, als „animal metaphysicum“ hat Schopenhauer den Menschen deshalb bezeichnet. Aber Heidegger ist doch eigentlich der alles umwälzende Fundamentalontologie Papst unserer Zeit, der sich mit allen Formen und Facetten des Seienden, des Hierseienden, des Daseienden und Hungrigseienden befasst hat.“ meinte ich dazu. „Besonders zu lieben, scheinst du ihn aber wohl nicht.“ vermutete Laetitia mit lachender Mimik. „Nein, bevor du Kant oder Heidegger liest, solltest du dir Adornos "Begriffe und Probleme der Metaphysik" zu Gemüte führen, dann stellt sich vieles für dich ganz anders da.“ erklärte ich. „Du scheinst aber doch sehr bewandert zu sein. Du hast ein Faible für Philosophie, nicht wahr?“ meinte Laetitia zu erkennen. „So allgemein trifft das, glaube ich, nicht zu. Ich habe nur sehr früh als Kind schon für mich beschlossen, das Wort Metaphysik kannte ich da noch gar nicht, dass die Bibel, was die Religion erzählt und wie sie alles erklären, Fantasy Geschichten sind. Da willst du natürlich wissen, wie's denn wirklich ist.“ erläuterte ich. Laetitia musste lachen. „So etwas habe ich ja noch nie gehört. Aber in der Bibel da kommen doch real existierende Länder und geschichtlich belegte Fakten vor. Wie kamst du denn als Kind schon darauf?“ wollte sie wissen. „Na ja, das ist uns wahrscheinlich angeboren. Die Menschen hören eben gerne Illusionäres, Fantasiertes. Wenn Kinder die Märchen verstehen können, wissen sie längst, dass ein Pfannkuchen nicht in den Wald laufen und der Hase nicht mit dem Igel sprechen kann, trotzdem hören sie es gern.Dass alle Erzählungen, Geschichten, Romane und besonders die Krimis ausgedachte Fantasien sind, stört das etwa? Die Menschen lieben es. Warum soll man nicht auf die Idee kommen, auch die Erklärung der Welt als Fantasy Geschichte aufzuschreiben, wenn die Menschen es so lieben. Es könnte ja sein, denn um etwas für wahr und wirklich halten zu können, musste ich es selbst gesehen haben oder plausibel erklärt bekommen. Plausibel ist an der Bibel von Anfang an doch kaum etwas. Der große Alleskönner wollte Wesen nach seinem Ebenbild schaffen. Dass sie am zweiten Tag schon renitent wurden, das konnte er bei der Planung nicht verhindern? Anstatt sich über seinen Fehler zu grämen, wird der große Gott der Liebe böse und bestraft die armen Würmchen. Die schämen sich für ihr Verhalten, Verzeihen können Menschen untereinander, aber nicht der Allmächtige, über allem Stehende. Hat schon jemals einer Kinder gesehen, die sich schämen und verstecken wollen, und sich deshalb etwas vor ihren Penis oder die Vulva halten? Wie kommt man darauf? Wer hat sich warum so etwas Kurioses ausgedacht? Hätten sie länger als vierzehn Tage überleben können, wenn sie unmittelbar in die Wildnis gesetzt worden wären. Sie konnten ja nichts, und wenn sie doch etwas Genießbares zu essen gefunden hätten, wären sie spätestens nach einigen Tagen dem Säbelzahntiger oder einem seiner fleischfressenden Kollegen aufgefallen. Real konnte das alles nicht sein. Jemand oder mehrere hatten es sich irgendwann ausgedacht, wie die Welterklärungen anderer Kulturen auch. Dass die Welt aus der Vereinigung von Schlange und Adler entstanden sein soll, glaubt niemand. Warum sollen wir es so glauben, wie es in der Bibel steht. So simpel stand das für mich fest, ohne, dass ich etwas von den heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wusste. Ich wollte mich ganz einfach nicht veräppeln lassen. Bist du denn sehr religiös?“ wollte ich von Laetitia wissen. Die sah sich wohl als fromme Frau betend, in der Kirche, bei Walfahrten, Bitt- und Bußprozessionen oder Dergleichen und musste schrecklich lachen. „M, M,“ ließ sie sich vernehmen und schüttelte den Kopf. „nur so tiefe Gedanken wie du habe ich mir nie gemacht. Das heißt in gewisser weise schon, an Philosophie war ich in der Schule sehr interessiert, aber ich habe das nie direkt mit meiner Abkehr von der Kirche verbunden. Vielleicht bestand ein indirekter Zusammenhang. Da ich ja jetzt nicht mehr die simplen apodiktischen Verkündigungen der Kirche nachleiern konnte, ist der, wie sagst du?, 'Homo metaphysikus' in mir erwacht. Obwohl ich als Kind regelmäßig die ganzen Ritualien praktiziert habe, befand es sich doch immer sehr außerhalb von mir und hat mich so, wie es sollte, nie tief innerlich betroffen. Im Grunde empfand ich das ganze Religiöse schon immer als Werk von anderen, nicht meinen Freunden. Irgendwann in der Pubertät stank mir die ganze Atmosphäre. Wenn es einen alles überblickenden, gütigen und gnädigen Gott gäbe, so eine Art Übervater, warum nicht, wäre ja vielleicht nicht schlecht, aber dann hätte er diese ganzen Kretins, die Popen und Oberpopen längst zum Teufel geschickt. Die machten doch daraus einen verlogenen und menschenunwürdigen Zirkusverein. Produkt abendländischer Kultur war das, die Auschwitz nicht verhindern konnte, sondern eher noch dazu geführt hatte. Etwas anderes war die Kirche nicht. Dieses Beichten zum Beispiel, ausschließlich ein Akt der Demütigung, und das vor einem Popen. Dass sie sich nicht selbst für so etwas schämten. Mich ekelte einfach der ganze Club. So konnte die Welt nicht aussehen, die mir gehören sollte.“ So ein Mist. Jetzt unterhielt ich mich mit Laetitia über Religion. Aber worüber wollte ich denn mit ihr reden? Woher sollte ich das wissen? Sprechen wollte ich mit ihr ja schon, aber nur um sie zu erleben, zu erfahren, ob sich der Eindruck, den sie auf mich machte, auch in der Kommunikation, in ihrer gesamten Person bestätigen würde. Warum sollten wir da nicht auch über Religion reden, über alles könnten wir reden. Mit der Religion, das hatte sie für sich primär emotional gelöst. Nicht schlecht, da würde sie bestimmt gut in unsere WG passen, in der gefühlsbetontes Leben als höchste Errungenschaft bewertet wurde. Laetitia hatte doch von Gefühlen geredet, von der Trauer, die der Verlust eines Freundes bereite. „Wir sind ganz vom Thema abgekommen.“ brachte ich plötzlich an, „Ich hatte dich doch gefragt, ob du vom Verlust eines Freundes oder einer Freundin betroffen seist.“ Laetitia liebte es offensichtlich, auf Fragen zunächst mal zu schweigen. Sie blickte mich durchdringend an. Was sie wohl erkennen wollte? Wir machten das auch gern, die Augen sprechen lassen, sagten wir. Mit guten Freunden kommt es einer verbindenden, zusätzlichen Kommunikation gleich, die umfänglicher ist und sehr viel tiefer geht als Worte, aber andere können es oft als unangenehm, kontrollierend empfinden. Wenn du jemandem nicht glaubst, sagen dir seine Augen, ob er lügt. Laetitia und ich, wir kannten uns ja nicht, trotzdem gefiel es mir. Sie suchte Freundliches, Nettes, Liebenswertes in mir zu erkennen, dessen war ich mir sicher, zumal ihre Augen und ihr Mund ein, nein nicht mütterliches, aber schon liebevoll, mildes Lächeln zeigten, als ob sie mir über die Wange strich und sanft sagte: „Pablo, ich mag dich.“. Anders war es nicht zu verstehen. „Gundula und du, ihr mögt euch auch heute noch sehr gern, nicht wahr?“ fragte sie. Anscheinend wollte Laetitia mit mir lieber über etwas anderes reden. „Natürlich, die Schwestern waren praktisch beide meine Mütter. Meine Mutter war für die Verantwortung zuständig und Gundula für die Liebe.“ sagte ich und lachte. „Besuchst du Gundula denn immer noch häufig?“ wollte Laetitia wissen. „Leider viel zu selten. Viel Arbeit und was nicht sonst alles wichtig ist, immer gibt es eine Entschuldigung.“ ich dazu. „Das ist ein Fehler, den du dir nie verzeihen wirst, Pablo.“ urteilte Laetitia und meine Augen sagten wohl, dass ich Erläuterndes hören wollte. „Vor nicht langer Zeit ist meine Tante, die Schwester meiner Mutter, gestorben. Ich hatte kaum etwas mit ihr zu tun, kannte sie nur von Besuchen. Als sie nicht mehr war, konnte ich es nicht fassen. Erst da wurde mir bewusst, was für ein Mensch und welch bedeutsamer Teil meines Lebens sie gewesen war. Alle Beziehungen zu anderen Menschen sind etwas außergewöhnliches für dich, sie haben einen ganz hohen Stellenwert in dir, in dem was dich ausmacht, in deiner Psyche, deiner Persönlichkeit, aber du gehst damit um, als ob sie Gegenstände deiner Alltagsroutine, wie Auto, Kühlschrank oder Mikrowelle wären, wirst dir ihrer Bedeutung gar nicht bewusst. Du gehst damit um, als ob du die kostbarsten Diamanten mit den wertlosen Glasperlen gemeinsam in einem Schuhkarton aufbewahren würdest. Immer wieder habe ich mir Vorwürfe gemacht, dass ich nicht netter, freundlicher zu ihr gewesen war, den Kontakt zu ihr nicht intensiver gepflegt hatte, auch wenn ich wusste, dass daran nichts mehr zu ändern war. Du erträgst es einfach nicht, kannst es nicht ruhen lassen. Ein Grundbedürfnis ist es, glaube ich, schon, nur du erkennst es nicht.“ erläuterte Laetitia. „Kannst es nicht erkennen, weil der technologisierte Alltag dich voll im Griff hat.“ ergänzte ich. „Ja, funktionieren musst du, brauchbar und verwertbar sein. Anstatt dagegen zu rebellieren, widerspenstig zu sein, passen sich alle affirmativ den erwünschten Verhaltens- und Sichtweisen an, und freuen sich noch, dazu gehören zu dürfen. Sich unwürdig, als Menschen unwürdig machen sie sich selbst.“ fügte Laetitia dem hinzu. „Nicht alle.“protestierte ich und lachte dabei. Mit erwartungsvollen Augen hoffte Laetitia auf nähere Erläuterungen. „Ich habe es damals mitbekommen, als Oliver neu in der WG war. Er studiert Informatik und kam bei Erzählungen über seine Computerkünste ins Schwärmen. „Das ist sehr schön für dich. Nur was für eine Bedeutung hat es, wenn du dich fragst, ob wir uns gut leiden mögen, ob wir gut mit einander klar kommen werden. Wir alle lieben Pia, aber niemand liebt sie deshalb, weil sie so göttlich Klavier spielen kann. Das ist alles sehr schön und nicht unbedeutend, aber im Hinblick auf unser Zusammenleben hat es Schrottwert. Die WG, das ist ein großer Pfannkuchen, und da kommt es darauf an, aus welchem Teig du angerührt bist, damit du ein gleichwertiges Stück davon werden kannst.“ wurde ihm klar gemacht.“ berichtete ich. „Was willst du mir damit sagen, Pablo?“ wollte Laetitia es näher erläutert haben. „Ja, bei uns ist es schon so, dass wir die Beziehungen untereinander für das Wichtigste halten. Wir lieben uns eben alle.“ antwortete ich. Jetzt fragten die Augen in Laetitias grinsendem Gesicht noch intensiver. Das musste ich erläutern. „Das ist mir nur berichtet worden. Zu Anfang hat es wohl intensive Diskussionen über Art und Weise und Formen des Zusammenlebens gegeben. Man war sich einig, dass Anerkennung und Zuneigung nicht nur für den anderen wichtig seien, sondern einen auch selbst beglückten. Das ist im Grund unser wesentliches Prinzip.“ erläuterte ich kurz. „Ja, ja, Geben ist seliger denn nehmen.“ wollte Laetitia es bestätigen. „Nein, nicht einfach geben. Liebe schenken ist genauso bedeutsam für dich selbst, wie sie von anderen zu empfangen.“ korrigierte ich sie. „Ich kann mir das überhaupt nicht praktisch vorstellen. Seit ihr denn alles Pärchen?“ fragte Laetitia. „Nein, das ist verboten, wird einem auch gleich zu Anfang gesagt, dass man dann ausziehen müsse, wenn man sich untereinander verbinde. Die anderen haben auch Freundinnen oder Freunde außerhalb, oder meistens jedenfalls, nur bei Anett und mir will das nicht klappen. Dafür sind wir aber wohl die beiden, die sich am besten untereinander verstehen.“ antwortete ich. „Ohne es erlebt zu haben, kann ich mir das nicht vorstellen. Zu wie vielen seid ihr denn überhaupt?“ fragte Laetitia. „Seitdem ich eingezogen bin ist wieder Ausgleich, genau fünf Frauen und fünf Männer. Laetitia, im Grunde ist es ganz einfach. In anderen WGs hat jeder sein Zimmer und die Beziehungen untereinander werden dem Zufall überlassen. Wir haben nur gesagt, wenn das Zusammenleben das Zentrale ist, müssen auch die Beziehungen das Primäre sein, wenn es uns Freude machen soll. So sind wir eben weniger eine bunte Ansammlung von Einzelpersonen, sondern empfinden uns eher als familienähnlicher Club. Das gibt keiner freiwillig auf, zum Beispiel für ein Leben in einer isolierten Zweierbeziehung. Bei uns ist es selbstverständlicher Alltag, aber draußen kannst du so etwas nicht finden.“ erklärte ich. Wahrscheinlich bewegten sich unterschiedliche Vorstellungsbilder und Interpretationen dazu in Laetitias Gedanken. Sie schaute stumm in die Gegend und fragte plötzlich, wie aus einem Traum erwacht: „Möchtest du mal probieren? Gleich ist es weg.“ Sie sprach schon leicht kitzlig. Abgesehen davon war auf dem Büfett noch genug von dem Fleisch vorhanden. Sie meinte natürlich von ihrem Teller. Wie eine leicht alberne Szenerie kam es mir vor. Als ich mit „Mhm“ bestätigte, wurde ich mit einem kleinen Stückchen Fleisch gefüttert. Laetitias Gesicht zierte auch ein albernes Grinsen. „Nochmal?“ fragte sie halblaut, als ob es sich um ein geheimes, fast verbotenes Unterfangen handele. Ich nickte nur noch, denn laut sprechen durfte man jetzt, glaube ich, nicht. Über das Fleisch haben wir gar nicht gesprochen, wir blickten uns nur an, als ob uns beiden klar wäre, wie blöd wir sind. „Dass Gundula dich gern leiden mag, kann ich mir gut vorstellen. Ich finde dich auch süß.“ meinte Laetitia. „Süß? Laetitia, ich bitte dich. Ein erwachsener Mann ist doch nicht süß und lieblich.“ ermahnte ich. „Sondern?“ wollte sie nur wissen. „Was weiß ich? Das müsstest du als Frau doch besser wissen, aber doch nicht süß und lieblich, so riechen Maiglöckchen.“ Die Stimmungsbasis war beim Fleischfüttern schon gelegt worden, jetzt steigerte sie sie sich. Möglichst ernsthaft Nonsens reden. „Ich als Frau weiß nur, was wir den Männern erzählen, weil sie es selbst gern so hören wollen. Kein Mädchen wird seinen Teddy bewundern, weil er so stark, mutig, tapfer und verwegen ist.“ erklärte Laetitia. „Können Männer denn auch falsch, verlogen und hinterhältig sein?“ wollte ich wissen. Laetitia machte eine fragend abwägende Schnute. „Ich glaube, das können nur Schlangen untereinander sein, aber täuschen und irreführen, das können Männer doch auch, oder?“ suchte sie Bestätigung. „Bestimmt, während Frauen eher in Rätseln sprechen, nicht wahr?“ vermutete ich. „In der Tat, Sybillen sind sie schon von Geburt an. Stets muss du ihre Verlautbarungen entschlüsseln.“ wusste Laetitia. „Der Mann hingegen spricht klar und direkt, lebt in der Wirklichkeit, der Mann der Tat.“ gab ich unterstützend hinzu. „Die Frau siedelt sich lieber im Möglichen, Illusionären, im Traum an. Siehst du es nicht auch so?“ suchte Laetitia meine Bestätigung, zwar nicht offen lachend, aber immer mit breiten Lippen und grinsender Mimik. „Sind die Frauen in eurer WG denn auch alle sehr feministisch bewegt?“ fragte sie plötzlich wieder ernst. „Ich weiß nicht, wie man das misst. Es ist einfach nur dumm und reaktionär, das Geschlechterverhältnis nicht so zu sehen, wie die als feministisch bezeichneten Wissenschaftlerinnen, das gilt für Frauen und Männer, nur die Praxis in Politik und Alltag wird immer noch von Heroen und Patriarchen dominiert.“ antwortete ich darauf. „Frauen an die Macht, das würde dir gefallen? Wir haben ja schon eine Frau als Politikchefin.“ meinte Laetitia dazu. Ich zog meine Lippen breit spkeptisch grinsend lang und die Augenbrauen hoch. Laetitia lachte und meinte: „Süß bist du doch, Maiglöckchen.“ Gundula war aufgefallen, dass wir beide uns schon sehr lange angeregt unterhalten hatten. „Wie schön, dass ihr euch so gut versteht. Das erfreut mich richtig, es tut mir gut. Ihr seid mir beide die Liebsten, aber das wisst ihr ja.“ sagte sie, als sie zu uns kam. „Er hat ja glänzende Aussichten.“ meinte Laetitia an Gundula gerichtet, „Mit Biochemie stehen ihm doch alle Türen offen.“ „Damit ich sie einrennen kann.“ fügte ich kommentierend hinzu. Lustig schien Laetitia das nicht zu finden. Ihre mokante Mimik sagte eher: „Muss das sein?“. „Ja,“ begann ich sehr emphatisch, „welche Türen stehen mir den offen? Zur Hölle, zum Paradies? So ein Stuss. Ich habe gute Berufsaussichten, o. k., aber diese Redensarten kann ich nicht ausstehen. Meistens sind sie falsch, Allgemeinplätze oder unpassend und missverständlich. Aber wir scheinen sie zu lieben. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“ so ein Schwachsinn. Wer würde mir denn so etwas wann empfehlen wollen? Ich weiß eben, wo der Barthel den Most holt, deshalb stehen mir alle Türen offen. Ich kann dieses Gerede nicht hören. Es sind Floskeln, die wir lieben, um etwas sagen zu können, was nichts Konkretes, Wirkliches, Wahres sagt, wie Bauernregeln, die immer fleißig tradiert werden. „Genauso wie der Juli war, wird nächstes Jahr der Januar.“. Wen gelüstet es und warum, so einen Schwachsinn zu erzählen?“ lautete meine Philippika zu den offenen Türen. „Ich müsste mich jetzt schämen, Pablo, nicht war? Aber es gelüstet mich gar nicht danach und ich weiß nicht, warum?“ reagierte Laetitia. „Weil du blöd und süß bist.“ hätte ich jetzt sagen können, tat es natürlich nicht. Mein Blick rief wieder dieses wundervolle Lächeln hervor. Ich beugte mich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Erschrocken waren wir beide. Ich hatte es nicht intendiert. Mein Bedürfnis hatte sich selbständig gemacht. Laetitia sagte ebenso nichts, nur ihre lachende Mimik enthielt auch die Frage: „Pablo, was war das denn?“ Keiner sagte etwas dazu und unsere Assoziationen konnte man ja nicht sehen und nicht hören. Zweifellos gefielen wir beide uns. Wir wollten unsere Besuche bei Gundula koordinieren, damit wir uns mal wiedersehen könnten. Laetitia ging auch mit Gundula ins Konzert, ob mir denn nur das Cello oder die gesamte klassische Musik verhasst sei, wollte Laetitia wissen. „Keineswegs, das Cello ist mir auch nicht verhasst, ich liebe es, nur ich wollte mir nicht von diesen Casals Apologeten mein Leben diktieren lassen.“ antwortete ich. Laetitia wollte es mit Gundula abklären, anschließend sollte ich informiert werden.


Ich liebte die Fèten bei Gundula. Laetitia musste ich auf jeden Fall früher schon gesehen haben. Einmal konnte sie krank oder sonst wodurch verhindert gewe­sen sein, aber in der Regel war sie sicher auch immer anwesend. Warum hatte ich sie nicht wahrgenommen, war sie mir früher noch nie aufgefallen? Ich suchte auf den Bildern in meinen Erinnerungen ihr Gesicht, kein Erfolg. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Die Gesichter auf einer Geburtstagsfeier bei Gundula hatte ich doch alle gesehen. Offensichtlich siehst du nur Schatten oder Schemen oder die kurze Impression, wie du sie sehen und kategorisieren willst, dann legst du sie ab und erinnerst dich nicht mehr. Wie konnte sie zu den Gesichtern der unvisible Folks gehören, der Gesichter, die du beim Einkau­fen siehst, aber schon nicht mehr erinnern kannst, wenn du zu Hause bist. Heute Abend hatte Laetitia ja keinesfalls dazu gehört. Bestimmt sah sie heute Abend anders aus, weckte ihr Gesichtsausdruck andere Visionen, sprach etwas in mir an, während sonst ihr Gesicht wie bei vielen den biederen Alltag verkör­pert hatte. Vielleicht hatte nur heute meine Netzhaut besondere Rezeptoren aktiviert, die ihr Bild aufnehmen konnten, und mein Unbewusstes hatte nur heute die Bilder freigegeben, die für Assoziationen mit Laetitia empfänglich wa­ren. Vielleicht hatte ich auch gar nicht Laetitia gesehen, sondern die Frau, die ich heute Abend gern sehen wollte und hatte sie in Laetitia erkannt. Ein biss­chen so ähnlich wird es wohl immer sein. Aber was konnte ich denn in Laetitia sehen wollen und warum? Dein unlösbarstes Rätsel bist du dir selbst. Dass un­serem Bewusstsein das meiste von der Arbeit unseres Gehirns verborgen bleibt, ist sicher besser so. Aber von unserem Unbewussten sollte es doch we­nigstens ein bisschen mehr freigeben. Vielleicht könnten wir es aber auch gar nicht ertragen, zu erkennen, was in den Verließen unseres Unbewussten kreucht und sich windet. Bestimmt war es bequemer so, dass uns irgendetwas drängte, wir folgten dem, und damit war's gut. Im Bett konnte ich nicht schla­fen, weil mich immer wieder der Abend bedrängte. Laetitias Gesicht in allen Szenen und Variationen. Ich erlebte unsere Gespräche wieder, sah Laetitias Re­aktion, heute Abend in der Realität hatte ich sie zwar für ansprechend aber normal gehalten, jetzt, in meinem Film liebte ich sie. Mit ihr sprechend und la­chend würde ich von Laetitia träumen und mit ihr langsam und beglückt in den Schlaf hinüber gleiten.


Anett


„Da siehst du mal, wie sich das anfühlt, wenn man sich richtig verliebt.“ meinte Anett, der ich am folgenden Tag davon erzählte. Bestimmt hatte ich in Laetitia Anett gesehen, die Anett, die ich als Frau sehen konnte. Anett wohnte am tiefsten im meinem Herzen, aber wenn wir uns ineinander verliebt hätten, wäre die WG für uns zu Ende gewesen. Nur das war gar nicht mein Grund. An einem entsetzlichen Inzestverbots Syndrom litt ich. Bestimmt war jede Frau bei uns in der WG hübsch und auch attraktiv, nur für mich war jede fremde Frau auf der Straße erotisch aufregender als eine von meinen Schwestern. Bei den anderen konnte es auch schon mal vorkommen, das zwei die Nacht gemeinsam ver­brachten. Unvorstellbar für mich. Anett machte es auch nicht. Sie könne die Vorstellung, dass am anderen Morgen nach dem Frühstück die Liebe vorbei sein sollte, nicht ertragen. Wir hatten öfter darüber geredet. Gab es etwas, worüber wir beide nicht schon öfter geredet hatten? Anett war meine allerliebs­te Schwester, wir waren uns gegenseitig unser Alter Ego. Schon möglich, dass ich in Laetitia eine Anett ähnliche Frau gesehen hatte, welchen Menschen liebte ich mehr? „Willst du dir denn jetzt eine dritte Mutti zulegen.“ fragte sie spöt­tisch. „Anett, ich habe das gar nicht gespürt. In keinem Moment kam sie mir wie eine ältere Frau vor. Wir haben Scherze gemacht und gelacht, und dabei waren wir albern und blöd wie zwei gleichaltrige Kinder. Ich glaube, das Alter bedeutet nur ganz kurz rational etwas, wenn du dich noch nicht kennst. Wenn du dich magst, ist es völlig unwichtig. Du nimmst es gar nicht wahr. Es steht nur in deinem Personalausweis, aber in deinen Gedanken und Empfindungen hat es nichts zu suchen.“ erklärte ich. Anett schmunzelte. Bestimmt war sie von meinem Ödipuskomplex überzeugt, weil sie ja auch wusste, wie gern ich Gundula mochte. Schon möglich, dass ich mit gleichaltrigen Frauen Probleme hatte. Aber nein, ich lebte doch mit fünf gleichaltrigen Frauen zusammen und fühlte mich dabei äußerst wohl. Nur mit Marielle war es verrückt gelaufen. Viel­leicht wollte ich innerlich die Beziehung auch gar nicht mehr, jedenfalls, dass sie mir zu jung gewesen wäre, daran lag es mit Sicherheit nicht. Sich darüber unversöhnlich zu streiten, ob ich perspektivisch mit ihr zusammen leben wollte, oder niemals aus der WG ausziehen würde, war völlig abstrus, weil es über­haupt nicht anstand. Das war ich nicht, der sich so verhalten hatte, und Liebe konnte zwischen uns nicht sein. Ich hatte Marielle sehr gemocht, aber ich konnte beschreiben, was mir an ihr gefiel, tiefer in meinem Innersten bewegt hatte sie mich wohl eher nicht. Sagen zu müssen: „Es gibt keine Perspektive mit uns.“ war schade, aber weh getan hat es nicht.


Manchmal habe ich auch Hunger


Schon zwei Tage nichts von Laetitia gehört zu haben, das tat eher weh. Quatsch, weh tat es nicht, aber ich musste ständig an sie denken. So ein Un­fug. Was hatte ich denn vor? Was sah ich überhaupt? Was spielte sich ab in meinen Träumen? Laetitia hatte ein rundes, umfassendes, abgesichertes Fami­lienleben mit zwei pubertierenden Kindern. Wo sollte da Platz sein, dass auch ich in ihrem Leben vorkommen könnte. Aber so konkret hatte ich es ja auch gar nicht gedacht. Ich hatte sie nur ins Bett zu mir geträumt und wonnebe­glückt mit ihr Zärtlichkeiten ausgetauscht, diese Wangen befühlt, die Augen­brauen touchiert und einen Finger über ihre Lippen gleiten lassen, die Lippen von diesem Mund, der für mich aussah, als ob er jederzeit küssen könnte. Der Termin für ein Konzert, konnte eventuell erst in vier Wochen sein. Vielleicht war der Geburtstagsabend für Laetitia ja auch nur ein spontanes Erlebnis in ei­ner außergewöhnlichen Situation gewesen. Wenn am Tag darauf ihr Alltag mit Familie, Kindern und Arbeit wieder begann, glich er einer unbedeutenden Epi­sode. Dass wir uns wiedersehen wollten, stimmte am Abend bei der Geburts­tagsfeier, konnte aber am Tag darauf wieder vergessen sein. Gewiss beschäf­tigte ich Laetitia nicht in ihren Gedanken und Träumen. Mit Gundula und Laeti­tia gemeinsam ein Konzert besuchen, darauf freute ich mich zweifellos, aber mir ging es doch darum, mit Laetitia zusammen zu sein und nicht zu dritt mit Gundula. Ich war verrückt. Was sollte das alles? Ich hatte auf der Geburtstags­feier meiner Tante eine nette Frau kennengelernt, mit der ich mich amüsant unterhalten hatte. C'est tout. Für mich ist die Geburtstagsfeier heute auch vor­bei. Nicht gescheit war ich, wie ein Teeny in amouröses Schwärmen zu verfal­len. Was trieb mich dazu? Bestimmt zu lange Enthaltsamkeit, und die arme Laetitia sollte es ausbaden. Ich würde joggen oder kalt duschen oder beides, um mir die rosa Flausen wieder aus dem Gemüt zu treiben. Ich verstand mich selbst nicht, wie ich zu so einem Unsinn kommen konnte, aber ich hatte ja nichts gemacht. Es hatte es mit mir gemacht, und es machte weiter, trotz Jog­gen und kalter Dusche. Keinerlei Rücksicht nahm es auf meine Ansichten und Beschlüsse. Fauler Wind schienen sie zu sein.


Wie eine Droge wühlte Laetitias Gesicht sich durch meine Gedanken und Ge­fühle. Nicht nur ihr Gesicht, ihre Mimik, die gleichzeitig liebe- und verständnis­volle, dazu aber auch schelmische Züge zeigen konnte, auch wie sie sprach, den Klang ihrer Stimme, die Sätze, die sie intonierte, ließen mich immer wie­der an sie denken. Wozu soll ich alles aufzählen? Es waren ja auch nicht die zahlreichen geliebten Details ihres Verhaltens und ihrer Erscheinung und auch nicht ihr Ensemble. Es war ein Gefühl, das sie mir vermittelte, ein Gefühl von Glück, das ich empfinden würde, wenn sie in meiner Nähe wäre. Begründen ließ sich da nichts. Glücksgefühle sind kausalen Erklärungsmustern nicht zu­gänglich. Ich musste Laetitia sehen.


Nein, das musste ich nicht. Höchstens musste ich diese unsägliche Flamme lö­schen, die ein Strohfeuer war. Musste wieder werden wie gestern und vorges­tern und jeden Tag. Musste auf den Teppich zurückkommen, wieder die Kon­trolle über mich selbst gewinnen. Das war ich doch nicht, dieser verzückte Spinner mit ekstatischen Verklärungen. Ich würde die Zusammenhänge wieder nüchtern sehen. Bekifft, wurde als übliche Bezeichnung in der Schule auch im übertragenen Sinne auf jemanden angewandt, der Verrücktes oder Versponne­nes dachte und verkündete. Ich schien es sowohl im übertragenen als auch di­rekten Sinne zu sein. Laetitia war eine wundervolle Frau und es war ein Ver­gnügen sie treffen. Das würden wir ja auch demnächst tun. Wenn mir die Oper gut gefallen hatte, kam ich ja auch nicht auf die Idee, die Sopranistin heiraten zu wollen. So wollte ich es sehen und halten. Ich, das war meine Bezeichnung für Pablo. Darin war alles enthalten was ich von ihm kannte, sein Körper und sein Aussehen, seine Geschichte, die ich kannte, was er vollbracht hatte, wo­mit er sich beschäftigte und was er zu tun vorhatte. Natürlich gehörte dazu auch Pablos Wissen und Können, was er dachte und welche Ansichten er ver­trat. Sehr umfänglich war es schon, was ich unter der Bezeichnung verstand, aber die Wirklichkeit von Pablo war es nicht. Mein Bild von Pablo war unvoll­ständig. Es fehlte das, was ich nicht erkennen konnte. Unbedeutend war es aber keineswegs, es war sehr willensstark und durchsetzungsfähig. Beim Streit mit ihm war ich meistens der Unterlegene, beziehungsweise es war so hartnä­ckig und unnachgiebig, dass es mich total nerven und verrückt machen konnte. Dann bestimmte es, was Pablo zu tun und wie er zu empfinden hatte, auch wenn ich es anders sah und halten wollte.


Die Freundinnen und Freunde in der WG schienen erkennen zu können, dass ich ein Schild um den Hals trug, auf dem mit großen Lettern geschrieben stand: „Frisch Verliebt“. Spätestens beim zweiten Satz kam es zur Sprache. „Macht euch keine großen, ewigen Schwüre. Tu dir und deiner Freundin das nicht an. Macht euch eine schöne Nacht und noch eine und wieder eine. Du kannst deine Gefühle nicht planen, festlegen und versichern. Sie sind sowieso jedes mal neu und anders.“ riet mir Pia. „Pia, ich habe gar keine Freundin. Eine Frau, die mir sehr imponiert hat, habe ich kennengelernt, und zu einer gemein­samen Nacht wird es niemals kommen können. Mehr ist da nicht.“ reagierte ich darauf. „Ja, aber Anett hat doch ...“ weiter kam Pia nicht, weil ich sie unter­brach. „Anett möchte es gern so, weil es dann lustiger und spannender ist.“ er­klärte ich. Mit Laetitia eine Nacht verbringen, oh! „Pia, was setzt du mir für Flausen in den Kopf? Du machst ja alles nur noch schlimmer.“ hätte ich sagen müssen. Tatjana nahm meine Hand, legte sie in ihre und legte ihre andere dar­über. Sie lächelte warm, aber ihre Mimik zeigte auch Ernstes. Nach kurzer Zeit hob sie ihre Hand auf und strich mir mit den Fingerkuppen über Handrücken und Finger. Ihr Blick hatte sich gelöst, und die Augen in der jetzt offen freundli­chen Mimik konnten nichts anderes fragen als: „Na, schon besser?“ Mit stumm lachendem Gesicht nickte ich nur, und Tatjana schien es zu verstehen. Ich fühl­te mich wirklich hervorragend, vermutlich weniger wegen der gehaltenen Hand als wegen Tatjana. Sie schien ausgezeichnet zu spüren, was angebracht war. Wenn du mit Tatjana zu tun gehabt hattest, war dein Hintergrundgefühl immer beträchtlich angehoben worden. Dominique war bei den Psychologen. Ihn woll­te ich mal fragen, ob er mir nicht einiges erklären könne. „Soll ich dir jetzt etwa ein Referat über Liebe halten? Lies, lies, lies,“ riet er mir, „es ist nirgend worüber so viel geschrieben worden, als über die Liebe, weit mehr als du in vier Wochen lesen kannst. Lies ohne Unterbrechung, mach keine großen Pau­sen. Anschließend bist du geheilt und kannst und willst von Liebe nichts mehr hören.“ empfahl Dominique. „Kann das nicht auch nach hinten losgehen? Du siehst dich jetzt als Experte in Liebesangelegenheiten und redest über nichts anderes mehr?“ erkundigte ich mich zweifelnd. „Schon möglich, aber dann bist du bekloppt geworden, und die Frau will nichts mehr von dir wissen.“ wusste Dominique. „Kannst du dir denn auch vorstellen, dass ich später allen, die ich kenne, klar machen werde, wie bekloppt sie sein müssten, wenn sie sich von dir beraten ließen?“ fügte ich dem hinzu. „Verdammt noch mal,“ platzte ich los, als es beim Abendbrot auch wieder zur Sprache kam, „ich bin nicht verliebt, so ein Unsinn. Zur Liebe gehören ja schließlich zwei. Ich habe auf einer Fète ein Frau kennengelernt, die ich ganz nett fand, na ja, sie hat mich schon fasziniert. Aber sie weiß nicht einmal etwas davon. Sie ist eine verheiratete Frau mit Kindern.“ Als die Gespräche darüber, wozu Liebe alles im Stande sei, keine Ende fanden, bin ich in mein Zimmer gegangen. Ich konnte das Wort Liebe jetzt schon nicht mehr hören. Ob ich auch geheilt war? Im Gegenteil, ich träumte davon, dass Laetitia die einzige wäre, die mich verstehen würde. Krankhaft war das schon, krankhaft schwachsinnig.


Natürlich hatte Laetitia mich begeistert, aber was sollte dieser ganze Zirkus mit sich verbieten, abstreiten und quälenden Gedanken, diese ganzen Kämpfe und Zähren und dieses wechselnde Hin und Her? Dabei war es im Grunde so ein­fach. Es drängte mich Laetitia zu sehen, also würde ich dem folgen, und damit wär's gut. Ich wartete bis der Kunde die Glocken Apotheke verlassen hatte und ging hinein. Laetitia kam aus dem Nebenraum. Im Durchgang erkannte sie mich. „Pablo, nein, wie schön.“rief sie mir entgegen. Sie ging um die Theke herum, legte im Vorbeigehen ihre Brille ab und kam auf mich zu. „Komm, lass dich mal drücken.“ sagte sie. Möglicherweise hätte sie die Brille dabei behin­dert und bei unserer weiteren Unterhaltung wohl auch. „Du bist nur so hier vorbeigekommen, nicht wahr? Oder hast du ein Wehwehchen und brauchst Medikamente?“ wollte Laetitia aufgeklärt werden. „Ja, ich brauche Aspirin.“ wahrscheinlich intonierte ich so würdevoll, das Laetitia nichts unternahm, son­dern mit grinsendem Gesicht erwartungsvoll auf eventuell weitere Verlautba­rungen von mir lauschen wollte. „Manchmal habe ich nämlich Kopfschmerzen und manchmal habe ich auch Hunger. Dagegen würde am besten helfen, wenn wir beide zusammen etwas essen gingen. Ich wollte dich dazu einladen.“ Laeti­tias Andacht war schlagartig verschwunden. Lachend platzte sie los. „Pablo!“ verkündete sie zwischendurch, und ihre Betonung sagte vieles, wozu man ver­bal mehrere Sätze gebraucht hätte. „Ich bin eine verheiratete Frau, Pablo.“ er­klärte sie. „Und da bist du nie mehr hungrig?“ wollte ich wissen. Ich bekam einen kurzen Blick, den ich nicht verstand. „Natürlich, aber ich esse mit meinen Kindern und meinem Mann und nicht mit irgendwelchen fremden Männern.“ meinte Laetitia. „Mit irgendwelchen wildfremden Männern,“ verbesserte ich, „Laetitia, wie redest du?“ „Wie soll ich das denn machen? Wie hast du dir das denn vorgestellt?“ fragte sie. „Gar nichts habe ich mir vorgestellt. Ich habe nur an den Geburtstagsabend gedacht und uns beide an einem Tisch im Restaurant sitzen, gemeinsam essen und uns dabei unterhalten gesehen. Das Bild gefiel mir äußerst gut und ich hätte große Lust es tatsächlich zu erleben. Würdest du dich denn überhaupt nicht darauf freuen können?“ wollte ich von Laetitia wis­sen. Die schaute zunächst in der Gegend herum, als ob sie an etwas anderes denke. Dann bekam ich ihren Blick mit dem warmen, verschmitzten Lächeln geschenkt. „Natürlich, Pablo, natürlich würde ich mich auch darauf freuen. Aber mir ist noch völlig unklar, wie wir es realisieren könnten. Nur wenn wir uns beide darauf freuen, es beide wollen, werden wir schon einen Weg finden. Davon bist du doch auch überzeugt, nicht wahr?“ erklärte sie. Innerlich musste etwas bei mir vor Freude hüpfen, so fühlte es sich jedenfalls an, aber es war im Moment wohl angezeigter, die Kontenance zu wahren. „Lass uns mal die Handynummern austauschen. Ich ruf dich an, sobald ich Näheres geklärt habe. An welchem Tag wäre prinzipiell beliebig, oder hast du an irgendwelchen Aben­den regelmäßig Termine?“ wollte Laetitia noch wissen. Das Drücken, bezie­hungsweise die Umarmung zum Abschied erfolgte auf meine Initiative. Dass es möglich werden könnte, hatte ich ja schon gehofft, aber jetzt kam es mir wie ein Wunder vor, nur ich allein würde mit Laetitia essen gehen. Ob mein Gang auch tänzerische Elemente enthielt? Jedenfalls nahm ich mich als beschwingt war, und der Rhythmus übertrug sich auf den gesamten Menschen Pablo, seine Gedanken, seine Ideen, wie er sprach und natürlich auch auf sein ganzes Kör­pergefühl. Sogar das Unbewusste schien befriedigt mitzuschwingen. „Siehst du,“ wusste Anett, „ich habe es mir doch gedacht. Deine Angst war es, sonst nichts, dass es nicht auf Gegenseitigkeit beruhen könnte. Sie würde doch nie­mals mit dir essen gehen, wenn sie nichts von dir hielte und nichts mehr von dir wissen wollte.“ „Sie hat ja sogar gesagt, dass sie sich darauf freut. Was sie denn wohl dabei empfindet, was ist denn Besonderes an mir?“ ich dazu. „Pa­blo, du gehst mir auf die Nerven. Jetzt fängst du an zu rätseln, was sie denn nur in dir sehen könnte. Welch dumme Gedanken. Anscheinend muss Liebe für dich mit quälenden Fragen verbunden sein. Du freust dich, Laetitia freut sich, was wollt ihr denn mehr. Genieße dein Glück und nichts anderes, sonst bist du dämlich und nicht mehr zu retten.“ schimpfte Anett, „Und was Besonderes an dir ist, das erklär ich dir später mal.“


Traum von der Insel


Das Besondere an mir war, dass ich jetzt ständig auf Laetitias Anruf wartete, tierisch aufpasste, dass ich das Handy nicht irgendwo unbedacht liegen ließ. Ein größeres Übel, als Laetitias Anruf zu verpassen, war für mich nicht vorstell­bar. Ob es mir am nächsten Donnerstag auskäme, fragte sie. Offiziell sei sie bei Gundula, das sei am einfachsten, sonst hätte sie so viel erklären müssen. Sie käme mich abholen und erkundigte sich nach meiner Adresse. Jetzt tanzte ich wirklich durch mein Zimmer und die Wohnung. Ich überlegte, ob ich noch et­was verändern, aufräumen oder putzen sollte, bevor Laetitia käme. Ich fing schon wieder an, zu spinnen. Immer, wenn ich an Laetitia dachte, wurde ich zappelig. Wie ein kleiner Junge kam ich mir vor. Ob ich am Geburtstagsabend mich auch wie ein kleiner Junge verhalten habe? Schon möglich, warum sollte Laetitia mich sonst süß gefunden haben? Am Donnerstag konnte ich es gar nicht aushalten. Wie ein kleiner Junge gespannt auf's Christkind, wartete ich auf Laetitia. Abends rannte ich immer zur Tür, wenn es klingelte. Einmal war Miriam schneller. „Sommerfeld ist mein Name. Ich wollte mit dem da essen ge­hen.“ erklärte Laetitia und verwies auf mich, da ich mittlerweile auch ange­kommen war. „Ah, dann sind sie Laetitia, nicht wahr? Achten sie darauf, dass er sich etwas Ordentliches bestellt und nicht dieses Junkfood, das mag er näm­lich auch.“ empfahl Miriam mit todernster Mine. Kurzes Schweigen mit gegen­seitigem Blickwechsel, und dann lachten wir los. „Er isst so gerne kaltes Fleisch.“ fügte Laetitia hinzu, womit Miriam aber nichts anzufangen wusste. Wir mussten uns noch drücken, wie wir die Umarmungen jetzt nannten. Schließlich war Drücken ja auch ein intensiverer Ausdruck der Verbundenheit und Zunei­gung, als sich berühren und dabei die Arme locker umeinander legen. Laetitia hatte das Restaurant ausgesucht. „Wenn's dir nicht gefällt, können wir ja nächstes mal anderswo hingehen.“ sagte sie, als wir das Lokal betraten. Nein, verhört hatte ich mich nicht, und versprochen hatte Laetitia sich auch nicht. Sie ging also selbstverständlich davon aus, dass wir es wiederholen würden, nochmal gemeinsam essen gingen. Das stand offensichtlich schon vorher fest. „Laetitia, ich habe richtig Angst gehabt, dass du den Abend vergessen könntest, wenn am nächsten Tag für dich wieder der übliche Alltag begänne. Wenn du mich in der Apotheke begrüßt hättest: „Hallo, Pablo, was kann ich für dich tun?“, wäre ich ohne ein Wort zu sagen, wieder gegangen, aber du warst nicht anders als am Geburtstagsabend auch.“ erklärte ich. „Mich hat der Abend bei Gundula auch sehr beschäftigt. Ich war frei, nicht nur von allen Verpflichtungen und Ansprüchen, auch von allem, was ich sonst immer zu sein habe. Ich brauchte keine Apothekerin spielen, war nicht Mutter und nicht Ehefrau. Ich habe nichts dagegen, nichts fällt mir schwer oder ist mir lästig, aber wenn es fehlt, macht es dich trotzdem leichter. Du kannst zwei Wolken höher steigen und wenn alle Rollen fehlen, kommst du dir vor, als ob du nur noch du selbst seist, direkt und unmittelbar dich selbst leben könntest, wie ein erwachsenes Kind.“ erklärte es Laetitia. „Dass es dir an dem Abend so gut ging, lag also an dir selbst. Mit mir hatte das nichts zu tun.“ konstatierte ich. „Nein, nein, Pablo, ganz falsch. Du weißt es überhaupt nicht. Wenn ich mich weiter mit den anderen im üblichen Smalltalk unterhalten hätte, wäre dieses Empfinden langsam wieder abgeflacht und verschwunden. Für alle bis du irgendjemand, den sie in einer bestimmten Rolle sehen, und du spielst mit. Als du mich fragtest: „Essen sie gern kaltes Fleisch?“, war ich völlig überrascht. So fragt niemand. Sie hätten drumherum geredet, und es langsam herauszufinden versucht, möglichst distanziert, möglichst höflich. Du fragst einfach direkt, konntest keine Rollenerwartungen haben. Das verwunderte mich, aber entsprach genau der Situation, in der ich mich befand. Du musstest auch auf meiner Wolke leben, anders konnte es nicht sein. Wie einen Ohrwurm hörte ich es immer wieder: „Essen sie gern kaltes Fleisch?“. Ich wäre sowieso den ganzen Abend bei dir geblieben. Was sollte ich bei den anderen?“ erläuterte Laetitia. „Das wusste ich natürlich nicht genau, ich habe dich als offen erfahren, das Schelmische in deinem Blick hat mich fasziniert und ich weiß nicht, was noch sonst. Natürlich bestand durch Gundula eine Verbindung, aber wir sind doch miteinander umgegangen, als ob wir schon im Sandkasten zusammen gespielt hätten.“ meinte ich. „Ich sag's ja, wie die Kinder, direkt, offen und ganz wir selbst.“ bestätigte mich Laetitia. „Wenn ich etwas gesagt hatte, sah dein Gesicht, wie es mich dabei beobachtete, hätte ich am liebsten gesagt: „Vergiss alles, was du gehört hast. Es war bloß Plunder. Ich habe nur gesagt: „Laetitia, ich mag dich, ich mag dich, ich mag dich“ Das vergiss nicht.“ erklärte ich. „Das habe ich gespürt, deine Augen konnten es nicht verbergen. Ich habe von dem Abend geträumt und geweint. Das war mein Leben, so sollte mein Leben jeden Tag aussehen, aber das lässt sich ja nicht realisieren. Ich habe davon geträumt, dass wir beide ganz allein auf einer Insel lebten, auf der es keine Ansprüche und Rollenvorschriften gäbe, wir absolut uns selbst leben könnten.“ erzählte Laetitia. „Ich bin ein Idiot, nicht wahr? Ich kenne dich anscheinend sehr schlecht, habe tatsächlich gedacht, du könntest es am nächsten Tag vergessen haben.“ ich dazu. „Pablo, ich habe so etwas nicht gekannt, mit so einem Gefühl noch nie gelebt. Als die Kinder kleiner waren, habe ich mich temporär oft auch sehr frei gefühlt, aber das geschah mit den Kindern, war schön, aber anschließend wieder vorbei. Jetzt habe ich es mit dir erlebt. Natürlich war es auch eine Episode, aber eine, die ich nie vergessen werde, die mich tief betroffen hat, und in mir die Sehnsucht geweckt hat, es möge immer so sein.“ erläuterte Laetitia. Offensichtlich entwickelte meine Mimik nach Laetitias Weinauswahl gequälte Züge. „Was hast du?“ fragte sie nur. „Laetitia, der Preis bewegt sich außerhalb meiner Dimensionen.“ erklärte ich. „Aber Pablo, woran denkst du denn? Heute Abend ist ein Fest, da reden wir doch nicht übers Finanzielle. Ich habe das Restaurant ausgesucht und werde mich auch darum kümmern, dass wir es mit einem zufriedenen Chef wieder verlassen. Nur passt der Wein eigentlich nicht zu dem Fisch, den ich mir bestellen wollte, aber du wolltest ja einen trockenen, nicht zu erdigen Rotwein haben.“ erklärte Laetitia und lachte. Von Wein hatte ich keine Ahnung. Jasmin und Matthis waren in der WG die großen Experten, sie sorgten für wundervollen Wein. Den üblichen Fachausdrücken der Degoustateurs waren sie weit überlegen. Bei einem allzu schweren Rotwein erklärten sie zum Beispiel, dass man drin ja noch die schlammige Scholle, auf der er gewachsen sei schmecke. „Dorade ist ein uralter Fisch. Den hat man Jesus bestimmt schon mit den Broten zur wundersamen Vermehrung gereicht. Das macht ja im Grunde das Wesentliche des Christentums aus. Bei den Römern hieß es „Panem et Circenses“ Brot und Spiele braucht das Volk, und die Christen sagen: „Nein, Brot und Fische braucht der Mensch“.“ klärte mich Laetitia auf. „Ist das denn immer noch so? Ich glaube, heute ist man wieder stärker zu den Spielen zurückgekehrt. Auf Fische stehen die Leute nicht mehr so sehr.“ lautete meine Ansicht. „Ja, was bleibt ihnen anderes übrig? Wenn sie die Meere leer gefischt haben, können sie sich nur noch an den Computer setzen und Spiele machen.“ wusste Laetitia dazu. „Heute sind wir nicht nur wie die Kinder, wir sind auch so blöd, dass wir uns eine ganz neue Welterklärung zusammenfantasieren könnten, oder siehst du das anders?“ wollte ich wissen. Als Antwort langte Laetitia nach meiner Hand und gab mir einen Kuss darauf. Keineswegs blödelten wir nur, bei allem wurde jedoch gern die Möglichkeit zu einem Scherz genutzt. Manches, was wir redeten, hätten Außenstehende vom Inhalt her gewiss als unbedeutend eingeschätzt, für uns konnte es so etwas heute Abend nicht geben. Wenn Laetitia sprach, nahm ich auch den Inhalt ihrer Worte wahr, aber sie wahren so nebensächlich wie das Libretto einer Arie in der Oper, sie formulierte keine Texte, sondern zeigte mir wer sie war. Anscheinend waren wir beide heute Abend auch besonders geschickt darin, das Trivialste hoch interessant darzustellen, vielleicht lag es auch daran, dass wir beide bei unserer Hochstimmung von dem anderen es so erwarteten. Einfach dass wir beide zusammen sein konnten vermittelte dies ständige Glücksgefühl mit permanenter Hochstimmung, der ein Kitzel mit Lust auf Albernheiten und Unsinn immanent war. „Dass es den Menschen Glücksgefühle bereitet, gemeinsam essen und trinken zu können, muss in seinen Genen verankert sein, ein triebhaftes Verhalten, das Freud seltsamer weise verborgen geblieben ist. Die weitaus meisten öffentlichen Häuser sind Einrichtungen in denen Menschen gemeinsam essen und trinken können. Das ist nicht ungewöhnlich, denn schon in der Bibel besteht die erste beschriebene Handlung der Menschen darin, dass Adam und Eva sich gegenseitig füttern. Eva reicht Adam den Apfel, so wie du mir auf der Geburtstagsfeier das kalte Fleisch gereicht hast.“ gab ich Erklärungen zum gemeinsamen Dinieren. „Da hast du schon Recht. So wie Eva Adam mit einem Apfel zum Traum von der Erkenntnis verführen wollte, habe ich dich mit kaltem Fleisch zum Traum von der freien Insel verführt. Das ist jetzt geschehen.“ erklärte Laetitia mit einer Mimik, die sie selbst für tot ernst halten wollte. Bevor wir gehen wollten schlug Laetitia vor: „Am nächsten Donnerstag wieder auf der freien Insel? Du hast doch Lust, oder?“ Das Wonnegefühl konnte und sollte mein Gesicht nicht verbergen. Als Antwort musste ich Laetitia umarmen. Zum Dank? Aus Freude? Aus Verbundenheit? Bestimmt lag alles Glück, das ich damit verbinden konnte in meiner Umarmung von Laetitia.


An's warme Herz denken


Nichts außer Liebe konnte das gegenseitige Vertrauen und die Glücksgefühle vermitteln, nur handelte es sich dabei um ein böses Wort, das nicht artikuliert werden durfte. Laetitia war verheiratet und liebte ihren Mann und ich? Na ja, ich suchte schon eine Frau, in die ich mich verlieben würde, nur konnte das niemals Laetitia sein. Diese perverse, offizielle Regelung fiel auch nicht bei un­seren Treffen auf der Rollen- und Verhaltensvorschriften freien Insel. Zwar leb­ten wir uns auch in Bezug auf Liebe während dieser Zeit unmittelbar selbst, nur die Symbole, Attitüden und Wörter, die man gemeinhin mit Liebe verbin­det, waren absolut tabu. Bei der Geigenmusik einer zauberhaften Violinistin ließ es ich dann nicht mehr aufrecht erhalten. Im Violinkonzert von Johannes Brahms, gemeinsam mit Gundula, suchten sich schon im ersten Satz unsere Hände. Mein ganzer Körper spürte offensichtlich Laetitias Hand. Ich musste kräftiger atmen, so ergriff es mich. Wir hatten uns ja sonst auch schon öfter berührt, aber jetzt hatte sie mir ihre Hand gegeben, um sie in meine zu legen. Diese Hand, die in weiter Hinsicht Laetitia selbst war, mit der sie ihr Leben ge­staltet hatte. Vom ersten Griff nach Räppelchen und Schnuller bis zum umset­zen gehörter Sprache in für alle lesbare Schrift. Diese Hand, die gewiss oftmals fest zugegriffen hatte, mit der sie aber auch streichelnd Liebkosungen vermit­teln konnte. Diese Hand, die ihren Alltag gestaltete vom Waschen und Anzie­hen am Morgen bis zum Umgang mit Messer und Gabel. Alles hatte sie für Lae­titia gemacht, alles hatte sie durch ihre Hand vermittelt. Nicht nur die Ge­schichte ihrer Lebenspraxis lag in dem, was sie in meine Hand gelegt hatte, ich spürte auch ihre Haut, die Wärme ihrer Haut. Laetitias Hand ließ in mir Sehn­sucht aufkommen. Diese Hand möge nicht nur still in meiner liegen, überall, an der Haut meines ganzen Körpers würde ich sie all zu gerne spüren. Was tust du, wenn dir jemand die Hand zur Begrüßung gibt? Allenfalls nimmst du wahr, dass er einen festen Händedruck hat, oder die Hand sich fleischig anfühlt. Tri­viales, die Kostbarkeit die er dir von sich anbietet, nimmst du nicht wahr, er­kennst sie nicht. „Die Flosse reichen“ wie es Umgangssprachlich heißt, genau das tust du, als ob du gar nicht wüsstest, was die Hand bedeutet. Dabei erlebst du es immer wieder, welch großartige Kunstwerke diese Hände sind. Nur durch ihre Hände vermittelt die Violinistin die Musik, die in ihr ist, dem Instrument, um sie für alle hörbar zum Ausdruck zu bringen. Ständig erlebst du großartige kunstvolle Hände, trotzdem wird das Handreichen zur Begrüßung und zum Abschied als banaler Akt empfunden. Immer war das nicht so. Als Schiller formulierte: „Brüder reicht die Hand zum Bunde.“ hatte er gewiss ganz andere Vorstellungen, und ganz früher sind Welten per Handschlag verändert worden. Heute ist eben alles zum Ritual, zum Schein, zur Oberfläche verkommen. Es gibt ja Menschen, die magische Kräfte in den Händen haben sollen, anderen ihre Hand auflegen und sie dadurch heilen. Über diese Kräfte musste Laetitia heute Abend auch unzweideutig verfügen, denn ich empfand mich mehr als geheilt. Vielleicht hatten Brahms, das Orchester und die japanische Zaubergeigerin ja auch einen gewissen Anteil, aber ohne Laetitias Hand wäre es einfach nur schön gewesen. Es war immer dabei geblieben, dass Laetitia in der Zeit unseres Essens bei Gundula war. Die stritt heftig ab, dass es ihr lästig werden könne. Die zwei drei Stunden ohne Telefon gefielen ihr äußerst gut, und außerdem freue sie sich mehr darüber, wenn es uns gut schmecke, als wenn sie jemand anrufe. „Vielleicht besuchen wir auch ein Restaurant, um zu speisen, aber primär befinden wir uns während dieser Zeit auf einer Insel.“ klärte Laetitia auf. „Ach so,“ stellte Gundula erstaunt lachend fest, „Aber ist das Leben auf der Insel denn nicht auch beschwerlich? Da gibt es ja keinen Supermarkt und keine Apotheken. Musst du dann immer Beeren, Früchte und Wurzelwerk sammeln, während Pablo zur Jagd geht?“ wollte sie wissen. „Ja, und wir haben ja auch keinen Ofen, da gibt es immer nur kaltes Fleisch, aber Laetitia ist das ja gern.“ ergänzte ich. „Gundula, das verstehst du nicht, das gehört zu unserem Spezialcode.“ Laetitia dazu, aber erklären wollte sie es auch nicht. „Es macht mir ein warmes Herz, euch beide zu erleben. An etwas anderes denke ich nicht.“ interpretierte Gundula unseren Auftritt. Wir dachten auch nie, fast nie an etwas anderes. Über das nervöse Huhn, dass ich in den Tagen nach der Geburtstagsfeier gegeben hatte, musste ich heute schmunzeln. Dass wir uns gegenseitig sehen wollten, für lesbar hielten, stand im Grunde bei der Geburtstagsfeier doch sofort fest, wir kannten nur unsere Visionen, Sehnsüchte und Geschichte nicht, die uns dazu drängte. Die kennen wir heute auch noch nicht. Was wir gegenseitig in uns gesehen hatten, wussten wir nicht, fest stand nur, es zwingt uns, sich darüber auszutauschen. Das tun wir heute auch noch ständig. Es ist ein Prozess der nie abgeschlossen sein wird, es ist das, was unsere Beziehung, wenn man so will, unsere Liebe ausmacht.


Libibostörungen


„Ist Laetitia denn jetzt eigentlich deine Freundin oder nicht?“ wollte Anett es genau wissen. „Wenn ich das wüsste.“ reagierte ich scherzend, „Natürlich sind wir enge Freunde, was sonst? Aber du hast ein Bild, eine Vorstellung davon, wie das ist und zu sein hat, wenn eine Frau und ein Mann befreundet sind. Das passt nicht zu uns. Wenn ich zum Beispiel plötzlich sagen würde: „Laetitia, ich liebe dich.“ machte sie große Augen und rätselte, was in mich gefahren sei, ob ich heute vielleicht ein bisschen krank wäre. Es hat mit den allgemein üblichen Rollenbildern von Liebe nichts zu tun. Wir sind scharf darauf, uns gegenseitig zu erkennen, aber nicht uns sexuell aneinander abzureagieren.“ „Also alles rein platonisch zwischen euch?“ interpretierte es Anett. „Unsinn, platonische Liebe ist ein dummes Wort. Wenn Platon mit Freud hätte sprechen können, wäre das Wort nie in die Welt gesetzt worden. Aber das haben ja auch wohl andere ge­tan. Zwischen Laetitia und mir regiert die Libido, die Gefühle dominieren, das Bett und Sex sind eben tabu.“ erläuterte ich. „Ich glaube, du hast 'ne ganz schöne Macke, Pablo. Du faselst immer von Inzesttabu. Ich halte das für Quatsch. Wenn's das wirklich gibt, dann tatsächlich nur in der Familie, später bei anderen Frauen kann das nicht mehr auftreten, zumindest nach Freud nicht. Ich bin keine Psychotherapeutin, aber ich denke du liebst zu sehr. Wenn du dich mit einer Frau intensiv und tief austauscht, ihr ganz nahe bist, viel von ihr lesen kannst, dann hast du so ein hehres Bild von ihr als Mensch, sie er­scheint dir so großartig und kostbar, dass es dir als unwürdig vorkommt, dieses wundervolle Wesen mit deinen trivialen, sexuellen Bedürfnissen in Verbindung zu bringen. Alle Katholiken lieben die Madonna, aber kein Mann verspürt ein Begehren, mit ihr ficken zu wollen. Jasmin, Miriam, Pia und Tatjana, ja und ich genauso, sind für dich so wundervolle Geschöpfe, dass es dir zuwider wäre, bei uns an so etwas Banales, Erdverbundenes wie Sex zu denken. Und bei Laetitia jetzt, wird es sich nicht anders verhalten.“ klärte Anett mich auf. An ein Inzest­tabu hatte ich ja selbst nicht wirklich geglaubt, hatte eben nur festgestellt, dass mich nichts animierte, dass ich keinerlei Verlangen verspürte. Pia, zum Beispiel, mochte ich tierisch gern, aber mit ihr ins Bett zu wollen, das war ge­nauso undenkbar wie mit meiner Mutter. Schon möglich, dass Anett nicht ganz unrecht hatte, aber andererseits waren die Zeiten in denen man Gedanken an Sex für obsolet, etwas Schmutziges zu halten hatte, doch auch für mich wohl endgültig längst vorbei. Nur stimmte es schon, das ich jemanden, der mir sehr nahe war, mit dem ich einen tiefen Austausch wünschte, mit so etwas Ähnli­chem wie Verehrung betrachtete, als Hochachtung vor dem Menschen, nicht im Glorienschein einer entfernten Madonna. Sie sollten in meiner Nähe sein, damit ich sie erfahren lassen konnte, was sie mir bedeuteten, mich verlangte es da­nach, sie zu erleben. Das traf aber für alle zu, für Gundula genauso wie für die Männer in der WG als natürlich auch für die Frauen. Erotische Gefühle und Wunschvorstellungen entwickelten sich dabei nicht. Die waren nicht automa­tisch an Liebe und Zuneigung gekoppelt, sondern hatten ihre Brutstätten in an­deren Regionen. Es verhielt sich ja auch gar nicht so, dass ich bei Laetitia kein Begehren empfand, sie nicht als weibliches Wesen sah, auch wenn von den Männer/Frauenrollen Klischees nichts zu spüren war, nur war körperliche Liebe, die über das Hände halten hinaus ging, zwischen uns reine Illusion und wurde am besten gar nicht gedacht.


Die Apothekerin und der Student


Leider ging der Sommer schon langsam zu Ende, als wir auf die Idee kamen, dass ein kleiner Spaziergang nach dem Essen uns gut tun würde. Offiziell war es der Verdauung zuträglich, vor allem aber war es unserem Bedürfnis, näher beieinander zu sein und sich berühren zu können, nicht abhold. Zur Begrüßung und zum Abschied gab es jetzt auch immer einen Kuss, zwar nicht leiden­schaftlich, aber weit mehr als ein flüchtig huschendes gegenseitiges touchieren der Lippen war es auf jeden Fall. Das konnte jetzt draußen auch zwischendurch geschehen. Vor allem aber konnte man sich die Hände halten oder den anderen an der Hüfte umfangen. Die warmen Tage wurden seltener, doch wenn es nicht in Strömen goss und stürmte, gingen wir spazieren. Fast so wichtig wie das Essen selbst, war uns der gemeinsame Weg in dem kleinen Park geworden. Wenn eine Apothekerin und ein Student sich gegenseitig übereinander informieren, ist das Volumen des für den anderen Interessanten bald erschöpft. Uns erschien es, als ob die gemeinsame Zeit auf der Insel immer kürzer würde. Was wir uns alles erklären mussten und was wir von dem anderen wissen wollten, nahm offensichtlich an Umfang ständig zu. Wir waren eben keine fertigen Produkte, bei denen die Kommunikation hätte abgeschlossen werden können, wenn sie sich hinreichend über ihre Seinszustände und Funktionsweisen informiert hätten. Wir waren Organisationen von komplexen Systemen, die sich permanent verändernd, ständig in Bewegung waren, mit dem, was gewesen waren und werden könnten, mit Wissen und Können, mit Visionen und Träumen, mit Gedanken und Gefühlen. All das war heute nie, wie es gestern war. Auch das, mit dem ich Laetitia im gegenseitigen Austausch zu sehen, zu lesen, zu interpretieren wünschte und in der Lage war, glich nicht einem festgelegten Zustand, sondern lebte und war ständig in Bewegung. Pia hatte gesagt: „Gefühle sind nur die, die du jetzt erlebst. Wiederholen kannst du sie nie.“ Auf den Austausch zwischen Laetitia und mir traf das gleiche zu. Alles lebte immer wieder neu, immer wieder anders. Unser Verlangen, das uns zu immer tieferem Austausch drängte und zwang, behinderte das nicht, sondern potenzierte es. Wie in der Metaphysik schienen wir uns unbedingt gegenseitig voll erkennen zu müssen, obwohl wir doch wussten, dass Derartiges prinzipiell unmöglich war.


Die Adornoschülerin


„Wir treffen uns nicht nur gemeinsam auf der Insel, ich besuche auch jedes mal eine Fortbildungsveranstaltung.“ wusste Laetitia. „Und was ist mit dir und mir?“ monierte ich bedenklich. Dir und mir oder du und ich, wenn wir so spra­chen, war damit unsere Liebe gemeint. Die Verbindung unserer Personalprono­mina war eine Metapher für das Verbindende zwischen uns beiden. Umfassen­der, genauer und tiefer war es, als was der Gebrauch des Allerweltsbegriffes Liebe vermittelt hätte. „Aber Pablo, von welchen Teufeln bist du befallen, dass du daran zweifeln kannst, es sei nicht das Hauptsächliche, Wesentliche, Zen­trale. Etwas über Biochemie zu erfahren und Fragen beantwortet zu bekom­men, gefällt mir natürlich, und es gefällt mir nochmal doppelt so gut, weil es von dir kommt. Es kann unser freies Leben unterstützen, aber sich doch per se nie zu einem konkurrierenden Wert entwickeln.“ klärte mich Laetitia auf. Sie war sehr interessiert an biochemischen Zusammenhängen, wusste ja auch selbst nicht weniges. Ich war zwar kein ausgebildeter Biochemiker oder Patho­biochemiker, aber einiges Interessante konnte ich schon erzählen und vor al­lem mit Laetitia diskutieren. Wie unser gemeinsames Feld kam es uns vor. Ständig redeten wir keineswegs darüber, aber wenn sie mich abholte, schauten wir uns auch schon mal gemeinsam etwas an. Natürlich rannte ich jetzt nicht mehr jedes mal zur Tür, wenn es Donnerstagsabends klingelte. Jemand anders öffnete Laetitia die Tür, und sie kam zu mir ins Zimmer. „Hier, das ist Adorno „Metaphysik“. Möchtest du es mal lesen? Soll ich es dir ausleihen?“ fragte ich, während ich ihr das Buch hinhielt. „Mein Süßer, das habe ich doch selbst.“ erhielt ich mit einem Lächeln als leicht erstaunt, vorwurfsvolle Antwort. Auf meine verwundert blickenden Augen reagierte Laetitia: „Wenn du mir sagst, dass ich es lesen müsste, was tue ich denn dann?“ scherzte sie weiter. „Und, was hältst du davon?“ erkundigte ich mich. Sie fand es aus mehren Gründen hervorragend und verherrlichte Adorno. „Bei Adorno hätte ich studieren sollen und nicht Pharmazie, um Apothekenverkäuferin zu werden, dann wäre ich heute ein anderer Mensch.“ erklärte Laetitia. „Ja, du wärst Soziologin, arbeitslos, bekämst Hartz 4 und gingst anschaffen, um dein Taschengeld aufzubessern.“ stellte ich die Perspektive dar. Laetitia lachte sich tot. „Du hast noch nie etwas gesagt, bist du denn unzufrieden mit dir?“ wollte ich erfahren. „Im Gegenteil, ich bin immer allzu sehr zufrieden. Da liegt das Problem. Meine Eltern freuten sich über mich und haben mir ständig erzählt, welch wundervolles Mädchen und tolle Frau ich sei, und dann sah ich es auch so, ohne dass meine Eltern es sagten. Die Welt war für mich voller wundervoller Menschen, Komponisten, Künstlern, Sängern, Musikern und so weiter. In der Pubertät und in der Oberstufe habe ich mich noch für kritische Fragen interessiert, aber ich legte selbst keinen großen Wert darauf, die Probleme zu sehen. Sie störten meine Welt und nichts nötigte mich dazu. Nicht nur wegen Adorno weiß ich heute, dass es nicht nur bequem, sondern vor allem sehr dumm war. Sind die Leute in eurer WG denn alles Adornoschüler?“ schloss Laetitia fragend. Jetzt war es an mir, mich totzulachen. „Das wünschen wir uns, nicht wahr. Bestimmt wissen sie alle, wie jeder gebildete Mensch, mit Adorno etwas anzufangen, und als rechts oder liberal kann man wohl niemanden bezeichnen, das passte nicht zu uns. CDU oder FDP wird mit Sicherheit niemand wählen. Klüger zu sein und nicht im Mainstream mit zu schwimmen, das ist sicher allen gemeinsam, aber in wie weit sich die einzelnen mit Adorno befasst haben, weiß ich nur von Julian, mit dem ich mich schon öfter darüber unterhalten habe. Im Übrigen, Laetitia, Adornoschüler erklärt man meistens nur im Anhang bei bekannten Persönlichkeiten. Aber du kannst den Adornopreis gewinnen. Eine der weltbekanntesten Feministinnen aus den USA hat ihn zum Beispiel schon erhalten.“ erklärte ich zu Laetitias Frage. „Du meinst, da könnte es an der Zeit sein, dass eine der bedeutendsten Apothekerinnen auch mal durch den Preis Anerkennung für ihre Leistungen erhielte?“ wollte Laetitia mich verstehen. „Na, hör mal, vor den herrschenden Verhältnissen auf ein eine Insel flüchten, wie hätte Adorno denn so etwas wohl gefunden?“ bemäkelte ich. „Du meinst, ich sollte politisch aktiv sein und alles so verändern, dass die ganze Welt unsere Insel sein könnte?“ eine lange Pause mit skeptischem Blick und abschätzigem Grinsen folgte Laetitias Frage. Ich brauchte ihre Gedanken nicht zu erraten. „Pablo, ich habe ja auch so ähnlich gedacht, wusste natürlich von Missständen, auch wenn ich mich persönlich nicht betroffen wähnte, meinte, sie könnten eben nur durch Änderung der politischen Verhältnisse behoben werden. Wir waren im Urlaub in der Toskana, und da habe ich mich mit drei Aussteigern sehr eingehend unterhalten. Ich gehe keineswegs in allem konform mit ihnen, aber es hat mir für manches die Augen geöffnet und mich vieles differenzierter und tiefer sehen lassen. Ohne diese Erfahrung, Pablo, hätten wir uns wahrscheinlich nie sehen und erkennen können.“ erklärte Laetitia dazu. „Ich dachte, es läge an den Kindern, sie hätten dich durch ihr Verhalten und ihre Lebensweise tief beeindruckt und verändert.“ vermutete ich, denn Laetitia erzählte oft, gern und bewundernd von ihnen. Von Peter, ihrem Mann nie. Da ließ sich nur mal indirekt etwas deuten. „Das stimmt auch. Sie führen ein Leben wie auf der Insel, wenn sie klein sind. Jetzt trifft das nicht mehr zu, aber spannend und göttlich sind sie immer noch.“ bestätigte mich Laetitia. „Wenn du erzählst, kommt es mir öfter vor, als ob du deine Kinder liebtest, wie Gundula mich damals. Dass sie mich liebte, so dachte ich, glaube ich, gar nicht. Ich erlebte nur, dass sich, wenn Gundula kam, für mich schlagartig die Welt veränderte. Gemeinhin herrschte immer durchwachsenes Aprilwetter, wenn Gundula erschien, strahlte alles in der leuchtenden Farbenpracht des Sommersonnenglanzes. Daran habe ich manchmal gedacht, wenn wir uns trafen. Es erschien mir nicht unähnlich der Situation mit Gundula damals. Laetitia, was rede ich, spreche von Vergangenheit. Kein einziges mal ist es anders. Wenn ich dich kommen sehe, werden alle Freudenlampen in mir zum Leuchten gebracht. Komm, ich muss dich küssen.“ sagte es und umfing die breit grinsende Laetitia. Wir lösten uns nicht nach kurzer Lippenberührung. Keiner sagte etwas. Wie selbstverständlich spürten wir beide das Verlangen nach mehr. Unsere Augen sagten nach dem leidenschaftlichen Kuss alles, was wir an Liebe und Zärtlichkeit für den anderen empfinden konnten und unsere Fingerkuppen unterstützten es durch sanftes Touchieren der Haut des Gesichtes. Als ob uns dieser einzelne Kuss noch viel näher gebracht hätte. Außerordentlich liebevoll und sanft verhielten wir uns den ganzen Abend. Ironische Scherze waren heute überflüssig und deplatziert. Nur Laetitia anschauen reichte um meiner Mimik ein Lächeln aufzusetzen. Immer drängte es uns, besonders freundlich zu sein, dem anderen alles zu reichen, und da waren gar nicht Anlässe genug, die diese Welt bot, um durch unsere Hilfe das Glück des anderen steigern und vermehren zu können. Das Prinzip unserer WG stimmte eindeutig, konnte mich irgendetwas glücklicher machen, als Laetitia meine Liebe zu geben und spüren zu lassen?


Sag ihr einfach „a priori oder ex nativatem“


Die dunklen Tage vor Weihnachten, die Rauhnächte und die bitterkalten Janu­arfröste animierten uns wenig, die schützende, warme Umgebung der Behau­sung zu verlassen und sich durch Dunkelheit und Kälte zu den Örtlichkeiten und Einrichtungen gemeinsamen Verzehrens zu quälen. Spazieren gehen viel sowieso flach. Als wir uns bei mir länger unterhalten hatten, mahnte Laetitia zum Aufbruch. „Sollen wir nicht einfach hier bleiben und uns in der Küche et­was zu essen machen? Fisch aus der Gefriertruhe hätte ich noch. Kartoffeln, Reis oder Nudeln gibt es immer genug, aber an Gemüse habe ich nur Rosen­köhlchen. Ich mag sie für mein Leben gern, aber ich weiß nicht, ob du …?“ Weiter kam ich nicht, weil Laetitia meinen Kopf in ihre Hände genommen, und mir einen Schmatzer auf die Wange gab. „Wir lieben ja unser Restaurant, füh­len uns schon fast zu Hause, aber von dir etwas zu essen zu bekommen, wo­durch sollte das emotional zu überbieten sein. „Das Auge ist mit.“, sagen die Leute, wenn es ästhetisch ansprechend aussehen soll, aber nein, entscheidend kann nur sein, „Das Herz ist mit.““ erklärte Laetitia zum Essen in der WG. „Das verhält sich ja auch sonst genauso. Was auf dem Teller liegt, ist bestimmt nicht gleichgültig, aber entscheidend ist, dass ich es gemeinsam mit dir esse. Gleich von Anfang an war das direkt so. Hätte ich jemals alleine kaltes Fleisch gegessen?“ äußerte ich schmunzelnd meine Meinung dazu. „Schon, das sehe ich auch so, aber wenn du es mir schenkst, erfährt der Genuss des Mahls nochmal eine außerordentlich Steigerung. Ich werde den Fisch zerteilen, und es wird mir erscheinen, als ob du die Lamellen des Filets einzeln für mich hintereinandergelegt hättest. Die Kartöffelchen werden Rubine sein, die wir gemeinsam aus ihrer verhüllenden Ummantelung befreit haben.“ verdeutlichte Laetitia. „Und der Rosenkohl, was ist mit dem Rosenkohl?“ wollte ich in gespannt alberner Erwartung wissen. „Na ja, könnte die Natur die einzelnen Blättchen so wundervoll ebenmäßig umeinander gruppiert haben? Es wäre wahrscheinlich alles wild verschlungen und unförmig verwachsen. So wundervoll kannst nur du es für mich gemacht haben. Das spüre ich an meiner Zunge bei jedem Blättchen, das sie von dem kleinen Köpfchen löst, um es zu genießen.“ wusste Laetitia es zu deuten, worauf die Konsequenz, dass sich unser beider Zungen zunächst mal ausgiebig genießen mussten, unvermeidlich war. „Bevor wir etwas kochen, hole ich aber noch Anett. Ihr müsst euch unbedingt kennenlernen. „So sieht sie also aus.“ mussten beide wohl denken. Ich hatte Laetitia natürlich auch von Anett erzählt, aber die beiden hatten sich noch nie gesehen. Anett und Laetitia gaben sich lächelnd die Hand. „Komm,“ entfuhr es Laetitia, „du bist doch seine Allerliebste.“ wobei sie Anett umarmte, die breit lächelnd Laetitia umschlang. „Dass wir uns so gut verstehen, macht dir bestimmt Eifersuchtsgefühle, nicht wahr?“ erklärte Laetitia, lachte aber dabei. „Ich freu mich doch für ihn. Ich mag Pablo natürlich auch, aber mehr als jetzt wird daraus nie werden. Er hindert mich höchstens daran, einen Freund zu finden. Wie soll ich denn jemanden kennenlernen, zu dem es eine Beziehung wie zu Pablo geben könnte.“ meinte Anett dazu. „Das wird doch ganz anders laufen, Anett, das weißt du doch auch. Schau mal, von diesem Burschen kannte ich nichts, hatte auch keine Vorstellungen, was ich erwartete. Er hat mir wohl nur etwas versprochen, von dem ich bis heute nicht einmal genau weiß, was es war, aber geglaubt habe ich es ihm trotzdem.“ stellte Laetitia es dar und ließ uns lachen. „Du kennst Pablo sicher viel besser als ich. Kannst du mir nicht Tipps geben und Hintergründe verraten?“ fuhr Laetitia schelmisch fort. „Ja, natürlich.“ erklärte Anett, erzählte kuriose Geschichten, nicht immer ganz mit der Wirklichkeit konform, aber darauf kam es ja auch nicht an, sondern Anett hielt uns am Lachen. „Aber ein wirkliches Problem hat er schon. Darf ich das erzählen, Pablo?“ wollte sich Anett bei mir versichern. Ich stimmte mit Schultern und Mimik zu, obwohl ich gar nicht wusste, was Anett eigentlich erzählen wollte. „Er hat ein Problem mit seiner Libido.“ begann Anett sehr ernsthaft und getragen, wobei mein Zwerchfell sich schon für eine andere Stimmungslage vorbereitete. „Es ist nämlich so: Frauen, die ihn lieben und die er liebt, kann er nur verehren, aber nicht begehren.“ Laetitias Augen lachten und drückten gleichzeitig Erstaunen aus. „Ah so!“ sagte sie verwundert und nach einer kurzen Pause, „Wenn wir uns küssen, schmeckt das aber ganz anders. Vielleicht liebt er mich ja auch nicht, wer weiß?“ Das hörte Anett schon gar nicht mehr. „Was, ihr küsst euch? So richtig mit Zunge und allem. Das glaube ich nicht.“ stotterte Anett fassungslos, und ich konnte vor Lachen nicht sprechen. „Anett, ich wollte doch auch ein kleines Geheimnis vor dir haben, aber es funktioniert ja nicht.“ musste ich erklären. Alles Wissen über das Verhalten und die Auswüchse meiner Libido waren für Anett mit einem Satz Laetitias zusammengebrochen. „Dann bist du wahrscheinlich die einzige Frau auf der Welt, bei der das für ihn funktioniert, und die hat er jetzt gefunden.“ erklärte es Anett, aber ernst war das alles nicht. „Das sinnliche a priori hat er sofort erkannt.“ erklärte es Laetitia. „Adorno Schülerin“ kommentierte in nur lapidar erklärend für Anett. Dass es völliger Unsinn war, was Laetitia gesagt hatte, wusste nicht nur ich. So ähnlich ging es ständig weiter. Das Zwerchfell jedes Einzelnen von uns wollte ständig beschäftigt werden. Anett blieb auch zum Essen, das wir gemeinsam zubereiteten. Als sie sich kurz darauf verabschieden wollte, wusste Laetitia gar nicht was und wie sie Freundliches zu Anett sagen konnte: „Ich glaube, ich kann es nach der kurzen Zeit schon verstehen, dass du und Pablo euch so gut leiden mögt. Eine wundervolle Freundschaft muss es sein, zu der ich auch gern dazu gehören würde.“ „Das ist doch längst selbstverständlich so. Wie sollte Pablos Freundin nicht auch meine Freundin sein.“ Anett darauf. „Sag ihr einfach „a priori oder ex nativatem“, das versteht sie besser.“ scherzte ich, während die beiden sich innig umarmten. Wir gingen jetzt nie mehr raus zum Essen. Ich überlegte etwas und fragte Laetitia nach Einverständnis oder Änderungswünschen. Sonst telefonierten wir kaum. Ich mochte das nicht. Die verfremdete Telefonstimme war nicht die Laetitia, die ich erlebte. Mittlerweile kannte Sie alle WG Mitglieder näher. Mit Pia hatte Laetitia sich fast einen ganzen Abend angeregt, intensiv über die wirklichen Gefühle und Bedürfnisse des Menschen sowie über enthusiastisches Leben unterhalten. Sie verstanden sich hervorragend und stellten fest, dass sie sich sehr nahe waren. Jasmin hatte für Laetitia ein gemeinsames Essen mit der ganzen WG angeboten. Wir machten das öfter, wundervolle Abende wurden meistens daraus, die sich nicht selten bis in die Nacht hinein zogen. Laetitia musste jedoch immer zu einem plausiblen Zeitpunkt nach Hause kommen. Julian mochte sie so gerne leiden, dass er Laetitia ständig klar zu machen versuchte, warum sie unbedingt bei uns einziehen müsse, wenn mal wieder jemand fertig würde und auszöge.


Schnepfenstrich


Schon mal gab es im März auch einen sonnigen Tag und vor allem war es abends länger hell. „Wie wirst du den Sonntag begehen?“ fragte ich Laetitia un vermittelt im Restaurant. Auf ihren fragenden Blick reagierte ich: „Ja, Laetare heißt der Sonntag. Judica sind sie auch noch da, aber Laetare, das ist das Wahre.“ Laetitia schmunzelte auch, verstand aber nichts. „Würdest du dich, bitte, mal erklären.“ forderte sie. „In der Kirche hat jeder Sonntag einen Na­men. Und der jetzt in drei Tagen heißt Laetare, weil die Epistel oder ein Gebet mit einem Psalm aus der Bibel beginnt, und der heißt: „Laetare Laetitiam, et omnes qui diligitis eam.“ lautete meine Erklärung. „Was soll das? Mich auf den Arm zu nehmen, wenn ich gar keine Ahnung davon habe, hältst du das für wit­zig?“ reagierte Laetitia. „Entschuldigung, natürlich sollen sich nicht alle, die Laetitia lieben, mit ihr freuen, Jerusalem soll sich freuen und alle, die es lieben mit ihm. Aber dass der Sonntag so heißt trifft schon zu.“ machte ich deutlich. „Woher weißt du denn so etwas? Ich dachte du hättest schon als Kind aufge­hört zu glauben.“ wunderte sich Laetitia. „Schon, das ist das eine, aber ich habe doch keine Festveranstaltung zur Gottlosigkeit zelebriert. Warum sollte ich mir jahrelange Missionierungsversuche antun, da bin ich lieber weiter Sonntags zur Kirche gegangen, gefiel mir auch nicht schlecht.“ klärte ich sie auf. „„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“, nur Adorno kanntest du da­mals ja wohl noch nicht.“ bemerkte Laetitia dazu. „Verhielt es sich bei dir denn anders? Du hast auch alles mitgemacht, obwohl du sagst, dass es dir sehr au­ßerhalb war, und ich hab's mitgemacht, obwohl ich's für ein großes Märchen hielt. Was wir hier tun, unsere Insel, das soll richtiges Leben im Falschen sein. Darüber reden wir nie. Wir wollen keine rationalen Bedenken, wenn es uns bei­den gefällt.“ erklärte ich. „Einerseits hast du schon Recht, wir wollen unser Glück durch nichts lädieren lassen, aber ich habe mich schon recht ausführlich mit Pia darüber unterhalten. Das solltest du auch tun. Sie ist eine sehr weise und vor allem sehr feinfühlige Frau.“ empfahl mir Laetitia „Wem sagst du das? Pia hat starken Einfluss auf das Leben und das Glück in der WG. Vielleicht kann ich nur so sein, wie ich bin, weil ich mit Pia zusammen lebe.“ erwiderte ich. „Aber du hast mir noch nicht erklärt, warum Laetare das Wahre ist.“ fiel Laeti­tia plötzlich ein. „Na, ist es denn nicht das Wahre, sich zu freuen?“ meinte ich lapidar. „Nein, nein, du hast noch etwas anderes gesagt, erkläre es mir, bitte, richtig.“ so Laetitia. „Nur Blödsinn, Laetitia, vergiss es. Als Kind habe ich das mal aufgeschnappt.“ wehrte ich ab. „Wenn du es mir erklärst, kann ich es viel­leicht vergessen, aber unaufgeklärt wird es mich immer beschäftigen.“ Laetitia dazu. „Also gut, dumme Sprüche sind das, die von der Jagd her kommen, und weil sie lustig sind, behältst du sie. Der Schnepfenstrich heißt es, weil man in der Zeit vor Ostern auf Schnepfenjagd ging, und dazu ist der Sonntag Laetare eben das Wahre.“ „Und an den anderen Sonntagen, was ist da?“ wollte Laetitia wissen. „Ich kenn das nicht alles mehr, nur „Qasimodogeniti, halt, Jäger, halt, jetzt brüten sie.“ weiß ich noch. „Laetare, das ist das Wahre.“ ist mir nur be­sonders in Erinnerung geblieben, weil es ja auch ohne Schnepfen einen Sinn ergibt.“ Laetitia war es zufrieden. „Du warst schon auf Schnepfenjagd, nicht wahr? Hast dir schon eine Schnepfe eingefangen?“ vermutete sie. „Laetitia, das ist kaum lustig. Es ist Schwachsinn, der meine Ohren beißt und meinem Her­zen weh tut.“ reagierte ich. „Was für einen Vogel, wenn ich keine Schnepfe sein darf, möchtest du denn in mir sehen, damit es deinen Ohren schmeichelt und dein wundes Herz wieder warm werden lässt?“ sollte ich Laetitia verraten. „Was weiß ich, ein Paradiesvogel vielleicht?“ schlug ich vor. „Ja, ja, schön bunt und mit viel Trallala, und die Männer möchten alle Falken und Adler sein, nicht wahr?“ beantwortete es Laetitia. „Leider, Laetitia, die Klischees stecken zu tief in uns, als dass wir sie bei der Überfahrt zur Insel auch wirklich alle abgeben könnten.“ kommentierte ich.


Wo sind wir, Laetitia?


Die Zeit der Schnepfenjagd war längst vergessen, aber dass Laetare das Wahre sei, blieb stets unser sinnliches a priori, wie Laetitia es bezeichnet hätte. Alles war mittlerweile wieder grün, und gottlob ließen uns die sich nach und nach entfaltenden Blüten nicht wissen, dass sie mit ihrer Pracht nicht protzten, um die Menschen dadurch zu delektieren. Maia, die römische Göttin, wollte in dem nach ihr benannten Monat, alle Wonnen sich entfalten lassen, und die wärmer werdenden Tage animierten uns, ihr nicht nachzustehen. Laetitia hatte mich schon als wir uns kennenlernten, darauf verwiesen, wie falsch es sei und gegen die wirklichen Bedürfnisse und Gefühle verstoße, wenn man persönliche Bezie­hungen unter die Alltagsroutine subsummierte. Routine konnte sich bei unse­ren Treffen nicht entwickeln. Wenn Laetitia mich oder ich sie sah, wurde uns jedes mal bewusst, dass es unser stärkstes und tiefstes emotionales Empfin­den auslöste. Das konnte niemals zur Routine verkommen. Tommy hatte von Laetitia wissen wollen, ob wir denn jeden Donnerstagabend die Insel als Touris­ten besuchten. „Wo denkst du hin?“ hatte Laetitia diese Vermutung entrüstet zurückgewiesen, „Wir sind die Bewohner dieser Insel, sind keine Botokuden, Assassinen oder Tungusen, wir sind ein eigenes Volk, ein eigener Stamm.“ „Also Homo Sapiens Islandiæ seid ihr donnerstagsabends.” hatte Tommy ge­schlussfolgert. Das Leben auf der Insel war jedoch nicht Synononym für einen Zustand, in dem wir uns dann befanden und auch nicht Beschreibung eines Gefühls oder einer Stimmung. Das Leben dort hieß, dem Verlangen folgen, sich auszutauschen, sich näher zu kommen, sich bei aller Unterschiedlichkeit ge­genseitig immer tiefer zu verstehen. An einem Donnerstagabend im Mai saßen wir bei mir auf der Bettkannte und kamen durch gegenseitige Berührung unse­rer Lippen und Zungen uns auch körperlich näher. Lächelnd und mit schelmi­scher Mimik um ihre Augen fragte Laetitia anschließend knapp: “Noch mal?” Natürlich, was sollte daran besonders sein, nur wir hatten es noch nie ge­macht, hatten es aus irgendeinem unergründlichen Ratschluss immer bei ei­nem singulären Kuss bewenden lassen. “Ein wenig einfältig sind wir, nicht war? Küssen immer nur einmal.” konstatierte ich scherzhaft. “Wo man es doch viel öfter könnte.” unterstützte Laetitia. “Na klar, bis die Lippen brennen und die Zunge krampft.” ergänzte ich. Dafür wurde ich aufs Bett geworfen. “Rutsch mal rauf.” forderte Laetitia, zog ihre Schuhe aus, kam auch aufs Bett und setzte sich breitbeinig auf mich. Ich musste immer lachen. “Jetzt hab ich dich.” er­klärte Laetitia, wobei ich überhaupt nicht verstand, was das zu bedeuten hatte. Laetitia wollte offensichtlich etwas Lustiges oder Albernes sagen oder tun. Ihr schien nichts einzufallen. Als Übersprungshandlung bekam ich einen Boxhieb. Es war alles so kurios. Mir fiel auch nichts anderes ein, als zu lachen. Laetitia beugte sich zu mir und ich zog sie ganz runter, so dass sie ihre Beine lang machte und auf mir lag. Wir hatten ja sonst beim Drücken auch schon unsere Körper gespührt, jetzt war es jedoch intensiver, direkter und vor allem aber in­timer. Beim Küssen waren wir uns ja auch ganz nah, lag es an der ungewohn­ten Atmosphäre? Laetitia erforschte mit ihren Fingerkuppen sanft tastend mein Gesicht, und überallhin bekam ich lächelnd einen kleinen Kuss, als ob sie mich zum ersten mal oder ganz neu erlebte. Laetitia schien vom sinnlichen a priori voll durchdrungen. Sie küsste meine Ohren, meinen Hals, alles was sie errei­chen konnte, während ich sie hielt und mit der Hand ihren Rücken streichelte. Sie knüpfte mir das Hemd auf. “Du hast ja noch ein T-Shirt an. Willst du das nicht mal ausziehen?” fragte Laetitia zögerlich. Ich machte es, als ob ich jeden Abend für Laetitia das Hemd auszöge, obwohl ich völlig verwirrt war, und mir keinen Reim darauf machen konnte, was da vor sich ging und gehen würde. Man weiß ja oft nicht genau, inwiefern etwas sexuelle Bezüge hat. Die Küsse gefielen Laetitia offiziell auch so gut wegen der besonders hohen taktilen Emp­findlichkeit der Lippen. Aber wie will sie dann mein Begehren darin schmecken. Und jetzt? Handelte es sich dabei um eine völlig unerotische Körpererkundung? Sie störe es überhaupt nicht, dass wir nicht zusammen ins Bett gingen, mit Sex habe sie sowieso nichts mehr zu tun, hatte Laetitia mal erklärt. Ich meinte es jedoch sehr viel anders zu erleben. Das leidenschaftliche Küssen und und die Lust, den Körper des anderen beim Drücken zu spüren, sollten rein platoni­sche Verbundenheitsattitüden sein, die Freude, sich gegenseitig zu berühren, die Hand zu halten und sich beim Spazierengehen zu umfangen, keinerlei ero­tische Bezüge haben? Aber wie sollte ich wissen, was Laetitia unter Sex ver­stand, zumal sie es offensichtlich selbst noch nicht einmal wusste? Sie er­forschte immer Regionen meines Brustkorbs, bedeckte sie mit Küssen und ließ ihre Wangen über die Haut streichen. Darauf kam sie jedes mal mit ihrem Kopf wieder rauf, sagte leise etwas Liebes und wollte dass wir uns küssten. “Jetzt lerne ich alles von dir kennen, auch was du sonst vor mir unter Stoff verhüllt hast.” bemerkte Laetitia. “ Ich würde auch gern deine Haut kennenlernen. Die hast vor mir bislang ebenfalls verborgen gehalten.” erklärte ich. Dass wir heute Abend nicht mehr essen gehen würden, brauchte nicht geklärt zu werden. Eine Speise, die so köstlich wäre, dass sie überbieten könnte, was wir gerade erleb­ten, war auf dieser Welt nicht vorstellbar. “ Dann müsste ich mich ja auszie­hen.” schlussfolgerte Laetitia erstaunt aber mit einem skurrilen Lächeln, als ob wir beide uns auf einen ganz schlimmen Streich freuten. Bestimmt wusste Lae­titia selbst nicht, was sich mit ihr ereignete. Wahrscheinlich hatte sie sich von ihrer Stimmung heute Abend, den beiden Küssen und ihren Gefühlen leiten las­sen. “Das auch?” fragte sie und meinte ihren BH. “Wär schon besser.” empfahl ich. Ich wusste doch gar nicht, in welchem Film ich war. Jetzt zu reden, über was auch immer, wäre völlig deplatziert gewesen. Wir konnten uns immer nur betasten, streicheln, küssen und liebevolle Zweiwortbemerkungen hauchen. “Alles?” fragte Laetitia noch, als ich ihre Gürtelschnalle öffnen wollte. Ganz bei mir war ich keinesfalls. “Warum nicht?” antwortete ich dumm. Trotzdem zog sich Laetitia ihre Jeans und den Slip aus, während ich das gleiche bei mir tat. Ungeheuerlich war das schon. Ich denke, uns beiden kam es vor, als ob wir ge­rade einem großen weltgeschichlichen Ereignis beiwohnten. Natürlich hatte ich Laetitias Beine, Po und Venus noch nie gesehen, darum schien es nicht zu ge­hen. Wieder ein neuer Mensch war für mich aus ihr entstanden. Erotisch, sexu­ell, natürlich, aber es war Laetitia, meine großartige, heißgeliebte Laetitia, die ich nackt umschlungen hielt und deren warme Haut an meiner lag. Überwälti­gend ergriff es mich, Laetitia zu sehen und sie so zu spüren. Nur andächtig schweigend und mit einem Lächeln, dem auch ein Anflug von ratlosem Erstau­nen anhaftete, konnten wir uns anblicken. Viel anders als ich würde Laetitia auch nicht empfinden. Vor Ergriffenheit befeuchteten sich ihre Augen, während ihre Mimik schelmisch, glückliches Erstaunen verkündete. Sie sprach als erste wieder: “Pablo, sollten wir es nicht immer so halten? Ich denke, unser Zugang zueinander wird dadurch beträchtlich in seiner Offenheit erweitert.” Ich konnte ihr nur zustimmen, die anfängliche Andacht war dadurch beendet, und wir durften uns jetzt wieder bewegen. Die Bewegungen bestanden im wesentlichen aus Handlungen, die das Ziel hatten, den Körper des andern an allen Stellen und in allen Formationen an der eigenen Haut zu spüren. Der Traum, dass Lae­titias Hand überall meinen Körper berühren möge, hatte sich nicht nur erfüllt, sondern um ein Vielfaches überboten. Berauschend erlebte ich es, und nur das wollte ich genießen. Allem, was ich dazu hätte denken können, waren zur Zeit die Türen verschlossen. “Wo sind wir, Laetitia?” fragte ich anschließend. “Ich weiß gar nichts, Pablo. Überhaupt nichts kann ich dazu sagen. Du wirst mir später alles erklären müssen, nicht wahr?” reagierte Laetitia darauf. Wenn sich etwas verändert hatte, oder etwas geschehen war mit uns beiden, entdeckten wir uns immer gegenseitig wie zwei neu geschliffene Edelsteine, schauten uns einander wieder ganz genau an und berührten das Gesicht nur vorsichtig, sanft tastend. Vielleicht hatten sich ja in ihrem oder seinem Gesicht Änderungen er­geben, wenn man miteinander geschlafen hatte, nur unser Bewusstsein konnte sie eben nicht benennen. Wahrscheinlicher war jedoch, dass dein Blick sich veränderte, wenn du ein neues ungewohntes gemeinsames Erlebnis hattest. Dieser veränderte Blick musste den anderen jedes mal neu entdecken, um das Bild von ihm mit den entsprechenden Farben zu korrigieren. Jetzt hatten wir die absolut höchste Stufe unseres Zärtlich-Sein-Könnens erreicht. Wir schmol­zen umeinander und umgarnten uns. Kurz vor zwölf erklärte Laetitia, sie müs­se jetzt nach Hause. “Laetitia” fuhr ich auf. In der Betonung lag wohl alles ent­halten, was ich beklagt hätte. “Ich fände es doch auch am schönsten, Pablo, wenn wir die Nacht über zusammen bleiben könnten, aber welche Verwirrun­gen würde das auslösen? Wir werden eine ganze Nacht für uns haben, Pablo, nur heute wäre es wegen der Konsequenzen sehr töricht und überflüssig.” er­läuterte Laetitia. “Wir können doch heute Nacht nicht allein sein. Unsere Kör­per liegen nicht mehr gemeinsam in einem Bett. Alles andere von mir, wo soll es denn sein, wenn nicht bei dir, und ich nehme wahrscheinlich sogar etwas von dir mit.” Warum genau weiß ich nicht, aber ich stand auch auf und zog mich wieder an. Bis zum Auto begleitete ich Laetitia, das hatte ich noch nie ge­tan, heute konnte ich diese Laetitia doch nicht einfach so weglaufen lassen.


Das sind wir beide


La pulsion rebelle erklärte es Anett ironisierend in Abwandlung des l'oiseau rebelle, der die Liebe sei. Dem unzähmbaren Trieb, sei es geschuldet, wenn bei uns zwei am Abend nicht den Weg ins eigene Bett gefunden hatten. Konnte bei dem, was sich gestern Abend zwischen Laetitia und mir entwickelt hatte, auch La pulsion rebelle die Federführung übernommen haben? Aber nein, Laetitia wurde doch davon nicht mehr bedrängt. Wir kannten einander so tief und genau, offensichtlich kannte ich Laetitia nicht so gut, dass ich ihre Aktivitäten gestern Abend bei ihr für möglich halten konnte. Hatte ich das Andere erlebt, der mir unbekannte andere Mensch, der sie letztendlich doch immer ist? Nur schien Laetitia diese Region ihrer spezifischen Persönlichkeit vermutlich selbst genauso unbekannt wie mir. Wie Laetitia es wohl selbst interpretierte. Wir könnten uns am Donnerstag nicht treffen, es sei etwas dazwischen gekommen, was genau wollte sie mir erklären, aber nicht am Telefon. Einmal war das vorgekommen. Saskia, ihre Tochter, war schlimm krank, kein Problem es am Telefon zu sagen. Mich hatte es ja schon am Freitag gequält, weil Laetitia nicht bei mir sein konnte. Mich nicht in ihren Gedanken zu bewegen, das brauchte ich nicht zu befürchten, nur hätte ich gern ein Wort von ihr gehört, ihr für mich unwiderstehliches Gesicht gesehen. So lange hatte ich es nicht erkannt, jetzt schien es zu den Bildern zu gehören, die für meine seelische Harmonie unabdingbar erforderlich waren. Bis zum übernächsten Donnerstag brauchte ich nicht zu warten. Laetitia kündigte sich schon für Dienstagabend an. Nein, essen gehen wolle sie nicht, sondern mit mir in meinem Zimmer reden. Ein wenig Angst hatte ich schon. War ihr etwas eingefallen, das alles plötzlich in einem ganz andern Licht darstellen würde, als wir es erlebt hatten? Nein, nein, das machte Laetitia nicht, und bei der Stimmung, die sie vermittelte, war das auch nicht vorstellbar. Sie blickte mir tief in die Augen, nahm meinen Kopf in die Hand und gab mir einen Kuss auf jede Wange. “Laetitia, sprich doch endlich!” hätte ich drängen können. “Einmal habe ich kurz daran gedacht, aber es konnte ja nichts passieren, weil ich Freitag, Samstag oder Sonntag meine Menses bekommen musste.” begann Laetitia. “Du hast sie aber nicht bekommen und willst mir jetzt sagen, dass du schwanger bist, ist das so?” unterbrach ich sie. “Pablo, regst du dich auf? Nein, du wirst mir zuhören und alles verstehen wollen.” reagierte Laetitia. “Natürlich, Entschuldigung für meinen Tonfall. Nimmst du denn keine Pille und warum hast du das nicht gesagt?” wollte ich wissen. “Wozu soll ich die Pille nehmen, meinen Körper mit den Pharmazeutika belasten, ich nehme doch sonst auch keine Medikamente gegen Krankheiten, die ich nicht habe. Ich schlafe doch nicht mit Männern, wozu dann die Pille.” klärte Laetitia mich auf. Direkt wusste ich dazu nichts zu sagen, wir konnten uns nur schelmisch angrinsen und unsere Zuneigung mit einem Kuss erklären. “Ja, du hast schon Recht, aber wenn du gesagt hättest, dass wir Sex haben wollten oder würden, hätte ich keinen Knopf von deinem Hemd geöffnet. Im Grunde war es nicht anders als sonst, wir sind süchtig nach einander, ich will immer mehr von dir und spüre wie es dich genauso drängt. Nur sonst sind es unsere Gedanken, Worte und die damit verbundenen Visionen und Empfindungen, jetzt habe ich die berauschenden Gefühle erlebt, die es macht, wenn auch unsere Körper immer mehr voneinander wollen. Genauso eine Sucht ist es, und wir haben uns so intensiv wie möglich zu erleben versucht, wozu eben auch die Beteiligung der Genitalien unerlässlich ist. Wir sind uns körperlich sehr viel näher gekommen, nichts anderes.” stellte es Laetitia dar. “Allerdings, konnte uns etwas Herrlicheres widerfahren?” scherzte ich. “Nur ich bin ein wenig dumm gewesen, dachte es wäre unmöglich, jetzt weiß ich es besser. Ich werde es in den nächsten Tagen weg machen lassen, du brauchst keine Angst zu haben, aber schade ist es ja eigentlich schon. Das sind wir beide, unsere Liebe, in jeder Zelle stecken du und ich gemeinsam.” bemerkte Laetitia. Meine Hände reckten sich nach Laetitias Kopf, sie legte ihn an meine Schulter und ich streichelte ihr Haar. So traulich gemeinsam wirkte das, wie sonst nie. Darfst du denn noch ein Glas Wein trinken? Wenn es zu viel Alkohol enthält, nimmst du ein Taxi und ich bringe dir morgen das Auto.” schlug ich vor. Worauf genau wir jetzt tranken, wusste ich auch nicht, wahrscheinlich auf das Wunder unserer unbeabsichtigten Beinahevermehrung.


Kein richtiges Leben im falschen mehr


Am Donnerstag gingen wir wieder wie üblich essen. Unternommen hatte Laeti­tia noch nichts. Es waren ja auch nur zwei Tage. Skrupel habe sie überhaupt keine, echauffierte sich über die militanten Antiabtreibungskämpfer: „Die selbst sind die eigentlich Furcht erregenden. Sie haben von Gott erfahren, dass er das nicht möchte. Na, schön, das ist ihre Meinung, aber sie sollen doch an­dere nicht damit belästigen. Ein Ausbund an Intoleranz sind sie und würden je­dem totalitären System gut anstehen. Aber besondere Toleranz scheinen die Menschen ihrem Gott wohl immer als wesensfremd angedichtet zu haben. Wie viele Menschen haben sie in Kriegen schon in seinem Namen abgeschlachtet, weil sie ihrer Ansicht nach kein gottgefälliges Leben führten. Was die Frauen nach ihren Worten ermorden, wäre durch nichts und an keinem Ort der Welt lebensfähig. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ist es ausschließlich ein Organ der Frau, über das nur sie selbst zu bestimmen hat.“ Wir diskutierten darüber, wann bei einer Schwangerschaft das selbständige Leben beginne, in das man nicht mehr eingreifen dürfe. „Dass mit der Verschmelzung der beiden Zellker­ne, Gott bereits ein neues, eigenständiges Leben geschaffen habe, ist reine Ideologie, nichts sonst.“ erklärte Laetitia. Wenn eine Frau moralische Skrupel habe, sei das ihrem privaten Glauben geschuldet. Eine Frau könne es aber auch einmal tun, beim anderen mal aber nicht, weil sie in dem, was in ihr ent­stehe etwas Besonderes sehe. Sie habe schon in der vorigen Woche mit ihrer Gynäkologin darüber gesprochen. Am folgenden Donnerstag hatte Laetitia auch noch nichts unternommen. Es drängte ja auch zeitlich nicht. „Ich bin ein wenig verrückt, Pablo.“ erklärte sie, „Natürlich lasse ich es weg machen, was sonst. Aber wenn ich daran denke, sehe ich immer, wie jeden Tag ganz viele neue Pablo/Laetitia Liebeszellen hinzukommen, das ist doch sehr schön, nicht wahr? Und dann möchte ich es heute noch nicht zerstören und abbrechen.“ „Morgen wirst du es aber tun und nicht mehr so denken, oder?“ fragte ich skeptisch. Laetitia ließ ihren Blick durch's Restaurant schweifen, in dem sich außer uns nur noch einige Leute an der Theke befanden. Dann traf ihr Blick mit einer bedenklich fragenden Mimik um den Mund mich. „Du hast Recht, der Ge­danke wird mir immer und zunehmend mehr Freude bereiten, es wird mir je­den Tag schwerer fallen, es abzubrechen und dass ich es getan habe, werde ich nie vergessen. Pablo, es ist doch auch ein Wunder unserer Liebe. Nichts ist sie direkter und konkreter als das, was jeden Tag in meinem Bauch wächst. Wir sind dumm und falsch. Glauben immer noch, das was uns am wichtigsten und wertvollsten ist, verheimlichen und verstecken zu müssen. Das ist zum üblen Ritual geworden, meiner Familie gegenüber zu tun, als ob es unser Leben und unsere Liebe nicht gebe. Mich gibt es nicht ohne unser Gemeinsames. Das soll­te ich längst, unabhängig von meiner Schwangerschaft vermittelt haben, dass es mich, ohne uns beiden nicht gibt. Wenn die Kinder und mein Mann wüssten, was wir uns bedeuten, wo läge dann das Problem, wenn aus unserer Gemein­samkeit ein neues Leben entstehen würde. Das richtige Leben im falschen, das machen wir nicht mehr, nicht wahr?“ erläuterte Laetitia. Jetzt konnte ich nicht sprechen. Sie würde ihrem Mann und den Kindern alles erklären und mit dem Ende ihrer Schwangerschaft sollte erst in neun Monaten zu rechnen sein? Das war zu plötzlich und zu viel. Ganz schnell wollten sich in meinem Gehirn die Geschichten flechten, die sich daraus für die Zukunft ergäben. Eine Überforderung, die zusätzlich die Funktionstüchtigkeit meines Sprachzentrums nicht ermöglichte. „Was ist, Pablo? Gefällt es dir nicht?“ ließ Laetitia mein Gesichtsausdruck fragen. Ich lächelte nur breit. „Was hast du? Was bewegt dich? Lass es mich wissen, Pablo.“ forderte mich Laetitia auf. „Wir werden also dann gemeinsam ein Kind haben. Kannst du dir vorstellen, dass der Gedanke für mich ungeheuerlich ist?“ brachte ich hervor. „Ja, in der ersten Zeit wird es sicherlich noch nicht Donnerstagsabends mit uns essen gehen können.“ meinte Laetitia. „Warum nicht, du könntest es in einem Tuch umhängend tragen. Später wird es vielleicht renitenter werden und nicht mehr wollen.“ lautete meine Ansicht. Wir machten Scherze über die potentielle, zukünftige Entwicklung unseres Lebens, dessen gravierende Veränderung Laetitia mit einem Satz beschlossen und offensichtlich sofort voll verinnerlicht hatte, die ich aber für mich gar nicht realisieren konnte.


Freue dich Laetitia


Juni war es bereits, und der Sommersonne ist Zögerliches, Bedenkliches, Räso­nierendes fremd. Ebenso Laetitia. Sie hatte nicht mehr zauderhaft fragend ge­wartet. Das frühere Verschweigen sei ihr nicht als lästig bewusst geworden, aber jetzt habe sie sich auf die befreiende Wirkung gefreut. Fassungslos habe es Peter, ihr Mann, zur Kenntnis genommen, aber dass wir miteinander ge­schlafen hätten, habe ihm erklärlich gemacht, dass es sich für Laetitia um et­was völlig anders handeln müsste. Er hätte mehr über mich wissen wollen, hätte gemeint ich sei Spanier und sich von Laetitia erklären lassen, um wen es sich bei Pablo Casals handle. „Die Kids stehen absolut auf unserer Seite. Die große Liebe ist das Maximum und alles, was mit ihr zusammenhängt, voll in Ordnung. Saskia, hätte am liebsten den ganzen Tag mit mir über unsere Liebe geredet. Sie freut sich jetzt schon auf das Baby, und sie will dich sofort ken­nenlernen. Roger hält mich für stark und mutig. Vorbildlich sei mein Umgang mit allem, da sollten sich manche verlogenen Eltern mal ein Beispiel dran neh­men, hat er gemeint. Peter scheint es zunächst mal so akzeptiert zu haben. Weiß du, er ist ein so guter Mensch und gehört auch zu mir. Verlieren möchte ich ihn auf keinen Fall.“ legte Laetitia ihre Erfahrung dar und schluckte bei den Worten über Peter. „Ob sie denn die Tante von meinem Kind werden könne, hat Anett mich gebeten. Das war alles aufregender und spannender als ein Krimi. Alles wollte man wissen, und lustige Perspektiven für die Zukunft entwerfen, hinderlich wirkte nur, dass man nicht wusste, ob es ein Junge oder ein Mäd­chen werden würde. Unbedingt sofort musst du es mir verraten, wenn du es weißt, allein schon damit die Freundinnen und Freunde in der WG ihre Planun­gen konkretisieren können.“ scherzte ich. „Sollen wir am nächsten Donnerstag ein Essen in der WG machen? Sie wollten schon, als ich es erzählte, darauf an­stoßen, aber ich habe erklärt, dass es nur ginge, wenn du auch dabei wärest.“ fragte ich Laetitia. „Wie hast du gesagt? „Freue dich Laetitia und mit ihr alle, die sie lieben?“ Das soll mein Leitmotiv in Zukunft sein. Guter Hoffnung sei die Frau in anderen Umständen, sagt man. So ein Quatsch, ich freue mich einfach umstandslos und bin der guten Hoffnung, dass es sich bei dir nicht anders ver­hält.“ lautete Laetitias Antwort.


Festmahl


Die Freundinnen und Freunde der anderen WG Mitglieder waren auch mehr oder weniger häufig anwesend. Es differierte sehr stark, zum Beispiel ging Pia nie zu ihrem Freund, weil er kein Klavier hatte. Dann kam sie sich amputiert vor, wenn Pia ein Wochenende in einem Haus verbringen sollte, in dem es kein Klavier gab. Oder Pascals Freundin legte absoluten Wert auf die Zweisamkeit mit ihm, auch wenn sie nichts gegen irgendjemanden in der WG hatte. So wie bei Laetitia war es sonst bei niemandem. Sie hatte ja schon Diskussionsanlass geboten, als sie außer mir noch niemand gesehen hatte. Dass sie keine Stu­dentin war, sondern Mutter von zwei Kindern, steigerte auch eher den Interes­senfaktor. Mit fast allen hatte sie intensivere Gespräche geführt. Wenn sie an­wesend war, verhielt man sich, als ob sie selbst auch zur WG gehöre. Dass sie mit mir, der anfänglich abgestritten hatte, in sie verliebt zu sein, gemeinsam ein Kind bekommen würde, empfand man in der WG als absolutes Highlight. Das gemeinsame Essen war daher auch nicht mit dem gemeinhin üblichen zu vergleichen. Zu einem Festmahl wurde es bei dem jede und jeder auf irgendei­ne Art gestalterisch mitwirken wollte. Ein bestelltes Büfett wollten wir nicht, obwohl kaltes Fleisch natürlich verpflichtend war und kleine Maiglöckchensträu­ße auf der gesamten Fläche den Tisch zierten. Laetitia wusste auch, dass es nach der Vermutung ihrer Gynäkologin voraussichtlich ein Mädchen, eine kleine Schnepfe, werden würde. Das musste sie und ich natürlich erklären, und es stellte sich heraus, dass Julian, dessen Vater zur Jagd ging, den ganzen Schnepfenstrich kannte. Zum Ergötzen aller musste er ihn vortragen. „Laetare, das ist das Wahre.“ fanden alle prima und Miriam schlug vor, es doch auf einer Tafel als Leitmotiv in der WG aufzuhängen. Anett schien im Ekstatischen zu schweben. „Eine kleine Nichte“ hauchte sie versonnen. Das Lachen weckte sie, und man fragte Anett, ob sie denn sonst keine Verwandten habe. „Doch, schon, aber was ist das gegen ein Töchterchen von Pablo und Laetitia?“ ant­wortete sie. Dafür musste Laetitia aufstehen, Anett umarmen und ihr einen Kuss geben. Sicherlich handelte es sich um das wundervollste Fest, das unsere WG erlebt hatte. Nach Hause brauchte Laetitia heute nicht. Sie hatte alles ab­geklärt, und dass die Kinder allein zur Schule kamen, fanden sie doch easy. Jetzt hatten wir den ganzen Rest der Nacht für uns und bedeckten uns mit Lie­be und Glück. Als traulich gemeinsames Empfinden, war es mir vorgekommen, dass Laetitia ihren Kopf an meine Schulter gelegt hatte, gemeinsam aneinan­der gekuschelt, mit der Wärme des anderen verwöhnt, sich in den Schlaf zu träu­men, musste die die höchste Steigerungsform dessen sein.


Im Café mit Saskia und Roger


„Ihr habt sie doch nicht alle. Wie gut dass so etwas nicht genehmigt wird. Auch wenn es noch so beziehungsreich ist, denkt ihr denn gar nicht an das arme Mädchen, das später Diligate oder Gaudete heißen sollte. Ihr spinnt doch echt.“ regte sich Jasmin auf. „Na klar, spinnen wir, aber das bringt doch den Spaß.“ erwiderte Miriam, „Sag du doch mal was, mach du doch mal einen Vorschlag.“ „Ich weiß nicht, aber Felicia, das würde doch auch passen und klingt nicht schlecht.“ meinte Jasmin. „Wunderbar, Laetitia und Felicia, da wären Freude und Glück immer fest programmiert.“ spottete Tatjana. „Im Deutschen gibt es gar keine schönen Namen, alles nur entlehnte oder die bärbeißigen mit germa­nischen Wurzeln. Blume, Flieder, Lilie oder Veilchen kannst du deine Tochter nicht nennen.“ bedauerte Miriam. „Dann sag's doch auf Französisch, das klingt sowieso besser. Stell dir vor, Anett hieße auf Deutsch Anette. Wie grässlich, das klingt genauso wie Mathilde, Wilhelmine und Gerlinde, aber Fleur, Viola, Lys oder Lilas das klingt doch herrlich.“ war Jasmins Ansicht. „Ja, Florence, das wäre schön. Das mag ich gut leiden.“ schwärmte Anett versonnen. „Wir spin­nen alle, haben einen Mama-Komplex, für uns scheint es nichts Schöneres zu geben, als Babynamen auszusuchen. Dabei wissen wir noch nicht mal, ob es überhaupt wirklich ein Mädchen wird.“ klagte Pia. Ähnliche spontane Frauen­treffen kamen schon mal öfter vor. Man blieb einfach beim Kaffee sitzen und wer in die Küche kam, setzte sich dazu. Nur selten nahm auch einer der Män­ner daran teil. Am Sonntag, kurz nach Mittag kam Laetitia mit ihren beiden Blüten. Wir wollten gemeinsam ins Café am See. Eine gute Gelegenheit, meine Lebenszusammenhänge in Augenschein zu nehmen. In meinem Zimmer flüs­terte Laetitia Saskia etwas ins Ohr. Ein goldiges Grinsen überzog daraufhin Saskias Mimik. Laetitia und ich erklärten alles und natürlich kam auch Anett. „Ganz einfach ist das, Roger. Saskia ist auch deine Freundin, aber sie wird nie deine Liebste sein. Wir sind alle gute Freundinnen und Freunde hier, aber alle haben draußen eine Liebste oder einen Liebsten.“ erklärte ich es Roger, der wissen wollte, ob denn jetzt Laetitia oder Anett meine Freundin sei. „Anett möchte gern die Tante von eurem Schwesterchen oder Brüderchen werden. Fändet ihr das o. k.? Es ist ungeheuer wichtig, das kleine Kinder eine wunder­bare Tante haben. Das wäre Anett bestimmt.“ erklärte ich. Anett sollte mit zum Café, aber das lehnte sie ab. „Also, ich hab keine wundervolle Tante. Warum soll das denn so wichtig sein?“ wollte Saskia im Café wissen. Ich berichtete von meinen Erfahrungen mit Gundula. „Wenn Gundula deine Tante ist, könnte Mami doch genauso gut deine Tante sein, oder?“ fragte Roger sich selbst und mich. „Na klar.“ antwortete ich nur knapp, weil mir klar war, dass darauf noch etwas folgen würde. „Und jetzt ist sie deine Frau.“ kommentierte Roger. Wir lachten. Roger blieb bei seiner Einstellung, wenn man zusammen ins Bett ginge und ein Kind bekomme, dann sei ich der Mann und Mami die Frau dazu. Heiraten und Standesamt habe dafür überhaupt keine Bedeutung. „Was ist deiner Meinung nach das Entscheidende?“ wollte ich von ihm wissen. „Na, dass der Mann und die Frau sich lieben, was denn sonst, warum schliefen sie sonst wohl miteinan­der?“ bekam ich als Antwort, womit wir beim Thema waren. Alles wollten die beiden wissen, von Anfang an im Detail. Ein Krimi musste dagegen eine öde vor al­lem aber platte Story sein. Was wir erzählten war für die beiden nicht nur höchst spannend, sondern beschäftigte sie auch immer wieder mit Fragen, über die sie sich bislang keine Gedanken gemacht hatten, ihnen jetzt aber äu­ßerst wichtig vorkamen. Immer wieder schien es durch, dass sie ihre Mutter bewunderten, nicht zuletzt weil sie so einem jungen Mann wie mir in mehrfa­cher Hinsicht imponieren konnte, und ich musste ein ganz kluger Mensch sein, wenn ich er­kennen konnte, was für eine tolle Frau ihre Mami doch sei. Wir ka­men auch auf die Äußerlichkeiten und wie man sich dadurch verführen ließe zu sprechen, re­deten über das, was wir auch so machten, weil alle es so machten, und Saskia und Roger schienen zumindest in Ansätzen zu verstehen, was uns die Treffen am Donnerstagabend bedeutet hatten. „Das ist doch zu wenig.“ meinte Roger, „Warum bleibst du denn nicht die Nacht über bei Pablo. Wir wer­den doch Freitags wohl allein zur Schule kommen. Wir sind doch keine Kinder mehr, Mami“ Saskia sah es selbst­verständlich genauso. Ganz rote Bäckchen hatte sie bekommen von dem anre­genden Gespräch. Was sich da mit Laetitia und mir ereignete, war aufregend, toll und bedeutsam. An der Welt wollten sie auch beteiligt sein, wollten zu ihr gehören, das sollte ihr zu Hause werden. Eine Welt, die ihrem Leben Sinn und Bedeutung gab. So formulierte es niemand, aber so mussten sie es wohl spüren. Ernst und konzentriert sprachen sie. Ihr gewohnter Alltag erschien Saskia und Roger gegenüber dem, was sie gehört und was wir besprochen hatten, lahm, gewöhnlich und bieder. Kuchen hatten wir kaum gegessen aber endlos gesprochen. Laetitia schlug vor, ein wenig am See spazieren zu gehen und dann hier zu Abend zu essen. „Laetitia, braucht zum Abendessen eigentlich kaltes Fleisch.“ scherzte ich. Wir erzählten die Ge­schichte und wie sie der Auslöser für unsere Liebe war. „Ich glaube, jemanden gut zu finden und von ihm begeistert zu sein, das ist ein Zustand, der keine dauerhafte Liebe ist.“ erklärte Laetitia. Dass es sich auf ihr Verhältnis zu Peter bezog, war in ähnlicher Form schon früher an­geklungen, jetzt wollt sie es den Kindern erklären: „Du spürst, dass der andere in dir ein Licht anzündet, in dem was du nicht mehr weißt und kennst. Trotz­dem willst du es wissen, willst den anderen immer genauer kennenlernen, es lässt dir keine Ruh auch wenn du weißt, du wirst es letztendlich doch nie genau erfahren. Du bist einfach süchtig nach den immer wieder neuen Bildern, die in dir im Austausch mit ihm entste­hen. Ein nicht enden wollender Weg ist die Lie­be nicht, eher ein Urwald in dem durch ständigen Austausch immer wieder et­was neues, neues Leben entsteht.“ „Im Grunde habt ihr euch immer schon ge­genseitig befruchtet, da war es ja wohl an der Zeit, dass ihr es auch körperlich machtet.“ scherzte Roger und ließ uns lachen. Saskia sagte kaum noch etwas, es war so ungeheuerlich viel, tief und bewegend, dass sie nur noch für sich allein nachdachte. „Können wir nicht mal öfter am Sonntag etwas zusammen machen. Du hast uns ja immer alles verheimlicht, Mami, und jetzt müssen wir noch so vieles wissen.“ meinte sie. Als Bestätigung drückte Laetitia Saskias Kopf an ihre Brust.


Laetare Laetitiam, et omnes qui diligitis eam

 

„Welch ein Glück.“ träumte Laetitia am Donnerstag, „Ich mag es gar nicht mehr wahrhaben, dass ich abtreiben wollte. Jeder Tag erscheint mir wie ein überquellendes Füllhorn der Freude. Nichts wünsche ich mir mehr, als dass alle die mich lieben, sich auch mit mir freuen mögen.“

 

FIN

 

Und der Knabe, den Lust anrührt, von der er nichts weiß.
Jene Symtome, die ihm anzeigen eigene Glut,
Wundere sich lange und rufe: „Belehrt von welchem Verräter
Schrieb der Dichter da auf, was mir grad selbst widerfuhr?“

Ovid

Laetitia ist eine biedere Frau, Apothekerin und hat zwei Kinder. Heute Abend ist sie völlig frei. Auf der Geburtstagsféte bei ihrer Freundin Gundula spürt sie ein Hochgefühl, empfindet sich leicht high. Am Buffet lernt sie Pablo, den Neffen von Gundula, kennen. Der müsste Laetitia eigentlich schon öfter gesehen haben, aber erst heute Abend nimmt er sie wahr. Trotz Altersunterschied scheinen sie beide heute Abend in dem anderen etwas entdeckt zu haben, das nach weiterem Austausch und Klärung verlangt. Pablo lässt es nicht in Ruh und auch Laetitia beschäftigt die Begegnung mit Pablo weiter. Ab jetzt gehört Pablo zu Laetitias Leben, zu ihrem gemeinsamen Leben, jeden Donnerstagabend. Da treffen sie sich auf einer Insel. Vorschriften und Verhaltenserwartungen kennt man dort nicht, aber ohne Auswirkungen auf das gewöhnliche Leben an Land kann es nicht bleiben.

 

Freue dich, Laetitia – Seite 33 von 33

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Tag der Veröffentlichung: 06.06.2013

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