Elvi Mad
Olivia Die Campesina
Henry, Liebe, Verlust und Rettung
Erzählung
Par notre manière de penser et nos attitudes, nous construisons notre bonheur ou notre malheur.
Paul Verlaine
„Du spinnst, Henry, ich bin kein anderer Mensch geworden, weil ich etwas mit einem anderen Mann zu tun gehabt habe. Hat Ruth etwa gesagt, du seist ein anderer Mensch geworden, als wir zusammen geschlafen haben?“ machte mir Olivia klar. „Darum geht es nicht, Olivia. Du hast begonnen, in einer anderen Welt zu leben, wodurch es für dich erst dazu kommen konnte. Das ist nicht die Welt, in der die Zauberfee ihr Zuhause hatte, sondern die Welt der Oberfläche, in der sie keine Zauberkugel hat, sondern eine ganz banale Schlampe, wie alle andern auch ist.“ erklärte ich. „Bitte, Henry, benimm dich. Sag mir doch, was ich tun kann, damit es zwischen uns wieder wie immer wird. Es gibt nichts nachdem ich mich mehr sehne.“ bettelte Olivia. „Ich kann nicht sagen: „Olivia, tu Dies oder Jenes, dann wird es wieder wie früher sein.“. Das ist doch Unsinn. Nichts wird wie es früher war, alles ist immer wie es jetzt ist. Damit werden wir leben müssen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Aber jetzt bist du eine andere Frau, als die, die ich geliebt und begehrt habe.“ reagierte ich. Wir trennten uns wieder. Zwei Tage später rief die weinende Olivia an: „Was soll das denn, Henry? Das ist doch Irrsinn. Du machst mich verrückt und uns beide verrückt. Das können wir beide nicht. Du liebst mich doch. Aber du bemühst dich krampfhaft, es zu verdrängen und zu vergessen. Ist dir unser gemeinsames Glück nicht auch mehr wert. Versuch doch mal daran zu denken. Erinnere Dich doch mal. Du bist anscheinend nur in deinen kruden Gedankenwelten gefangen, die für uns beide katastrophal sind.“ Ich konnte ihr nichts Positives sagen, ich konnte ihr nicht sagen, dass ich sie sehen wollte, ich hatte schlicht keine Lust auf Olivia. Richtig erklären konnte ich es mir selber nicht. Ich hatte mich selber gefragt, ob es nicht völlig übertrieben sei, wegen eines sogenannten Saitensprungs derart übertrieben zu reagieren. Aber darum ging es ja nicht. Ich sah die mir ferne Geschäftsfrau aus Lissabon, die mich durch nichts reizte. Das Bild meiner Olivia, der Campesina, nach dem es mich verlangte, wollte nicht auftauchen.
Olivia Die Campesina - Inhalt
Olivia die Campesina 4
Obsession 4
Die Torschützin 4
Spree besser als der Amazonas? 5
Presseball 6
Die Campesina 9
Anders als Fremde 11
Bibliothekserweiterung 12
Olivias Rezension 13
Neuer Stil für altes Format 14
Louiza 14
Olivias Geheimnis 15
Schöne Frau 18
Rose of Berlin-Dahlem 19
Tanzen gehen 21
Mach nicht so ein Geschrei 22
Henry verliebt 24
Weiterentwicklung der Parkbank 24
Mach du doch mal was 26
Olivia schizophren 27
Ruth und Olivia regeln alles 28
Zauberland 29
Angebot aus Lissabon 31
Längst geschieden 32
Keine Lust auf Olivia 33
Veränderbare Prozesse 35
Zauberland existiert nicht mehr 36
Leos Besuch 36
Besuch in Lissabon 38
Kein Mensch gehört sich allein 39
Danke, Henry 40
„Ich liebe auch meine Mutter und meinen Vater. Meinen Großvater habe ich überschwänglich geliebt, trotzdem habe ich mich in Ruth verliebt, denn erotische Empfindungen zeigten sich nur bei ihr.“ erklärte ich, und Olivia lachte. „Männer empfinden eben anders,“ wusste Olivia, „ihnen reicht es, wenn sie ficken können.“ „Nein, nein, nein,“ protestierte ich heftig und lachend.
Harte körperliche Arbeit, die ständig die Belastungsgrenze übersteigt, führt zu vorzeitigem physiologischem Verschleiß. Ein Familienvater, der ständig arbeiten muss, arbeitet nicht, um für sich und die Familie leben zu können, sondern lebt für die Arbeit. Bedingungen von denen man wusste, dass sie Krankheiten verursachten, mussten in Kauf genommen werden. Im Hinblick auf den Absolutismus hatte der Liberalismus die Herrschaft über den Menschen abschaffen wollen, aber statt der Fürsten und Adeligen einen neuen Herrscher implementiert, Money, Money, das Kapital, das jetzt den Menschen beherrschen und ausbeuten durfte. In vielen Entwicklungsländern ist es heute noch so wie früher bei uns, und vom Prinzip her hat sich auch bei uns nichts geändert. Harte körperliche Arbeit gibt es kaum noch, die Arbeitszeiten sind geregelt und Krankheiten erregende Substanzen werden verboten. Trotzdem wird das kapitalistische System in extenso betrieben und die Erkrankungen nehmen zu, psychische Erkrankungen. Der Arbeitsalltag und das Leben zu Hause werden nicht mehr dem gerecht, was die Psyche, die emotionalen Bedürfnisse, die Gefühlslage des Menschen fordern. Stressfaktoren nehmen überall zu und führen zu unterschiedlichen Arten von psychischen Breakdowns. Häufig haben die Menschen Probleme, deshalb einen Psychotherapeuten aufzusuchen, weil sie sich nicht als geisteskrank oder psychisch gestört sehen wollen. Recht haben sie. Psychische Krankheiten sind nicht immer so direkt definierbar wie eine Infektion durch den Nachweis des Erregers. Bei ihnen spielt auch Volkesmeinung, der Common Sense eine wichtige Rolle. Vor wenigen Jahren galt zum Beispiel eine Frau, die so häufig wie ein Mann Lust auf Sex hatte, als nymphomanisch und sollte sich deshalb psychotherapeutisch behandeln lassen. Andererseits fragt man sich natürlich auch, ob nicht gravierende Obsessionen und Besessenheiten gar nicht als psychisch deviant eingestuft werden, weil sie von der Allgemeinheit als normal und selbstverständlich goutiert sind. Niemand empfindet Leidensdruck, man fördert die Ausübung dieser Handlungen und hat seine Freude daran. Wer käme auf die Idee zum Therapeuten zu gehen, weil er ein Fußballfan ist? Dabei hat diese Obsession das ganze Volk befallen. Ein Sport ist es schon lange nicht mehr. Ein Sender, der die neuesten Bundesligaergebnisse nur in einer Sportsendung und nicht in den Nachrichten mit dem Wichtigsten aus aller Welt verkünden würde, beginge einen üblen Fauxpas. Fußball jederzeit und überall, Leidensdruck empfinden nur die nicht von der Obsession befallenen.
Heute ist Pressefest. Abends findet der Ball statt und am am Nachmittag zur Belustigung der Medienleute und ihrer Familien, na was schon, Fußballspiele natürlich. Man hatte sich einen Scherz daraus gemacht, mich als deklarierten Fußballhasser zum Mitspielen zu bewegen. Ich hatte als Junge viel Fußball gespielt und ließ mich schließlich auf den Scherz ein. Eine Frau, eine Dame, spielte bei uns, der Mannschaft vom Sender, auch mit. Sie war Auslandskorrespondentin für Südamerika gewesen. Alles passte zusammen, sie wollte gern zurück, der Sender baute das Korrespondentennetz ab, und in der Auslandsredaktion war eine Stelle frei geworden. Integrativ und vielleicht auch ein wenig lustig sollte ihre Beteiligung in der Mannschaft wirken. Bei dem Team von der Lokalpresse spielten sogar zwei junge Frau mit. Sie und ihre Mannschaft schienen uns völlig überlegen, und es dauerte auch nicht lange, bis sich der Ball zum ersten mal bei uns im Netz befand. Fünf weitere etwa würden noch folgen, schätzte ich. Plötzlich umdribbelte Olivia, unsere 'Südamerikanerin', den letzten Mann vorm Tor, schoss, und es war der Ausgleich. Die Torschützin kugelte sich am Boden und lachte sich krumm. Auch als sie andere beglückwünschend umarmten, hörte sie gar nicht auf zu lachen. Ein psychischer Erfolg, der uns aufbaute und das Unentschieden bis zur Halbzeit sicherte. Ich staunte nur, plötzlich zeigten alle unsere Kollegen Kämpfernaturen, die sonst noch niemand bei ihnen beobachtet hatte. Kurz nach der Halbzeit kam es sogar zu einem Gedränge vorm Tor der Lokalpresse, und plötzlich hatte jemand den Ball ins Tor befördert. Wieder Olivia. Es war nicht zu fassen, und von Olivia erwartete man noch weitere derartige Heldentaten, in dem die Zuschauer sie anspornend „O-li-vi-a“ skandierten. Die meisten hatten ihren Namen vorher noch nie gehört. Natürlich gewannen wir. Die Lokalpresse schien völlig demoralisiert.
„Wenn ich deine Berichte und Features über Lateinamerika nicht gehört hätte, würde ich sagen, du warst in Brasilien, um Fußball spielen zu lernen.“ meinte ich scherzhaft zu ihr, obwohl, große Fußballkünste hatte sie eigentlich nicht gezeigt. Olivia lachte wieder anhaltend. „Ich kann doch gar nicht Fußball spielen. Ich hab's nur gemacht, weil es von den Kollegen so lieb gemeint war. Zweimal habe ich eine günstige Gelegenheit ausgenutzt, sonst nichts. Zwei Jahre Brasilien und keine Ahnung von Fußball, geht das überhaupt?“ erklärte sie. Dann befragte sie mich über meine Fußballpassion und lachte sich wieder schief. Olivia lachte immer. Sie wollte aber noch mehr von mir wissen, da ich Kulturredakteur war, was sie besonders interessierte. Bei einem anschließenden Kaffee in der Sportklause wollten wir uns weiter unterhalten. Es habe sie schon als Schülerin begeistert, die tollen Reportagen aus aller Welt zu hören, was letztendlich auch zu ihrer Entscheidung für die Journalistin geführt habe. „Spanisch studiert und fließend portugiesisch sprechen, wofür ist man da besser geeignet als für Lateinamerika? Ich war selbst begeistert und außerdem wollte ich persönlich auch raus.“ erzählte Olivia von sich. „Und jetzt nicht mehr begeistert und doch lieber wieder zu Hause?“ erkundigte ich mich. „Du kannst fragen.“ antwortete sie und lachte wieder. „Ich möchte etwas anderes machen, nicht mehr eine von denen sein, die du als die kleinen, doofen Reporterinnen ansiehst. Was, weiß ich aber noch nicht genau. Das muss ich erst herausfinden, eine günstige Gelegenheit abwarten und einen Treffer landen. Gut sein, auch wenn man's gar nicht kann, verstehst du?“ Olivias Lachen steckte an. „Nein, das verstehe ich nicht. Ich meine, nicht schlecht zu sein, obwohl ich's kann. Rio und die Anden hattest du satt? Die Spree gefällt dir doch besser als der Amazonas?“ wollte ich wissen. „Mensch, Henry, wie soll ich dir das erklären?“ sagte Olivia, „Das ist eine lange und komplizierte Geschichte. Ich wollte einfach hier raus, aber was ich mir erhofft hatte, ist so nicht eingetreten.“ „Unglückliche Beziehung?“ fragte ich zu einem weiteren Lachanlass für Olivia. „Nein, ich bin nicht wegen der Liebe geflüchtet. Ich wollte auf andere Gedanken kommen, mich anders sehen und verstehen lernen, aber das verstehst du bestimmt auch nicht.“ bekam ich zur Antwort. „Du wirst es mir so erklären, dass ich es auch verstehe.“ ich darauf. „Nein, nicht jetzt, das ist ein Teil der langen Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie dir später mal, wenn es dich überhaupt interessieren sollte.“ reagierte Olivia. Sie fragte mich nach meinen Arbeitszusammenhängen. „Im Grunde könnte ich das doch auch machen. Ich würde dann meinen Schwerpunkt auf spanische Orchester und Opernaufführungen legen, aber außer Plácido Domingo kenne ich gar keine spanischen Sänger.“ sagte es und lachte wieder. „Theresa Berganza ist doch super famous.“ erwähnte ich. „Ja, habe ich schon mal gehört. Ich meine den Namen. Ich habe sie noch nicht singen gehört.“ Olivia darauf. „Da musst du dich auch beeilen. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch singt, aber sie lebt noch. Vielleicht solltest du dir doch etwas anderes als klassische Musik aussuchen. Ein bisschen Wissen und Können dürfte nicht schaden.“ meinte ich dazu. „Hah, hast du etwa Musik studiert? Wie bist du überhaupt dazu gekommen?“ fragte sie mich. „Das ist auch eine lange, komplizierte Geschichte. Ich konnte nicht begreifen, wieso man keine CD herstellen kann, die klingt, als ob man in der Philharmonie wäre. Wenn ich ein Konzert besucht hatte, konnte ich die CD nicht mehr hören. Dann hatte ich meine audiophile Phase. Nicht schlecht, obwohl sie auch nicht das brachten, was ich suchte. Und dann hatten sie meistens unterschiedliche Jazz oder World Music aber keine Klassik. Trotzdem habe ich mich in eine Stimme verliebt. Das Spanish Harlem von Rebecca Pidgeon wird für mich immer die schönste Schmusemusik bleiben.
„With eyes as black as
coal that look down in my soul
And starts a fire there and then I
lose control.“
sang ich leise zitierend. „Du hast auch ganz dunkle Augen, Olivia.“ „Henry, hör auf, du spinnst. Du wolltest etwas ganz anderes erzählen.“ unterbrach mich Olivia. „Nein, ich war ja auch zuerst bei der Literatur, aber klassische Musik und Opern waren immer meine eigentliche Passion. Ich habe mich häufig eingemischt und öfter gefragt, warum man dies oder jenes denn nicht bringe, habe ständig mit den Klassikleuten diskutiert, kam mir schon fast wie einer von ihnen vor, und bei einer Umbesetzung habe ich dann meine jetzige Stelle im Musikbereich bekommen. Prächtig, wie eine Konzertagentur und noch viel mehr für's Radio. Ich lerne ständig dazu, wie ein nicht endendes Studium kommt mir meine Arbeit vor.“ erläuterte ich. „Ich lerne auch jeden Tag dazu, nur das allermeiste ist morgen schon Schnee von gestern.“ bemerkte Olivia dazu, „Das genau ist es, was sich ändern soll. Ich möchte etwas Gehaltvolleres tun.“ „Jetzt werden sie dich wahrscheinlich von der Sportredaktion anbaggern.“ kommentierte ich scherzhaft.
Am Abend war es noch viel schlimmer. Zur neuen Zauberfee am Ball war Olivia erblüht. Von den Frauen müssten wir siegen lernen, meinte man. Sie gebe dem Sender frische Kraft. Frauen, mit denen sie sprach, schmunzelten nur. „Ich kann es nicht mehr hören.“ erklärte Olivia, „Ich bin bei allen und immer nur die großartige Fußballspielerin. Komm, wir verziehen uns mal in eine Ecke, oder möchtest du vielleicht lieber tanzen?“ „Beides, Tanzen auch. Ein gemeinsamer Tanz und dann die Ecke, o. k.“ reagierte ich. Ich tanze gern, aber ein guter Tänzer im herkömmlichen Stil bin ich keineswegs. Olivia schien es auch viel besser zu finden, weil sie dadurch wieder etwas zu lachen hatte. „Hast du jüdische Vorfahren, oder bist du selbst Jüdin?“ wollte ich von Olivia wissen. Sie hatte mir nochmal ihren Nachnamen 'Winterstein' genannt. „Woran merkt man das, an der Chuzpe? Könnte schon sein, nicht war? Aber Leo der ist ein noch viel größeres Schlitzohr.“ antwortete sie. „Du bist also Jüdin, aber wer ist Leo?“ fragte ich nach. „Ich bin keine Jüdin, weiß nichts von jüdischen Vorfahren und mit Leo, das ist mir nur so rausgerutscht. Den kennst du nicht.“ bekam ich zur Antwort. „Wohnt Leo auch hier in Berlin? Ist er dein Freund?“ fragte ich dennoch nach. „Ja, Leo wohnt auch in Berlin, aber er ist nicht mein Freund, ach, Quatsch, was rede ich, er ist mein Allerliebster, aber nicht so mein Freund, mein Partner, mit dem ich liiert bin, wie man das so versteht. Man kann das überhaupt nicht verstehen.“ sprach Olivia. „Ich muss schon sagen, ich verstehe auch nichts.“ meinte ich darauf. Olivia blickte mich taxierend an: „Henry, ich spüre, dass du ein netter Mensch bist. Es gefällt mir, wie wir uns unterhalten, ein gewisses Vertrauen empfinde ich schon, aber trotzdem sind wir uns völlig fremd, haben nur die Gemeinsamkeit, dass wir beim gleichen Sender arbeiten. Das mit Leo ist mir zu persönlich, zu intim. Das ist mein Leben, meine Geschichte, meine Persönlichkeit, und das ist mein Kreuz, meine Probleme und Schwierigkeiten. Es ist nicht so leicht, einen Mann zu finden, der immer hören möchte, wie Leo das jetzt wohl sehen würde.“ erklärte Olivia und lachte wieder. „Du wolltest also in Rio Leo vergessen?“ mutmaßte ich. Ein Lachanfall war die Folge. „Henry, was redest du? Das wollte ich nicht, und das geht auch nicht.“ „Aber was dann? Hat dich Rio denn gar nicht verändert?“ fragte ich nach. „Zwar nicht auf die Weise, wie ich es mir erhofft hatte, aber verändert hat es mich auf jeden Fall sehr.“ Olivia dazu. „Hier haben sie immer erklärt, du würdest die Volksbefreiungsbewegungen puschen, wärst eine zweite Tanja.“ wusste ich. „Ja, hätte ich gut sein können, aber ich habe meinen Che Guevara ja nicht gefunden. Ich erlebe Berlin und das Leben hier jetzt völlig anders. Berlin, die große internationale Weltstadt, aber seitdem ich wieder zurück bin, glaube ich verstehen zu können, was die Leute meinen, wenn sie „typisch deutsch“ sagen. Alles hat ein irgendwie hausbackenes, irdenes, biederes Flair. Das Leben in der Weltstadt gleicht eher einem Dorfleben, in dem alles geregelt ist und seine Ordnung hat, als kosmopolitischem Alltag, auch wenn es hier noch so viele internationale Events gibt. In Rio fühle ich mich freier und offener, hier eher eingeengt durch die gesamte Atmosphäre und Mentalität. Außerdem hatte ich zwar in Rio meine Residenz, aber ich war ja immer unterwegs. Habe ungeheuer viel erlebt. Schlecht war das alles nicht, aber jetzt reicht es. Etwas anderes ist mir wichtiger geworden.“ erläuterte Olivia ihre Situation. Nach einer längeren Pause fuhr sie fort: „Ich besuche Campesinos, die sich gegen verschlechternde Bedingungen wehren. Meine Persönlichkeit und Identität besteht darin, Leuten in Deutschland Geschichten darüber zu erzählen. Wie eine dumme, minderwertige Gans komme ich mir vor. Der Campesino tut etwas für sich, sein und das Leben der anderen, und ich? Mache nette Spielchen, vertändele mein Leben. Jegliche dumme Überheblichkeit gegenüber den schlichten, armen Leuten habe ich abgelegt. Ich werde kein Ziel haben, nicht wissen was ich wirklich will. Doch, habe ich eigentlich schon, nur ich weiß nicht, wie ich dahin gelangen soll.“ „Leo“ warf ich ein. Das Phantom Leo ließ mich nicht mehr los. Olivia griff nach meiner Hand. „Weißt du, Henry, mit Leo das ist im Grund nicht mehr als eine ganz enge Beziehung. Ich glaube allerdings, dass sie stärker ist als unter Zwillingen. Seit wir uns erkennen konnten, waren wir uns gegenseitig das Wichtigste auf der Welt, und das ist bis heute so geblieben. „Leo kommt gleich“ oder „Olivia kommt gleich“ gehörte mit zu den ersten Wörtern, die wir verstanden haben. Wenn das nicht geschah, wurden wir ungemütlich, sowohl Leo als auch ich. Wie sich bei Kindern, die während der Gehirnentwicklung ein Instrument spielen lernen, bestimmte Areale im Gehirn dafür bilden, werden sich auch bei uns Leo und Olivia Areale gebildet haben. Auslöschen, vergessen, rückgängig machen geht da nicht, aber wer wollte das auch?“ lüftete Olivia das Rätsel Leo. „Du bist aber doch nicht mit ihm zusammen, ihr seid kein Paar, oder?“ fragte ich nach. Olivia blickte mir in die Augen, mit ihrem schönsten Gesicht. In ihrem langen Antlitz waren die Augenbrauen hochgezogen, unter dem Ansatz ihrer dunkelbraunen Haare bildete sie kleine Bedenklichkeitsfältchen. Ihre großen, dunklen, fast schwarzen Augen fixierten mich, während ihre Lippen eine ernste Mimik zeigen wollten, aber auch ein leichtes Grinsen nicht verbargen. Sie öffnete den Mund leicht und strich mit der Zunge über ihre Zähne. „Nein, das sind wir nicht, aber warum, das verstehst du sowieso nicht.“ antwortete sie. „Offensichtlich gefällt es dir, sehr sybillinisch zu reden, aber das geht mich ja auch in der Tat nichts an.“ ich darauf. „Männer meinen doch, dass alle Frauen Sybillen seien. Es ist ganz einfach, Henry, schau mal, ein Paar ist immer zusammen, verbringt den Alltag gemeinsam, hat Sex miteinander, entwirft gemeinsame Zukunftspläne, gründet eine Familie, bekommt Kinder. Das alles wollten wir nicht. Wir haben schon sehr jung, als Kinder schon, uns Gedanken darüber gemacht, was das eigentlich sei, ob wir Bruder und Schwester wären oder so etwas Ähnliches. Als wir in die Pubertät kamen, haben wir endlos über unsere Beziehung diskutiert, immer und immer wieder. Sehr viel haben wir dabei gelernt, keineswegs nur über uns, sondern über Beziehungen unter Menschen überhaupt und über die Liebe natürlich. Von Anfang an hatten wir Sehnsucht nach einander, wundervoll, sich auf Leo oder Olivia freuen zu können. Ich wollte nicht, dass er ein Möbelstück meiner Alltagsroutine wird, dass er selbstverständlich immer dazu gehört, nichts Besonderes mehr ist. Sex? Als ich in der Pubertät anfing zu masturbieren, was hatte das mit der Liebe zwischen Leo und mir zu tun? Ich verspürte keine Gelüste nach Sex mit Leo, im Gegenteil. Sex ist etwas Triviales, das zu unserer Beziehung, unserer Liebe gar nicht in Beziehung stand, auch nicht zu ihr passte. Es war etwas Anderes, Fremdes. Ich sah die Situation in einer Kleinfamilie, wahrscheinlich würde ich später selbst irgendwann hineinrutschen, aber mit Leo, den wollte ich in dieser Mühle nicht verschleißen. Allerdings, wenn ich mal Kinder haben wollte, von wem dürften die denn sonst sein, als von Leo. Wir wollten unserer Beziehung die Sehnsucht nicht abhanden kommen lassen, davon lebt unsere Liebe seit den ersten Tagen. Für's Gebrauchsleben, für's alltägliche Verliebtsein, Zusammenleben und Heiraten im herkömmlichen Sinne wollten wir uns andere Partner suchen, nur das funktioniert leider überhaupt nicht. Leo hat's schon mit drei Freundinnen versucht, aber es ist immer wieder schnell vorbei. Erniedrigend sei es für sie gewesen, mich und Leo zu erleben. Dafür stehe sie nicht mehr zur Verfügung, hat eine ehemalige Freundin ihm erklärt. Und bei mir? Ich kann es mir gar nicht vorstellen, einen fremden Mann zu lieben. Warum? Weil es so sein müsste? Aber Bedarf existiert da nicht, keinerlei Verlangen.“ erklärte Olivia. Ruth, meine Frau kam an unseren Tisch. Wir hatten uns zu Beginn kurz vorgestellt. Ruth gefiel es offensichtlich. Sie war selbst Journalistin und konnte bei dieser Gelegenheit alle möglichen Bekannten wieder treffen. „Ihr redet so intensiv, erklärst du Olivia gerade das Leben in Berlin. Entschuldigung, ich weiß ihren Nachnamen gar nicht. Alle kennen nur die fabulous Olivia.“ meinte Ruth an Olivia gerichtet. „Das ist schon o. k.. Winterstein muss nicht sein. Ihr Mann hat zum Beispiel noch nie versucht, mich Frau Winterstein zu nennen.“ Olivia dazu. „Weil sie ihn auch immer nur Henry nennen. Dann lassen sie doch bei mir auch das 'Frau Borgmann' fallen und nennen mich Ruth.“ meine Frau darauf. Dass man auf so etwas anstoßen müsse, bemerkte ich. Ruth holte sich ein Glas, eine Flasche Wein und setzte sich zu uns an den Tisch. Nach einigem Scherzen und Lachen, wünschte sich Ruth, dass Olivia uns doch mal besuchen möge. „Nein, nicht zum Tantenkaffeebesuch, komm einfach zum Mittagessen oder abends mit dem Taxi, da können wir auch noch einen Wein trinken.“ erläuterte Ruth näher.
Am nächsten Morgen rief Olivia mich schon sehr rechtzeitig an. Wir wechselten einiges Belangloses und Olivia sagte: „Henry, wenn ich dir auch nicht die Details meines Seelenlebens offenbart habe, aber ich denke doch, dass es schon sehr persönlich war. Sprich, bitte, nicht mit anderen darüber. Am liebsten auch mit Ruth nicht, wenn du es nicht längst getan hast.“ „Olivia, ich kann schon differenzieren, was ich wem warum erzähle. Zum Waschweib bin ich noch nicht geworden. Zu Ruth habe ich nur gesagt, dass ich dich für eine außergewöhnliche Frau hielte. Das sah sie auch so, obwohl sie dich doch gar nicht kennt, und wegen der Fußballtore war es bestimmt nicht. Ich glaube sie mochte dich auf Anhieb.“ reagierte ich. „Das ist doch kein Problem.“ antwortete ich auf die Fragen Olivias zu ihrem Besuch. „Komm einfach am nächsten Sonntag zum Mittagessen. Da gibt es ein Rumpsteak mehr und wir können anschließend entscheiden, was wir machen wollen, spazieren gehen oder doch Kaffee und Kuchen, wie's uns passt. Natürlich kannst du auch abends kommen, wenn dir das lieber ist.“ „Olivia, mit den Augen der schwarzen Seen bis hin zu den schwärzeren Zehn.“ begrüßte ich sie scherzend, als sie am Sonntagmittag kam. Olivia lachte und wollte wissen, woher ich das hätte. „Noch mehr hatte sie, einen Rock von Kattun und Schwarzhaar, das sie offen trug, als sie eines nachts in die Seemannsbar kam, aber nicht die Olivia sondern die Hanna Cash.“ erklärte ich lachend. „Ah, ja! Wunderschön ist das. Du hast bestimmt eine CD davon. Ich würde sie gern mal wieder hören. Es ist so schön wehmütig, aber macht vor allem auch nachdenklich.“ meinte Olivia. „Sie hatte nichts, außer sich, ihr Leben und ihre Liebe. Heute haben wir alles, aber unser Leben aus dem Auge verloren und unsere Liebe entspricht einer Schablone. Wir haben die Freiheit, uns selber zu verlieren.“ erklärte Olivia beim Essen zu Hanna Cash. „Ich glaube, zu verstehen, was du meinst,“ sagte Ruth dazu, aber einen Wunschtraum verkörpert die Ballade für mich trotzdem nicht.“ „Sie mag keine Männer mit Maulwurfshaar.“ versuchte ich Ruths Aversion zu deuten und bekam dafür noch nicht mal einen Lacher. „Ich habe Menschen kennengelernt, die, na ja, fast so leben. Sie haben nichts als ihr blankes Leben, und das direkt, konkret und ausschließlich. Hier will mir die Welt häufig wie ein Jahrmarkt erscheinen, alles voller blendender Showgeschäfte und Schießbudenfiguren, alles nur Oberflächlichkeit, kaum Echtes, was den Menschen wirklich betrifft.“ verdeutlichte sich Olivia. „Ja, ja, aber was betrifft den Menschen wirklich? Weißt du es? Lebst du danach? Orientierst dich nicht an der Show, die dir vormacht, wie du zu leben hast?“ bemerkte Ruth. „Ganz frei machen kannst du dich davon sicher nicht, aber du kannst ein bisschen mehr Renitenza üben, öfter Widerspenstigkeit zeigen, nonkonformes Verhalten praktizieren, nicht nur alles affirmativ nachbetend mit dir laufen lassen. Du solltest deine wirklichen Bedürfnisse und Gefühle überhaupt erst mal erkennen lernen.“ Olivia darauf. „Du weißt, was deine wirklichen Gefühle und Bedürfnisse im Gegensatz zu den gelernten und übernommenen sind?“ erkundigte sich Ruth. „Erlernt und übernommen? Nachgemachte Gefühle sind es, Kasperletheater sonst nichts. Nur wirkliche Gefühle gibt es, oder Schauspiel. Henry kommt zurück. Du begrüßt ihn mit: „Hey, Henry!“, ein oder zwei Begrüßungsküsschen, oder so ähnlich, Alltagsroutine eben. Wie man's so macht. Das Wichtigste für einen Menschen sind seine guten Beziehungen zu anderen, und die Königin über allem ist die Liebe. Was kann es für dich Wichtigeres auf dieser Welt geben, als deine Liebe zu begrüßen, welches Gefühl könnte für dich stärker sein, aber du nimmst es nicht war, subsumierst dein Treffen mit Henry unter die alltäglichen Tagesgeschehnisse.“ Olivia dazu. Ruth lachte auf. „Und was schlägst du vor, sollte ich tun? Jeden Tag ein Freudenfest veranstalten?“ Ruth weiter. „Ja, so etwas in der Richtung. Du musst ja keinen Zirkus machen, entscheidend ist, dass du es weißt, empfindest und vermittelst. Wenn ich mich zum Beispiel mit Leo treffe, sind wenigstens die ersten zehn Minuten von Zärtlichkeiten, Zuneigungs- und Liebesbekundungen geprägt.“ antwortete Olivia. „Oh, nein, nicht Leo.“ schoss es mir durch den Kopf, aber Olivia hatte es mit zwei Sätzen geschickt erledigt. An der Diskussion hatte ich mich gar nicht beteiligt, hatte geträumt. Olivia führte ihr direktes originäres Leben als Frau eines Campesinos in Bolivien, hatte einen Hut auf, fünf Röcke an und vier Kinder. Sie arbeitete vom Aufwachen bis zum Schlafengehen. Mit ihrem langen Gesicht schaute sie oft bedenklich in die Gegend. Ihr Sohn hatte gestohlen, die Policia kam und schimpfte mit Olivia. Verhaften konnten sie den Kleinen nicht, er war noch zu jung. Anschließend saß Olivia am Küchentisch, den Kopf auf die Hände gestützt, und in ihren Augenliedern begann sich Flüssigkeit zu sammeln. Olivia weinte. Nur kurz, mehr Zeit hatte sie nicht, wischte sich das Feuchte aus den Augen und beruhigte sich: „Die anderen haben's noch viel schwerer.“ Eine wunderschöne Campesina, ob sie hier auch weinen konnte? „Menschen haben nur drei Bedürfnisse.“ mischte ich mich großmäulig verkündend in die Diskussion ein, „Genug zu essen, genug zu trinken und sich häufig genug vermehren können.“ Jetzt brauchte ich mich um Lacher nicht zu kümmern und Ruth strich mir mit der Bemerkung: „Ach, Henry, du bist immer so schlau.“ über's Haar. „Ist ja o. k., was ihr redet, aber das sind doch die Grundbedürfnisse, alles andere ist dem doch nachgeordnet oder resultiert daraus.“ meinte ich entschuldigend. „Essen und Trinken kannst du noch allein, aber bei der Fortpflanzung fängt's schon an, da ist immer auch ein anderer beteiligt, das hat schon kommunikative, soziale Aspekte.“ meinte Ruth. „Und wenn man die nicht will, muss du Fortpflanzungsübungen bleiben lassen.“ lautete Olivias Kommentar dazu. Als sie von ihrem Treffen mit Leo berichtete, hatte ich versucht, mir die beiden näher vorzustellen. Natürlich spielt auch das Sexuelle beim Wunsch nach einem Partner eine Rolle, aber im Vordergrund steht doch das Bedürfnis danach, Liebe, Zuneigung, Vertrauen und Anerkennung zu erfahren, einem anderen Menschen dies zu geben, die enge Verbundenheit mit einem anderen. Und woran hatte Olivia da Mangel, dass ein Bedürfnis nach einem Mann in ihr wecken könnte? Ruth und ich wir liebten uns, zweifellos, aber so wichtig unsere Liebe auch war, sie hatte einen Rahmen in unserer jeweiligen, sehr andersartigen Geschichte. Olivia und Leo verband ihr gemeinsames Leben, der eine war Teil des anderen. Spätere Liebe kann so etwas nie erreichen. Und der Sexualtrieb? Alles Handeln, Streben und Verlangen wird doch von der Libido regiert. Olivia hatte ihr Verlangen nach einem Mann bestimmt sublimiert. Die Campesina wollte hier ein anderes Leben führen, originär und direkt in unserer Welt, die von extremem Kapitalismus geprägt ist und nach extremem Erfolg verlangt, unserer technologisierten entfremdeten Alltagswelt mit ihren endlosen Rollenvorgaben und Verhaltenserwartungen.
Im Sender trafen wir uns nur sehr selten. Wir lächelten uns an, kurze Umarmung, ein paar verrückte oder witzige Worte, sodass wir lachend auseinander gingen. Wir verabredeten uns, zum gemeinsamen Mittagessen, wenn es sich ermöglichen ließ. Erzählt wurde Aktuelles rund um unsere Arbeit, aber auch vieles Persönliche. So erfuhr ich, dass Olivia als kleines Mädchen bei einem Urlaub in Portugal ein portugiesisches Mädchen kennengelernt hatte. Die beiden hatten ihre Freude miteinander, obwohl keines die Sprache des anderen verstand. Man wollte ein Wiedersehen ermöglichen, und so besuchten sich die Eltern gegenseitig abwechselnd. Olivia lernte fließend portugiesisch und Maria, so hieß die portugiesische Freundin, war stolz auf Deutsch, dass sie wie eine zweite Muttersprache beherrschte. „Und Leo, konntest du denn immer Ferien ohne Leo machen?“ erkundigte ich mich. Olivia lachte wieder. „Henry!“ vorwurfsvoll und verständnislos klang es, „Leo war doch immer dabei. Er ist auch ein halber Portugiese. Alle im Dorf sind seine Freunde, nur einen gleichaltrigen, festen Freund hat er dort nicht. Wenn sie zu uns kamen, brachte Maria auch schon mal ihren Bruder mit. Er ist älter, versteht sich aber sehr gut mit Leo. Seitdem wir beide berufstätig sind, Maria verheiratet ist und zwei Kinder hat, treffen wir uns nur noch äußerst selten.“ „Und Spanisch, wie kommst du dazu?“ wollte ich wissen. „Portugiesisch gab's bei uns an der Schule nicht, hätte ich auch nicht gemacht, aber Spanisch habe ich richtig als zweite Fremdsprache in der Schule gelernt, so wie du wahrscheinlich Französisch. Das kann ich wiederum nur aus Privatkursen.“ erläuterte Olivia. „Sprachlich bin ich sehr unterbelichtet, kann mit niemandem reden, brauche immer einen Translator. Manchmal ist das sehr schade. Wie gut, dass man das meiste Österreichische noch verstehen kann.“ scherzte ich. „Ja, ein Spleen ist es. Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den Piefkes, wenn Ohren in einem Wiener Café das Wort 'Schlagsahne' nicht wahrnehmen können.“ sah Olivia es. „Henry, wenn wir uns begegnen, lächeln wir uns an. Es gefällt mir, dich lächeln zu sehen, nur ich glaube, ich verstehe dein Lächeln nicht. Kann sein, dass du immer so lächelst, aber mir kommt es vor, als ob dein Lächeln einen verschmitzten Beiklang trüge, als ob wir ein gemeinsames Geheimnis hätten. Haben wir eins?“ sollte ich Olivia beantworten. Ich konnte ihr doch nicht sagen, dass mir immer die Campesina mit dem Hut auf ihrem Kopf erschien, wenn ich sie sah. „Ich mag dich einfach, Olivia. Vielleicht ist das mein Geheimnis. Die anderen sehe ich eher eintönig grau, platt gestrickt und dich in den bunten Farben der Anden. Lebendiger und interessanter sehe ich dich. Du reizt mich zu Späßen und ich erlebe dich gern lachen. Du grinst immer, wenn ich etwas erzähle, und du mir zuhörst.“ antwortete ich. „Henry, so grinse ich doch nicht. Vielleicht kannst du es dir gar nicht vorstellen, dass dir einfach jemand gerne zuhört und es ihn erfreut. Rechnest du immer nur damit ausgelacht oder mokant abschätzig bewertet zu werden? Ich höre dir gern zu und lasse meine Mimik das erkennen.“ Olivia machte eine länger Pause und sinnierte. Ich schwieg auch. Dann fuhr sie fort: „Ob ich dich mag? Sicher. Du taxierst einen Menschen, den du triffst, immer zuerst in seiner Rolle als potentiellen Geschlechtspartner, heißt es. Mag sein, dass ich es auch tue, nur spüre ich nichts davon. Der Blick, den Hanna Cash bis in die Zehen spürt, ist mir unbekannt, aber natürlich schätze ich Menschen bei der ersten Begegnung schon ein. Den meisten wird nichts von dem bewusst, was sie zu erkennen meinen, sie handeln einfach entsprechend. Ich versuche mir schon vorzustellen, wie jemand zu mir passen würde, ob er mich verstehen könnte, wie offen er wäre.“ „Und wie hast du mich beim ersten mal gesehen?“ wollte ich natürlich wissen. Olivia lachte, umfing meinen Hals und verwuselte mir das Haar. „Ganz genau weiß ich es gar nicht, Henry. Nur nach deinen ersten Worten und Blicken, spürte ich: „Der ist o. k.“. Mit wem hätte ich sonst wohl Lust auf einen anschließenden Kaffee haben sollen?“ ließ Olivia mich mit lachendem Gesicht wissen. „Das sehe ich auch so. Wir kommunizieren ganz anders, als ob wir uns wie Fremde begegnet wären, im Grunde von Anfang an. Bei Menschen, die ich interviewe, stelle ich auch immer sehr große Unterschiede fest. Menschen, die natürlich reden, wie sie wirklich sind und andere, die ihr Bild von sich, wie sie gern gesehen werden möchten, darstellen, und das sind die meisten.“ kommentierte ich.
Olivia kam jetzt auch öfter zu uns, einfach so, ohne besonderen Anlass oder Einladung. Sie rief nur vorher an, fragte, ob wir etwas vor hätten, und sie stören würde. Aber Olivia störte nie. Wir gingen zusammen ins Theater oder ins Kino und auch sonst konnte Olivia immer dabei sein. Ich hatte ja auch beruflich häufig Termine am Abend, ein Konzert, eine Oper, ein Chor. Olivia begleitete mich meistens. Auch bei den Interviews war sie nicht selten als meine Assistentin anwesend. Bestimmt trachtete sie danach, es selber besser zu können und mich mal irgendwann abzulösen. Nein, nein, das glaubte ich doch nicht. Sie hatte mit der Literaturabteilung Kontakt aufgenommen und sich angeboten, portugiesische und spanische Literatur frühzeitig im Original zu lesen und zu rezensieren. Dazu schrieb man die renommierten Verlage in Spanien, Portugal und allen Spanisch sprachigen Ländern an. Ob unsere Bibliothek anbauen musste? Denn alle Verlage schickten gern. In vielem waren wir sicher aktueller als die Uni. Mit Leo, der an seiner Habilitation für's Lusitanische schrieb, stand sie deshalb in ständigem Kontakt. Olivia war ja Expertin in spanischer und portugiesischer Literatur, und konnte entscheiden, welches Buch auszuwählen war.
Nach einiger Zeit hörte man die Frau, die man aus Gesprächen mit Politikern am Plaza Murillo in La Paz kannte, das Buch einer jungen portugiesischen Autorin vorstellen. Außer Olivia kannte es niemand in Deutschland. Das änderte sich jedoch, weil es bald einen deutschen Verleger fand und übersetzt wurde. Im Klappentext ein Zitat aus Olivias Rezension. Verlag und Autorin bedankten sich überschwänglich beim Sender und bei Olivia. Wenn das Buch schon ins Deutsche übersetzt war, würden Englisch, Französisch und Spanisch natürlich sicher bald folgen. Das Buch einer brasilianischen Autorin hatte sie besprochen. Sie kam nach Lissabon und Olivia bot an, sich mit ihr zu treffen und sie zu interviewen. Übersetzer brauche sie nicht nur einen Toningenieur für die Aufzeichnung. Man wollte eine genaue Regie, ein Drehbuch für's Interview vorbereiten. Olivia wies das zurück. Sie habe mit der Frau telefoniert, wisse, was sie zu fragen habe, das Gespräch müsse sich situativ entwickeln. Man ließ es sie probieren, musste es ja nicht senden, wenn es unbrauchbar war. Dass Olivia zwischendurch selbst übersetzen wollte, waren ja sowieso Praktiken aus vergangenen Tagen. Sie traf sich mit der Schriftstellerin im Hotel, man verstand sich gut und meinte, das Hotel biete eine schlechte Atmosphäre für ein Gespräch. Sie mieteten sich gemeinsam eine Wohnung, und als am Donnerstag der Toningenieur kam, waren sie schon dicke Freundinnen. So sprachen sie auch im Interview miteinander. Sie lachten viel, aber die Schriftstellerin offenbarte sich Olivia, sah das Mikrofon nicht mehr und vergas das Radio. Was sie Olivia erklärte, hatte gewiss noch kein anderer Sender zu hören bekommen. Sie verloren sich auch, kamen auf anderes zu sprechen und Olivia wusste die Zuhörer so geschickt mit einzubinden, dass sie sich nicht sicher waren, ob sie nicht auch selbst manchmal das Portugiesische verstanden. „Ihr habt sicher hervorragende Übersetzer, aber der Roman ist wie ein Lied. Wenn du es übersetzt, wird es zu etwas anderem. Den richtigen Klang hörst du nur im Original. Also, alle Deutschen, lernt Portugiesisch.“ erklärte die Brasilianerin und beide lachten schallend. Damit war das Interview zu Ende. Im Sender war man begeistert. Authentischer und tiefgehender konnte ein Interview nicht sein. Man wusste gar nicht, was man schneiden sollte, weil sie alles köstlich und wichtig fanden. „Vergiss alle Regeln und Tricks. Mache es so, wie Menschen wirklich miteinander kommunizieren, ihr Wissen darlegen und ihre Gefühle offenbaren.“ hatte sich die Campesina bestimmt gedacht.
Die Anerkennung dafür bedeutete Olivia viel. Natürlich wusste sie auch, dass heute die Interviews mit Simultanübersetzung oder nachträglich eingebauten deutschen Texten gemacht wurden. Sie hatte es ja selbst so praktiziert. Vom Interviewten ließ man nur einige O-Töne hören, um zu verdeutlichen, dass es kein Fake sei. Olivia habe einen neuen Stil für ein altes Format kreiert. Das Interview wurde von mehreren Sendern übernommen und das Buch natürlich schnellstens übersetzt. Alle möglichen Schriftstellerinnen und Schriftsteller sollte Olivia jetzt interviewen. Sie lehnte ab. „Das ist nicht zu reproduzieren, man kann es nicht einfach kopieren, genauso wiederholen. Ein persönliches Gespräch ist wie dein Kind, jedes ist anders, hat ein eigenes Gepräge.“ erklärte sie. Trotzdem drängte man Olivia. Die wollte eine vertrauliche Atmosphäre, musste die Möglichkeit zum ausführlichen persönlichen Kennenlernen haben. Eine bedeutsame Kommunikation zwischen zwei Menschen müsse möglich sein. Eine Hotellounge sei dazu genauso ungeeignet wie für eine Opernaufführung, da könne man nur plappern oder distanzierte Statements abgeben. Eine englische Schriftstellerin hatte das abgelehnt. Olivia verdeutlichte ihr nochmal, worum es ihr ging. An drei Tagen im Wochenendhaus der Schwester wollten sich die Schriftstellerin und Olivia kennenlernen. Sie mussten mehrmals neu mit dem Interview beginnen, weil die Schriftstellerin nicht zu bremsen war, sich in Lobeshymnen über Olivia zu ergießen. Zu Entwicklungen und Ereignissen in Lateinamerika sagte sie auch manchmal noch etwas, aber primär war sie zur Rezensentin und Chefinterviewerin bei den Literaten avanciert. Ihre Gespräche wurden zum Markenzeichen unseres Senders. Besonderes Kennzeichen war, dass sie sich mit fast allen duzte. Sie war immer sofort die gute Freundin aber auch die dominante Mutter. Den meisten schien sie so sehr zu gefallen, sie fühlten sich bei ihr geborgen und öffneten sich ihr. Einem jungen Autor erklärte sie: „Wenn mir dein Buch gefällt, dann ist es das literarische Produkt, die wohl gewählten Worte, die gelungenen Metaphern und so weiter, aber das Buch hat auch eine Seele und das bist du, deine Seele, das Buch ist ein Teil von dir, du bist das Buch. Du kannst es verbergen, kannst dich hinter einem Anonym verstecken, aber wenn du es sein willst, der diesen Roman geschrieben hat, dann lass mich doch mehr wissen. Ausfragen? Darum geht es mir nicht. Ich kenne dich ja gar nicht. Ich möchte die Seele deines Buches, und das heißt dich, besser verstehen können.“
Das Buch der brasilianischen Autorin war mittlerweile in viele Sprachen übersetzt und nicht nur bei uns zum Bestseller geworden. Die Schriftstellerin war zur Buchmesse eingeladen, und der Verlag wollte für alles sorgen. Olivia bestand aber darauf, sich um Luiza, so hieß die Autorin, selbst zu kümmern. Sie sei ihre Freundin und das sei schließlich vorrangig. Vom Flughafen kamen sie zu uns. Wir seien ihre Familie, erklärte Olivia. Wenn Luiza bei uns wohne, würden wir ihr bei allem behilflich sein. Jetzt lernten wir auch Leo kennen. Dass er nicht ihr Freund sei, wollte Louiza nicht glauben. Die Augen der beiden glänzten nicht nur, als sie sich trafen, die Sonnen waren aufgegangen und schienen ihre gesamten Körper zu durchstrahlen. Olivia und Leo nahmen uns überhaupt nicht mehr wahr. Gegenseitig in sich vertieft tauschten sei leise zärtliche Worte aus, streichelten Gesicht und Lippen des anderen und blickten sich anlächelnd immer gegenseitig tief in die Augen. Jeder sah, wie sich ihre Herzen verstanden. Ruth und ich begrüßten uns auch nicht mehr beiläufig, schnoddrig, aber was die beiden sich vermittelten, darüber verfügten wir gar nicht. Ein total lustiger Nachmittag. Wir schienen uns alle zu verstehen auch ohne Leos und Olivias Übersetzungswetteifer. Wenn Louiza etwas erzählte, und dabei ins Lachen kam, mussten wir auch lachen. Offensichtlich hatten wir sie verstanden, wahrscheinlich weniger ihren Scherz, als Louiza selbst. Die Fahrten nach Frankfurt waren schon umständlich, aber bei uns hatte Louiza eine Familie und konnte bleiben solange sie wollte. Sonst wäre sie auf Geschäftsreise für einige Tage in einem Frankfurter Hotel gewesen. Sie hatte auch ein Interview bei 3sat, natürlich mit Olivia. Einen Satz zu ihrer Freundschaft mit Louiza musste Olivia auch sagen und deutlich machen, dass sie keine Brasilianerin sondern Deutsche sei. Olivias tiefbraune Haare und ihr trotz fehlender Sonne immer noch dunklerer Teint ließen das vermuten. Olivia erhielt kein Angebot für eine Stelle in der Literaturabteilung bei 3sat, aber oft Bitten um Lesungen, von lateinamerikanischer, portugiesischer und spanischer Literatur. Nicht nur ihr Aussehen passte hervorragend, im Fernsehen war man wohl erst auf ihre Stimme aufmerksam geworden. Kann sein, dass die Frauen im Altiplano tatsächlich mit fiepsiger Stimme sprechen, für mich hörte sich eine Campesina aber wie Olivia an, eine sanfte Altstimme, die ein sandiges Timbre hatte und durchaus die Möglichkeit zu harschen Worten offen ließ, und so gefiel es wohl den meisten Zuhörern auch.
Immer voll beschäftigt war Olivia, hatte ständig Termine, viele Freundinnen unterschiedlichen Grades, kannte Gott und die Welt. Trotzdem versuchte sie noch, so häufig wie möglich zu uns zu kommen und sich mit mir zum gemeinsamen Mittagessen zu treffen. „Ihr seid eben mein Heimathafen.“ erklärte Olivia eines Mittags. „Warum? Wie soll ich das wissen. Es war einfach so von Anfang an. Im Grunde lag es an dir, du warst der erste, mit dem ich mich vertieft unterhalten habe. Vielleicht hast du das Urvertrauen für Deutschland in mir begründet, vielleicht wollte ich aber auch nur den wahren Grund für dein geheimnisvolles Lächeln herausbekommen. Du tust es ja immer noch, auch manchmal einfach so zwischendurch. Ich glaube es dir nicht, dass es nur daran liegt, dass du mich magst. Du denkst an etwas anderes. Warum sagst du es mir nicht?“ Warum erzählte ich ihr die Geschichte mit der Campesina eigentlich nicht. Wollte ich mein kleines Geheimnis behalten, denn sagen konnten wir uns mittlerweile alles. „Von Anfang an gab es das Lächeln aber nicht so. Erst nach deinem Besuch bei uns habe ich jedes mal eine Erscheinung, wenn ich dich sehe. Ich erzählte ihr die Campesinageschichte. Stumm lachend blickten wir uns an. Olivia fiel mir um den Hals. Ich bekam einen Kuss auf beide Wangen und die Stirn. Sie löste die Umarmung aber nicht, sondern wir starrten uns in die Augen, und küssten uns auch auf den Mund. Es war still. Wir starrten beide auf unsere Teller und dann wieder wie verabredet uns gegenseitig an. „Ich habe mich gefragt, ob du manchmal wirklich weinst. Traurig sein ist doch ein originär menschliches Gefühl und Weinen der Ausdruck davon.“ unterbrach ich das stumme Anschauen. Olivia schmunzelte. „Obwohl ich es selber wollte, hatte ich ein wenig Angst, wieder zurückzukommen. Du kannst dir soviel Unangenehmes ausmalen, aber der erste Tag war gut und jeder weitere wurde besser. Gedanken an mögliche üble Entwicklungen waren fast sofort verschwunden, und das lag nicht zuletzt an dir, beziehungsweise euch. Als ob mir schon nichts passieren könne. Warum und worüber sollte ich da traurig sein und weinen. Aber in Brasilien habe ich öfter geweint. Ich war permanent beschäftigt, es war spannend und trotzdem spürst du, dass etwas in dir unbefriedigt ist. Ja, die Campesina hat in die Gegend gestarrt und dann machte ihr die Traurigkeit die Augen nass. Warum? Genau wusste ich es nicht. Ich hatte gedacht, durch die anderen Verhältnisse, eine normale Frau zu werden, die Lust auf Männer hat, aber da war eher das Gegenteil der Fall. Ob ich deshalb traurig war? Andererseits war alles sehr interessant in meinem Beruf und es forderte mich voll, aber das war ich gar nicht, die Frau, die ihr Ego aus Reportagen aufbaut. Vieles in mir wurde nicht berührt und lag brach. Was ich beruflich machte, lag außerhalb von mir. So kam es mir vor. Ob mir deshalb die Tränen kamen? Im Nachhinein bin ich sicher.“ erklärte Olivia. „Womit ich mich jetzt beschäftige, das bin ich, das lässt mich frei fühlen. So wie du in deiner Welt der Klänge lebst, bin ich in meiner Welt der Literatur zu Hause. Nicht anders als ein Lied oder eine Oper können sie sein, die Romane und Erzählungen. Ich lebe ganz hier, direkt und originär, die Campesina in Berlin. Eine Auslandskorrespondentin Olivia ist gestorben.“ „Dass du keine normale Frau, die Lust auf Männer hat, geworden bist, stört dich jetzt hier nicht mehr?“ fragte ich grinsend nach. Olivia schmunzelte. „Soll ich zum Therapeuten gehen? Ich empfinde doch keinerlei Leidensdruck. Eine Frau, die sich einen Partner wünscht, sucht fast immer in erster Linie Liebe. Wie könnte es daran bei mir mangeln. Ich liebe meine Mutter und Leos Mutter, ich liebe Maria, Dich und Ruth und vor allem natürlich Leo. Also Liebe im Übermaß. Was kann mir da fehlen?“ bekam ich als Antwort. „Ich liebe auch meine Mutter und meinen Vater. Meinen Großvater habe ich überschwänglich geliebt, trotzdem habe ich mich in Ruth verliebt, denn erotische Empfindungen zeigten sich nur bei ihr.“ erklärte ich, und Olivia lachte. „Männer empfinden eben anders,“ wusste Olivia, „ihnen reicht es, wenn sie ficken können.“ „Nein, nein, nein,“ protestierte ich, „keine Frage, dass Männer und Frauen sexuell anders strukturiert sind, aber das Soziale dominiert bei Männern nicht minder. Sie sind genauso auf Anerkennung, Zuneigung und Liebe angewiesen wie Frauen. Bei Männern, die an einer Trennung zerbrechen, liegt es bestimmt nicht am Sex. Eure Unterscheidung zwischen Liebe und Sex, kann ich nicht nachvollziehen. Ich empfinde sie als ein theoretisches Konstrukt.“ Jetzt schien sich eine nicht enden wollende Diskussion anzubahnen. Zu essen gab es schon lange nichts mehr. In meinem Büro konnten wir weiter diskutieren, da wir beide keine aktuellen Termine hatten. Das Liebe und Sex etwas völlig Unterschiedliches seien und aus anderen Motivationsbasen resultierten bekam ich noch einmal detailliert erklärt. „Was du sagst, Olivia, basiert auf übelster kirchlicher Moralvorstellung. Ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben, kannst du Leo auch nicht lieben. Du bist nicht der hehre Geist, in dem die Liebe wohnt und der minderwertige, triviale, irdine Körper, dessen Gelüste der Satan weckt. Alles ist eins, gehört zusammen zu dir. Kein Paar liegt gemeinsam im Bett, macht nach den Zärtlichkeiten einen Schnitt und sagt: „Jetzt beginnt das Triviale.“ Auch wenn das Bedürfnis nach sexueller Befriedigung nicht aus sozialen Zusammenhängen resultiert, stört es die Liebe doch nicht sondern erweitert sie eher.“ argumentierte ich. Olivia hörte mir stumm zu und fixierte mich. „Ich mag dich, Henry, sehr.“ sagte sie nach längerer Pause. Die dunklen Augen suchten meine. Ernst schaute sie mich an, aber ihre Lippen umspielte doch ein Ausdruck von Freundlichkeit. Die geöffneten Finger der linken Hand fuhren leicht streichend über ihre linke Wange. Worüber dachte Olivia nach? Plötzlich erklärte sie: „Ein Geheimnis habe ich auch, aber es ist wohl besser, das nicht zu erzählen.“ Ich scherzte und wollte es ihr entlocken, aber Olivia blieb ganz ernst. „Erzählen möchte ich es im Grunde schon, und wem sonst, wenn nicht dir.“ erklärte sie, die immer lächelte oder lachte, mit ernster Mimik. „Ich kann es dir aber nur unter der Bedingung erzählen, dass wir es anschließend sofort wieder vergessen, als ob wir nichts gehört hätten, wie ein Bild, das nach dem Anschauen ausgewischt wird.“ forderte Olivia. „Ja, natürlich.“ stimmte ich hastig zu in Spannung auf das, was ich zu hören bekäme. „Henry, ich habe zu niemandem so enge soziale Beziehungen wie zu dir, wir treffen uns häufig, du lässt mich an allem Möglichen teilhaben und besprichst alles mit mir. Das gefällt mir sehr. Ich freue mich schon vorher darauf, mit dir zusammen zu sein. Eine Wohlfühlatmosphäre verspüre ich. Die milde Sonne von Jericoacoara erwärmt uns leicht. Ich suche deine Nähe, Henry, und ich weiß, dass ich dir nicht fern bin. Du trägst mich gern in deinen Gedanken. Die Geschichte von der Campesina war nett, aber bedeutsamer war wie du mich so früh schon in deinen Gedanken bewegtest. Wir mögen uns nicht nur, wir suchen uns. Wenn wir uns nicht schon die Gedanken daran verbieten müssten, würden uns unsere Gefühle sagen, dass es zwischen uns ist wie bei Verliebten. Ich spüre das stark, möchte dich gern berühren, dich streicheln und küssen, so wie vorhin. Ja, ich möchte zärtlich zu dir sein, überall. Wünsche mir, dass du mich berührst, mich streichelst. Ich stelle mir vor, wie wir uns liebkosend gemeinsam im Bett lägen. Mit dem Sex, das käme schon irgendwann. Das kann man sich ja nicht vorstellen, das muss man erleben, nicht wahr?“ Olivias Geheimnis. Ich hatte kein Wort gesagt, wusste nicht was ich hörte. Bei den letzten Sentenzen hatte ich mir eine Hand vor die Augen gehalten, wohl um jegliche mimische Reaktion zu verbergen. Ich schluckte und fragte Olivia: „Du wirst das sofort vergessen haben? Nein, wohl eher nicht. Vergessen kann ich es auch nicht, Olivia.“ „Aber dass man Geheimnisse überhaupt niemandem verraten darf, wirst du doch beachten?“ erklärte sie, kam zu mir, strich mir über die rechte Wange und legte ihre linke an meine. „Es ist spät. Ich muss gehen. Es war ja auch ein sehr langes Mittagessen.“ sagte sie noch und verließ lächelnd mein Büro.
Ich hatte nichts gesagt, nur staunend zugehört, während Olivia erzählte. Innerlich stand mir immer noch der Mund offen, mir fehlten einfach die Worte und jeglicher klarer Gedanke. Olivia, diese Olivia konstatiert, das wir beide verliebt sind und sie deshalb mit mir ins Bett will. Das war wirklich nicht zu fassen und das auch noch von Olivia. Was würde denn jetzt für uns daraus resultieren. Wie gewohnt konnte es nicht mehr sein. Mit ihrer Beschreibung hatte Olivia ja Recht, aber dass ich in sie verliebt war, wusste ich nicht. Natürlich mochte ich Olivia, aber mich in sie verlieben, das konnte ich gar nicht denken. Dass ich oft an sie dachte, Olivia in meinen Gedanken war, traf schon zu. Öfter als Ruth, sah ich sie. Ruth war mein Zuhause, die ruhende und beruhigende Kontinuität, Olivia verkörperte das Leben, das Lebendige. Ich hatte Lust an ihr, Lust, mich mit ihr zu befassen, mit den Gedanken an sie zu spielen, das war schon so von Anfang an. Dass wir uns suchten, unsere Nähe wollten, war auch nicht zu verleugnen. Olivia hatte schon Recht. Jeder und jedem Fremden hätte ich gesagt: „Ihr seid verliebt.“, aber für mich war das ein Gedanke, der nicht aufkommen konnte, weil er es nicht durfte. Und Olivia, die nichts an Männern finden kann, nicht weiß, wie es möglich sein soll, dass sie Liebe zu einem anderen Mann als Leo empfinden kann, bemerkt es, stellt es fest und benennt es. Die Welt war nicht mehr in Ordnung für mich. Ich fuhr nach Hause, weil ich sowieso an nichts anderes denken konnte.
Unsere Begrüßung gestaltete sich heute besonders intensiv. Ruth schmunzelte nur und fragte, ob ich möchte, dass wir ins Bett gingen. Nein, auf keinen Fall. Bestimmt suchte ich in ihrer Zuneigung Schutz vor möglichen Verwirrungen. Ich hätte noch zu arbeiten, erklärte ich, wollte allein sein, nachdenken über das, was mich aufgewühlt hatte. Warum eigentlich? Wenn ich auch erstaunt und erschrocken war, Olivia hatte ja nicht gesagt, dass sie mit mir ins Bett wolle, sie hatte nur erklärt, dass sie es sich vorstellen könne, und das sollte ich schnell wieder vergessen. Trotzdem konnte ich nicht schlafen. Olivia, die sich nicht vorstellen konnte einen Mann zu lieben, liebte mich. Gerade hat sie mir noch die Diskrepanz zwischen Liebe und Sexualtrieb aufgezeigt, und erklärt mir anschließend, dass sie es sich gut vorstellen könne, aus Liebe mit mir ins Bett zu gehen. Ich mochte sie schon sehr, wie sehr, das hatte ich mir verboten, zu empfingen und bewusst werden zu lassen. Und als Frau, die ich attraktiv fand und begehren könnte? Wie sollte ich dazu etwas wissen? Derartige Empfindungen hätten im Haus meiner Gefühle striktes Zutrittsverbot gehabt. Ich wusste auch jetzt nichts dazu zu sagen. Ich hatte Olivia von Anfang an als sehr schöne Frau empfunden. Sie hatte ein markantes Gesicht, und wenn sie lachte, bezauberte es mich. Was man unter einen schönen Frau versteht, war sie sicher nicht. Ihrem Aussehen fehlte das Feminine, Ovale, Rundliche. Viel zu lang war ihr Gesicht. Sie hatte zwar keinen breiten Unterkiefer, aber statt rundlicher Bäckchen vorstehende Wangenknochen. Warum ich ihr Gesicht so gerne sah, musste an Olivia selbst liegen und bestimmt auch an dem, was es in mir ansprach. Ich dachte mir Geschichten aus, was wohl wäre, wenn. Ob Leo eifersüchtig würde, aber sie wollten es ja so, und Olivia hatte ja nichts gegen Leos Freundinnen gesagt. Ruth kam in meinen Gedankenspielen nicht vor, das hätte sie zur Qual gemacht, und es waren ja nur lustige Spielereien.
Angst, Olivia zu begegnen, hatte ich nicht, aber es verunsicherte mich. Offene, unbeschwerte Freude empfand ich, wenn ich Olivia traf oder treffen würde. Das Gefühl kam jetzt nicht auf. Beschwert war es durch das Geheimnis ihrer Empfindungen für mich. Ich traf Olivia nicht zufällig. Was sollte ich tun? Zu ihr gehen, auf eine Reaktion von ihr warten, sie anrufen oder erst morgen anrufen? Zu Mittag hatten wir für heute nichts ausgemacht, da würden wir sowieso telefonieren. Tatsächlich konnte ich es gar nicht erwarten, ihre Stimme, ihre Worte zu hören. „Olivia, ich rufe wegen heute mittag an, wir haben da noch nichts geregelt.“ sprach ich sie an. Kurze Stille, dann hörte ich ihr schallendes Lachen. „Ja, das ist wahr, Henry. Möchtest du dich mit mir ein wenig über die Menüs von heute unterhalten? Es gibt da zum Dessert ein ganz vorzügliches Soufflé aus dem Schaum, der die Aphrodite geboren hat. Möchtest du, dass wir darüber sprechen? Henry, uns drängt doch etwas anderes als die Absprache des Mittagessens.“ erklärte Olivia. Um elf wollten wir uns bei mir im Büro treffen. Ich sprang auf, öffnete ihr die Tür, nie tat ich das sonst. Bei der Begrüßungsumarmung bekam ich einen Kuss auf die Wange. „Das können wir doch wohl machen, wenn wir uns treffen. Krethi und Plethi tun das.“ argumentierte sie. „Da werden wir es ihnen am besten nachmachen.“ meinte ich dazu. Olivia setzte sich in den Sessel und schenkte mir beim Anschauen das Lächeln einer breit gezogenen Schnute. Als ob sie einen Streich gemacht oder gescherzt hätte. Vielleicht war es ja auch nur die Mimik, mit der sich wissende Blutsbrüder einen geheimen Gang begrüßen. So wird es gewesen sein. „Jetzt haben wir beide ein Geheimnis, das wir eigentlich gar nicht kennen dürften, aber nicht vergessen können. Was machen wir denn nun damit?“ sprach ich es an. „Es hat dich sehr beschäftigt?“ reagierte Olivia fragend. „Allerdings.“ antwortete ich. „Henry, was soll der vorwurfsvolle Unterton? Nur das Schönste, von wundervoller Liebe habe ich erzählt. Und außerdem habe ich doch nichts gemacht. Was habe ich denn getan? Habe ich etwa gesagt: „Henry, der könnte jetzt gut mein Freund werden.“? Du warst einfach da im Sender und in mir, bist mir geschenkt worden. Wollte ich mich etwa verlieben? Ich wusste ja nicht mal was das war, und wie ich es hätte anstellen sollen. Ich habe nur festgestellt, was ist. Die Liebe war einfach da, der unzähmbare Vogel hatte sich einfach niedergelassen, mich nicht gefragt, ich hatte ihn nicht gerufen.“ erklärte Olivia. „Dass ich erstaunt und verwundert bin, und dass ich nichts verstehe, wirst du mir doch zugestehen.“ reagierte ich. Olivia blickte mich an, als ob sie Mitleid mit mir hätte. „Ich habe das schon so gesehen und auch empfunden, aber nicht weil die christliche Moralvorstellung den Körper in Satans Klauen wähnte. Das kommt nicht von der Religion allein. Schon Platon wusste, dass der Körper das Gefängnis der Seele sei, und ich wusste es mit vierzehn. Henry, ist es sonst auch nicht so weit her mit deiner Bildung?“ fragte Olivia rhetorisch und ließ uns lachen. „Viele Menschen halten ihren Körper für minderwertig oder hassen ihn sogar. Die absolut gesetzte Oberfläche verlangt makellose Schönheit. Du kannst dich diesem Anspruch bewusst oder unbewusst entziehen. Deinen Körper zu lieben und ihn als vollwertig in dich zu integrieren, fällt dir dann schwer. Er bedeutet dir nicht viel. Da hat sich bei mir in Südamerika schon etwas geändert. So habe ich es gar nicht wahrgenommen. Bei den Campesinos, in Bolivien habe ich gar keine erlebt, da war ich nur zweimal in La Paz, aber jedes lateinamerikanische Land hat seine Regionen, in denen Hanna Cash gut ihr Zuhause haben könnte, bei den Campesinos regiert nicht die Oberfläche, es gibt nur die eine Wahrheit und nicht die Show. Extensiven Narzissmus und Anti-Aging Welten kennt niemand. Dein Körper das bist du und du bist auch dein Körper. Das wahre, wirkliche, direkte Leben der einfachen Menschen hat mich nicht nur fasziniert, sondern ich habe gespürt, dass ich keine andere Wahl habe, als mein Leben auch so zu gestalten. Ich denke schon, dass es mich in meinem Empfinden und emotionalen Wollen zu einem anderen Menschen gemacht hat, als ich vorher war.“ erläuterte Olivia. „Aber mit der Liebe? Zwei Sätze bevor du mir verdeutlicht hast, dass wir verliebt sind, konnte ich von dir hören, warum du keinen Liebsten brauchst.“ wand ich ein. „Die Wörter von der normalen Frau, die Lust auf Männer hat, sind doch allenfalls lustiger Schwachsinn. Wir lieben uns nicht, weil ich Lust auf ein Mann hatte. So ein Blödsinn. Es sind auch keine erotischen Gefühle, die mich deine Nähe suchen lassen. Bestimmt wird auch meine Libido beteiligt sein, wenn ich dich anfassen, fühlen und streicheln möchte, aber es wird die andere Persönlichkeit der Olivia sein, die überhaupt erst in der Lage ist und den Wunsch hat, dich voll zu erfassen, deren Empfinden nicht mehr von der Oberflächenwelt geprägt ist. Ich denke, dass ich erst dadurch in der Lage bin, derartige Zuneigung und Liebe zu empfinden.“ erklärte Olivia. „Die Auslandskorrespondentin könnte unsere Liebe gar nicht wahrnehmen, nur die Campesina ist dazu in der Lage, meinst du, wenn ich dich richtig verstehe?“ wollte ich mich vergewissern. Olivia lachte stumm. „Ja, vielleicht kannst du es so sagen. Es ist anders, nicht nur eine Beziehung, die von tiefem, gegenseitigem Verstehen geprägt ist, ich will dich, ich will deine Nähe spüren, nicht nur liebevoll an dich denken, ich möchte dich erleben. Ich möchte dich nicht nur sehen und hören, alles von mir möchte dich erfassen, mit allen Sinnen möchte ich dich wahrnehmen, nicht nur taktil, ich möchte dich auch schmecken und riechen. Na ja, dein Odeur hat mich ja schon manchmal angeweht. Nein, es gefällt mir.“ sezierte Olivia ihren Liebesbedarf. „Dich kann ich ja gar nicht riechen, nur das Parfüm. Deine Parfüms riechen gut, sie gefallen mir, aber in der Liebe willst du den anderen doch direkt persönlich riechen.“ bemerkte ich. Olivia blickte schelmisch, stand auf und kam zu mir. Sie stellte sich vor mich mit dem Rücken zum Schreibtisch. „Mit den Worten: „Das Deo ist mit Sicherheit schon verschwunden.“ hob sie den rechten Arm über den Kopf und zog den Pullover an der rechten Seite hoch. Ich musste schrecklich lachen, aber ich sollte an ihrer Achsel riechen. Den Geruch nahm ich kaum wahr, spürte aber, dass ich viel lieber meine Finger benutzt hätte, um Olivias Haut zu berühren, als meine Nase sie riechen zu lassen. „Du bist bekloppt und stinkst entsetzlich.“ verkündete ich und lachte. Sie hatte sich leicht auf die Schreibtischkante gesetzt und ich stand vor ihr. „Olivia, du hast erklärt, wie es zwischen uns steht, und wozu du dich in der Lage fühltest. Das wird es aber nicht geben, weil da mein Bewusstsein absolut dominiert, und ich es nicht will. Der Schweißgeruch kann vielleicht bedeutsam sein, wenn du zusammen im Bett liegst. Für uns ist es aber völlig irrelevant, weil es dazu nie kommen wird.“ kommentierte ich die Situation. „Henry!“ Olivias Anrede klang leicht wehmütig, fast ein wenig traurig, „Ich habe dir gesagt, dass ich dich liebe. Du weißt dazu nur, dass du erstaunt, verwundert bist und nichts verstehst. Sind das deine einzigen echten Gefühle und Empfindungen dazu. Etwas anderes bekomme ich nicht zu hören?“ fragte Olivia. Ob ich einen Gefühlsstau hatte, den ich gar nicht verbal auflösen konnte. Ich stand direkt vor Olivia, nahm ihren Kopf in beide Hände und küsste sie. Mit unseren Armen umschlangen wir den Rücken des anderen und beenden würden wir den Kuss wahrscheinlich nie. Einmal mussten sich unsere Augen treffen, aber dann schlossen wir sie wieder. Mit einer Mimik, die gleichzeitig erstauntes Fragen und glückliches Erleben verkörperte, lösten wir uns, die Wange des anderen streichelnd, wieder. Während Olivia noch tief atmete, erklärte ich leicht scherzend: „War ein Versuch, ist einfach so passiert.“ „Wir werden es mit zu unseren vergessenen Geheimnissen nehmen, ja?“ schlug Olivia vor. „Aber Acht geben sollten wir schon, dass die Sammlung nicht zu groß wird.“ fügte ich warnend an. Nebeneinander an die Kante meines Schreibtisches gestützt standen wir, innerlich lagen wir uns gewiss liebend in den Armen. Dass ich Olivia liebte, hatte ich mir eingestehen müssen, jetzt konnte ich das Gefühl sie zu begehren, vor mir selbst nicht mehr verbergen. „Unsere Liebe erfahren wir am hellen Tag bei Sonnenlicht, aber ihre Blume blüht nur im Geheimen, im Geheimnis der Nacht.“ beschrieb Olivia. „Genauso verhält es sich.“ bestätigte ich und fügte hinzu,
„She only comes out when
the moon is on the run
And all the stars are gleaming
But she
is soft and sweet and dreaming.
She is the Rose of Berlin-Dahlem.“
Olivia lachte. „Na, ob das so ganz zutrifft? Aber du hast Recht, Liebe ist auch immer 'soft and sweet and dreaming'. Lass uns jetzt etwas essen gehen. Den Nachtisch, das soft and sweete Aphrodite Soufflé haben wir bestimmt hier schon zu uns genommen, nicht wahr?“ schlug Olivia vor.
Im Sender merkte man schon, das wir mehr als befreundete Kollegen waren. Olivia antwortet auf Fragen immer: „Ich weiß es gar nicht. Wir mögen uns schon sehr gut leiden.“. Wir stellten fest, dass das Bett entscheidendes Kriterium in der Bewertung des Oberflächendenkens war. Solange wir sagen konnten, dass wir nicht miteinander schliefen, interessierte unser Verhältnis nicht weiter. Wir trafen uns jetzt, so oft es ging, und wenn wir uns begegneten, begrüßten sich nicht zwei bekannte Franzosen mit verhuschten Küsschen. Die Berührung der Wangen mit den Lippen war Surrogat für alles, was uns sonst an Zärtlichkeit verwehrt war. „Mir gefällt es sehr, wenn wir uns gegenseitig anblicken. Unsere Augen kennen auch eine andere Sprache mit Namen und Bezeichnungen, die wir sonst nicht verbalisieren können. Sie können auch Gefühle vermitteln. Sie sprechen nicht zu deinen Ohren, sondern zu deinem Herzen. Da wird sie wirklich sein, die Liebe. Man hat sie nicht nur vergessen, als man erkannt hat, das alles Wichtige im Gehirn geschieht. Wenn ich dich erwarte, dann pocht mein Herz und mir dröhnt nicht der Schädel.“ erklärte Olivia zu meiner Erheiterung. „So wird es sein. Ein Sonnengeflecht aus Liebesnerven wird das Herz umschließen, ein Plexus solaris amoralis.“ vermutete ich. Jetzt lachte Olivia auch. „Du hast ja Recht. Das Herz ist auch mit seiner Liebe im Kopf, aber von dort kann es sich auf alles auswirken. Ich spüre deinen Blick nicht wie Hanna Cash bis in die Zehen, aber wenn du mich zur Begrüßung nicht so herb oder beiläufig küsst, sondern ich dein zärtliches Empfinden wahrnehme, dann spüre ich es überall, im ganzen Körper. Ob bis in die Zehen, weiß ich nicht, aber sie werden doch wohl nicht ausgeschlossen.“ erklärte Olivia. „Das ist ja schön, Kaffeetrinken und essen und immer dabei gemeinsam reden. Ich mag es. Wir besuchen uns ja auch gegenseitig bei Veranstaltungen, aber können wir nicht auch mal gemeinsam etwas machen?“ fragte Olivia. „Was verstehst du darunter? Das tun wir doch.“ erkundigte ich mich. „Ja, schon, aber immer mit anderen. Ich meine, nur wir beide für uns allein.“ ging Olivia darauf ein. „Und was machen wir beide für uns allein?“ wollte ich wissen. „Du tanzt doch gern, wir könnten ja gemeinsam tanzen gehen.“ meinte Olivia. Als kurzen Flash sah ich das Bild, wie wir uns aneinander klebend über die Tanzfläche schoben. „Ja, schön, oder sollten wir nicht vielleicht gleich ins Bett gehen? Da sind wir beide auch allein unter uns.“ kommentierte ich ironisch. „Henry, du bist fies. Du verstehst genau, was ich meine. Ich möchte etwas Spezielles für uns, und mich nicht nur mit dir in Teilen der Alltagsroutine treffen.“ erklärte Olivia.
Es war Sommer geworden, und wir wollten gemeinsam spazieren gehen. Auch wenn wir uns beim Gehen an Hüfte, beziehungsweise Taille umfangen hielten, mussten wir manchmal stehenbleiben und uns umarmen. Küssen war dabei selbstverständlich tabu. „Kannst du nicht mal woanders hin fassen?“ sagte Olivia plötzlich. Meine Hände hatte ich auf ihren oberen Rückenbereich gelegt, wenn wir uns umarmten. Die hauchzarten Sommerkleidchen stellten sowieso eine für Olivia sehr untypische Kleidung dar. Ich kann mir nicht denken, dass sie sich zum Spazierengehen extra umzog, aber sonst trug sie auch im Hochsommer Jeans mit unterschiedlichen Tops. „Olivia, was willst du? Wo soll ich dir hin fassen? Soll ich dir gleich unter den Rock greifen?“ reagierte ich leicht entsetzt. Verärgerte Augen und ein strenger Mund zeigte die Mimik meiner geliebten Campesina. „Du bist ein Idiot, Henry.“ sagte sie, „Verdirbst alles durch deine dummen Ängste. Ich glaube, für dich bedeutet unsere Liebe keine Freude, sie macht dir Angst. Das passt nicht, mein Lieber. So mag ich dich nicht. Ich liebe den Henry, der sich auf mich freut, der glücklich ist, wenn er mit mir zusammen sein kann. Den Henry, der es zwangsläufig akzeptiert, dass wir verliebt sind, möchte ich lieber nicht kennen. Denkst du es so: „Wie einfach wäre alles, wenn es unsere Liebe nicht gäbe.“ Fühlst du dich dadurch belastet? Bist du traurig darüber?“ wollte Olivia wissen. Ich blies die Luft hörbar durch meine Lippen. „Olivia, so einfach ist es nicht. Keinesfalls bin ich traurig darüber, dass wir uns lieben. Was mich quält, sind Probleme. Als du mir dein Geheimnis erzählt hast, war es natürlich für mich voller Rätsel, aber ich habe schlicht gedacht: „Wie wundervoll ist das.“. Nur hast du ja kein Bild gemalt, das so fertig war. Was du erzählt hast, lebt, verändert sich und will sich weiter entwickeln. Du hast gesagt, was du dir vorstellen könntest. Das war ja fern jeglicher Realisierung. Nur wenn wir jetzt etwas tun, das unser emotionales Verlangen danach fördert, wir es unbedingt wollen und es die Entscheidung unseres Bewusstseins verdrängt, dann habe ich Angst davor.“ erläuterte ich. „Nicht meine dunklen Augen, sondern wenn du der Rose of Berlin-Dahlem an den Hintern fasst, dann startet es ein Feuer in dir und du verlierst die Kontrolle. So ist es, nicht wahr? Und davor hast du Angst.“ veralberte mich Olivia. „Sei doch nicht so verklemmt, sag einfach: „Olivia, wenn ich dir den Rücken streichele, dann erregt mich das zu sehr.“ Dann ist es gut, dann lassen wir das. Aber mach doch nicht so ein Geschrei.“ Ich stellte es mir vor und platzte los. Olivia musste selbst lachen. „So geht das also. So machen wir das, ja? Olivia, du erregst mich immer zu sehr, da müssen wir alles lassen. Wenn ich dich nur anschaue, erregt es mich schon. Du hast selbst gesagt, dass du mich willst, mich erleben, mich voll erfassen willst. Das Verlangen danach spüre ich kein bisschen weniger als du. Wir wollen es beide, sagen uns aber, dass wir es nicht dürfen. Ob man das nicht gegebenenfalls leicht vergessen kann, wenn das Begehren zu groß wird?“ vermutete ich. „Ich habe sonst Verliebtheit und den ganzen Zirkus für verrückte Teenyspielereien gehalten. So einen albernen Unfug brauchte ich nicht und würde so einen Zirkus nicht abziehen. Jetzt kommt es mir eher wie eine Obsession vor, die mich befallen hat. Die mich nicht loslässt und auf die ich keinen Einfluss habe, mit Geturtel oder Spielerei hat das nichts zu tun, es ist eher wie eine Sucht, eine Begierde, die immer mehr will.“ erklärte Olivia. „Mich verschlingen?“ erkundigte ich mich mit einem Lächeln. Die Antwort war, dass Olivia ihre Arme um meinen Hals schlang und mich küsste. Bestimmt hatte sie den ersten und diesen Kuss auch bis in die Zehen gespürt. Ich brauchte mir nicht den Grind zu kratzen. Weil ich keinen hatte, strich Olivia mir durchs Haar, als wir uns lösten. „Nicht die Liebe ist Kinderkram, wir verhalten uns kindisch. Wir lieben uns, aber keiner darf es wissen. Alles muss ganz geheim bleiben. Zuerst habe ich mich ja gar nicht getraut, es nur dir erzählt, aber jetzt ist es doch albern. Wir lieben uns, das ist die Realität, und da wird und soll Geheimkram nichts dran ändern. Wir lieben uns, dürfen uns aber nicht küssen, weil es zu gefährlich ist. Absolut verrückt sind wir. Spielen, als ob das, was ist, nicht wäre. Verheimlichen wir es, weil wir vielleicht irgendwann jemanden damit überraschen wollen? Wir machen uns nur vor uns selbst lächerlich. Warum dürfen es andere nicht wissen, dass wir uns lieben, wenn es doch so ist?“ stellte Olivia es dar. „Na klar, man erzählt es gern, dass man verliebt ist. Man freut sich darauf, es seinen Freunden mitteilen zu können.“ „Ja, als erster Ruth.“ unterbrach mich Olivia und lachte. „Natürlich, werde ich es ihr sagen. Meine Qual mit Ruth hat schon eine Geschichte. Zuerst hielt ich es für unser nettes kleines Geheimnis, aber mittlerweile komme ich mir unredlich vor, wenn ich es ihr nicht sage.“ bemerkte ich. „Und du, was wird Leo sagen? Hast du ihm auch noch nichts erzählt?“ Ein vorwurfsvolles „Henry!“ bekam ich zu hören „Es war doch unser Geheimnis. Leo wird nicht viel darauf geben. Vielleicht denkt er, dass es bestimmt bald vorbei sein wird, sicher werde ich sein Mitleid erfahren, dass ich mich von der banalen Lust, der schmutzigen Begierde habe einfangen lassen. Er wird sich nicht vorstellen können, dass ich den Unfug nicht bald wieder lasse und einen klaren Überblick bekomme.“ vermutete Olivia. „Aber Ruth, wie schätz du das denn ein?“ „Überhaupt nicht. Ich werde ihr sagen wie es ist, denn dadurch dass ich es verheimliche, ist es für sie ja nicht anders. Höchstens schlimmer, weil ich mir anmaße, entscheiden zu können, was für sie besser ist, zu wissen oder nicht.“ so sah ich es. Jetzt umarmte Olivia mich nur und drückte mich ganz fest, Kraft und Trost vermittelte sie mir.
„Ich muss immer lachen, wenn ich daran denke. 'Henry verliebt'.“ äußerte sich eine Kollegin beim Mittagessen. „Dass ihr irgendwie zueinander passt, kann ich mir schon denken, aber verliebt, das ist für mich immer etwas Buntes, Süßes mit Herzchen und Geschenken zum Valentinstag. Ich sah eure Beziehung sehr nüchtern, vertraulich und verständnisvoll. Für's Verlieben bist du doch gar kein Mensch.“ „Ja, und Olivia doch erst recht nicht.“ bemerkte eine andere Kollegin, „Die wirkt eher wie eine gestrenge Domina.“ „Das ist doch Quatsch.“ meinte die erste Kollegin, aber so etwas vom Stil einer kosmopolitische Lady hat sie schon an sich.“ Ich musste lachen und sah die Campesina. „Aber überheblich, arrogant ist sie doch bestimmt nicht. So einfühlsam und mitempfindent wie sie bei ihren Interviews ist. Das ist sie zu dir bestimmt auch, Henry, nicht wahr?“ Ich musste immer lachen und erklärte: „Nein, sie ist ganz anders. Carola, wann warst du denn verliebt, mit vierzehn, oder ist das noch länger her?“ erkundigte ich mich bei der Kollegin. „Wieso?“ wollte sie nur erstaunt wissen. „Na, Liebe ist doch anders als das romantizistische Gesäusel und Getingel.“ antwortete ich. „Und wie?“ hakte sie nach. „Wild und verwegen.“ erklärte ich unter Lachen, „Aber, nein, die Passion ist doch das Entscheidende.“ „Das stimmt.“ bestätigte mich die andere Kollegin, „Die Leidenschaft kann in jedem glühen, das siehst du einem Menschen doch überhaupt nicht an.“ Carola wollte es anscheinend aber doch sehen. Sie starrte mich an und grinste. „Just a hunk of burning love?“ fragte sie Elvis zitierend und lachte. „Carola, du bist entsetzlich. Es ist doch wundervoll, wenn Olivia und Henry sich lieben. Lass deine Witze, sonst könnte man ja meinen, du wärst eifersüchtig.“ tadelte die Kollegin. „Ja, ich mag Henry auch gut leiden, aber mich in einen Kollegenn verlieben, das kann ich mir nicht vorstellen.“ reagierte sie. Seitdem wir es gesagt hatten, wurde unsere Liebe von allen permanent begutachtet und analysiert. Ruth war die einzige, die nichts davon hören wollte. In einer sehr vertraulichen Atmosphäre im Bett meinte ich, dass sich an unserer Liebe doch nichts verändert habe. „Oder ist dir etwas aufgefallen. Aber ...“ „Olivia“ unterbrach mich Ruth sofort. „Was ist? Woher weißt du das?“ reagierte ich fast erschrocken. „Na, hör mal, my honey pot, dass du mich für blind und taub und gefühllos hältst, finde ich nicht so berauschend. Ich mag Olivia sehr, aber nach den ersten Besuchen war doch deutlich, dass sie hauptsächlich deinetwegen kam. Ich weiß gar nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich mag Olivia, ich mag dich, eigentlich ist es doch sehr schön, dass ihr beide euch liebt. Das Gefühl, mir würde etwas weggenommen, will in mir gar nicht aufkommen.“ erklärte Ruth. Ich wollte Näheres erläutern, aber Ruth stoppte mich: „Nicht jetzt, jetzt wollten wir doch an uns denken, oder?“
Es gab viel zu wenig Bänke im Park, denn wir saßen jetzt mehr als wir liefen. Die Zeit für Spaziergänge war ja immer knapp bemessen. Für unseren Umgang mit dem Körper des anderen, unser liebendes Umarmen, Küssen und Streicheln war sie viel zu kurz und die Bänke selbst sehr unbequem. „Warum besuchst du mich nicht mal? Ich bin so oft bei euch, und du kommst nur zu mir, um mich abzuholen.“ beschwerte sich Olivia. Ich hielt an mich und sinnierte. Tut man das nicht? Ist es vulgär zu sagen, dass man mit dem anderen ins Bett möchte, oder dachte Olivia wirklich, dass es dazu nicht kommen würde? „Olivia, wenn ich dich besuche, wird uns das Leben noch viel direkter erfassen als jetzt. Nach einigen Liebeleien wird es uns direkt ins Bett befördern. Möchtest du das gern?“ erkundigte ich mich. Olivia schaute mich tatsächlich verwundert und grinsend an. „Die Bauersfrau ist wirklich ein wenig naiv, glaube ich. Auf der Couch ist es gemütlicher als auf der Parkbank und wir würden auch ein wenig tanzen, mehr hatte ich mir dabei nicht gedacht. Ich habe ja auch überhaupt keine Erfahrung, alles geschieht intuitiv und zum ersten mal. Trotzdem ist es mit dir faszinierend. Du kennst ja meine Devise: „Gut sein, auch wenn man's gar nicht kann.“ da muss es doch herrlich für uns werden. Findest du nicht auch?“ erbat Olivia meine Meinung. „Ich meine eher, dass dein Motto in der Liebe völlig fehl am Platz ist. Wir sind automatisch gut in der Liebe, wenn wir unserer Lust und unserem Verlangen folgen.“ lautete meine Meinung. „Aber das tun wir doch gar nicht.“ erwiderte Olivia, „Dann wünschte ich mir, dass du jeden Abend bei mir wärst, wir zärtlich zueinander sein könnten und gemeinsam ins Bett gingen. Du hättest dazu keine Lust?“ Es zerriss meine Gedanken. „Natürlich, sofort.“ riefen meine Gefühle, aber in meine geordnete Welt passte es nicht. Da gehörte ich zu Ruth ins Bett. Ein Gefühl, als ob ich es Ruth würde beichten müssen, wenn ich mit Olivia schliefe. So ein Unsinn. Dass Olivia auch mein Herz und mein Verlangen gehörte, war doch das Entscheidende und nicht der blöde Sex. Trotzdem konnte ich es nicht gelöst so empfinden. Ich hatte nichts gesagt, nur gegrübelt. „Was ist mit dir, meu amante? Spürst du das Verlangen nicht mehr, von dem du gesprochen hast?“ wollte Olivia wissen. Ich nickte nur und suchte ihre Lippen. Wollte in der Leidenschaft des Kusses wahrscheinlich meine Zweifel und Bedenken überwinden. „Was ist los, Henry? Sag es mit Worten. Lass es mich auch wissen, was dich bewegt.“ forderte mich Olivia auf, als ich unser Küssen gar nicht beenden wollte. „Ich bin nicht so weit wie du, Olivia. Ich bin noch sehr viel stärker dem Oberflächenfetischismus verhaftet. Ich habe immer so gelebt, nichts anderes erfahren. Habe mich in meiner eigenen Unbehaustheit zurecht gemogelt. Du gibst mir mehr als deine Liebe, du zeigst mir auch Wege, anders zu leben. Mein originäres, wirkliches, menschliches Empfinden will dich. "Ich bin din und du bist min, verloren ist das Schlüzzelin." zu unserem gemeineinsamen Haus von Herz und Körper. So wäre es richtig, aber bei mir tauchen immer noch diese vielen Bilder auf, die es stören wollen.“ versuchte ich mich verständlich zu machen. Olivias Mimik brachte aber eher zum Ausdruck, als ob ich wie die Pythia persönlich gesprochen hätte, nur war kein Priester da, der meine Worte für die konkrete Praxis entschlüsseln konnte. Sie blickte mir lächelnd in die Augen. und mit ihrem Herzen würde sie mich schon verstehen. Ich solle doch zu ihr kommen, dann würden wir ja sehen, wie es sich entwickele. „Oder möchtest du es gern zelebrieren, wenn wir gemeinsam ins Bett gehen?“ fragte Olivia. „Keinesfalls, es handelt sich doch um eine natürliche Ausgestaltung unserer Liebe, eine Fortführung und Weiterentwicklung der Parkbank. Wir folgen doch nur unserem Verlangen und wollen kein Festival veranstalten.“ meinte ich. Das fand Olivias Zustimmung, so sollten wir es sehen. „Anlass für ein Festival gibt es vielleicht danach. Ich weiß es ja nicht.“ fügte Olivia noch an.
Als Olivia mir die Tür öffnete, war sie aber nicht wie auf der Parkbank gekleidet, sondern wie für's Konzert. Sie verstand sofort meine lachenden Gesichtszüge. „Du hast gesagt, dass du das kleine Schwarze sehr elegant fändest und ich sehr chic darin aussähe. Und wenn der Liebste kommt, will man doch schließlich gefallen, oder?“ erklärte sie und wir lachten. Gemeinsam wollten wir den Wein aussuchen. Der Alkoholgehalt war überall fein säuberlich in Prozentwerten verzeichnet, aber den Aphrodisierungsfaktor suchten wir auf den Etiketten vergebens. „Bei diesem portugiesischen Wein wird er vermutlich hoch sein.“ wusste Olivia, „Denn in der Gegend, aus der er kommt, haben die Leute sehr viele Kinder. Aber Kaffee wirkt doch auch aphrodisierend. Möchtest du einen Kaffee?“ Olivia hatte absolut Recht. Allein schon der Anblick des brasilianischen Services und hier vor allem der Formgestaltung bei der Kaffeekanne wirkte beinahe erotisch berauschend. „Hast du das schon mal gespürt wenn etwas aphrodisierend wirkt? Wie fühlt sich das denn an?“ wollte Olivia wissen. Wundervoll wirkte Olivias Kleid in der Philarmonie aber unsere Stimmung und Laune heute Abend wäre dort äußerst unangebracht gewesen. „So ähnlich ging es weiter, wir hatten immer zu lachen über uns selbst und unser Liebesbemühen. Ins Bett würden wir heute bestimmt nicht kommen, dazu waren wir viel zu übermütig und albern. Es machte uns offensichtlich schon äußerst glücklich, dass wir überhaupt die Ausgangsposition dazu erreicht hatten. „Du hattest völlig Recht, meine Liebste. Es muss nicht zwangsläufig dazu kommen, dass wir miteinander ins Bett gehen, wenn ich dich besuche.“ erklärte ich dem Campesinagesicht, das meines fast mit der Nasenspitze berührte. „Aber das Kleid, wofür habe ich das denn extra angezogen?“ reagierte Olivia und ließ uns wieder lachen. „Henry, was auch immer ist und wird, begeistert bin ich auch jetzt schon. Ich wüsste nicht, dass ich so viel, so offen und frei gelacht hätte, wie heute Abend. Ist das nicht auch ein wundervolles Geschenk unserer Liebe? Aber wie's weiter geht, das weiß ich doch nicht; Henry. Ich habe doch keine Ahnung. Mach du doch mal was.“ forderte Olivia mich auf. Ob etwas wirklich lustig war, spielte kaum noch eine Rolle. Die Absicht des anderen, einen lachen zu sehen, reicht und bewirkte es auch. „Was soll ich denn machen?“ fragte ich verdutzt. „Na, was man mit Frauen so macht. Du müsstest das doch wissen. Zum Beispiel könntest du mir ja mal den Reisverschluss aufziehen.“ schlug sie vor. Das tat ich nicht, aber zu Lachen hatten wir wieder etwas. Beim nächsten Tanz schob Olivia mich ins Schlafzimmer und schubste mich aufs Bett. „Wir müssen einfach mal einen kühnen Schritt tun und etwas wagen.“ erklärte sie dazu. „Wir machen es einfach so, und wenn uns danach ist, ziehen wir nach und nach etwas aus.“ Mein Zwerchfell befand sich in ununterbrochener Anspannung. Auch wenn ich meinte, Olivia sehr genau und tief zu kennen, stellte ich fest, wie sehr ich in vielem noch der Oberfläche verhaftet war. So wie heute Abend hatte ich sie mir nicht vorstellen können. Es passte nicht zu ihrem Bild, das leider auch bei mir immer noch von Klischees durchsetzt war. Sich auf dem Bett langsam gegenseitig ausziehen erwies sich als äußerst mühsam und unbequem. Olivia hatte nur das Kleid, einen BH und einen Slip an. Sie wartete aber, als ob sie von mir betrachtet werden wollte. Wir sahen uns grinsend an, umarmten uns und drückten unsere Körper aneinander. „Henry,“ eine Pause folgte, „wir sollten uns immer so umarmen, nicht wahr. Wenn ich dich zum Essen abhole, ziehen wir uns schnell aus und begrüßen uns dann. Deine Haut fühlt sich doch viel besser an als die Stoffe, mit denen sie behangen ist. Sollen wir mal so tanzen? Hast du Lust?“ fragte Olivia. Zum Liebesgestöhn „Je t'aime“ von Jane Birkin und Serge Gainsbourg bewegten wir uns ein wenig übers Wohnraumparkett. „Wie kommst du an solche CDs?“ wollte ich von Olivia wissen. „Antiquarisch, mein Liebster. Ich muss ja alles neu erfahren, mir Vorstellungen entwickeln können, da ist ja nichts.“ erklärte Olivia. Ich war sehr unsicher. Mit uns im Bett das würde bestimmt nichts werden. Musste man dazu nicht ernster sein? Was ist denn schöner an der Liebe, als sich zu freuen und zu lachen. Allerdings, ich glaube schon, dass du beim Sex ernst und konzentriert sein musst, sonst funktioniert es nicht. So etwas Dämliches würde ich Olivia aber nicht sagen, dann lieber keinen Sex. Anfangs sah es auch so aus. Die körperlichen Zärtlichkeiten waren ja auch völlig neu für sie. Es gefiel ihr über alle Maßen. Zuerst begegnete mir immer ein erstaunt schelmisches Grinsen anschließend ihr wonnestrahlendes Antlitz. „Hast du gemerkt, dass eine Fee gerade deine Hände verwunschen hat? Sie müssen mich jetzt bis ans Lebensende streicheln und massieren.“ erklärte Olivia noch dann ging aber alles plötzlich sehr schnell. Das Wohlgefühl der Zärtlichkeiten schien auf einmal unbedeutend. 'Ich will dich' hatte sich aus seinem Gefängnis befreit, und uns komplett genommen. Olivia sagte nichts mehr, schaute mich nur manchmal mit offenem, tief atmendem Mund und großen glücklich staunenden Augen an. Auch anschließend gab es keinerlei Kommentar, eine lange Pause. Olivias Hände suchten mein Gesicht. „Es riecht so komisch. Bin ich das oder du?“ fragte sie. Ich erklärte Olivia den Spermageruch und fragte sie, ob wir uns reinigen sollten? „Nein,“ meinte sie schon wieder lachend, „wenn's dazugehört, aber gewöhnungsbedürftig ist es schon, du Stinker.“ Wieder eine lange Pause, in der niemand etwas sagte. Ob wir es so empfanden, dass Worte unser Erlebtes beschädigen würden, 'wenn du doch geschwiegen hättest' im Moment unser gefühltes Motto war?, aber Olivia sprach doch: „Meine inneren Kräfte möchten mit dir kämpfen, dich boxen, dich hauen, aber meine Außenmuskulatur untersagt jegliche Aktivität, sie ist einfach komplett breit.“ „Komm zu mir.“ sagte sie nach einiger Zeit und wälzte sich halb auf mich, „Morgen wird unser Mund sprechen wollen, jetzt möchte ich nicht reden, nur träumen.“ Ihren Kopf auf meiner Schulter befühlten ihre Fingerspitzen sanft meine Brust. So kam langsam der Schlaf über uns.
Am Morgen schien Olivias Mund auch nicht sprechen zu wollen. Im Bett schmusten wir nur und als wir aufgestanden waren, sagte sie auch nichts. Sie verhielt sich wieder so, wie ich sie nicht kannte und mir nicht vorstellen konnte. Olivia trug ständig eine Mine, als ob sie innerlich lachte und die Sonne sähe. Sie summte kleine Melodien und zwinkerte mir manchmal zu. „Du bist glücklich, Olivia, nicht wahr?“ erkundigte ich mich beim Frühstück, „Warum sagst du nichts dazu?“ „Das Gefühl, das jetzt da ist, musst du jetzt genießen. Du kannst es nicht morgen erinnern. Darüber reden ist Porno, würde alles platt machen und zerstören. Bist du denn nicht auch ein bisschen glücklich?“ „Doch, schon, aber auf dich scheint es intensiver zu wirken. Ich lerne immer Wundervolleres von dir kennen. Meine Königin bist du.“ erklärte ich. Mit Leo war es doch nicht so völlig belanglos abgelaufen, wie Olivia es erhofft hatte. Er hielt unsere Liebe nicht für ein temporäres Phänomen, sondern warf Olivia vor, sie sei schizophren, lebe in verschiedenen Welten. „Leo, wir haben uns immer um Wahrheit bemüht, aber unsere Welt kennt viele Wahrheiten, Wahrheiten sind ein bei uns ein Oberflächengebilde. Damit haben wir gelebt, haben nicht gewusst, wie und wo das Eigentliche zu finden ist. Unsere Liebe berührt das nicht, aber ich muss jetzt in einer anderen Welt leben und dazu gehört Henry. Wie eine Metapher dafür sehe ich ihn.“ hatte Olivia erläutert. Dann hatten sie sich noch stundenlang über die Oberfläche als einzige Wahrheit und die Auswirkungen auf unser Leben unterhalten, wobei Henry gar keine Rolle mehr spielte.
Ich musste es Ruth nicht beichten, aber ich hatte nur gesagt, es würde wohl etwas später werden und war die ganze Nacht fort geblieben. „Sonderbar,“ sagte Ruth, „dass ihr beide euch liebt, macht auch mir ein warmes Herz, aber wenn du mit Olivia schläfst, habe ich doch ein Gefühl, als ob mir etwas genommen würde, etwas fehlte. Es tut weh und kommt mir vor, als ob ich so etwas wie eifersüchtig wäre. Ich kann nicht schlafen.“ Wir diskutierten länger darüber. „Henry, du bist ein guter Mensch, und du weiß, dass ich dich liebe. Daran hat sich nichts geändert, aber mein Empfinden ist nicht rational weg zu diskutieren.“ erklärte Ruth. „Kannst du mit Olivia sprechen, möchtest du das?“ fragte ich sie. “Was hast du für Vorstellungen von mir? Wieso sollte ich nicht. Ich rede immer gern mit Olivia. Es ist sehr inspirierend. Sie ist eine kluge Frau, auch wenn sie es bevorzugt, sich mit dir zu unterhalten.“ antwortete Ruth. Am nächsten Samstag kam Olivia schon morgens zu uns. Die Campesina war dem vielfarbigen, schimmernden Bild einer Zauberfee gewichen, das bei mir nicht mehr durch die Äußerlichkeit ihres Phänotyps beeinflusst werden konnte. Ich hatte sie ja völlig anders erlebt, aber ob und was sich in meinem Verhalten Olivia gegenüber dadurch ändern sollte, war mir ein Rätsel. Dass wir miteinander geschlafen hatten, darüber sprachen wir nicht. Ruth schien beim Mittagessen in Olivias Augen etwas Erklärendes zu suchen. Olivia merkte es und blickte zurück. Offensichtlich klärte sich etwas bei den beiden, denn sie grinsten sich an, wenn sie sich in die Augen geblickt hatten. Ich musste den Tisch abräumen, weil die beiden sich mit einem Glas Wein zurückziehen wollten. Zwischendurch fragte Ruth mal, ob ich ihnen einen Kaffee bringen könne. Später einen weiteren, aber ein Ende schien ihr Gespräch nicht zu nehmen. Mit Ruth schien Olivia wohl über alles reden zu können, da zerstörte es nichts und war kein Porno, aber ich wusste ja auch nicht, worüber sie sich unterhielten. Als es schon später wurde, wollte ich mich erkundigen. Da sprach Olivia über die einer literarischen Gesellschaft zugrunde liegenden Humanismen und die Solidarität unter den Lesenden. Offensichtlich gab es auch noch etwas anderes als mich, worüber sich die beiden unterhalten konnten. Was mit mir war, darüber sprach keiner von den beiden auch beim Abendessen nicht. Sicher war ich viel zu unbedeutend, als dass man mir etwas mitzuteilen hätte. „Wir haben uns hervorragend unterhalten, nicht wahr, Ruth? Wir sind uns sehr viel näher gekommen, wie Schwestern, Freundinnen wäre doch zu schwach, Ruth?“ meinte Olivia und die beiden lachten. Aber ich? Hatten sie denn vielleicht gar nicht über mich gesprochen? Ich musste wohl ein so kläglich fragendes Gesicht machen, dass ich eine Antwort bekam, ohne etwas gesagt zu haben. „Wir haben uns die Realität verdeutlicht und … -oder willst du es sagen Ruth?“ begann Olivia. Ruth schüttelte den Kopf. „wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es für Ruth einfacher ist, wenn sie es vorher weiß und sich darauf einstellen kann. Dienstags und Donnerstags wärst du dann bei mir.“ „Wie bitte?“ fuhr ich auf, „Ihr seid wohl verrückt. Organisiert an welchen Wochentagen ich welche Frau zu befriedigen habe. Ihr spinnt wohl. Warum hat mich denn keiner gefragt?“ „Ich weiß doch auch überhaupt nicht was wird. Für mich ist doch alles viel ungewisser als für dich. Wir haben einmal miteinander geschlafen, ich weiß gar nicht ob ich's nochmal will. Doch das weiß ich schon. Aber du hast mich doch nicht kennen, schätzen und lieben gelernt wegen meiner erotischen Reize. Hast du denn jeden Abend Sex mit Ruth, wenn du zu Hause bist? Das hat Ruth mir gar nicht gesagt.“ machte mir Olivia klar und Ruth schmunzelte. „Darum geht es doch nicht, Henry.“ „Trotzdem kann ich die Vorstellung nicht ertragen. Mit Frauen will ich überhaupt nichts mehr zu tun haben. Ich werde mir ein Testosteron Supressivum verschreiben lassen, dann sind alle Frauen für mich Neutrum.“ erklärte ich. „Ist er immer so ängstlich?“ erkundigte sich Olivia grinsend bei Ruth, die auch nur lächelte und nicht antwortete. „Ich glaube, wir denken im Moment in verschiedenen Welten, Henry. Wir haben uns so auf deinen Besuch gefreut, hatten uns nicht getraut. Jetzt darfst du zu mir kommen, sogar zweimal in der Woche, mehr ist nicht. Die Leidtragenden sind Ruth und ich, ganz arme Frauen. Hanna Cash hatte nichts, aber einen ganzen Mann für sich alleine.“ belehrte mich Olivia. Ich war demnach ja reich, hatte zwei Frauen, nur hatte ich das nie gewollt und auch jetzt nicht. Aber sich zu entscheiden, das wäre auch irrsinnig. Ich konnte nicht sagen: „Ruth oder Olivia“. Zu Ruth wollte ich abends nach Hause kommen und mit Olivia die Nacht verbringen. Es würde mich zerreißen. Wir konnten doch nicht etwas jetzt formal organisatorisch festlegen. Wir lebten doch, es wäre doch ein Prozess, in dem unterschiedliche Entwicklungen möglich waren. Teilweise bestätigte mich Olivia: „Ruth hat gesagt, Begierde, Lust, Sehnsucht und Verlangen würden immer nur ganz kurz befriedigt. Es wären Pflanzen, die immer sofort wieder neu wachsen würden, wenn du ihre Blüten gepflückt hättest. Wer weiß es, wenn nicht Ruth?“ Die legte nur ein breites Grinsen auf. „Es ist ja nur ein Vorschlag für den Anfang. Wie es sich entwickeln wird, kann ich mir am allerwenigsten ausmalen.“ erklärte Olivia.
Ich befolgte es brav. Nach der Begrüßungsumarmung bei Olivia tat ich kund: „Da bin ich, es ist Dienstag.“ Die Zauberin generierte den bösesten Blick, den ich bei ihr noch nie gesehen hatte. „Halt die Klappe, Henry. Wenn du so sprechen willst, kannst du sofort nach Hause fahren.“ herrschte Olivia mich an. Wenn ich mal ein wenig deutlicher und ernster sprach, bezeichnete Olivia es als Geschrei und daher nicht direkt ernst zu nehmen. Sie konnte es anscheinend selbst aber auch. Das traute ich mich nicht, ihr zu sagen, sondern entschuldigte mich nur hastig. Trotzdem sagte sie nichts und ich war auch sprachlos. Schweigend sah ich zu, wie die stumme Olivia in der Küche hantierte. Unser erster Ehekrach mit gegenseitigem Schweigen? Olivia legte ihre Arme um meine Taille und erklärte: „Mein Liebster, wenn du zu mir kommst, sprichst du zu mir. Deine Liebste ist der Adressat deiner Worte. Überlege dir gut, was sie gern hören würde, und benimm dich nicht wie ein Rowdy, der nichts als sich selbst im Kopf hat.“ Jetzt verzauberte wieder ein Lächeln den geliebten Anblick. Es war noch sehr früh, Olivia schlug vor, noch ein paar Schritte im Thielpark am Studententeich zu gehen. „Eigentlich müsste ich heute joggen. Was machst du denn, um dich fit zu halten?“ erkundigte sie sich. Ich grinste und erklärte: „Ich mache das mit Ruth zusammen.“ Olivia erwartete nähere Erläuterung. „Na ja, ein Geschlechtsverkehr entspricht dem Energieaufwand eines Marathonlaufes.“ erklärte ich. Olivia lachte sich tot. „Wo hast du das denn her?“ wollte sie wissen. „Hab' ich mal irgendwo gehört.“ so ich. „Trotzdem glaube ich es nicht.“ reagierte Olivia. „Wenn wir zusammen schlafen, kann ich mir das Joggen also mit ruhigem Gewissen ersparen, meinst du?“ sinnierte Olivia und platzte dann lachend los. „Weißt du, Henry,“ begann Olivia beim Spazieren gehen, „natürlich hatte ich mir Vorstellungen davon gemacht, wie es werden könnte, wenn ich nach Deutschland zurückkäme und wie ich mein Leben demnächst ändern würde. Aber ich bin nicht nach Deutschland, sondern nach Zauberland gekommen. Jeden Tag setzt sich ein nicht enden wollendes Wunder fort. Mein Leben ist ein anderes geworden, auf eine Art und mit einer Geschwindigkeit, wie ich es mir nicht ausmalen konnte. Wenn mir in Rio eine Fee mein derzeitiges Leben im Traum gezeigt hätte, ich würde es nicht geglaubt haben, hätte es aber auch gar nicht verstehen können. Verstehst du denn alles, was mit mir geschieht? Ich nicht.“ „Es geschehen keine Wunder im Zauberland. Du bist die Fee, die alles selbst bewirkt und alles kann und bekommt, wenn sie's will. Vielleicht passt bei dir vieles im Alltag zur Campesina, aber dein Herz gehört Amaru, der Riesenschlange, die das Symbol des Wissens und der Weisheit ist. Du bist die Zauberin, die mich jeden Tag Neues an dir erkennen und Wunder von dir erfahren lässt.“ erklärte ich es Olivia. Henry, der Schmeichler, musste ausgiebig mit Küssen belohnt werden. Olivia lachte. „Selbst wenn du Recht hast, Henry, aber jede Zauberin braucht einen Zauberstab oder eine Zauberkugel, ohne dem ist sie nur eine banale Schlampe wie alle anderen auch. Gleich zu Anfang werde ich in dir meine Zauberkugel gesehen haben. Auch wenn es mir nicht direkt bewusst geworden ist, aber gehandelt habe ich danach. Wir werden uns unser Zauberland selbst gebaut haben, nicht wahr?“ reagierte Olivia. Am Abend gab es wieder viel zu lachen. Um miteinander Sex zu haben, dazu schienen wir nicht im Bett zu sein. Stundenlang betätschelten wir uns begleitet von wispernden Liebesworten zärtlich und konnten uns immer wieder darüber freuen. Kinder auf der Spielwiese ihrer Liebe waren wir. Hastige Lust und Begierde wie beim ersten mal hatten wir nicht nötig. Wahrscheinlich waren wir uns sicher, dass es schon irgendwann aufkommen würde. Die erfülltesten Abende und Nächte ergaben sich, wenn wir vorher im Konzert oder in der Oper gewesen waren. Olivia regelte die Terminverschiebung mit Ruth, denn in der Philharmonie und der Oper kannte man ja unsere Terminregelung nicht. Auch wenn es mir zu Beginn höchst sonderbar vorgekommen war, und ich überhaupt nicht zwei Frauen lieben wollte, gewöhnte ich mich langsam an die Regelung. Nicht zuletzt dank Ruth, die großes Verständnis aufbrachte. „Nachempfinden kann ich deine Gefühle zwar nicht, aber verstehen kann ich es, glaube ich, gut, dass du Olivia liebst. Jede Mutter müsste sich endlos freuen, wenn ihr Sohn eine so großartige Frau liebte.“ erklärte Ruth. Ich schmunzelte nur und machte mir kuriose Gedanken. Immer häufiger mussten die geplanten Dienstage und Donnerstage verschoben werden, weil Olivia oder ich abends andere Termine hatten. Dafür bekamen Olivia und ich meistens ein Wochenende. Ein sonderbares Leben, aber alles andere hätte ich nicht ertragen können.
Aufgeregt, verwundert und auch stolz verkündete Olivia mir, dass sie ein Angebot vom portugiesischen Verlag Editorial Caminho aus Alfragide bei Lissabon erhalten habe. Sie konnte es selbst nicht glauben. Das war nicht nur der Verlag von José Saramago sondern auch anderer berühmter Autoren, und sie solle die Autorenbetreuung übernehmen. Unvorstellbar, aber man hatte es damit begründet, dass sie eine kosmopolitische portugiesisch-deutsche Frau sei. Man wolle internationale Gesichtspunkte stärker gewichten, und da sei sie mit ihrer brasilianischen Erfahrung genau richtig. „Ich kann es mir gar nicht vorstellen. Ich kenne die nur von der Buchmesse persönlich, ja und eine Autorin von ihnen habe ich mal interviewt, aber die spinnen doch. Wie können die in Portugal eine Deutsche mit der Autorenbetreuung beauftragen wollen. Man wird sie ablehnen.“ meinte Olivia. Offensichtlich stand es für Olivia aber keineswegs fest, das Angebot abzulehnen. Ich hätte schreien können: „Olivia, vergiss es. Dein Leben ist hier. Du kannst doch nicht gehen. Ich sterbe sofort, wenn du mich verlässt.“, machte aber wohl nur ein gequältes Gesicht. „Henry, da wird bestimmt nichts draus.“ tröstete Olivia mich, „Aber so etwas zu machen wäre natürlich der Big Bang meines Lebens. Leo würde vor Neid auf die Bäume klettern. Der Herr Professor könnte in seinen Seminaren stolz von meinen Erfahrungen berichten.“ Heute sprach ich es besser nicht an, was es für uns bedeuten würde, Olivia war zu stolz. Am nächsten Tag sah ich Olivia zum ersten mal weinen. In den folgenden Tagen kam bei jedem zweiten Wort das Gespräch darauf. Es wechselte zwischen den Positionen, dass sie es klar ablehnen würde, weil Olivia ihr Leben hier mit mir sah und dass sie eine Chance, wie die in Portugal, nie wieder in ihrem Leben erhalte. Aber unsere Gespräche erweckten immer den Eindruck, als ob es sich schon um den Abschied handele und der gleichzeitig das Ende für uns und unsere Liebe bedeute. Wir konnten nicht wochenlang diskutieren, Olivia wollte nach Portugal fahren und sich im persönlichen Gespräch näher erkundigen. Als sie zurückkam, erweckte sie aber den Eindruck, dass es für sie feststehe, obwohl sie erklärte, dass noch nichts entschieden sei. Unsere Liebe würde es überhaupt nicht tangieren, Liebe überbrücke jede Entfernung und die Sehnsucht sei umso größer. Ihre Wohnung in Dahlem, an die sie durch Beziehungen in Brasilia gekommen war, würde sie nicht mehr halten können. Selbstverständlich hätte sie bei uns wohnen können, wenn sie nach Hause käme, aber das wäre Ruth doch nicht zuzumuten gewesen. Mit einer Freundin, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hatte, fand sie eine gemeinsame Wohnung in Kreuzberg.
Beim Abschied weinten wir gar nicht mehr. Vielleicht hatten wir uns schon damit abgefunden, vielleicht konnte Olivia mich in ihrer nicht offen gezeigten Freude auch gut trösten. Sie freute sich nicht zuletzt auch darauf, Maria, die sie schon bei ihrem ersten Besuch in Alfragide getroffen hatte, jetzt öfter sehen zu können, andererseits war sie auch ganz erfüllt vom Traum ihrer neuen Aufgaben. Von der Faszination darüber bekam ich auch jedes mal zu hören und nicht nur von unserer Liebe. Auch wenn ihr Salär deutlich höher als beim Sender war, musste sie aufs Geld achten, denn die teuren Flüge nach Berlin bezahlte der Verlag natürlich nicht. Olivia wollte es wenigstens einmal im Monat ermöglichen, dafür musste sie sich sonst ehr einschränken. Wie zwei vor Freude glühende Sonnen begrüßten wir uns jedes mal am Flughafen. Dass ich nur Olivia gehörte, wenn sie am Wochenende kam, war selbstverständlich. Auch im Urlaub. Wenn andere Leute nach Portugal in die Sonne fuhren, kam Olivia nach Berlin-Kreuzberg. Ich hatte mir dann auch Urlaub genommen und erlebte die glücklichsten Tage meines Lebens mit Olivia und ihrer Freundin. „Olivia bleib! So will ich immer leben.“ ging es mir beim Abschied durch den Kopf. Zwei Wochen nicht zu Hause und glückliche Ferien mit Olivia verbringen, das war für Ruth eine harte Probe, zumal für uns ja kein gemeinsamer Urlaub mehr zur Verfügung stand. Ruth fuhr allein in die Provence. Da waren wir schon öfter gemeinsam gewesen. Als ich Weihnachten auch nur kurz zu Hause war und auch Silvester mit Olivia verbracht hatte, sprach Ruth es an: „Nichts ist mehr wie es war, Henry. Wir leben nicht mehr zusammen, auch wenn du immer sagst, dass du mich liebst. Du gehörst mir nicht mehr, du gehörst eindeutig Olivia, auch wenn sie sich im entfernten Lissabon befindet. Ich bin zu deiner Gebrauchsfrau für den Alltag geworden. Kannst du dir vorstellen, dass ich mir in dieser Rolle nicht gefalle?“ Zwei Monate diskutierten wir. All meine Beteuerungen, Erklärungen und Vorschläge konnten Ruths herbe Enttäuschung nicht klein reden. Als ich im März wieder ein Wochenende mit Olivia verbracht hatte, erklärte Ruth mit Tränen in den Augen: „Ich habe genauso ein Recht auf Leben und Freude wie du, Henry, und alle anderen Menschen auch. Du zerstörst sie. Es ist Frühling, ich will leben, aber du lässt es mich als Qual erfahren. Ich ertrag es so nicht mehr. Was ich will, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich es so nicht länger will und kann.“ Einen ganzen Monat lang versuchte ich Ruth zu bewegen, aber alles Bitten, Betteln und Klagen half genauso wenig wie alle Vorschläge für Veränderungen und einen Neubeginn. Ich war für sie ein anderer geworden. Das Bild von Henry, den sie liebte, war nur noch Erinnerung. Ruth vermittelte mir das Gefühl, gar keine Lust zu haben, es wie auch immer mit mir zu versuchen. Derjenige, der Lust hat, ihr seine Liebe zu schenken, war ich offensichtlich nicht mehr, sondern derjenige, dem es nichts ausmacht, sie wegen eigener Interessen zu verletzen, der ihr rücksichtslos weh tun konnte. „Es macht doch keinen Sinn mehr, Henry. Innerlich sind wir längst geschieden. Du gehörst Olivia, anders kannst du gar nicht, aber zu mir gehörst du schon lange nicht mehr.“ erklärte Ruth, womit unsere Trennung beschlossen war. Die Vorstellung, Ruth zu verlieren oder nur verletzen zu können, war mir zu Beginn meiner Liebe mit Olivia unerträglich erschienen. Jetzt wollte ich es zwar auch keineswegs, aber Ruth hatte schon Recht, unsere Beziehung hatte auch für mich ein anderes Gewicht bekommen. Lange suchte ich nach einer Wohnung, bis ich ganz im Süden in der Nähe vom Wannsee eine passable gefunden hatte.
Jetzt konnte Olivia zu mir kommen. Das tat sie auch. Wir schauten uns einiges an, fuhren nach Potsdam, aber letztendlich gefiel es uns in Kreuzberg, wo auch meistens ihre Freundin anwesend war, viel besser. Olivia war sehr beschäftigt und konnte auch deshalb, und nicht nur wegen des Geldes, äußerst selten kommen. Auch ihren Urlaub musste sie aufschieben. Weihnachten kam sie endlich. „Du wirkst sehr abgearbeitet. War es so stressig?“ wollte ich am Flughafen von Olivia wissen. Sie lächelte nur. Olivia hatte darum gebeten, die Weihnachtstage allein bei mir zu verbringen. „Jetzt ist alles wieder gut. Alles ist wieder in Ordnung.“ sagte sie beim Kaffee und strich mir über die Wange. „Was ist wieder in Ordnung?“ wollte ich wissen. „Ich bin sehr dumm und töricht gewesen und habe einen großen Fehler gemacht. Ich konnte es dir nicht erzählen, aber jetzt ist alles vorbei. Jetzt ist alles wie früher, wie es immer war.“ erklärte Olivia. Mir schwante etwas, was ich nicht glauben konnte und nicht wahrhaben wollte. „Etwas erzählen musst du mir aber schon. Wenn es sowieso vorbei ist, wird es dir doch nicht schwerfallen.“ wollte ich Genaueres erfahren. Natürlich, Olivia hatte einen anderen Mann kennengelernt. Sie hatte ihn als Schriftsteller betreut und dabei waren sie sich näher gekommen. Er hätte sie verehrt, sich ihretwegen von seiner Frau getrennt. Als er Olivia habe heiraten wollen, sei sie wach geworden und habe alles beendet. Ich konnte nichts sagen, mir fehlten jegliche Worte und meine Stimme wäre auch nicht in der Lage, sie zu äußern. „Es ist doch alles völlig aus und vorbei, Henry. Nichts ist mehr. Ich habe ihm erklärt, dass ich ihn nicht mehr liebe und nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle. Für uns ist alles wie immer, es gibt nichts anderes mehr.“ reagierte Olivia auf mein betretenes Gesicht. „Nichts ist wie früher, Olivia. Dadurch das du es beendet hast, kannst du das Geschehene nicht löschen oder rückgängig machen. Und was geschehen ist, verstehe ich überhaupt nicht.“ erwiderte ich. „Verstanden habe ich es doch auch nicht, Henry. Es ist wie in einem Nebel über mich gekommen. Ich sage ja, dass es eine sehr große Dummheit war.“ antwortete Olivia. „Trotzdem, die Olivia, die ich hier verabschiedet habe, hätte das nicht gekonnt, die Olivia, die mich verlassen hat, ist nicht die, die das jetzt getan hat und auch nicht die, die es mir jetzt erzählt und so erzählen kann.“ erklärte ich. Ich konnte es nicht fassen, meine Olivia, die nur mich lieben konnte, hatte sich in einen anderen Mann verliebt. Nach ihren damaligen Erklärungen und Interpretationen wäre das gar nicht möglich gewesen. Zu wem war sie geworden, dass sie es doch tat? Olivia versuchte immer zu erklären, zu entschuldigen, sich selbst entsetzlicher Dummheit zu bezichtigen. „Wenn ich in ihrer Nähe gewesen wäre, hätte das auch nicht passieren können.“ beteuerte sie. Trotz aller Bemühungen, Entschuldigungen und Erklärungsversuche Olivias blieb ich schockiert nicht nur, weil sie mich und unsere Liebe mit der Liebe zu einem anderen Mann betrogen hatte . „Ich war sonst immer freudig überrascht, neue Seiten an dir kennenzulernen. Das ist keine neue Seite, sondern ein Rückschritt. Nicht etwas Neues ist hinzugekommen, sondern etwas Altes zurückgekehrt, das du in deinem neuen Leben hier damals überwinden wolltest. Es verdeutlicht, dass du wieder in eine Sicht-, Denk- und Verhaltensweise zurückgekehrt bist, die du überwunden hattest und glaubtest abgelegt zu haben. Wenn du in der Oberflächlichkeit verweilst, wieder denkst und empfindest, wie sie es alle tun, dann wird so etwas leicht möglich. Es ist kein Fehler, was du getan hast, es ist Zeichen einer Veränderung, einer Rückwärtsorientierung, die ich bei dir nicht für möglich gehalten hatte und die mir überhaupt nicht gefällt.“ erläuterte ich. „Wir müssen viel intensiver miteinander reden. Wir könnten uns auch Briefe schreiben, richtige Briefe, das ist etwas ganz anderes als E-Mails. Erzählungen und Romane sind im Grunde nichts anderes als Briefe des Autors, bei denen der Leser der Adressat ist.“ schlug Olivia vor. Ich war verwirrt, Olivia aber anscheinend auch. Den Abend und die Nacht mit ihr verbringen, das konnte ich nicht, sie interessierte mich überhaupt nicht, sondern ich würde mich wohler fühlen, wenn ich sie nicht sähe. „Olivia, ich denke, es wäre besser, wenn du zu dir führest, ich kann dich auch bringen.“ äußerte ich. Olivia begann zu weinen. Sie erklärte und verdeutlichte mir unsere Liebe. „Du hast ja Recht, nur im Moment fällt es mir schwer es auch so zu empfinden. Das andere beschäftigt mich zu sehr, deshalb möchte ich lieber allein sein.“ sagte ich knapp. Olivia nahm ein Taxi und fuhr zu sich. Am nächsten Morgen rief sie schon an, aber ich bat sie, mir Zeit zu lassen. Ich würde mich melden. Nur ich verspürte keinerlei Bedürfnis, Olivia zu sehen. Als ob ihr glänzendes Bild zerbröckelt wäre und daraus eine Ikone meiner Täuschung und Verletztheit entstanden wäre. Am darauf folgenden Tage rief Olivia doch wieder an, meinte so ginge es doch nicht, wir müssten miteinander reden. Dass ich dazu keine Lust hatte, traute ich mich nicht zu sagen. So hatten wir noch nie miteinander gesprochen. Olivia versuchte immer Vertraulichkeit zu erzeugen, aber es blieb kühl, weil ich meine Distanziertheit wohl nicht unterdrücken konnte. Diese Olivia war mir so fern. „Was willst du denn eigentlich, Henry, dann lass es mich doch wissen.“ forderte mich Olivia plötzlich auf. Ich schwieg lange, bevor ich antwortete: „Ich will meine alte Olivia zurück, aber die bist du nicht mehr.“ „Du spinnst, Henry, ich bin kein anderer Mensch geworden, weil ich etwas mit einem anderen Mann zu tun gehabt habe. Hat Ruth etwa gesagt, du seist ein anderer Mensch geworden, als wir zusammen geschlafen haben?“ machte mir Olivia klar. „Darum geht es nicht, Olivia. Du hast begonnen, in einer anderen Welt zu leben, wodurch es für dich erst dazu kommen konnte. Das ist nicht die Welt, in der die Zauberfee ihr Zuhause hatte, sondern die Welt der Oberfläche, in der sie keine Zauberkugel hat, sondern eine ganz banale Schlampe, wie alle andern auch ist.“ erklärte ich. „Bitte, Henry, benimm dich. Sag mir doch, was ich tun kann, damit es zwischen uns wieder wie immer wird. Es gibt nichts nachdem ich mich mehr sehne.“ bettelte Olivia. „Ich kann nicht sagen: „Olivia, tu Dies oder Jenes, dann wird es wieder wie früher sein.“. Das ist doch Unsinn. Nichts wird wie es früher war, alles ist immer wie es jetzt ist. Damit werden wir leben müssen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Aber jetzt bist du eine andere Frau, als die, die ich geliebt und begehrt habe.“ reagierte ich. Wir trennten uns wieder. Zwei Tage später rief die weinende Olivia an: „Was soll das denn, Henry? Das ist doch Irrsinn. Du machst mich verrückt und uns beide verrückt. Das können wir beide nicht. Du liebst mich doch. Aber du bemühst dich krampfhaft es zu verdrängen und zu vergessen. Ist dir unser gemeinsames Glück nicht auch mehr wert. Versuch doch mal daran zu denken. Erinnere Dich doch mal. Du bist anscheinend nur in deinen kruden Gedankenwelten gefangen, die für uns beide katastrophal sind.“ Ich konnte ihr nichts Positives sagen, ich konnte ihr nicht sagen, dass ich sie sehen wollte, ich hatte schlicht keine Lust auf Olivia. Richtig erklären konnte ich es mir selber nicht. Ich hatte mich selber gefragt, ob es nicht völlig übertrieben sei, wegen eines sogenannten Saitensprungs derart übertrieben zu reagieren. Aber darum ging es ja nicht. Ich sah die mir ferne Geschäftsfrau aus Lissabon, die mich durch nichts reizte. Das Bild meiner Olivia, der Campesina, nach dem es mich verlangte, wollte nicht auftauchen. Trübe, enttäuscht und traurig waren meine Gedanken, wenn ich an Olivia dachte. All die wunderschönen alten Bilder waren jetzt nur noch Geschichten aus der herrlichsten Zeit meines Lebens, aber jetzt waren sie nicht mehr zum Leuchten zu bringen. Am Tag vor Weihnachten rief ich Olivia morgens an und erklärte ihr, dass ich Weihnachten nicht mit ihr verbringen möchte. Ich wisse nicht, was mit mir sei. Wenn sich etwas ändere und ich auf andere Gedanken käme, würde ich mich melden. Ich meldete mich aber nicht, nicht zu Weihnachten und nicht zu Neujahr, und Olivia flog unverabschiedet, allein nach Lissabon zurück.
Nach zwei Wochen bekam ich einen Brief, vierzig Seiten handgeschrieben. Sie zeigte nochmal die Entwicklung unserer Liebe auf, und mir kamen beim Lesen die Tränen. Olivia beklagte die tiefen, niemals voll heilenden Wunden, die wir uns selber zufügen würden. Wehmut kam schon auf, aber kein Verlangen. Sie hatte sich mir entfremdet und von der früher immer gegenwärtigen Lust auf sie, war nichts zu spüren. Meine Olivia existierte nicht mehr. Ich beantwortete ihren Brief und wir schrieben uns auch weiterhin pervers anmutende relativ belanglose Mails unter Bekannten, in denen von unserer Liebe kein Wort mehr erwähnt wurde. Aber dieser Businessfrau gehörte ich nicht und wollte ich nicht gehören. Die Campesina war längst gestorben. Es nicht können und trotzdem gut sein, lautete sicher nicht mehr ihre Devise. Sie konnte alles und war in das fehlerhafte Leben zurückgekehrt. Nie hatte ich daran gedacht, aber der Beziehung zwischen Olivia und mir hatte ich in meinen Gedanken und Emotionen wohl so etwas wie die Gestalt einer uneinnehmbaren, unzerstörbaren Festung eingeräumt, außer Acht gelassen, dass Menschen und ihre Beziehungen untereinander immer veränderbaren Prozessen unterliegen und keine in Beton gegossenen Skulpturen sind. Ein festes Bild hatte ich von Olivia, das zwar gewisse Freiheitsspielräume hatte, aber es war mein Bild und nicht Olivia selbst. Das Bild liebte ich und in das musste Olivia sich fügen, wenn sie, die selbstverständlich die Freiheit hatte, sich auch völlig anders zu verhalten, konnte ich sie nicht mehr lieben. Ich hatte sie okkupiert, auch wenn all meine Gefühle und mein Glück durchaus ernsthaft und berechtigt gewesen waren. Vor Liebe und Beziehung zu einer Frau grauste mir. Wahrscheilich würde ich meinen in die Katastrophe führenden Fehler immer wieder machen. Ich meinte auch immer noch Ruth zu lieben, auch wenn ich akzeptiert hatte, dass unsere Beziehung für sie unerträgliche Formen angenommen hatte. Wahrscheinlich befand sich das Bild von ihr genauso in meinem Besitz wie das von der früheren Olivia.
Ihre Freundin kam mich besuchen. Sie erläuterte mir noch mal alles, hatte schon vorzeitig Olivia von ihrem neuen Liebhaber schwärmen gehört, und sie gewarnt, nicht den größten Fehler ihres Lebens zu machen. Jetzt sehe Olivia es selber so. Völlig fertig sei sie. In den Weihnachtsferien habe sie zwischen Weinkrämpfen und Tobsuchtsanfällen gewechselt. „Ihr gehört zusammen. Olivia gehört nur zu dir. Es kann niemanden anders geben. Du musst dich um sie kümmern. Sie zerbricht daran.“ hatte ihre Freundin gesagt. Das war sehr traurig und ich war auch gewiss Schuld daran, aber einen Menschen lieben, weil er es gern möchte oder braucht, das geht nicht. Da musste ein Arzt ihre Seele pflegen, meine Liebe konnte ich ihr nicht schenken. Die existierte nicht mehr. Als ich Ruth traf, bekundete sie mir ihr tiefstes Mitleid und wir überlegten gemeinsam, was ich tun könnte, um zu Olivia zurückzufinden. „Im Nachhinein erscheint es mir als Phantom, das nicht mehr existiert. Im Zauberland lebten wir, haben wir gesagt, es war das Zauberland der Fantasien unseres Unbewussten. Das existiert nicht mehr, und du kannst es nicht wiederherstellen oder nachträglich real werden lassen. Es war wie ein Traum, wenn du so willst. Wie in einer Ekstase fand unser Glück statt. Das ist vorbei, endgültig.“ erklärte ich. „Haben wir denn auch in einer Ekstase gelebt?“ wollte Ruth wissen und lachte. „Unsere Liebe war ein ganz irdisches, reales Glück, das Glück, was Menschen empfinden, wenn sie tiefe vertrauensvolle Beziehungen untereinander haben. Nur wir sind damit umgegangen wie Idioten, haben es in seinem Wert nicht erkannt, es wie etwas Alltägliches, Selbstverständliches behandelt, obwohl es das Größte ist, was es überhaupt für uns geben kann.“ verstand ich es. Im weiteren Verlauf bezichtigten wir uns selbst unserer Fehler, die wir begangen hatten. Jederzeit hätte ich wieder mit Ruth zusammen leben können. Sie war nicht die ferne Geliebte, nach der ich Verlangen hatte, sie gehörte einfach zu mir, zu meiner Welt wie meine Mutter und mein Vater. Versuche in der Richtung unternahm ich aber nicht. Ruth hatte ihr eigenes Leben und das respektierte ich, aber die Vertrautheit unter uns, die der von Geschwistern glich, würde voraussichtlich immer bestehen bleiben.
Mit Olivia tauschte ich jetzt schon über Jahre E-Mails. Wir schrieben darüber, was sich für uns beruflich ereignet hatte und über's Wetter. Jemandem zu schreiben, wen ich interviewt und was ich dabei erfahren hatte, war ja nicht schlecht, nur dass die Adressatin Olivia war, spielte dabei keine Rolle. Eine entfernte Bekannte war sie, mit der man nichts Persönliches besprach. Ob sie ihrem alten Verehrer gesagt hatte, sie liebe ihn jetzt doch wieder, oder ob sie eventuell verheiratet war uns sogar schon Kinder hatte, ich wusste es nicht, würde und wollte es auch gar nicht erfahren. Nur von portugiesischen Romanen und Erzählungen bekam ich berichtet und manchmal hatte sie das eine oder andere Gedicht für mich übersetzt. Zu Beginn hatten wir uns wöchentlich geschrieben. Wenn ich auch keine Liebe mehr empfinden konnte, in meinem Kopf bewegte sich Olivia doch ständig, und da war die ehemalige von der jetzigen nicht immer klar getrennt. Die Häufigkeit unseres Briefwechsels nahm ganz langsam aber stetig ab. Wir schrieben uns noch einmal im Monat, aber das war auch nicht mehr sicher. Es kam mir auch so vor, als ob Olivia immer weniger Wert darauf lege. Ob unsere Korrespondenz je qualitativ hochwertig war, weiß ich nicht, jetzt schien Olivia aber ihre Texte oft sehr fahrig zusammen zu stellen, ging gar nicht auf das ein, was ich geschrieben hatte. Leo, der schon seit Jahren Portugiesisch Professor in Stuttgart war, rief mich an. Er käme nach Berlin und wolle sich mit mir treffen, es sei ihm sehr wichtig. „Ich will es gleich sagen,“begann Leo, als er Platz genommen hatte, „Olivia geht es sehr schlecht.“ „Schade, aber was habe ich damit zu tun?“ schoss es mir in der Pause, die Leo machte, durch den Kopf. „Sie ist am Ende.“ fuhr er fort, „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dass sie auch ihre Arbeit verliert.“ Wieder legte Leo eine Pause ein und antwortete auf mein fragendes Gesicht: „Sie trinkt.“ Wie lange wusste er nicht. „Neu ist es aber keinesfalls. Jeder kann es ihr ansehen, und Maria meinte schon vor zwei Jahren, dass etwas mit ihr nicht mehr stimme. Da konnte sie es aber noch gut kaschieren. Das hat sie immer gekonnt, vor allem beruflich. Als ich es erstmals vermutete, hat sie mich lächerlich gemacht und alles abgestritten, bis ich später mal einen ganzen Berg leerer Medronho und Figo Flaschen in einer Abstellkammer fand. Da half kein Leugnen mehr. Sie habe abends immer gern ein Glas Wein getrunken und das habe sich ausgedehnt, erklärte sie es. Jetzt sieht sie offenbar alles ein, will alles tun, was du sagst, aber morgen ist es wie gestern, als ob du in einen holen Raum gesprochen und nur das Echo gehört hättest. Ich weiß nicht, was sie will.“ Dabei kamen Leo die Tränen. „Sie sieht alles und kann die Entwicklung erkennen. Will sie sich verrückt und zu Tode saufen? Sie ist doch nicht allein auf dieser Welt. Sie gehört doch nicht nur sich selbst. Das kann sie mir und den anderen doch nicht antun. Wenn Olivia stirbt, will ich auch, kann ich auch nicht mehr leben. Aber niemand hat mehr Einfluss auf sie, Maria nicht und selbst ich nicht. Alle haben sie schon mit ihr zu reden versucht, aber immer ohne Erfolg. Sie verspricht alles, befolgt aber nichts, schimpft und flucht nur immer und das auf eine unerträglich proletenhafte Art.“ berichtete Leo. Ich sah das Bild meiner Olivia, und musste schlucken. Es war entsetzlich, das zu hören. Warum erzählte Leo es mir? Wollte er mich schockieren? „Deinetwegen ist das alles geschehen.“ sagte Leo plötzlich zu mir. Ich stritt direkt nichts ab, sondern erwartete Leos Erläuterung. „Sie hat eure Trennung überhaupt nicht verkraftet, hatte psychische Ausfälle, wir haben ihr dringend empfohlen, einen Therapeuten aufzusuchen. Arbeitstherapie hat sie es genannt, dass sie rastlos geschuftet hat. Ich bin ihr Bruder, aber du bist ihr Gott, Henry. Du hättest sie verstoßen, sagt sie auch heute noch immer wieder. Das ist ihre Bezeichnung für eure Trennung, aus dem Paradies hast du sie verwiesen. Ich habe gedacht, wenn es irgendjemanden geben würde, der ihr noch helfen könnte, wärest du es vielleicht. Du sollst sie ja nicht lieben, nur Mitleid mit ihr haben und ihr helfen.“ meinte Leo. Wir sprachen noch über unsere Trennung. Leo sah es so, dass Olivia nicht ihre Lebenskunst in der Oberfläche gesucht habe, sie sei nur zu Beginn überglücklich in ihrer neuen Aufgabe gewesen, sei übermütig geworden und habe leichtsinnig geglaubt, alles probieren, alles tun und lassen zu können, wonach ihr gerade war. Dass es auch um ihr Leben ging, sei ihr erst schlagartig bewusst geworden, als der Mann sie heiraten wollte. Natürlich habe sie sich in Portugal verändert, wie jeder andere sich auch immer verändere, aber nicht so, wie ich es sähe. Das war mir jetzt auch gleichgültig. Ich wollte so schnell wie möglich zu ihr und ihr zu helfen versuchen.
Ich käme nach Lissabon und da wolle ich sie besuchen, sagte ich Olivia am Telefon. „Oh je,“ bekam ich zu hören, „der schnellste bist du aber nicht, wenn du fünf Jahre gebrauchst, bis du weißt, dass du mich sehen willst.“ Das Gesicht, das mich zur Begrüßung anschaute, hätte ich auch lieber nicht gesehen. Ich wischte mir über die Augen, als ob ich es verdauen müsste. Als ich Olivias Gesicht sah, zeigte sich mir gleichzeitig ihr Lachen von unserem ersten Abend, und ich musste schlucken. Dass Olivia destruiert war, brauchte man gar nicht zu erklären. „Du kommst, weil ich saufe, nicht wahr?“ sagte sie auch direkt. „Du magst es so sehen, aber ich sehe es so, dass ich gekommen bin, weil es nicht nur dich, sondern auch mich, mein Innerstes zerbricht, wenn ich von dir höre und dich jetzt erlebe.“ erwiderte ich. „Wie auch immer, Henry, ich freue mich sehr, dich zu sehen. Es lässt mich einfach glücklich empfinden.“ erklärte Olivia. „Ich habe nicht geglaubt, dich jemals wiederzusehen.“ fügte sie hinzu und es erweckte den Anschein, als ob ihre Lider sich befeuchteten, aber bei den verschwommenen Augen konnte man es nicht genau wissen. Dann erzählte Olivia haargenau wie sich alles entwickelt hatte. Sie erzählte brav als ob sie ein kleines Mädchen wäre und suchte immer Verständnis in meinen Augen. Den Adega de Borba habe sie gern getrunken. Das er nicht nur gut schmecke, sondern auch ihre Gefühle aufhelle, habe sie erst relativ spät gemerkt. „Das tat mir gut. Ein wenig desperate war ich schon, wie du dir denken kannst. Hat dich denn unser Verlust überhaupt nicht gequält?“ fragte Olivia. „Ich glaube schon, aber erzähl du doch weiter.“ forderte ich sie auf. Ich bekam im Detail die Entwicklung zur Alkoholabhängigkeit beschrieben, wie es schon zu spät war, als sie es sich selbst eingestehen musste. „Ich hatte ja auch keinerlei Motivation, sah nur die düsteren Perspektiven, die ich nicht wollte und dagegen half trinken. Jetzt ist alles zu spät. Im Verlag sagen sie, ich solle aufhören und zum Arzt gehen. So ginge es nicht weiter.“ erzählte Olivia. „Warum tust du das nicht?“ fragte ich. „Warum denn, wozu denn? Es hat doch alles keinen Zweck mehr.“ bekam ich zu hören. „Du hättest ganz früh schon zum Arzt gehen sollen. Hast du es schon mal jemandem so erzählt, wie jetzt mir, Leo oder Maria?“ „Vielleicht hast du Recht, aber jetzt ist alles zu spät. Erzählt habe ich nie jemandem etwas. Mein wichtigstes Anliegen war doch immer, so unauffällig wie möglich zu erscheinen und mich so lange über Wasser zu halten, wie es geht.“ antwortete Olivia mir. Wie eine hoffnungslose Todgeweihte stellte sie sich dar. Ich konnte die Situation nicht ertragen und begann zu weinen. „Es ist schön, dass du gekommen bist, Henry, aber helfen kannst du mir auch nicht mehr. Mir ist nicht mehr zu helfen.“ sagte sie. „Olivia, das bist du doch nicht. Eine Frau, die sich selbst nichts mehr wert ist.“ erklärte ich mit Tränen in den Augen. Jetzt erzählte ich, wer sie war, wie wir uns kennengelernt und sich unsere Liebe entwickelt hatte. Olivia wollte etwas zu trinken holen. „Nein, keinen Tropfen, nur Wasser.“ erklärte ich harsch, „Sonst fahre ich auf der Stelle.“ „Ich weiß das auch alles, Henry. Kein Wort habe ich vergessen, aber du wolltest mich nicht mehr.“ Olivia dazu. Nicht diese Diskussion jetzt, aber es ließ sich wohl nicht vermeiden. „Es ist sehr kompliziert, Olivia. Richtig verstehen werden wir es wohl beide nie.“ versuchte ich die Diskussion zu umgehen. „Ich gehöre dir, Henry. Nur dir gehöre ich, das ist auch jetzt immer noch so. Eine Frau kann im Leben nur einem Mann gehören, und das bist du. Wenn du mich verstößt, verursacht das einen Schmerz, der niemals endet.“ erklärte Olivia. „Nein, diese Frau die sich selbst zu Grunde richtet, soll mir nicht gehören. Mir gehört nur eine Olivia, die lachen kann, die Freude hat und glücklich ist. Verstoßen, wie du es nennst, habe ich dich nie.“ verdeutlichte ich mich. „Nur, Henry, diese Olivia wird es nicht mehr geben können, das ist ein für alle mal vorbei. Die Wunde ist zu groß geworden, sie wird nicht mehr heilen.“ Olivia darauf. Nur, wenn sie mir schon gehörte, dann musste sie auch gehorsam sein, dachte ich innerlich schmunzelnd. „Olivia, du kannst es in deinem desperaten Zustand nicht erkennen, ich weiß aber dass es möglich sein wird und kenne Mittel um die Wunde zu schließen.“ behauptete ich. „Und wie stellst du dir das vor? Ich darf keinen Tropfen Alkohol mehr trinken. Toller Rat. Du weißt nicht, wie oft ich ihn schon gehört habe.“ erwiderte Olivia. „Nein, ganz anders. Ich werde dich sofort mit nach Berlin nehmen. Deine Wohnung werden wir jetzt gleich von Alkohol völlig desinfizieren, und morgen fahre ich mit dir zum Verlag und erkläre, dass du eine Kur benötigst.“ lautete mein Vorschlag oder auch Befehl. „Du kannst ja sehr rigide sein, Henry“ war Olivias Kommentar. „So lernst du auch mal neue Seiten an mir kennen, die du bislang nicht kanntest.“ scherzte ich. Sofort durchsuchten wir die ganze Wohnung und vernichteten alles, was an alkoholischen Getränken zu finden war. Wir mussten uns beeilen. Den Verlag wollte ich von Berlin aus telefonisch informieren. Mit dem nächsten Flieger ging's am anderen Morgen nach Berlin und vom Flughafen aus direkt zur Klinik Nikolassee. Man vertröstete uns und gab Olivia ein Präparat fürs Akute mit. Bis zum nächsten Morgen könne nichts passieren, und dafür bekamen wir einen Termin. Es war schon ein sehr sonderbares Erlebnis, natürlich schlief Olivia bei mir. Ich hatte zwar eine Schlafcouch, aber das wollte und konnte ich nicht. Wieder gemeinsam lagen wir im Bett, lächelten uns an, und Olivias Blick schien zu fragen, ob sie näher kommen dürfe. Aneinander gekuschelt erzählten wir uns noch ein wenig und schliefen dann ein.
Nach einer Woche körperlicher Entgiftung und intensiver Stoffwechselregeneration in Nikolassee war Olivia wieder ein normaler vollwertiger Mensch. Entwöhnungsbehandlung in einer Rehabilitationsklinik brauche sie nicht. Was man ihr da erzähle, wisse sie sowieso. Sie würde jetzt keinen Tropfen mehr anrühren. Das sah ich anders. Wir wussten ja gar nicht was wurde. Wenn sie allein nach Portugal zurückkehre, würde sie wieder anfangen zu trinken, andernfalls würde sie ihren Job verlieren. Sie weinte bei der Vorstellung, meinte aber, sie hätte ihn ja sonst sowieso verloren, und ihre alte Reputation könne sie auch nicht wieder erlangen. Leo regelte die Kündigung beim Verlag für sie. Jetzt wohnte Olivia bei mir. Meine ganzen liebgewonnenen Weinvorräte hatte ich verschenkt und der Cognac hatte in der Toilette sein Grab gefunden. Wollte sie hier wohnen bleiben? Andere Äußerungen waren von ihr nicht zu vernehmen. Nur brauchte sie ihre Wohnung in Portugal dann nicht mehr. Ja, wir wollten zusammen wohnen. Olivia meinte, sie brauche mich sowieso und auch damit ich auf sie aufpassen könne. Wir besorgten uns eine neu Wohnung und Maria regelte die Auflösung ihrer Wohnung in Portugal. Ständig hatten Olivia und Maria darüber telefoniert, was sie behalten wolle und Berlin gebrauche. Eine kleine portugiesische Spedition brachte ihre Sachen zu einem Spottpreis in unsere neue Wohnung. Jetzt erst wurde es zu unserem gemeinsamen Zuhause. Wie selbstverständlich kam es mir vor, dass ich mit Olivia zusammenlebte. Dass ich es gedacht und auch wirklich so empfunden hatte, ich habe keine Lust und spüre kein Verlangen mehr, wusste ich zwar, aber vorstellen konnte ich es mir nicht mehr. „Wenn wir uns tief geliebt haben, das war doch zweifellos so, dann siehst du nur noch den anderen Menschen, seine Taten sind unbedeutendes Beiwerk. Maria, meine Mutter und vor allem Leo würden niemals sagen, sie könnten mich nicht mehr lieben, weil ich mein Verhalten so oder so verändert hätte. Die Liebe erkennt nur den Menschen und liebt ihn, alles andere ist Oberfläche und hat auf die Liebe keinen Einfluss.“ erklärte Olivia. Ich war folglich der dem Oberflächenfetischismus Verhaftete. Es ließ mich nachdenken. Hatte ich Olivias Bild ein Klischee verpasst, dass mir nicht gefiel, es mit Olivia identifiziert und erklärt „Ich liebe dich nicht.“? Warum war mir nie bewusst geworden, dass wir uns gegenseitig so tief verstanden hatten, längst an einem Punkt gewesen waren, an dem man nicht mehr sagen konnte: „Diesen Menschen liebe ich nicht.“ Vielleicht war das die Form, in der mein Unbewusstes Selbsthass praktiziert hatte, indem es mir aufoktroyierte, nicht mehr lieben zu können. Bestimmt war im Verlöschen der Oberfläche, auch eine Erklärung dafür finden, warum ich Olivia plötzlich wieder als das höchste Gut der Welt für mich sah. Das wirkliche Leben, Olivia leiden zu sehen, hatte alle dummen Klischees im Moment aufgelöst und unwirksam werden lassen. Unsere frühere Situation war nicht zurückgekehrt, aber ich empfand jetzt so, als ob ich ohne Olivia nicht mehr sein könne. Dass Olivia meinte, mir zu gehören, konnte ich jedoch nicht ertragen. Ob es nur eine Alkoholphantasie war, musste ich doch klären. „Kein Mensch gehört sich allein, Henry. Niemand ist so, wie er im Uterus seiner Mutter war. Jede und jeder ist ein Produkt der ihn umgebenden Welt. Vor allem haben dich die persönlichen Beziehungen geformt. Von jedem gehört ein großer Teil seiner Mutter, vieles von mir gehört Maria und vor allem natürlich Henry und der Mann, dem ich gehöre, der mich Liebe erfahren lassen hat, bist du. All die Menschen, denen du gehörst haben dich, deine Person geformt, haben das aus dir gemacht was dich ausmacht. Du bist sie, gehörst ihnen auch. Das ist geschehen, und nichts davon kannst du je wieder rückgängig machen.“ löste Olivia es auf. „Dann musst du aber Obacht geben auf dich, kannst nicht einfach für dich entscheiden, dass du dich ihnen entziehen willst.“ meinte ich dazu. „Genauso wenig wie ich mir vorstellen kann, das Leo sagt, er wolle mit mir nichts mehr zu tun haben, war es für mich auch bei dir. Einen schlimmeren Verlust kann es, glaube ich, für einen Menschen nicht geben, als wenn dir jemand seine Liebe entzieht. Die erste, die deshalb dem Alkohol verfallen ist, bin ich sicher nicht. Der Teufel verspricht dir immer wieder aufs neue, jetzt direkt deine Trauer über den Verlust zu trösten.“ erklärte Olivia.
In Berlin erholte Olivia sich rapide. Fast jeden Abend besuchten wir ein Konzert oder eine andere Musikveranstaltung. Olivia meinte, dass mich mein Empfinden für Musik und die Liebe dazu einen anderen Menschen sein ließe. „Deine Harmonien haben für dich eine besondere Gewichtung, vielleicht kannst du die Spärenklänge wahrnehmen und bist zu kosmischer Harmonie gelangt. Bestimmt habe ich das sofort an dir erkannt, konnte es nicht benennen, aber seine Faszination habe ich direkt gespürt und konnte mich ihr nicht entziehen.“ erklärte Olivia und wir lachten. Wir lachten oft und gern. Olivias Physiognomie erlangte zusehends wieder ihr früheres Aussehen und sie gewann an Selbstbewusstsein und Ausstrahlungskraft. Einer Auferstehung war es nicht unähnlich. Alle kamen, die wieder lebendige Olivia besuchen. Mit ihrer Mutter lag sie sich lange weinend in den Armen. „Es ist, als ob du ein zweites mal geboren wärst.“ sagte sie, „nur dauerten die Schmerzen diesmal viel, viel länger. Wie Todesqualen und nicht wie Geburtsschmerzen kamen sie mir ja auch immer vor. Aber du hattest einen großartigen Geburtshelfer.“ Jetzt konnte sie lächeln. Leos Mutter war lustig und brachte ihre Freude über Olivias Genesung durch Albernheiten und Späße mit ihr zum Ausdruck. Die Fähigkeiten dazu und die Lust daran hatte Olivia bestimmt von ihr. Sie war ja auch fast Olivias Mutter gewesen. Ihre Mütter hatten sich über ihre dicken Bäuche kennengelernt und waren innigste Freundinnen geworden. In ihrer Freundschaft und der Freude über die heranwachsenden Kinder, waren die Männer schon bald überflüssig geworden, sodass Leo und auch Olivia ihre Väter nur von gelegentlichen Besuchen kannten. Vielleicht hatte ich für Olivia ja auch ein wenig von dem, wie sie sich ihren Wunschvater vorstellen würde. Leo konnte alles gar nicht fassen. Er herzte und befühlte Olivia immer wieder, und ihr Lächeln erweckte den Eindruck, als ob es auch ein wenig von Stolz in sich trüge. Leo weinte beim Abschied und sagte intensiv und bedeutungsschwer mehrmals: „Danke, Henry, danke, danke.“ Maria besuchten wir im Sommer in Portugal. „Ich habe ja immer alles gewusst.“ erklärte Olivia, „Alle haben immer gesagt: „Tu dies, mach jenes.“, aber das Problem war, dass ich nichts machte, nichts machen konnte. für mein eigenes Problem mich handlungsunfähig fühlte. Ich hätte jemanden gebraucht, der mich wie ein Kind an die Hand genommen hätte und mit mir zum Onkel Doktor gegangen wäre. Leo hat das getan. Er versteht mich eben am besten, auch wenn ich längst zu Schrott verkommen bin, er liebt mich am meisten.“ „So wird es sein, meine Liebste.“ bestätigte ich lachend. Während Maria nicht ganz ernst bemerkte: „Du bist ihm verfallen, Olivia.“ „Kann schon sein.“ meinte die, „Wir sind uns beide verfallen, Henry, nicht wahr?“ Ich nickte nur grinsend Bestätigung.
FIN
Par notre manière de penser et nos attitudes, nous construisons notre bonheur ou notre malheur.
Paul Verlaine
„Du spinnst, Henry, ich bin kein anderer Mensch geworden, weil ich etwas mit einem anderen Mann zu tun gehabt habe. Hat Ruth etwa gesagt, du seist ein anderer Mensch geworden, als wir zusammen geschlafen haben?“ machte mir Olivia klar. „Darum geht es nicht, Olivia. Du hast begonnen, in einer anderen Welt zu leben, wodurch es für dich erst dazu kommen konnte. Das ist nicht die Welt, in der die Zauberfee ihr Zuhause hatte, sondern die Welt der Oberfläche, in der sie keine Zauberkugel hat, sondern eine ganz banale Schlampe, wie alle andern auch ist.“ erklärte ich. „Bitte, Henry, benimm dich. Sag mir doch, was ich tun kann, damit es zwischen uns wieder wie immer wird. Es gibt nichts nachdem ich mich mehr sehne.“ bettelte Olivia. „Ich kann nicht sagen: „Olivia, tu Dies oder Jenes, dann wird es wieder wie früher sein.“. Das ist doch Unsinn. Nichts wird wie es früher war, alles ist immer wie es jetzt ist. Damit werden wir leben müssen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Aber jetzt bist du eine andere Frau, als die, die ich geliebt und begehrt habe.“ reagierte ich. Wir trennten uns wieder. Zwei Tage später rief die weinende Olivia an: „Was soll das denn, Henry? Das ist doch Irrsinn. Du machst mich verrückt und uns beide verrückt. Das können wir beide nicht. Du liebst mich doch. Aber du bemühst dich krampfhaft, es zu verdrängen und zu vergessen. Ist dir unser gemeinsames Glück nicht auch mehr wert. Versuch doch mal daran zu denken. Erinnere Dich doch mal. Du bist anscheinend nur in deinen kruden Gedankenwelten gefangen, die für uns beide katastrophal sind.“ Ich konnte ihr nichts Positives sagen, ich konnte ihr nicht sagen, dass ich sie sehen wollte, ich hatte schlicht keine Lust auf Olivia. Richtig erklären konnte ich es mir selber nicht. Ich hatte mich selber gefragt, ob es nicht völlig übertrieben sei, wegen eines sogenannten Saitensprungs derart übertrieben zu reagieren. Aber darum ging es ja nicht. Ich sah die mir ferne Geschäftsfrau aus Lissabon, die mich durch nichts reizte. Das Bild meiner Olivia, der Campesina, nach dem es mich verlangte, wollte nicht auftauchen.
Olivia Die Campesina – Seite 39 von 39
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2013
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