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Introduction und Inhalt

 

  Elvi Mad

Verbotene Liebe Anne und Peter

Bezaubernde Klänge und verzaubernde Frau

 

 Erzählung

 

 Les chefs des peuples se prennent pour des bergers; ils ne sont souvent que des chiens de troupeau.

Gilbert Cesbron

 „Peter, du hast gesagt, dass du mich magst und zu welchen Überlegungen es dich veranlasst hat, aber so eine kindlich einfache Antwort auf meine Frage habe ich noch nicht erhalten.“ merkte ich an. „Ich glaube, die gibt es auch nicht, Anne. Sympathisch gefunden und gut verstanden haben wir uns ja, solange wir uns kennen. Bei unserer Arbeit zu den Konzerten hat sich das intensiviert. Bei aller Freude, die es machte, war auch ein Stückchen davon, das es mir dir geschah. Nach unserem zweiten Essen war ich begeistert von dir und deine Erklärungen zur Pastorale und das gemeinsame Hören haben mich fasziniert. Ich hätte dich umarmen und küssen können. Aber allein dieses Bedürfnis zu haben, war ja schon unerlaubt und erst recht, dass es mir immer wieder einfiel und das ich von unserer Situation träumend eingeschlafen bin. Weitere Gedanken über meine Liebe zu dir habe ich mir gar nicht gemacht, sondern über die Perversi­tät der Verhältnisse unter den ich zu leben habe, in denen mir das verboten ist. Ich mag dich schon sehr gern, empfinde vieles an dir bewundernswert und freue mich wenn wir zusammen sein können. Ob das schon Liebe ist, oder eine Basis auf der sie gut entstehen könnte, ich weiß es nicht. Was meinst du denn?“ fragte er.

 

Verbotene Liebe Anne und Peter - Inhalt

Verbotene Liebe Anne und Peter 4

Bilder 4

Audiophilie 4

Schäfermusik 5

Musik hören 5

Große Oper Unterricht 7

Kosmische Harmonie 7

Musischer Kollege 8

Kirchenschlager 8

Heiligenmärchen 9

Pastoralidylle 9

Orgelkonzerte 10

Kleine Wunder 11

Höllenkandidat 12

Der Pastor 13

Interessante Persönlichkeit 13

Zu dicke Freunde 13

Leben auf dem Lande 14

Eingeengte Bühne 15

Schule im Herbst 16

Ich möchte da raus 16

Kindlich einfache Antwort 17

Erste Ausbruchsversuche 18

Nur gottgefällig 20

Übergeordnete Instanz 20

Approbation entziehen 21

No more Pastor 21

Erwachen heiterer Gefühle 22

Einsamer Hirte 22

 

Verbotene Liebe Anne und Peter

Anne mochte Peter, aber Liebe würde es nicht geben. Anne hielt nichts von Kirche und für Peter galt der Zölibat. Banale Ansichten und Verbote, um die Liebe sich nicht kümmert? Schon möglich, zumal wenn alles bei Musik geschieht.

Bilder


Dass Menschen gerne Fernsehen schauen, ist doch verständlich. Wenn sowieso alles, was du wahrnimmst in Bildformate transponiert wird, damit dein Kopf es verwenden und dein Gedächtnis es speichern kann, warum sollst du da den für deinen Kopf mühsamen und energiezehrenden Umweg über die anderen Sin­nesorgane nehmen, anstatt ihm seine Informationen direkt optisch zukommen zu lassen? Bilder, die gibt’s doch im Fernsehen jederzeit genug. Schade, bei mir funktioniert das nicht so. Mein Gehör sucht die Konkurrenz und will sich nicht einfach mit den die Fernsehbilder begleitenden Klangereignissen zufrie­den geben.


Audiophilie


Interpersonale Machtkämpe meiner Wahrnehmungsorgane, die mir psychische Probleme hätten bereiten können? Keinesfalls. Ich musste nur akzeptieren, dass das Gesehene bei mir nicht dominant regieren konnte, sondern das Ge­hörte zumindest ebenbürtig war. Das Ohr sollte eben als mein Zentralorgan fungieren. Dabei war es nichts Besonderes, hörte keine speziellen Frequenzen, war nicht das, was man als rein bezeichnete und verfügte als Hörorgan über keine extraordinären Kapazitäten. Es hörte nur eben alles, und forderte dafür Aufmerksamkeit und Beachtung. Ich konnte nicht einfach an der Fleischtheke stehen und die Konversation der Verkäuferinnen mit den anderen Kundinnen als Hintergrundgebrabbel wahrnehmen. Ich erfuhr eben nicht nur, dass die Kundin neben mir Frau Dr. Simrock hieß und offensichtlich beabsichtigte im Laufe der nächsten Tage sechs Scheiben Mortadella zu verzehren, ich sah auch ihre große stabile, leicht korpulente Statur und hörte die zarten glockenhellen Töne, die diese Person verwendete, um ihre Einkaufswünsche zu formulieren. Warum durfte diese Frau nicht mit einer solchen Stimme sprechen, einer Stim­me die ich eher für Jungmädchenliebesgartengesäusel hielt. Ob sich Frau Dr. Simrock wohl dahin träumte, oder vielleicht sogar dort befand und nur ihre physiologische Konstitution ungeachtet dessen sich einen Phänotyp hatte ent­wickeln lassen, der damit nicht korrelierte. Solche und ähnliche Gedanken ent­wickelten sich auf der Basis des auditiv Wahrgenommenen und beschäftigten mich weiter. Aber es ging mir ja nicht nur bei Frau Dr. Simrock so, bei jeder Kassiererin, jedem mit dem ich kommunizierte, hörte ich das Gesprochene, auch wenn es nur wenige Worte waren, wie eine kleine Symphonie, bei der ich zwanghaft herausfinden musste, was die jeweiligen Komponisten damit zum Ausdruck bringen wollten, welche Persönlichkeiten diese Stimme, diese Sprachmelodie, eben alles was diesen Sprechakt formte, darstellen würde. Die sich größter Sicherheit bei der Interpretation ihrer visuellen Wahrnehmung wähnen, schauen dem Gegenüber in die Augen und sind überzeugt, seinen Charakter zu erkennen. Ich wollte gar nicht den Charakter erkennen, ich liebte es nur, genau zuzuhören, die vielfältigen Impressionen des Klangs wahrzuneh­men, Assoziationen aufkommen zu lassen und sie zu einem Bild zu formen. Ich bin audiophil, ich liebe es zu hören, auch ohne teure HiFi-Anlagen und klangge­treue Wiedergabetechniken.


Eine psychische Konstante war es von mir. Automatisch hörte ich immer sofort intensiv die Melodie, ob sich die zehnjährige Schülerin bei mir über einen Jun­gen beschweren, oder der siebzehnjährige mir Informationen über seine hohe Kompetenz in amerikanischer Literatur zukommen lassen wollte. Es war sehr angenehm und bereicherte den textual vorgetragen Kommunikationsinhalt um wesentliche, meist erfreuliche Aspekt. Ich konnte es mir gut vorstellen und nachempfinden, dass im frühen Theater die Dialoge gesungen wurden und Opern bestanden ja schließlich nicht nur aus der Aneinanderreihung von einzel­nen Arien. Bei Lyrik war ich mir sowieso sicher, dass sie nicht nur in die Hände von Germanisten beziehungsweise Sprachwissenschaftlern gehörte. Ich war meinen Ohren dankbar, dass sie der Tyrannis der visuellen Eindrücke so stark etwas entgegenzusetzen hatten.


Schäfermusik


Wer professionellen Umgang mit Klängen hat, wer sich als Musiker bezeichnet, bei dem oder der wird es nicht viel anders sein. Warum hatte ich nicht einen Dirigenten, einen Pianisten oder doch wenigstens einen Musiklehrer geheiratet. Töricht war es im Grunde von Anfang an gewesen, mich mit einem Maschinen­bauingenieur einzulassen und zu liieren. Woraus bestehst du denn anders, als aus dem was deine Wahrnehmung aufgenommen, verarbeitet und in Beziehung gesetzt hat? Bei mir war da eben sehr viel mit klanglichen Impressionen und Musik vorhanden, nur die Klänge der Maschinen kamen da nicht vor, während es für Erik die einzige Musik zu sein schien, die ihn offensichtlich berauschen konnte. Im Nachhinein empfinde ich mich so weise, sagen zu können, dass Lie­be schon ein wenig mehr die personale Basis des anderen einbeziehen müsste als sich allein an der idyllischen Schäfermusik des momentanen Verbunden­seins zu ergötzen. Irgendwann wirst du etwas von und mit deinem Partner hö­ren wollen. Du liebst ihn zwar, aber das müsste auch schon sein. Das bist doch du, die gern ins Konzert und in die Oper geht, das kann man doch nicht einfach ignorieren. In anderen Bereichen kommt es auch vor, dass er dich zu ignorie­ren scheint. Was wollt ihr eigentlich voneinander? Ihr passt doch gar nicht zu­sammen, das stellst du oft erst nach Jahren intensiver Selbsttäuschungsversu­che fest. Du wirst es nicht einfach wie einen eben misslungenen Versuch mit einem 'ça m'est bien égal' beerdigen und fortwischen können. Es war in dir und hat dich verändert, dein Kopf wird das bei der Interpretation des Gehörten ein­beziehen und den gemalten Bildern in Zukunft andere farbliche Nuancen verlei­hen.


Musik hören


Natürlich verlangt mein auditives Wahrnehmungsorgan nicht nur nach den Klangereignissen gesprochener Worte, es will Musik direkt. Aber auch hier habe ich ihm im Grunde nichts Besonderes zu bieten. Natürlich hätte ich es nicht für unangenehm gehalten, Geige, Klavier oder Flöte spielen zu können, aber im Vordergrund standen die Bilder meiner Freundin und Klassenkameraden, deren klanglichen Produkte trotz längeren qualvollen Übens nicht den Eindruck er­weckten, als ob daraus jemals das werden könnte, was ich mir unter Geigen-, Klavier- oder Flötenmusik vorstellte. Ich hörte nur gern zu und genoss es.


Bis auf den die Schmerzgrenze überschreitenden Krach, der mir mit dumpfen Hammerschlägen einpauken wollte, in welchem Rhythmus ich stampfend oder hüpfend den Boden unter mir zu malträtieren hätte, war kein Genre prinzipiell obsolet. Ich mochte auch schon mal mehr Gefühlsbetontes, und bei französi­schen Chansons sind die Übergänge ja oft nicht eindeutig auszumachen. Oft liegt es ja auch nicht allein an der Musik selbst, sondern am Ohr des Hörers, was er erwartet und gerne hören möchte. Es ist doch zum Beispiel ein Leich­tes, durch das Andante in Mendelssohn-Bartholdys zweiten Satz des Violinkon­zertes e-moll seine Bedürfnisse nach Sentimentalem bedienen zu lassen. Na­türlich war das mit überschäumenden Sentiments und expressiver Inbrunst vorgetragene Sehnsuchtsdrama auch nicht mein Musiktyp. Was gab's denn da noch zu tun, als wehmütig mitzuflehen, nach Bildern, die nicht die meinen wa­ren und wegen ihrer hohlen Idiotie auch nie werden sollten. Am reichhaltigsten war und blieb eben das, was man als 'klassische Musik' zu bezeichnen pflegte. Aber auch hier verhielt es sich so, dass ich eine Sinfonie, die ich zum ersten Mal gehört hatte, nochmal hören wollte und nochmal, und dann sind die Bilder in deinem Kopf fertig. Du wirst sie nicht einfach übergehen können und neue entwerfen, wenn du sie später wieder hörst und willst es auch wohl gar nicht. Wenn ein Dirigent sie anders interpretiert, und deine alten Bilder nicht mehr passen wollen, wirst du es nicht sofort freudig begrüßen, sondern voraussicht­lich eher als störend empfinden. Ich höre mir auch gern Bekanntes wieder an.


Nur für viele, wenn nicht die meisten, stellt es die dominierende Form des Mu­sikkonsums dar, Vertrautes und Bekanntes wieder und wieder zu hören. Die ständige Lust am Repetieren ist eine sanktionierte Ausdrucksform hospitalisti­scher Grunddispositionen. Warum lieben sie es? Lust an den neuen Bildern, die entstehen, kann es nicht sein. Es sind immer wieder die gleichen. Ist es das, was sie suchen? Ist es das ständig wiederholende Betrachten der gleichen Bil­der, die einmal mit positiven Emotionen gekoppelt waren. Wenn Kinder ständig mit dem Kopf wackeln, um sich immer wieder die gleichen Reize zu verschaf­fen, diagnostiziert man eine psychische Störung, warum sollte es bei Erwach­senen, die sich wie ihr Mantra ständig wieder die gleiche Musik anhören, viel anders sein? Die Köpfe aller Menschen scheinen bei ihren Verarbeitungsprozes­sen Erinnern und Wiederholen sehr zu mögen, und bei der Strukturierung des Gedächtnisses und dessen Gebrauch scheinen ihnen konstitutive Kompetenzen zuzukommen. Auch wenn Jacques Derrida die Ansicht vertritt, dass sich mit je­der Iteration eines Begriffs seine Bedeutung verändere, so mag das für den philosophischen und gesellschaftlichen Diskurs vielleicht zutreffen, aber bei an­deren Wahrnehmungen und ihren Interpretationen wird genau das alte Bild wieder gesucht, jede Veränderung ist absolut unerwünscht. Nicht selten ver­fährt unser Gehirn bei Musik eigenmächtig. So wie beim Kind mit seinen Jakta­tionen lässt es uns permanent die gleiche kurze Passage immer wieder hören. Selbst wenn wir es gar nicht wollen und es als Belästigung empfinden, scheint es sich wie ein Wurm in unseren Gehörgang gebohrt zu haben, der uns immer die gleiche Halluzination melodisch rhythmischer Sentenzen vorspielt. Nicht nur mit ihrem Hintergrundgedudel im Kaufhaus, sondern schon morgens unter der Dusche kann uns Musik aus unserem eigenen Kopf belästigen.


Große Oper Unterricht


Zentrale Bedeutung hat Musik für alle Menschen, damit sind wir zur Welt ge­kommen und die gespeicherten Bilder der anderen Sinnesorgane sind ja keine isolierten Drucke ihrer primären Auftraggeber. In der Regel werden sie schon bei der Ankunft der Nervenreize gleich zu Kollagen mit bereits Vorhandenem und den Eindrücken der anderen Organe gefügt. Und so sind häufig bei Bil­dern, die du nur visuell zu erkennen glaubst, und sie auf dieser Grundlage be­schreibst, starke rhythmische und melodische Elemente vorhanden, die du gar nicht als solche wahrnimmst. Ich bin Lehrerin, und bei den Unterrichtsstunden handelt es sich bestimmt nicht immer um große Oper, aber was dein rhyth­misch-melodisches Empfinden stört, stört auch den Lernprozess. Umgekehrt fördert die Verbindung mit musikalischen Elementen es sehr stark. Es erinnert mich an eine leicht skurrile Szene in meiner Jugend. Ich las die Ballade 'Das Grab im Busento' von August Graf von Platen und fand sie interessant, lustig, ein wenig kitzelig amüsant. Ich wusste zwar, dass Alarich Rom erobert hatte und kannte dazu ein paar Details, aber von dem, was von Platen hier be­schrieb, war mir nichts bekannt. Es war ja eine traurige Geschichte vom Tod des mit Jugendlocken behangenen jungen Gotenherrschers, aber die Form des Romanzenverses und der Anapest ließen in mir die tapfren Goten zu einem nächtlichen Reitertrupp werden, deren Rösslein sich anapestgemäß trippelnd auf einem Pfad neben dem Busento vorwärts bewegten. Und auch wenn von Platen mit großer Geste forderte: 'Wälze sie Busentowelle, wälze sie von Meer zu Meere' trippelten stets die Rösslein, wie sie es sonst nur nach Musik in der spanischen Hofreitschule in Wien können. Alles passte an diesem Gedicht ei­gentlich nicht, aber in meiner komischen Oper fügte es sich so wundervoll zu­sammen, dass ich es nach ein paar Mal lesen auswendig konnte und bis heute nicht vergessen habe. Deshalb bin ich auch der Ansicht, dass es sich bei Vers­maß und Versfuß eindeutig um rhythmische Elemente handelt, die im Genre musikalische Gestaltungselemente ihre Heimat haben.


Kosmische Harmonie


Nach Musik selbst, stellt Sprache eine im Besonderen organisierte Form von Schallereignissen dar. Musiklehrerin konnte ich nicht werden, weil ich nicht über die erforderlichen Voraussetzungen verfügte, aber Musikunterricht zu er­teilen war gar nicht eine Perspektive, die mich emotional reizte. Auch wenn Konfuzius schon vor zweieinhalbtausend Jahren erkannt hatte, dass Musik ein Instrument zur Vervollkommnung des Menschen sei und der Erzielung kosmi­scher Harmonie diene. Kosmische Harmonie schien bei Herrn Heinze, unserem Musiklehrer, jedoch nicht vorzukommen. Er war ein Scheusal. Sein zynisches und mokantes Verhalten den Schülern gegenüber war widerlich und hatte nicht selten menschenverachtende Züge. Auch in Gesprächen unter Kollegen waren seine Äußerungen kalt, polemisch und oft despektierlich. Dass so einer in der Lage sei, die Musik zu fördern, hatte schon Konfuzius für nicht möglich gehalten. Das Ausmaß meiner kosmischen Harmonie hätte für den Unterricht in Musik bestimmt gereicht, aber sowohl Verständnis als auch Anwendung der deutschen und nicht minder der englischen Sprache konnten auf die Grundlage einer harmonischen Basis keinesfalls verzichten. Ich wurde für eine gute Lehrerin gehalten und war bei den Schülern offensichtlich wohl beliebt. Warum? Keine Ahnung. Ich wusste weder besonders viel, noch war ich besonders fleißig. Ich wandte keine speziellen pädagogisch Konzepte an, noch hielt ich mich für kinderverliebt. Bestimmt war es der erreichte Harmoniegrad, aus dem heraus ich agierte, vor allem aber, dass meine Ohren hörten, was an denen der meisten anderen Kolleginnen und Kollegen vorbei ging.


Musischer Kollege


Der musischte Mann bei uns an der Schule aber, war der Herr Pastor. Mitglied des Kollegiums war er offiziell wohl nicht. Er kam nur an einem Tag zur Ertei­lung einiger Stunden Religionsunterrichtes vorbei, vielleicht um dafür zu sor­gen, dass die Nachwuchsschäflein sich nicht völlig im Niemandsland verlören, oder aber auch, um sich einiger bereits verloren geglaubter besonders anzu­nehmen. Er war ein freundlicher, offener, Warmherzigkeit ausstrahlender Mann. Ob seine Harmonie auch kosmische Züge hatte, blieb mir verschlossen, aber dass er Bezüge zu Musik haben musste, dessen war ich mir absolut sicher. In der Kirche, am Sonntag, da musste er ja singen. Früher war das wenigstens so. Ich hätte ihn gern mal gehört. Was er wohl lieber sang? Ob er lieber das 'Gloria' posaunte oder das 'Agnus dei', das Lamm Gottes anflehte, uns seinen Frieden zu geben. Ich hatte diesen Gregorianischen Choral und die Sprechge­sänge gemocht und fand sie keineswegs langweilig oder gar monoton. Völlig unterschiedlich konnten sie klingen durch die jeweiligen Vortragskünste, durch Stimme, Rhythmus und Betonung, des betreffenden Geistlichen. Wenn ein re­lativ junger Kaplan das 'Pater noster' vortrug liefen mir Schauer über den Rücken. Langsam und mit Pausen sang er die einzelnen Satzteile, als ob er den Hall der Kirche mit einbezöge. Es herrschte Totenstille im Kirchenschiff, allein seine junge klare Stimme ließ das: „Panem nostrum - Pause - cotidianum da nobis hodie“ darin schwingen und hallen. Sicherlich war ich nicht die einzige, die davon ergriffen war und so empfand. Ob Pastor Degen so etwas auch wohl konnte?


Kirchenschlager


Ich hatte schon sehr früh mit Kirche und Religion abgeschlossen, aber aus­drücklich nicht wegen der Zeremonien und Rituale, das liebte ich und hatte meine Freude daran. Ein schaurig schönes Erlebnis war es jedes Mal, - die Kir­chen waren ja noch berstend voll - wenn im Hochamt bei den Kirchenschlagern die Männer aus vollem Halse die Orgel überbrüllten. Aber Lieder wie 'Großer Gott wir loben dich' oder 'Fest soll mein Taufbund immer stehen' verleiteten ja auch dazu. Wie eine Katze schlich man sich mit in tiefen Tonlagen gesäuselten Anerkennungs- und Demutsbekundungen ruhig an, um dann zu einem Sprung für das alles überwogende Schlusscrescendo der Strophe auszuholen. Kluge Leute mussten es schon sein, die das alles so eingerichtet hatten. Wo gab es so etwas sonst schon, eine Orgel in jeder Kirche. Warum kamen die Leiter von Schulen oder anderen Gemeinschaftseinrichtungen nicht darauf, dass dieses zaubervollste aller Instrumente nicht fehlen durfte, wo man meinte Musik zu lieben. Ich blieb am Sonntag meistens noch ein wenig länger in der Kirche, nicht weil ich noch ein paar Gebete zusätzlich sprechen wollte. Wenn der Geistliche sein 'Ite missa est' gesprochen hatte, und die Menschen die Kirche verließen, begann der Organist, sich in seinem Instrument auszutoben. Wundervoll. Es gibt meines Wissens kein Instrument, das den Menschen mit seinem ganzen Körper so einbindet wie eine Orgel. Die Bewegungen des Organisten bei seinem Spiel spürte ich in den berauschenden aber manchmal auch näselnd zarten Klängen auf meiner Kirchenbank sitzend.


Heiligenmärchen


Das alles war ein buntes Kirchenland, und gefiel mir sehr. Dass man aber dar­auf bestand, die Heiligenlegenden und Wundergeschichten hätten sich tatsäch­lich wortgetreu so ereignet, wie sie beschrieben wurden, ärgerte mich schon, bevor ich zur Schule kam. Ich wollte keine mehr hören. Wenn die Brüder Grimm darauf bestanden hätten, dass die Ereignisse um die Bremer Stadtmu­sikanten keine Fiktion seien, sonder sich in der Realität exakt so abgespielt hätten, niemand würde heute mehr von den Musikanten reden, allenfalls noch von den kuriosen Göttinger Germanistikprofessoren, die sich zu so einem Un­sinn verstiegen hätten. Als Märchenerzählungen wären die Legenden doch nicht schlecht und vor allem kein bisschen weniger lehrreich gewesen. Warum zwang einen die Kirche denn, so vieles Unglaubliche glauben zu müssen. Wur­de man dadurch ein besserer Mensch? Oder sollte das der Kirche gar nicht so vordringlich wichtig sein. Ihr Gott hatte nirgendwo etwas davon gesagt, dass eine Notwendigkeit bestünde, diesen ganzen Schmus glauben zu müssen. Nach dem musste man nur an ihn glauben und sonst nix. Es beschäftigte mich über Jahre, aber schon im dritten Schuljahr stand für mich fest, dass Kirche und al­les was damit zusammenhing, meine Welt nicht mehr sein konnte. Als einen Verein, dem man besser nicht über den Weg trauen sollte, hatte ich sie für mich eingestuft. Ein weitreichender Beschluss in sehr jungen Jahren und trotz­dem ein unumstößliches Verdikt.


Pastoralidylle


Und ausgerechnet ich hielt einen Pastor für den nettesten Kollegen. Ich mochte ihn. Er ließ sich auch immer durch dämliche Bemerkungen von mir anfeixen und reagierte freundlich und amüsiert darauf. Wenn ich mich zum Beispiel nach dem Befinden seines Oberhirten erkundigte, schaute er nicht indigniert über den faden Witz, sondern erzählte launig etwas zur Bedeutung der Hirtenvölker im Vorderen Orient vor Beginn unserer Zeitenwende. Wir konnten sogar ernst­haft über Derartiges reden, aber warum die Kirche während ihrer Verbreitung an diesem Begriff, der in den westlichen und nördlichen Regionen doch schon damals längst mit einer völlig anderen Konnotation belegt war festgehalten hatte, wusste er auch nicht. In Griechenland sah man die Hirten keineswegs als heroische Gestalten, aus deren Reihen Heerführer, Könige und weise Män­ner hervorgingen. Sie lebten unberührt von der Kultur in ländlicher Idylle bei ihren Rindern oder Schafen und führten ein schlichtes naturbezogenes Leben. Basierend darauf ist sogar eine eigene Kunstgattung entstanden, die Bukoli­sche- oder Schäferdichtung, in der sogar Goethe noch ein Stück verfasst hat. „Romantisch-beschauliche Pastoralidylle ist aber nicht ihre Lifestyle Perspekti­ve, nein?“ fragte ich ihn grinsend. „Ich weiß nicht recht, inwieweit es sich dabei um Pastoralidylle handelt? Ich besinge meine Schäflein. In welchem anderen Beruf ist das der Fall? Auch andere musikalische Genüsse werden ihnen in un­serem Hause geboten. Einmal konnten wir ihnen die Aufführung einer Bach­kantate bieten, aber darüber hinaus animieren wir sie ständig, ihre Gebete, Lobpreisungen und Fürbitten selbst in cantabler Form vorzutragen. Ob es dabei ländlich idyllisch zugeht, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber harmonisch friedlich ist es allemal.“ antwortete Pastor Degen verschmitzt lächelnd. Dann erzählte er mir, dass es ihm vor ein paar Jahren gelungen sei, Geld für die Restaurierung der Orgel aufzutreiben, und da es sich um einen klanglichen Schatz handele, habe er Studenten der Musikhochschule animieren können, ihre Fähigkeiten vor Publikum zu demonstrieren. Die Kontakte zur Hochschule für Musik und den Studenten hätten sich verfestigt und seien mitt­lerweile hervorragend, so dass sie ständig in der Lage seien, kleine musikali­sche Kostbarkeiten anzubieten. Nur leider seien eben Zeit und Interesse in der Bevölkerung nicht sehr groß. „Es ist nicht fehlendes Interesse, es sind ihre hundsmiserablen, wahrscheinlich bukolischen Marketing Strategien. Wo müsste ich denn zum Beispiel suchen, wenn ich von ihren Veranstaltungen etwas er­fahren wollte?“ warf ich ihm vor. „Ja, ja das ist schon ein Problem. Solange sie nicht Jessy Norman oder den Dresdener Kreuzchor auftreten lassen können, vermeldet die Presse es nur unter Kirchennotizen. Aber unter dem Starkult ha­ben andere gewiss noch mehr zu leiden als die Kirchen. Den Stars alles und die Leistungen anderer können noch so hervorragend sein, man schenkt ihnen kei­ne Beachtung.“ reagierte er. „Wie kann ich sie trösten? Sagen sie's mir, ich komme bestimmt zu ihrem nächsten Orgelkonzert, auch ohne dass sie ein Starhirte sind. Aber warum hängt denn bei uns in der Schule nicht mal ein Pla­kat dazu?“ wollte ich wissen.


Orgelkonzerte


Einiges sollte geändert werden und als ich beim nächsten Konzert anwesend war, betörte es mich. Warum hatte ich eigentlich seit meiner Kindheit keine Or­gelkonzerte mehr besucht, ich wusste doch, wie die Orgel mich fasziniert hat­te? Es war wahrscheinlich unter den Begriff Kirche subsumiert und abgelegt worden, aber Beethovens Missa solemnis, Bachs h-moll, Schuberts Deutsche Messe und andere Missae waren doch keineswegs für mich tabu, weil sie sich auf Kirche bezogen. Nach dem Konzert standen wir mit drei Studenten und Pastor Degen noch zusammen. Beim nächsten Mal wollte ich den spielenden Studenten hinter der Orgel zuschauen. Für's übernächste entwarf ich den Plakattext und fügte auch die wesentlichsten Informationen in Englisch hinzu. Das ist eben heute zwingender Standart, wenn man globales Interesse erreichen will. Unsere junge Kunstlehrerin konnten wir motivieren, für die Gestaltung des Plakates ihr Talent für graphisches Design in Wallungen zu versetzen und unser Informatik Professor, sprich Mathe Kollege, nahm sich mal die muffige Internetseite der Kirche vor. Wer was mit Kirche zu tun hatte, spielte keine Rolle, die Orgelkonzerte waren das belebende und zusammenführende Band. Natürlich besuchten die Beteiligten selbst aber auch andere Kolleginnen und Kollegen die nächsten Konzerte, und unausgesprochen bestand bei allen das Bedürfnis, Ideen einzubringen, wie man die Konzerte fördernd unterstützen könnte. Vor einem der nächsten Konzerte lud die Hochschule für Musik gemeinsam mit Pastor Degen zu einer Pressekonferenz ein, und da gerade lokal nichts Explosives anlag, prangten die Informationen über das Gespräch und das anstehende Konzert mit großen Fotos auf der ersten Seite der Lokalteile. Da wohl kein Musikbeflissener der Ansicht wahr, sich ein derartiges Ereignis entgehen lassen zu dürfen, war die Kirche brechend voll. Pastor Degen bedanke sich artig, verwies auf weitere Planungen und schickte die Leute nach Hause. Wir lagen uns anschließend lachend, staunend und tanzend in den Armen.


Kleine Wunder


„Du bist dafür verantwortlich, nur du, ohne dich, Anne, wäre es nie dahin ge­kommen. Ein kleines Wunder, das ich mir nie hätte erträumen können.“ erklär­te mir Pastor Peter Degen. Bei den Konzertvorbereitungen waren wir dazu übergegangen, uns alle untereinander zu duzen. Mit den Studenten hatte Pe­ter Degen es schon vorher getan. „Peter, beim Wunderglauben handelt es sich um etwas mir äußerst Fernliegendes. Ich werde von einer fast neurotischen Sucht getrieben, mein Agieren und Handeln so zu gestalten, dass die Ergebnis­se zwar wunderähnliche Erscheinungsformen annehmen, aber ausschließlich auf kausal Verständlichem basieren. Wer hätte es gedacht, dass die kleine Lea-Sophie, deren Gehirn allen englischen Impressionen mit massivsten Barrikaden zu begegnen schien, heute zwei plus stehen könnte? Ein Wunder, aber ich kann's erklären. Heilig sprechen lassen kannst du mich trotzdem, auch wenn alles erklärlich ist.“ reagierte ich scherzend. „Nein, es macht mich glücklich, glücklich über alles was damit verbunden ist. Die Aufmerksamkeit und Aner­kennung für die Musik, die Veränderungen der sozialen Kontakte, die es mit sich gebracht hat und vor allem natürlich das andere Bild, in dem wir jetzt be­trachtet werden. Wir sind nicht mehr die, die, den Leuten bestimmte Doktrinen aufzwingen und sie zum Beten und Buße tun prügeln wollen. Wir werden ganz normal akzeptiert, als jemand, der etwas zu bieten und zu sagen hat. Es ist wunderbar. Bestimmt ein großer pastoraler Erfolg, durch Musik.“ sagte's und lächelte.


Höllenkandidat


Die Momente in denen wir miteinander sprachen, waren äußerst kurz. Immer nur in der Pause vor seinem Unterrichtsbeginn und das in der Regel nur etwa einmal im Monat. Für die Konzertvorbereitungen hatten wir uns aber nach der Schule bei ihm, der Kunstkollegin oder mir getroffen. Jetzt war es auch selbst­verständlich, dass wir jede Woche bei seiner Ankunft miteinander redeten. Ge­spräche über Religion und Glauben waren aber für mich bis an mein Lebensen­de tabu. Peter Degen schien es zu ahnen, denn nie gab es Ansätze, in diese Richtung etwas zu äußern. Wir konnten selbstverständlich über Kirchen- und Kulturgeschichtliches reden. Ich hätte gern mal länger mit ihm gesprochen, mehr über seine Beziehung zu Musik und seine persönliche Musikgeschichte er­fahren, aber er war ein Fuchs, man konnte nur schlecht mit ihm reden, bezie­hungsweise viel zu gut. Nach zwei Sätzen brachte er mich dazu, eifrig von mir zu erzählen, obwohl ich doch etwas von ihm wissen wollte. Wenn ich nicht ge­wusst hätte, dass er selber vorher Lehrer für Mathematik und Religion gewesen wäre, hätte ich vermutet, dass er psychotherapeutische Qualifikationen besä­ße. Vielleicht gehörte Derartiges ja mittlerweile auch zur theologischen Ausbil­dung, weil man es für nicht unerheblich hielt, wenn man sich um das Seelen­heil seiner Schäfchen kümmern wollte.


Aber ich als Frau mich mit dem Herrn Pastor im Café treffen, einfach nur weil man mal die Gelegenheit haben wollte, ein wenig länger miteinander zu reden? Wäre das nicht unschicklich, ein wenig bedenklich und könnte zu Missverständ­nissen Anlass geben. Diese Frauenfeindlichkeit, der Zölibat, meine dämlichen Befürchtungen und die Begründungen der Kirche, mit der sie es heute immer noch zu rechtfertigen versuchte, waren für mich höchster Ausdruck der Verlo­genheit dieses ganzen Vereins. Dass der Apostel Paulus damals erklärt hatte, die Frauen sollten in Versammlungen das Maul halten, hätte zu der Zeit wohl niemand anders gesehen, aber die Vorstellungen von absoluter Gleichberechti­gung basierten doch letztendlich auf einem Menschenbild, das sich aus christli­chem Gedankengut entwickelt hatte, nur die katholische Kirche selbst sträubte sich dagegen und faselte etwas vom Amt des Hohen Priesters und wem dies von Gott übertragen worden sei. Nein, mit so einem Unfug wollte ich mich nicht mehr befassen. „Wenn es in deiner Kirche auch Pastorinnen gäbe, und du so eine wärst, oder wenn du kein Pastor sondern ein gewöhnlicher Kollege wärst, hätte ich überhaupt kein Problem, dich zu fragen, ob wir nicht mal zu­sammen einen Kaffee trinken könnten, weil ich mich gerne mit dir unterhalten würde. So habe ich aber eins. Warum tust du das?“ fragte ich Peter Degen grinsend. „Ist das nicht mehr dein Problem?“ fragte er zurück, „Du wirst Angst haben, mich zu verführen, dass ich den Zölibat breche und dafür später in die Hölle komme. Und das willst du nicht. Die Vorstellung, mich leiden zu sehen, sagt dir nicht zu. Ich leide aber schon jetzt, weil ich überhaupt nicht weiß, wel­chem Café du denn wohl den Vorzug geben könntest.“ „Du durchschaust mich. Küppersmühle finde ich nicht schlecht, auch für den Fall, dass du mal Hunger bekommen solltest, aber fast jedes andere wäre mir auch recht. Wir können uns auch bei Dobbelstein treffen. Es geht mir doch um den Höllenkandidaten und nicht um's Café.“ reagierte ich. Wir gingen zusammen im Museumsrestau­rant essen.


Der Pastor


Nach dem wir geklärt hatten, dass primär ich ihm zuhören wollte und nicht er mir, erzählte er. Erzählte und erzählte, offen und detailliert. Alles erzählte er, so dass es mich verwunderte und ich ihn fragte, ob man als Pastor eigentlich kei­ne Freunde habe. „Das ist sehr schwer, Anne. Aus deiner Rolle kannst du so gut wie nie heraus. Du kannst nicht der Banker oder Lehrer sein, der nach Fei­erabend Privatmann ist, du bist stets für jeden immer auch der Pastor, dem ge­genüber man sich entsprechend zu verhalten hat. Ich habe viele gute Bekann­te, würde ich sagen, aber ein offenes freundschaftliches Verhältnis habe ich wohl eher nicht. Auch mit alten Freunden von früher ist da mittlerweile nichts mehr, und die Jungs im Priesterseminar? Das war in der Regel nicht so meine Welt. Es gibt eben nicht nur den Zölibat, dein ganzes Leben ist vom Priester sein dominiert, soll es ja auch sein, du wirst ja durch die Weihe zu einer beson­deren Art Mensch, was sich auch massiv auf deine sozialen Kontaktmöglichkei­ten auswirkt. Das ist oft genauso schwer, besonders wenn du vorher anders gelebt hast.“ erläuterte Peter es mir. Ich hatte viel ganz Persönliches aus seiner Kindheit und Jugend erfahren. Zum Beispiel, wie seine Mutter, die alles mit Ge­sang zu begleiten schien, sich darüber geärgert hatte, dass weder ihr Kinder­mädchen noch er in die Lage zu bringen waren, mehrstimmig mit ihr zu singen und er schon bei Kanons als Kind massive Schwierigkeiten hatte, seinem Part treu zu bleiben. Durch die Konzerte hatte sich die Beziehung zwischen uns ver­ändert, aber durch dieses Gespräch noch viel mehr.


Interessante Persönlichkeit


Etwa zwei Monate später fragte Peter mich ganz lapidar nebenbei, ob wir nicht mal wieder zusammen essen gehen sollten. Unser Gespräch habe er als sehr angenehm empfunden und im Übrigen sei ich ja schließlich auch mal dran, et­was von mir zu erzählen. Warum nicht? War doch ganz normal. Lust hätte ich schon darauf, und er hatte es ja auch nur so als nebensächliche Frage geäu­ßert. Das Treffen hatte einen völlig anderen Charakter. Ich berichtete nicht nur über die Daten meiner Biographie sondern erzählt meist kleine Einzelgeschich­ten. Mit der Warnung, das es mit unserer Freundschaft augenblicklich ein Ende haben würde, wenn er Anstrengungen unternehmen sollte, mich zu bekehren, erzählte ich ihm auch meine religiöse Genese. Permanent gab es etwas zu la­chen, besonders bei meiner Charakterisierung von Kolleginnen und Kollegen nach von mir wahrgenommenen akustischen Eindrücken. Als wir uns verab­schiedeten, erklärte Peter, dass er mich für eine außergewöhnlich interessante Persönlichkeit halte.


Zu dicke Freunde


Wieder einige Monate später meinte er: „Wir müssten doch eigentlich mal wie­der zusammen essen gehen.“ Ich zog eine skeptisches Mine. Ob ich das wollte, fast regelmäßig mit Peter essen gehen. Ob er mich dafür nicht zu gut leiden mochte. Nicht seinen zu erwartenden Höllenqualen galt meine Sorge, sondern eher seinen aktuellen psychischen Konflikten, wenn seine Gefühle für mich, die einer guten Freundschaft übersteigen sollten. „Hat dir denn unser letztes Mal etwa nicht gefallen, oder warum schaust du so?“ fragte Peter. „Doch sehr gut. Vielleicht schon fast ein wenig zu gut für gute Freunde.“ antwortete ich „Peter ich befürchte, dass unsere Freundschaft zu dicke werden könnte, wenn wir häufiger zusammen essen gehen. So dicke, wie ich es nicht möchte und wie es auch bestimmt nicht gut für dich wäre.“ Er schaute mich durchdringend an, sagte aber nichts dazu.


Leben auf dem Lande


Die Musikaufführungen und Orgelkonzerte liefen natürlich weiter, zogen Kreise und dehnten sich aus. Wir hatten Kontakte zu allen Organisten der Stadt, die natürlich unsere Konzerte besuchten, und, wenn sie nicht ganz unbedarft wa­ren, auch Kontakte zu den Studenten wünschten, unsere Arbeit schätzten und sich mehr oder weniger massiv dafür interessierten. Möglichkeiten taten sich auf, die wir gar nicht alle nutzen konnten, und in einer überregionalen Zeitung wurde die Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Kirche, wie wir sie prak­tizierten zu einem Modellkonzept für die musikalische Ausbildung hochstilisiert. Was passierte da? Wir hatten nur schöne Musik bei voller Kirche gewollt und mehr eigentlich nie, aber mittlerweile waren wir schon dabei die Musikausbil­dung zu revolutionieren. Die Ausbildung zur Musiklehrerin war mir versagt ge­blieben, aber ein Doktor honoris causa der Hochschule für Musik stand für mich sicher nicht in weiter Ferne.


Es war viel Arbeit und Lizzy Schenk, unsere Kunstpädagogin, hatte mittlerweile vom Design auch schon überwiegend ins Orgelfach gewechselt. Als wir uns bei ihr getroffen hatten, fuhren wir bei mir vorbei, als ich Peter nach Hause brach­te, weil ich ihm von mir noch etwas mitgeben wollte. „Oder möchtest du noch kurz mit raufkommen?“ fragte ich ihn, als wir bei mir anhielten. „Wieso, was soll ich da? Möchtest du mir vielleicht deine Briefmarkensammlung zeigen?“ reagierte er. „Wenn du beabsichtigst, noch mehr von solchen heavy jokes ab­zulassen, solltest du doch wohl besser im Auto bleiben, andernfalls könnten wir noch zusammen 'nen Cappuccino trinken.“ ordnete ich die Lage. „Nicht Brief­marken, aber ganz viele CD's und alte Schallplatten habe ich, nur vom An­schauen hat man ja dabei nicht viel. Aber meine allerliebste CD die kann ich dir mal zeigen.“ erklärte ich beim Kaffeetrinken und stand auf, sie zu holen. „Bist du jetzt an der Reihe mit den tumben Scherzen?“ fragte Peter, als er sie sah. „Das ist kein Scherz Peter. Das ist ganz echt wirklich wahr. Ich habe ganz viele davon, fast mit jedem berühmten Dirigenten und eine LP mit Karajan habe ich auch. Nur der Titel ist eigentlich irreführend. Mit Hirten hat die nichts zu tun. Früher galt wohl pastoral als generelle Bezeichnung für das Ländliche und die Pastorale malt das Landleben. Ich habe dir ja erzählt, dass ich als Kind häufig und sehr gern bei meinen Großeltern auf dem Bauernhof war. Ich habe meiner Freundin immer begeistert davon erzählt, bis mir mal einfiel, was die denn ei­gentlich davon habe? Wenn ich ihr erzählte, wie ich dem Pferd das Zaumzeug anlegte, sie konnte es ja nicht sehen, sie machte sich nur Bilder aus dem, was sie bereits kannte, und wenn ich ihr erzählte, wie Meta, das Pferd, beim Reiten im Takt gefurzt habe, dann dachte sie an ihre eigenen Pupse. Ich konnte ihr das, was ich erlebt hatte, nicht vermitteln. Sie konnte es nicht anders als aus ihren eigenen Vorstellungen verstehen. Musik kann ja letztendlich auch nichts anderes, als auf das bereits Vorhandene rekurrieren, aber ich bin überzeugt, dass sie daraus neue Kollagen und neue Bilder entwerfen kann, die du vorher so nicht kanntest. Ich hätte meiner Freundin die Pastorale vorspielen sollen, dann hätte sie mehr begriffen, als aus allen meinen Schilderungen. Beethoven kann für mich nicht der leicht mürrisch blickende Ältere mit wallenden silbergrauen Haaren sein, wie er auf den Standartbildern immer erscheint. Er muss ein lustiger, äußerst feinfühliger, frischer Mann gewesen sein und das Leben auf dem Lande hat er in der Pastorale nicht nur gemalt, sondern auch gezeigt, wie sehr er es mochte und liebte. Die Pastorale entspricht absolut dem, wie ich das Leben auf dem Dorfe erlebt habe, als ob er bei mir gewesen wäre, und die Noten dazu aufgeschrieben hätte, was ich empfunden habe. Das wunderschönste für mich daran ist, dass es mich nicht immer nur auf ein klar definiertes Bild festlegt. Bei allen anderen Musikstücken ist das für mich so, es zeigt sich bei bestimmten Takten ein Bild, und das ist bei jedem neuen Hören immer wieder exakt das gleiche. Bei der Pastorale empfinde ich nur den gleichen Rahmen, das gleiche Szenario wieder, in dem sich bei jedem Hören andere Kindheitserinnerungen aus diesem Bereich zeigen können. Ich liebe sie. Sie ist wie das musikalische Heiligtum meiner geliebten Kindheitserinnerungen. Peter starrte mich an. „Möchtest du mal hören? Hast du so viel Zeit? Dauert schon ein wenig, aber für mich vergeht die Zeit dabei immer viel zu schnell.“ fragte ich ihn. Peter überlegte. Woran er wohl dachte? Was er wohl abwägte? „Ja, doch, selbstverständlich.“ erklärte er. Ich erläuterte manchmal, woran mich was erinnerte. Peter lauschte andächtig und als wir wieder zum Auto gingen, um zu ihm zu fahren, sagte er: „Danke Anne, das hat mir sehr viel gegeben.“ Als er bei sich aus dem meinem Wagen stieg, schaute er mich an, als ob er mir gern einen Kuss geben würde, aber das wäre bestimmt der Beginn zur großen Sünde gewesen.


Eingeengte Bühne


Das wurde mir auch bewusst. Es war ja nicht einfach so, dass er seinen Se­xualtrieb nicht leben durfte, darauf verzichteten viele andere ja auch freiwillig, das ganze Leben musste sich auf einer völlig eingeengten Bühne abspielen. Wenn eine Frau nicht mit Männern ins Bett gehen wollte, lebte sie deshalb völ­lig frei und sagte eben nein. Für Peter Degen war es aber so, dass er alles ver­meiden, alle Empfindungen unterdrücken musste, die den Anschein hätten er­wecken können, einen Anflug aus derartigen Richtungen in sich zu bergen. Musst du denn nicht zwangsläufig neurotisch werden, wenn du eine Frau schön findest, das aber nicht so sehen darfst, weil das Sünde wäre. Deine Emotionen sind doch da, die lassen sich doch rational nicht verbieten, auch wenn du sie als noch so sündig beschimpfst. Zwang die Kirche nicht ihre Hirten zu einem verlogenen Leben, verlogen vor sich selbst? Wie sollst du Menschen, die sich selbst belügen, belügen müssen und das akzeptieren, denn vertrauen können? Ein Selbsterkenntnisprozess unter den großen Hirtenvölkern, die dem obersten Pontifex in Rom unterstehen, hätte mit absoluter Sicherheit größte revolutionäre Katastrophen für das bestehende System zur Folge. Bestimmt war ich mit acht bis neun Jahren schon ein außerordentlich kluges Kind, das erkannte, wie sich die Unwahrheit nicht nur auf die Heiligenlegenden bezog. Wahrscheinlich bedurfte es dazu aber gar nicht besonderer Klugheit, denn alles durchschauen konnte ich mit Sicherheit nicht. Ich vermute, dass es eher eine Sensibilität, ein sicheres Gespür war, das sich mir vermittelte. Vielleicht hörten ja nicht nur meine Ohren einiges mehr, sondern auch mein Empfinden in sozialen Prozessen war feinfühliger als gewöhnlich.


Schule im Herbst


Nach den Herbstferien wird das Leben in der Schule unangenehm. Nein, es ist gar nicht die Schule, mit der es originär zusammenhängt, es ist das Wetter. So müßig es sein mag über das Wetter zu reden, trotzdem bleibt es ärgerlich, wenn du morgens noch im Dunkeln zur Schule fahren musst, obwohl die Tage eigentlich noch gar nicht so kurz sind, wenn diese graue Abdeckung, die sich als Himmel bezeichnen lässt, in diesen Zeiten sich permanent zwischen Erde und Sonne schiebt, und dir vermittelt, das deine Tage zwar nicht dunkel aber auch keinesfalls hell sind. Es ist nicht ein feiner dezentgrauer Schein, der sich dir zeigt, es ist das plumpe dumpftrübe Grau in das die Tapete an der Decke deiner Welt heute gefärbt ist. Deine Psyche mag das nicht, kann griesgrämig werden oder erschwert es dir zumindest lustig zu sein und zu lachen. Oft schleppen sich die Tage nach deinem Empfinden zäh dahin, und einer ist so grau wie der Nächste. Peter Degen war kaum noch zu sehen. Er kam immer ganz knapp vor oder direkt zu Unterrichtbeginn in der Schule an. „Peter, was ist mit dir. Wir sprechen überhaupt nicht mehr miteinander. Warum kommst du immer so spät?“ fragte ich ihn. Er habe so viel zu tun, hiermit und damit und das sei jetzt auch noch dazu gekommen. Er wisse manchmal nicht mehr, wo ihm der Kopf stehe. Jetzt hatte er nicht nur sich selbst belogen, sondern auch mich, das hörte und spürte ich. Drei Wochen später trafen wir uns bei mir zu einer Konzertvorbereitung. Als die anderen gingen, bat ich Peter noch zu blei­ben. „Ich möchte wissen was los ist. Du musst es mir nicht sagen, aber wie du dich verhältst, ist es nicht nur äußerst unhöflich, sondern auch in Anbetracht unseres freundschaftlichen Verhältnisses nicht zu verstehen und absolut inak­zeptabel.“ wies ich Peter auf sein Verhalten in letzter Zeit hin. Er schaute mich an, blickte zur Wand und kratzte sich an den Bartstoppeln seines Kinns in Nähe des rechten Ohres. „Lass uns gemeinsam essen gehen, dann werde ich dir et­was dazu erklären.“ schlug Peter vor. „Du kannst es jetzt sagen, wir sind unter uns.“ wies ich hin. „Nein, das möchte ich nicht.“ lautete seine prompte Reakti­on. Also wurde ein Termin anberaumt.


Ich möchte da raus


Gut gelaunt war ich nicht. Erfreulich würde es bestimmt nicht sein, was ich zu hören bekäme. Aber was konnte es denn sein, warum er mich mied. Unfreund­lich war ich doch nie in irgendeiner Art und Weise zu ihm gewesen und bei un­serem letzten Treffen vor den Herbstferien mit der Pastorale hatte er doch kei­nerlei Antipathien gezeigt, eher das Gegenteil.


„Anne, ich habe Probleme, größte Probleme. Es quält mich massiv und ich bin mir nicht sicher, wie ich das alles lösen soll. Es geht um mein Leben, mein ge­samtes Leben, mehr nicht.“ begann Peter. „Konkreter könntest du auch wer­den? Dann würde ich vielleicht etwas verstehen.“ war meine Reaktion. „Anne es ist schlicht und einfach so, dass ich das alles nicht mehr will. Ich möchte da raus. Möchte wieder ein freier Mensch sein. Ich denke jetzt auch, ich bin ja ein freier Mann. Kann gehen, wohin ich will, kann tun was ich für richtig halte, ein Mensch wie alle anderen Bürger unseres Landes auch. Tatsächlich aber bin ich eingekerkert, psychisch hinter Gittern. Ich darf nur das empfinden, was ich zu denken habe, das macht krank, das ist wie psychische Folter und in vielen Be­reichen ist sie sehr subtil aber äußerst schmerzlich und wirksam. Ich will das nicht mehr, ich will raus aus diesen Folterkammern sonst werde ich verrückt. Frei leben will ich wieder können, in einer Welt in der es mir nicht verboten ist, liebende Gefühle für dich zu entwickeln und sie auch zeigen zu können.“ so Pe­ter. Ich starrte ihn entgeistert an. Worte dazu hatte ich nicht. „Ob das richtig ist, was ich vorhabe, welche Konsequenzen es mit sich bringt, und ob ich über­haupt in der Lage sein werde, sie zu ertragen, das beschäftigt mich eben un­aufhörlich.“ fuhr er fort.


Kindlich einfache Antwort


„Oh je, Peter, das sind allerdings Fragen über die man sechs Wochen lang nachdenken kann und wenigstens auch sollte. Ich glaube zu verstehen, was du sagst. Nur ist da nicht auch noch ganz viel anderes, das nicht den Folterkam­mern entsprossen ist, das wir von dir erlebt haben und das dich doch mit Si­cherheit nicht unglücklich gemacht hat. Das ist doch auch dein Leben. Das würdest du aber ebenso schlagartig perspektivlos beenden. Ob das Gefühl des Befreit seins diesen Verlust einfach wird ausgleichen können? Ich weiß es nicht. Du hast dich doch nicht etwa in mich verliebt?“ fragte ich. Peter antwor­tete nicht. Schaute in die Gegend und schaute mich an. „Anne, ich mag dich gern, sehr gern und ich merkte, wie meine Gefühle für dich immer stärker wur­den. Das durfte aber nicht sein. Nur wie sollte ich es mir verbieten? Musste ich aber, musste mir sagen, wenn ich an dich dachte, nein das kann nicht sein, das darfst du nicht. Allen würde es pervers erscheinen, nur für mich sollte es nor­mal sein. Warum? Gott hatte die Welt so eingerichtet, das dies gut und normal war, aber meine Kirche zwang mich, ein Mensch zu sein, wie er von der Evolu­tion nicht konzipiert war. So habe ich mich zu verhalten und schlimmer noch zu empfinden. Wenn ich normal wie vorgesehen empfinde, mache ich mich per­sönlich Gott gegenüber schuldig und zeige dadurch ein Verhalten, das nicht gottgefällig sein soll. Wer kann sich warum so einen Unfug ausdenken. Du hast mir mit der Warnung vor Missionierungsversuchen von deiner Entscheidung als Kind erzählt. Du hast mich missioniert. Es ist sehr wichtig, vieles auch mit der einfachen Klarheit des Kindes sehen zu können. Tausend wissenschaftliche Er­läuterungen können auch den Zweck haben, die einfache schlichte Wahrheit zu verschleiern. Entscheidend ist nicht das, was an theologischen Expertisen vor­liegt sondern umgekehrt. Die Entscheidungsträger, sprich die Machthabenden, die trotz all ihrer Gelehrsamkeit über die gleiche psychosoziale Basisstruktur wie alle Menschen verfügen, bestimmen im Rahmen ihrer Interessen. Dabei sieht es nicht anders aus als bei dem Richter, der alles entscheiden kann, nur in der Lage sein muss es begründen zu können. Anders kann es auch bei allen Entscheidungen, die in der Kirche getroffen worden sind, nicht gewesen sein. Entscheidungen, die ohne irgendwelche Interessen getroffen werden, gibt es nicht. Die Entscheidungsträger der Kirche haben aber von Anfang an argumen­tiert, als ob sie selbst völlig interesselos seien, sondern nur die Interessen Christi vertreten würden. Damals wusste man es noch nicht, heute würde man sagen, durch und durch verlogen von Anfang an. Anstatt das Vergangene zu analysieren und gegebenenfalls zu revidieren, hält man bis heute steif an den alten Dogmen fest und selbst das Verfahren in der Kirche hat sich bis heute kaum geändert. Ich will das nicht mehr sein, dessen Amt mit solchen Begrün­dungen gerechtfertigt wird.“ erläuterte Peter.


„Du hast gesagt, dass du mich magst und zu welchen Überlegungen es dich veranlasst hat, aber so eine kindlich einfache Antwort auf meine Frage habe ich noch nicht erhalten.“ merkte ich an. „Ich glaube, die gibt es auch nicht, Anne. Sympathisch gefunden und gut verstanden haben wir uns ja, solange wir uns kennen. Bei unserer Arbeit zu den Konzerten hat sich das intensiviert. Bei aller Freude, die es machte, war auch ein Stückchen davon, das es mir dir geschah. Nach unserem zweiten Essen war ich begeistert von dir und deine Erklärungen zur Pastorale und das gemeinsame Hören haben mich fasziniert. Ich hätte dich umarmen und küssen können. Aber allein dieses Bedürfnis zu haben, war ja schon unerlaubt und erst recht, dass es mir immer wieder einfiel und das ich von unserer Situation träumend eingeschlafen bin. Weitere Gedanken über meine Liebe zu dir habe ich mir gar nicht gemacht, sondern über die Perversi­tät der Verhältnisse unter den ich zu leben habe, in denen mir das verboten ist. Ich mag dich schon sehr gern, empfinde vieles an dir bewundernswert und freue mich wenn wir zusammen sein können. Ob das schon Liebe ist, oder eine Basis auf der sie gut entstehen könnte, ich weiß es nicht. Was meinst du denn?“ fragte er.


Erste Ausbruchsversuche


„Mh, das ist sehr schwer zu sagen, aber auf jeden Fall reicht es aus, um mir jetzt mal einen Kuss geben zu können, und wenn du sowieso aus deinem Psy­choknast raus willst, wäre es zwingend erforderlich, diesen ersten Ausbruchs­versuch zu wagen.“ schlug ich vor. Peter grinste. Wir kamen mit unseren Köp­fen zusammen und Peter hielt inne und lächelte. „Nu mach schon!“ forderte ich ihn auf, weil ich befürchtete, dass er sonst den ganzen Abend dicht vor mei­nem Gesicht lächelnd verbracht hätte. „Deine Anwesenheit hat mich von An­fang an auch immer so ein wenig aus der Pastoralmaschine gelöst. Bei dir fühl­te ich mich in einer anderen Welt, die nicht zu dem ganzen Apparat gehörte von und in dem ich sonst lebte, ausschließlich lebte. Es passte mehr zu der Welt in der ich vorher gelebt hatte. Das war jedes mal bei dir da und es gefiel mir. Ein Bild das jung und froh wirkt und freundliche Gefühle macht.“ erläuterte Peter weiter.


„Das ist alles sehr schön, Peter, hört sich wunderbar für mich an, und es er­freut mich sehr, wie du mich siehst. Danke. Natürlich bist du für mich immer ein Mann gewesen, nur was Liebe, Erotik, Sexualität betrifft, warst du für mich ebenso Tabu. Mir hat es aber überhaupt keine Konflikte beschert. Die Frage, ob ich dich gern küssen würde, ist nie aufgetaucht. Dass ich dich sehr gern mag, ist über jeden Zweifel erhaben und auch das du mir viel bedeutest, nur alles andere weiß ich gar nicht. Werd ja auch zum ersten Mal damit konfrontiert. Und dann ist ja auch die Frage mit Männern generell für mich noch nicht ge­klärt. Weißt du, ich kenne ja nur meine alte Beziehung, habe ich dir ja erzählt, so etwas will ich absolut nicht nochmal erleben. Aber wie geht etwas anderes? Weiß ich gar nicht, kenn ich nur aus Büchern und Filmen. Vielleicht könnte man ja auch etwas Eigenes Tolles erfinden, habe ich mir nur noch nie Gedanken drüber gemacht. Nicht nur für dich, auch für mich, stellen sich lebensbedeutsa­me Fragen. Es ist aber für mich keinesfalls so, dass ich eine Morgensonne mit leuchtendem Glanz aufgehen sehe. Es scheint mir alles sehr unklar, und ich habe das Empfinden, überhaupt nicht erkennen zu können, was der Tag brin­gen will. Es gibt Aspekte, die mich freudig stimmen, aber auch andere, die mich sehr verwirren. Dass du deine Emotionen und Empfindungen zulassen und akzeptieren willst, kann nur richtig sein. Niemand sollte anders verfahren. Auch unabhängig von der Frage, ob du Priester bleiben willst oder nicht. Wenn sich daraus Entwicklungen ergeben sollten, bei denen du feststellen musst, dass beides nicht mehr vereinbar ist, solltest du dann deine Entscheidung tref­fen, aber nicht vorher ins Ungewisse theoretische Beschlüsse fassen.“ war mei­ne Ansicht der Lage. „Kannst du mal konkret sagen, was du dir darunter vor­stellst?“ bat Peter. „Na klar. Du musst dir zunächst mal Gewissheit darüber ver­schaffen, ob es Liebe ist, was du für mich empfindest. Und was könnten all meine Überlegungen für einen Sinn haben, wenn ich das nicht wüsste, mir des­sen unsicher wäre? Aber ich muss ja schließlich auch herausfinden, was du für mich als Frau bedeutest und nicht nur als Kollegin. Darüber müssen wir uns doch Klarheit verschafft haben, bevor wir Weiteres entscheiden können.“ erläu­terte ich. „Und wie soll so etwas gehen?“ fragte Peter skeptisch lächelnd. „Pe­ter, du Triefnase, muss ich es dir denn ganz platt sagen. Ich habe etwa vier­zehn oder fünfzehn Aufnahmen von der Pastorale. Du hast bis jetzt nur eine davon gehört, danach warst du von mir fasziniert. Vielleicht könnten sich bei den anderen dreizehn ja noch andere Gefühle bei dir einstellen. Und es wäre schon wichtig, dass ich dabei wäre, damit du es mich wissen lassen könntest. Du musst zu mir kommen zum Essen und ganz viel Zeit mitbringen, denn das Landleben folgt einem sanften beschaulichen, aber auch manchmal lebhafte­rem Verlauf. Du musst allerdings auch immer damit rechnen, dass es schon mal stürmisch werden kann, wie du ja weißt.“ machte ich es ihm noch deutli­cher. „Und was ist mit den frohen und dankbaren Gefühlen nach dem Sturm?“ wollte Peter noch wissen? „Aber Peter, das weiß man doch vorher nie. Dazu musst du doch erst den Sturm erlebt haben. Aber im Prinzip wirst du es in Form von Hirtengesängen äußern, das wird schon so sein.“ informierte ich ihn und lachte. „Anne, jetzt zum Beispiel möchte ich dich küssen.“ so Peter und ich: „Soll ich mir deine Information notieren? Wäre es nicht besser, du tätest es?“ Zum Abschied blieben wir umschlungen küssend lange bei den Autos stehen.


Nur gottgefällig


Wir wollten einfach unsere Beziehung leben, so wie wir es wünschten, und wenn Peter für sich festgestellt hatte, dass dies nur gottgefällig sein könne, sollte ich es da etwa bezweifeln? Es gestaltete sich nur alles ein wenig kompli­ziert. Alles musste ja so lange wie möglich verborgen bleiben. Ich konnte nicht zu ihm kommen, da sich, auch wenn er keine unmittelbaren Nachbarn hatte, sicher schnell irgendetwas herumgesprochen hätte. Das Wochenende fiel für uns in der Regel auch aus, da hier seine Hauptbeschäftigungsphase lag. Ich ging jetzt manchmal in die Messe, um Peter kurz zu sehen, aber nur, wenn es mit relativ reichlich oder besonderer Musik verbunden war. Peter konnte gut singen, er klang wunderbar, aber an meinen Kinderkaplan konnte er leider nicht heranreichen. Vielleicht lag es aber auch daran, das bei einer fast vierzig­jährigen Frau die ergreifenden Empfindungen, die sich körperlich wie ein durchdringender Schauer auswirken, nicht mehr so leicht erzeugen lassen oder daran, dass der Klangkörper dieser Kirche so etwas einfach gar nicht hergab. Peter hatte schon mehrere Pastoraleversionen gehört, aber alle durch hatte er noch lange nicht. Er wusste auch, wie sich die frohen und dankbaren Gefühle nach dem Sturm ausnehmen, dass er sie jedoch immer in Form von Hirtenge­sängen äußerte, würde ich stark bezweifeln.


Übergeordnete Instanz


Ohne Zweifel würden wir nicht nur gut sondern auch glücklich zusammenleben können. Nur wenn wir's machten, war er nicht mehr der Herr Pastor. Wie er das verarbeiten würde und welche Auswirkung es auf ihn hätte, konnte natür­lich keiner abschätzen. Als Philologe mit Mathe und Religion würde er wegen beider Fächer direkt eine Anstellung finden können. Das unser Chef alle ihm zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung setzen würde, um Peter zu uns an die Schule zu holen, stand außer Frage, aber ob er überhaupt seine Missio, die kirchliche Lehrerlaubnis, würde behalten dürfen, war noch nicht einmal klar.


Ein ganz anderes Problem sah ich darin, dass für mich nicht nur der Glaube an die Lehren der römisch-katholischen Kirche, sondern auch an die Existenz aller außerirdischer höherer Wesen gestorben war. Ich hielt es für müßig, sich da­nach zu fragen und damit zu beschäftigen. Das war bei Peter eben nicht so und würde nicht so sein. Seine früheren Überlegungen, die ihn zu der Annahme ge­führt hatten, es müsse eine übergeordnete höhere Existenz geben, konnte ich noch gut nachvollziehen und hätte sie eventuell sogar teilen können, nur er ließ es ja nicht dabei bewenden. Meiner Ansicht nach hatte die Kirche mit Pe­ters Gottesbegründung überhaupt nichts zu tun, sondern rekurrierte ihre An­sichten auf einer ganz anderen Basis aus völlig anderen Quellen. Sie war eine kulturgeschichtlich bedeutsame und mächtige Institution, und so konnte ich sie nur betrachten und nicht über sie Kontakt zu einer möglichen übergeordneten Instanz aufnehmen. Da würden sich unsere Vorstellungen nicht treffen können. Was würde es für unser Zusammenleben bedeuten? Würden wir uns später eventuell ständig darüber auseinandersetzen oder würde es keine Rolle spielen, würden wir es immer akzeptieren können, wie jetzt in der verliebten Phase? Wir sprachen oft darüber und versprachen uns alles, aber wie das Leben damit umgehen würde, konnte natürlich niemand voraussehen.


Approbation entziehen


Als uns gegen Ostern, das Versteckspiel, die Heimlichtuerei und die ständige Einschränkung durch Peters Arbeit absolut zu nerven begannen, beschlossen wir, dass Peter es unserem Chef ankündigen solle. Er habe davon gehört, sagte der, versprach aber, sich für Peter einzusetzen. Gehört? Von wem denn? Wer wollte denn so etwas wissen? Die einzige, der gegenüber ich je etwas davon erwähnt hatte, war Lizzy Schenk. Sie hatte mich direkt gefragt: „Habt ihr et­was miteinander? Du hast was mit Peter, nicht wahr?“ Einfach nein sagen und mich entrüstet geben, wie sie denn auf so etwas kommen könne, das ging ge­genüber Lizzy nicht. Dafür kannten wir uns zu gut und mochte ich sie zu gern. Ich erklärte es ihr, und sie schwor hoch und heilig, kein Sterbenswörtchen dar­über zu verlieren. Nur sie konnte etwas weitergetragen haben, obwohl ich ihr das niemals zugetraut hätte. „Lizzy, du hast doch etwas erzählt. Das tut mir weh, weh für uns beide.“ sprach ich sie an. „Ich? Von euch etwas erzählt? Wer redet denn so einen Schwachsinn? Kein Wort ist davon über meine Lippen ge­kommen. Ich habe nicht einmal mit irgendjemandem über euch gesprochen. Anne, wie kannst du so etwas glauben, ich habe es dir doch versprochen. Was hältst du denn von mir. Bitte, Anne, du musst mir glauben. Ich würde so etwas doch nie tun.“ reagierte Lizzy entsetzt und fassungslos und feucht werdenden Augen. Ich musste ihr glauben, auch wenn es sonst keine Erklärung gab. Es ließ mich nicht los, ich wollte es wissen und fragte den Chef. „Na vom Kollegen Heinze.“ antwortete der auf meine Frage. „Wie bitte, Kollege Heinze, was weiß der denn davon?“ fragte ich entsetzt nach. „Na ja, der hat mal vor einiger Zeit geäußert, Pastor Degen würde wohl über kurz oder lang sein Amt nieder legen. Da ging ich mal davon aus, dass er bestimmt Näheres wissen würde.“ antwor­tete der Chef. Ich überlegte, wie lange auf begründetem Totschlag im Affekt stand. Dieses Schwein, was konnte er davon haben, derartige Gerüchte in die Welt zu setzen. Diesem Mann mangelte es nicht nur an der notwendigen Tu­gend und Harmonie, um Musik unterrichten zu können, es fehlten ihm allem Anschein nach auch jegliche humanen Grundvoraussetzungen, ohne die ein Mensch niemals pädagogisch tätig werden dürfte. Warum gab es eine Approba­tion nur für Schulbücher und nicht für die Pädagogen selbst. Der Kollege Hein­ze böte fortdauernd Anlässe, ihm diese entziehen zu können.


No more Pastor


Jetzt stand die ganze Fiesta mit der Kirche bevor. Wir hatten mehrfach durch­gespielt, was alles auf Peter zukommen würde und was ihn erwartete. Für Pe­ter stellte sich vieles so dar, dass er es einfach in dem Katalog des zu Erwar­tenden abhaken konnte. Beim Bischof verlief alles sehr harmonisch und sach­lich, er bedauerte es zwar, gerade Peter zu verlieren, unternahm aber keine Versuche, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, sondern äußerte nur die Hoffnung, dass Peter sich auch weiterhin für die Kirche engagieren werde. Ob der Abt Winfried, zu dem er schon sehr lange ein vertrauensvolles Verhältnis hatte, und den er als einen väterlichen Freund bezeichnete, etwas darüber be­richtet hatte? Mit ihm beriet er sich zuerst, als er die Absicht hatte sein Amt niederzulegen, und er war damals auch nicht unwesentlich daran beteiligt ge­wesen, dass Peter sich dazu entschieden hatte Priester werden zu wollen. Trau­rig sah Peters Zukunft aus: No more Pastor. No more Musik. No more Organ in full blast. Die Dechanei bat ihn jedoch flehentlich, ob es Peter denn nicht auch weiterhin ermöglichen könne, die Organisation der Orgelkonzerte fortzuführen. Man habe niemanden, der das könne und bot ihm jegliche Unterstützung an.


Erwachen heiterer Gefühle


So konnten die heiteren Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande schon erwa­chen. Sie erwachten wieder, als der Chef ihm mitteilte, dass er jetzt bei uns Mathematik unterrichten könne und alle katholischen Schülerinnen und Schüler vor einem sündigen Leben schützen dürfe, und sie erwachten ein drittes Mal, als wir das bei mir feierten. Peters Pfarrei war ein relativ altes schnuckeliges Haus. Vor allem aber war es viel größer als meine Wohnung. Wir hätten zwar bei mir zusammen wohnen können, aber ob man ihm das bei den ganzen Um­stellungen auch noch zumuten sollte. Ob er nicht ein Haus brauchte, in dem er sich auch mal im Sommer von seiner neuen schweren Landarbeit auf der Ter­rasse entspannen konnte? Ich sah es so. Bevor nach den Sommerferien das neue Leben in der Schule begann, konnten wir schon wieder das Erwachen hei­terer Gefühle bei der Ankunft im neuen Haus feiern und dabei auch gleichzeitig frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm entwickeln, denn er war vorüber.


Einsamer Hirte


Die großen Harmonien, die sich in unserem Zusammenleben entwickelten, mussten kosmischer Natur sein, sie basierten zwar auf dem lustigen Zusam­mensein der Landleute, nur überstiegen sie es um ein Vielfaches. Es war nicht mehr die freudige Erinnerung meiner Kindheit an ein glückliches Leben auf dem Lande, es war die Gegenwart, wie sie von Erwachsenen freudig gestaltet werden wollte. Das pastorale Landleben war keineswegs idyllisch niedlich, aber die interstellaren sphärischen Klänge nach denen sich vieles in unserem Leben jetzt gestaltete, konnte es nicht erzeugen. Trotzdem wollten wir auf die kleine Wärme der Hirtengesänge in unserem Leben nicht ganz verzichten.


Nur das große Hirtenvolk der Sancta Ecclesia Catholica Romana hatte den Hir­ten Peter auf eigenen Wunsch aus seinen Reihen relegiert. Jetzt stand er ganz allein für sich. Der Hirte war einsam. Sollte ich sein einziges Schaf sein? Ei­gentlich lieber nicht. Nur, dass mir nichts fehlen, er mein Haupt mit Öl salben und mir reichlich den Becher füllen würde, hörte sich ja nicht mal so schlecht an und dass er mir lauter Güte und Huld für mein Leben lang versprach auch nicht. Aber dass er mich auf grüner Aue weiden und am Wasser lagern lassen wollte, musste er mir noch genauer erklären. Auf rechten Pfaden geleiten brauchte er mich jedenfalls nicht, die würde ich schon alleine finden und auch in Schluchten fürchtete ich kein Unheil, aber nachts jemanden neben sich im Bett zu wissen, der einen vor der Belästigung durch wilde Tiere und sonstige Feinde schützte? Ich weiß nicht, ob das so ganz verkehrt sein konnte.



FIN




Les chefs des peuples se prennent pour des bergers;
ils ne sont souvent
que des chiens de troupeau.

Gilbert Cesbron


„Peter, du hast gesagt, dass du mich magst und zu welchen Überlegungen es dich veranlasst hat, aber so eine kindlich einfache Antwort auf meine Frage habe ich noch nicht erhalten.“ merkte ich an. „Ich glaube, die gibt es auch nicht, Anne. Sympathisch gefunden und gut verstanden haben wir uns ja, solange wir uns kennen. Bei unserer Arbeit zu den Konzerten hat sich das intensiviert. Bei aller Freude, die es machte, war auch ein Stückchen davon, das es mir dir geschah. Nach unserem zweiten Essen war ich begeistert von dir und deine Erklärungen zur Pastorale und das gemeinsame Hören haben mich fasziniert. Ich hätte dich umarmen und küssen können. Aber allein dieses Bedürfnis zu haben, war ja schon unerlaubt und erst recht, dass es mir immer wieder einfiel und das ich von unserer Situation träumend eingeschlafen bin. Weitere Gedanken über meine Liebe zu dir habe ich mir gar nicht gemacht, sondern über die Perversi­tät der Verhältnisse unter den ich zu leben habe, in denen mir das verboten ist. Ich mag dich schon sehr gern, empfinde vieles an dir bewundernswert und freue mich wenn wir zusammen sein können. Ob das schon Liebe ist, oder eine Basis auf der sie gut entstehen könnte, ich weiß es nicht. Was meinst du denn?“ fragte er.



Verbotene Liebe Anne und Peter – Seite 22 von 22

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Tag der Veröffentlichung: 15.04.2013

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