Cover

Introduction und Inhalt

 

Elvi Mad

Mira und Laurent
Kann es sein, dass wir uns lieben?

Unverhofftes Glück im Mai

Erzählung

 

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.

Joseph von Eichendorff, Mondnacht

 

An einem kleinen Tisch saß eine junge Frau, die offen­sichtlich
ebenfalls Studentin war, wie fast alle, die hier in Uni-Nähe
verkehrten. Dass sie einen dicken Bauch hatte,
also schwanger war, bemerkte ich erst, als ich bei ihr am Tisch
Platz nahm. So etwas Dämliches auf Schwangerschaft und
Kinder Bezogenes wollte ich nicht ansprechen. Ich fragte
sie einfach, was sie studiere. „Medizin, was sonst? Brauche ich
bei dem Bauch demnächst ja drin­gend, oder?“ reagierte sie
mit einem leicht verschmitzten Lächeln. „Na ja, aber ich bin
ja auch nicht angefangen Kfz-Ingenieur zu werden, als ich mir
ein Auto kaufte. Meinst du, ich sollte es doch lieber machen?“
wandte ich fragend ein. „Ich hatte ja das Glück, es vorher
auch schon zu machen, während du wahr­scheinlich ganz
von vorne anfangen müsstest. Du solltest dir vielleicht
einen Freund zulegen, der so etwas kann.
Ich denke, es könnte schon lustig werden, sich weiter
Gedanken über deine berufliche Perspektive zu machen,
Herr Inge­nieur, aber ich muss jetzt unbedingt
nach Hause und mich ein wenig hinlegen.“

 

Mira und Laurent - Inhalt

Mira und Laurent 4

Kuss des Himmels 4

Meeting im Bistro 4

Kein Eremit 5

Mira und Laurent 6

Bei Mira zu Haus 7

Träumen statt Interpretieren 8

Verkümmernde Seele 9

Schnelle Sympathie 9

Kann es sein, dass wir uns lieben? 10

Abendbrot mit Namensfindung 12

Ekstatische Zustände? 13

Spaziergang im Forst 14

Wandlung zum Fatalismus? 16

Ich bin doch ganz normal 17

Mein Fatum 18

Gaby und Peter 19

Schau die kleine Tigerin 20

Marietta 21

Hochzeitsmorgen 22

Zusammenleben 22

Welchen Namen? 23

Nalanis Geburt 24

Alles um Nalani 25

Neues Antikonzeptivum 25

Dominante Nalani 26

Ich bin das Zentrum 26

Zum ersten Mal allein 27

Ganz allein eure Angelegenheit 28

Ich bin nicht deine Zweitfrau 29

Nalanis Club 30

Familiensaga 30

Wintertimes 31

Jahresfeierlichkeiten 32

Erweiterte Ansicht 33

 

 

Mira und Laurent

„Kann es sein, dass das mal Liebe werden soll?“ erkundigt sich Mira bei Laurent. Laurent hatte Mira nach Hause gebracht. Sie war noch nie richtig verliebt und Laurent auch nicht. Laurent vermutet, dass es auch mit dem Mai zu tun haben muss.

Kuss des Himmels


Diese wunderschönen Maientage, die nach Natur, nach erwachender, wachsen­der Natur duften, wenn du den Geruch der sich erwärmenden frischen Erde wahrnehmen kannst, diese Tage, in denen die Sonnenstrahlen alles um dich herum mit einer sanften Milde erwärmen und in denen sie allem, was du siehst einen leuchtenderen, freundlicheren Farbton geben, lassen mich immer an den Beginn von Joseph von Eichendorffs Mond­nacht denken. Es war das erste Ge­dicht, dass ich nach Christian Morgensterns Kinder­gedichten kennenlernte. Sie waren mein erstes persönliches 'Bilderbuch'. Ich hatte zwar vorher auch schon meine Forschungsbibliothek, bestehend aus zwei ausrangierten zer­fledderten, wahrscheinlich kirchenbezogenen Büchern, deren wunderliche Graphiken und Kupferstiche ich mir immer wieder zu Gemüte führte, aber Morgenstern war ein ganzer Himmel voller glitzernder Lichter. Natürlich waren die Gedichte lus­tig in ihren Ideen, in ihrer Sprache, aber sie ließen mich nicht laut lachen. Sie erheiterten mich, be­gleitet von einem schelmisch prickelnden Gefühl. Ich ließ sie mir immer noch vorlesen, als ich sie schon längst alle auswendig kannte. Dass der große Elefant ausgerechnet So­phiechen Wiedelband grüßen lässt, und der Bürger Kohlweißling aus Wiesenplan sich über einen leichten Wind freut, der sein Haus, die Glockenblume, zum Klingen bringt, hörte ich immer wieder gern erzählen. Besonders, wenn meine Mutter die 'Kätzchen ihr der Weide', diese Silberschätzchen, befragte, wo sie denn den Winter über geschlafen hät­ten, gab es mir ein kleines schmunzelndes Hochgefühl, sodass ich vor Glück einen Kuss von ihr brauchte. Sie beglückten mich einfach, diese kleinen surrea­len Komödien, die trotz ihrer Skurrilität aber auch Freundlichkeit und Wärme vermittelten. Nachdem meine Mutter noch weitere Gedichte besorgt hatte, die nicht in dem Buch aufgeführt waren, meinte sie, ein anderer, Eichendorff, habe auch sehr nette Gedichte geschrieben, die auch zum Teil lustig seien, und eine ganze Reihe davon könne sie sogar singen. Als erstes las sie mir abends im Bett die 'Mondnacht' vor. Ich fand es nicht unbedingt schlecht, aber an Mor­genstern kam er nicht heran. Die erste Strophe fand ich noch gut. Dass der Himmel die Erde küsst, und sie jetzt von ihm träumen muss, keine schlechte Idee und hörte sich auch gut an, wie er's gesagt hatte, hätte von Morgenstern sein kön­nen, aber dann lässt er die Seele still nach Hause fliegen. So billig hät­te sich's Morgens­tern nicht gemacht. Er hätte zum Beispiel aus Kuss und Traum die große Liebe gemacht. Die beiden hätten geheiratet, ganz viele Kin­derlein bekommen, die jetzt überall auf der Welt verteilt sind, und jedes von ihnen ist aus einem Kuss zwischen Himmel und Erde entstanden. Oder aber die Liebe wäre zerronnen, weil der Himmel sich im Herbst wüst und rüpelhaft auf­führte, und die Erde jetzt vor solch wechselhaften Scharlatanen wie dem Him­mel gewarnt ist. Trotzdem denke ich an diesen genussvollen Tagen im Mai nicht an das Stückchen Sonnenschein, das klein Irmchen für sich und ihr Schirm­chen beim Kaufman erworben hat, sondern daran, dass der Himmel die Erde still geküsst ha­ben müsse, obwohl diese Aktivität bei Eichendorff eher für die Nacht vorgesehen war.


Meeting im Bistro


Ich hatte noch gar keine Lust, nach Hause zu fahren. Vielleicht wollte meine Seele ja auch erst noch durch die stillen Lande fliegen, aber mir war mehr da­nach, unter Men­schen zu sein. Ich wollte noch einen Espresso trinken, nur das Bistro war ziemlich voll. An einem kleinen Tisch saß eine junge Frau, die offen­sichtlich ebenfalls Studentin war, wie fast alle die hier in Uni-Nähe verkehrten. Dass sie einen dicken Bauch hatte, also schwanger war, bemerkte ich erst, als ich bei ihr am Tisch Platz nahm. So etwas Dämliches auf Schwangerschaft und Kinder Bezogenes wollte ich nicht ansprechen. Ich fragte sie einfach, was sie studiere. „Medizin, was sonst? Brauche ich bei dem Bauch demnächst ja drin­gend, oder?“ reagierte sie mit einem leicht verschmitzten Lächeln. „Na ja, aber ich bin ja auch nicht angefangen Kfz-Ingenieur zu werden, als ich mir ein Auto kaufte. Meinst du, ich sollte es doch lieber machen?“ wandte ich fragend ein. „Ich hatte ja das Glück, es vorher auch schon zu machen, während du wahr­scheinlich ganz von vorne anfangen müsstest. Du solltest dir vielleicht einen Freund zulegen, der so etwas kann. Ich denke, es könnte schon lustig werden, sich weiter Gedanken über deine berufliche Perspektive zu machen, Herr Inge­nieur, aber ich muss jetzt unbedingt nach Hause und mich ein wenig hinlegen. Ich habe hier nur eine kleine Pause gemacht.“ erklärte die junge Frau und woll­te aufstehen. „Ich kann dich doch nach Hause bringen, ich habe ja ein Auto, wie du weißt. Dann musste du nicht die umständlichen, anstrengenden Wege mit Bus und Bahn machen. Es steht direkt vor der Tür.“ bot ich ihr an. Sie stutzte kurz, schien zu überlegen, ob es Einwände geben könnte und meinte dann: „Ja, das wäre sehr lieb von dir. Und du hast keinen dringenden Termin? Es würde dich nicht stören?“ Ich erklärte ihr auf dem Weg zum Auto, dass und warum ich heute sowieso noch überhaupt keine Lust hätte, schon nach Hause zu fahren.


Kein Eremit


Einerseits waren es sicher die schönen Maientage, aber es kam auch sonst manchmal vor, dass mich nichts verlockte, die Räumlichkeiten meines Apparte­ments zu bewachen. Bis vor zirka dreiviertel Jahr hatte ich mit drei Frauen und zwei weiteren Männern in ei­ner WG gewohnt. Die Probleme nahmen zu und be­gannen mich zu nerven. Ich sah einen Gewinn darin, meine Ruhe zu haben, und von niemand anderem und seinen Pro­blemen belästigt zu werden. Nur jetzt beginnt mich meine Ruhe und Isolation zu ner­ven. Wenn ich mal eine Pause machen will, mir einen Kaffe trinken und mit jemandem reden, es ist nie jemand da. Vor allem sind die nicht da, die dir trotzt der Probleme Auf­merksamkeit schenkten, dich beachteten, dir vermittel­ten, dass du ein akzeptiertes Mit­glied dieser Gruppe bist, dass du anerkannt wirst, einfach so, selbstver­ständlich. Ich denke nicht, dass ich Minderwertig­keitsgefühle habe, aber was es bedeutet immer ein Feedback in Form von Aufmerksamkeit, Beachtung, Ak­zeptanz und Anerkennung zu be­kommen, merke ich erst jetzt, da ich es über­haupt nicht mehr habe. Alles dazu muss ich extra organisieren, muss Freunde einladen, mit ihnen Termine für gemeinsame Vor­haben ausmachen, damit du überhaupt jemanden findest, der dir Aufmerksamkeit und Beachtung schenken könnte. Alles wirkt konstruiert. In der WG ergab sich spontan mehr als man wahrnehmen konnte und da von sechs Personen auch immer noch Freun­de oder Freundinnen anwesend waren,spielte sich ein reichhaltiges Leben ab. Mein jet­ziges Leben soll dadurch bunt werden, dass ich abends mal allein in die Kneipe gehe. Das passt alles überhaupt nicht zu mir und meinen Bedürfnissen. Vor allem habe ich gar keine Beziehung zu Frauen mehr. Meine Sexualität konnte ich aber nicht in der WG zu­rücklassen. Ich habe keine Freundin, weil ich eine Frau, mit der ich mir eine dauerhafte­re Beziehung vorstellen könnte, noch nicht gefunden habe. Nichts Ungewöhnliches ei­gentlich, nur mit einer Frau des­halb befreundet zu sein, damit ich jemanden habe, an dem ich meinen Sexual­trieb ausagieren kann, obwohl ich weiß, dass ich die Frau nicht liebe, einer Frau, die mich wahrscheinlich mag und bewundert, die mich schätzt und liebt, eine grässliche Vorstellung. Auch die Vorstellung, mit einer fremde Frau zu fi­cken, die ich für eine Nacht angebaggert hätte, tötet in mir die Lust. Eigentlich verrückt, wenn beide Sex wollen, warum sollen sie es dann nicht miteinander haben. Trotzdem mag und kann ich so etwas nicht. Vielleicht bin ich zu konser­vativ oder zu verklemmt, aber ich kann die Nähe und Intimität zu dem anderen Menschen und seiner Person nicht ausblenden, die Aufmerksamkeit und Beach­tung allein auf die Genitalien lenken, nur das wahrnehmen, was mein Sexual­trieb erkennen will und nur meine sexuelle Befriedigung sehen. In der WG war das kein Problem. Da kam es häufig zu Kontakten und Unterhaltungen, bei de­nen man im fortgeschrittenen Stadium das Bedürfnis hatte, die Kommunikation auf anderer Ebene im Bett fortzuführen. Man hatte sich im Gespräch gegensei­tig Beachtung geschenkt und gemerkt, dass man Sympathien für einander hat­te, das man den anderen mochte, ohne dabei schon direkt an Sex zu denken. Man hatte Lust darauf, es mit der anderen Person zu erleben. Wie sollte etwas Ähnliches sich heute ergeben. All diese Unzufriedenheiten mit meinen derzeiti­gen privaten Lebensbedingungen vergegenständlichten sich in den Lokalitäten meines Apartments, das mir manchmal auch wegen seiner räumlichen Be­grenztheit im Verhältnis zu den weiten offenen Räumen der WG wie eine Zelle erschien. Ich lebte in einer unbeabsichtigten Klausur. Die meiste Zeit war ich ja mit Studium und Uni befasst. Da fiel es mir nicht auf, und ich musste nicht dar­an denken, trotzdem konnte es nicht so bleiben. Ich wollte mich nicht im Pri­vatleben langsam zum Eremiten ausbilden.


Mira und Laurent


Das habe ich Mira Schönfeld, so hieß die junge Frau, die ich nach Hause brach­te, natür­lich nicht erzählt. Auf halber Strecke wurde uns plötzlich bewusst, dass wir unsere Na­men gegenseitig gar nicht genannt hatten. „Ich habe ja mit Mira noch riesiges Glück ge­habt. Meine Eltern hatten damals nämlich einen in­dischen Hau. Das Mira verstehen sie auch als indischen Namen, nur den gibt’s ja hier und vor allem in Italien und anderen Ländern auch. Glücklicher weise heiße ich nicht Indirah, Gandhi war nämlich damals für sie eine Lichtgestalt, aber Manju sollte ich erst wirklich heißen. Meine Omi hat mich da­vor gerettet.“ erläuterte Mira zu ihrem Namen und ich verdeutlichte, dass es mir nicht besser ergangen sei. Meine Eltern seien ein wenig frankophil, und damals in ihrer Hoch­phase, als ich geboren wurde, hätte es natürlich ein französischer Name sein müssen. „Es gibt so viele Namen, die man sowohl französisch als auch deutsch aussprechen kann und die es in beiden Ländern gibt. Warum haben sie mich nicht beispielsweise Paul genannt, nein Laurent musste es sein. Wem es nicht ausdrücklich gesagt wurde, nennt dich nicht so. Entweder man spricht es deutsch aus, oder sieht gar nicht, dass am Ende ein T steht und sagt einfach Laurenz. Laurent Berger, ich bitte dich, wie hört sich das denn an, im Französi­schen ist es ganz passabel, aber halb französisch und halb deutsch, das ist doch ein Unname.“ beschwerte ich mich. „Mir gefällt er trotzdem.“ meinte Mira, „Ich finde Laurent ist ein schöner Name. Yves Saint Laurent, das klingt doch göttlich. Laurent Fabius war mal Ministerpräsident in Frankreich, oder weiß der Herr Ingenieur so etwas nicht? Was studierst du eigentlich?“ „Der Herr Inge­nieur will Master of Education werden, mit dem Wahlfach Sozialphilos-ophie.“gab ich ihr zur Antwort. „Oh je, das ist allerdings viel schlimmer als dein Name. Bekommt man da beim Examen gleich einen Hartz IV Antrag mit über­reicht? Warum tust du das?“ erschrak sie. „Im Prinzip hast du vielleicht nicht ganz unrecht, nur für mich sehe ich das nicht so.“ erklärte ich noch kurz, und da waren wir auch schon bei Mira zu Hause angekommen.


Bei Mira zu Haus


„Komm doch mit rein, wenn du sowieso noch nicht nach Hause willst. Ich bin ganz al­lein. Meine Eltern sind noch nicht zurück, da können wir uns noch wei­ter unterhalten, dann wird’s Maman auch nicht so langweilig Laurent.“ forderte Mira mich auf. „Ja die kleine Madam holt sich einfach so viel von mir, dass es mir manchmal im Kopf ganz blu­mig wird. Am besten geht’s mir dann immer, wenn ich liegen kann. Ende Juli, Anfang August wird sie raus wollen aus mei­nem Bauch, dann ist das vorbei. Aber ich mag's jetzt auch. Das ist vielleicht ein komisches Gefühl, wenn du anfängst zu merken, wie in dir ein kleiner Tiger wächst. Es ist so ein Konglomerat von Gefühlen. Wenn ich sagte, ich bin stolz, dann wäre das eine platte, falsche Beschreibung, es kulminiert in einem domi­nanten Gefühl, das warm, freundlich und wohlwollend ist. Machen bestimmt al­les die Hormone. Genauso wie ich die Schwangerschaft zugelassen habe. Fel­senfest stand bei mir die Gewissheit, dass ich in einem solchen Fall abtreiben lassen würde, als ich aber erfuhr, dass ich schwanger war, schienen auf einmal magische Mächte meine Welt zu verändern. In wenigen Tagen war ich soweit, dass ich es unbedingt wollte. Der Zell­haufen in deinem Bauch wird dir plötzlich ganz wichtig, bedeutsam und du beginnst ihn liebevoll zu betrachten. War we­nigstens bei mir so.“ erklärte Mira zu ihrer Schwanger­schaft. „Und warum woll­test du vorher unbedingt abtreiben?“ erkundigte ich mich. „Na hör mal, gibt es denn eine ungünstigere Situation? Ich hab' keinen Mann, keinen Freund, ste­cke mitten im Studium und wohne bei meinen Eltern. Die kleine ist ein Pil­lenkind. Alle Fehler, die man machen kann, habe ich meiner Ansicht nach nicht ge­macht, trotzdem hat's funktioniert. Für mich ein absolutes Rätsel.“ erklärte Mira. „Und der Vater, was hält der davon?“ wollte ich wissen. „Setz dich doch zu mir auf die Couch. Das ist ja schrecklich, wenn du hinter meinem Kopf aus dem Sessel redest.“ forderte Mira mich auf, „Ja der Vater, ich weiß wie er heißt, und ich habe auch seine Adresse. Grundsätzlich abstreiten tut er es nicht, nachdem ich ihm erklärt habe, warum nur er der einzig Mögliche sein könne. Ich weiß auch nicht, ob ich finanzielle Unterstützung von ihm überhaupt wollte, ob ich nicht alles einfach vergessen sollte? Im Grunde ist es ja auch alles mein eigenes Problem.“ „Wegen der Pille?“ fragte ich nach. Mira schaute zur Decke und sinnierte. „Laurent,“ hob sie zögernd an, „ich weiß nicht ob ich dazu et­was erzählen sollte. Ich kenne dich ja überhaupt nicht, und das wäre sehr privat. Also ich habe keinen festen Freund. Mir ist bislang noch niemand begegnet, bei dem ich das gewünscht oder für möglich gehalten hätte. Vielleicht habe ich zu hohe Ansprüche oder spinnerte Traumvorstellungen, aber ich komme mir nicht wie in der Asche sitzend und auf den Traumprinzen wartend vor. Ich weiß nicht, was es ist, aber einen Anlass, mich verlieben zu können, hat es bislang noch nicht gegeben. Ich habe einfach noch nie je­manden kennengelernt, der bei mir eine entsprechende Aufmerksamkeit erweckte. Und eine Beziehung anfangen mit jemandem, gegen den ich von Anfang an Vorbehalte habe, den ich nicht besonders schätze, nur bedingt mag, den ich nicht ein wenig be­wundern kann, grauenvoll. Was wird denn daraus? Hinterher vergisst du, dich rechtzei­tig zu lösen, und schleppst dieses von Anfang an kaputte Verhältnis durch dein gan­zes Leben. Auch wenn du selbst später noch so viel falsch machst, aber du brauchst doch wenigstens einen hoffnungsvollen Start, und nicht ein Verhält­nis, das von Anfang an nur den Kriechgang kennt. Ja, und deine Sexualität scheint das aber nicht zu interessieren. Die wartet nicht so lange, bis du einen richtigen Freund gefunden hast. Die sucht von Anfang an nach Befriedigung und kann es auch mit einem anderen Mann für eine Nacht mal ganz gut finden. So hab' ich mich eben von Zeit zu Zeit beholfen, und einer davon ist nun der Vater meiner Tochter geworden. Jetzt weiß du alles von mir. Und du? Verhei­ratet bist du ja wohl nicht, aber eine Freundin wirst du haben. Der kannst du heute Abend eine kuriose Geschichte erzählen.“ „Gar nichts werde ich erzäh­len, Mira. So et­was erzähle ich nicht. Du hast es ja mir und nicht anderen Men­schen berichtet. Abgese­hen davon habe ich sowieso keine Freundin.“ erklärte ich knapp. Miras Mutter kam zu­rück und sah mich bei ihr auf der Couch sitzen. Ob etwas passiert sei, weil es wahr­scheinlich den Eindruck erweckte, als ob ich pflegend oder beobachten an ihrer Seite säße. Mira klärte alles kurz auf und meinte dann: „Mutti, Laurent ist Philosoph, denk daran und plapper nicht ein­fach so daher, wenn du mit ihm redest.“ Alle schmunzelten. „Du hast mir noch nicht erklärt, warum du die Zukunft für dich als Sozialphilosoph nicht so desa­strös siehst wie für andere, aber nein, zuerst will ich wissen, warum du keine Freundin hast. Ich hab' es dir auch erklärt und sogar noch viel mehr.“ setzte Mira an mich gewandt fort. „Ich werde dir nichts erklären müssen.“ antwortete ich Mira, „Bei mir ist es identisch so wie bei dir, und aus dem gleichen Grund wie du, habe ich auch keine Gebrauchsfreundin, die ich gar nicht lieben und schätzen kann.“ „Du wirst doch auch sexuelle Bedürfnisse haben. Männer ge­hen doch häufig in einen Puff oder so et­was. Tust du das auch, oder schleppst du auch manchmal jemanden ab?“ forschte sie weiter. Ich erzählte ihr von mei­ner derzeitigen Lebenssituation und von den Bedingun­gen in der WG. „Von mir meinen die Leute, dass es mir ganz mies gehen müsse, wäh­rend des Studiums alleinerziehend ein Kind zu bekommen, aber ich sehe es überhaupt nicht so und kann gar nicht so empfinden. Deine Situation scheint mir allerdings sehr übel. Du darfst das nicht tagsüber verdrängen, ändere das ganz schnell. Wenn dich am Spätnachmittag oder Abend deine Gruft ankotzt, komm doch einfach vorbei. Musst nur vorher anrufen. Ich freue mich auch auf unsere Unterhal­tung. Es sei denn, du wolltest doch noch Kfz-Ingenieur werden, dann spreche ich nicht mehr mit dir.“ sagte es, lächel­te und streichelte mir mit ihrem Handrücken über die Wange. Zum Abschied umarmten wir uns und lächelten uns längere Zeit gegenseitig an.


Träumen statt Interpretieren


Ein denkwürdiger Nachmittag im Mai. Ob der Himmel tatsächlich die Erde still geküsst hatte, dessen war ich mir nicht ganz sicher, aber dass meine Seele ihre Flügel weit aus­gespannt hatte, als sie mit dem Auto über die abendlich leeren Straßen nach Hause gondelte, stand fest. Meine Apartmentfestung schien sich zu lockern und zu weiten, als ob sie intuitiv verstanden habe, dass meine emo­tionale Verfassung im Moment keinerlei Einengungen zulasse. Ich fühlte mich leicht und wohl. Warum genau? So direkt benen­nen konnte ich es nicht. Sollte ich analysieren, was da heute Nachmittag überhaupt ge­schehen war, was es im Einzelnen für mich bedeutete. Nein ich wollte es nicht, es hätte nicht zu mei­nem Empfinden gepasst, hätte es womöglich gestört. Das war mir schon als kleines Kind bei Morgenstern aufgefallen. Natürlich konnte ich sagen, das et­was lustig sei, weil es sich ja so in der Realität gar nicht zutragen konnte, nur war das ja letztend­lich nicht der Grund dafür, weshalb die Gedichte so kurios kitzelnd wirkten. Das wollte ich aber auch gar nicht erklärt haben. Ich wollte sie hören und lächelnd genießen. Dafür hatte Morgenstern sie ja auch für mich geschrieben. Ich habe die Interpretation eines Germanisten von Eichendorffs Mondnacht gelesen. Wenn er das Gedicht in seine mole­kulare Struktur zerlegen will, um die Teile davon im vielgliedrigen Kategoriensystem deutschsprachiger lyrischer Details einordnen zu können, soll er es tun. Nur das will ich als Leser oder Hörer überhaupt nicht wissen und mit Sicherheit hat Eichendorff es auch nicht auf dieser Basis konstruiert. Die Botschaft, die ein Gedicht mir vermittelt, entsteht aus meiner Aufmerksamkeit gegenüber den Emotionen, die es bei mir auslöst, den As­soziationen, die es anspricht, den Er­innerungen und Gedanken, die es weckt. Das fügt sich zu einem Bild und davon hängt es ab, was mir ein Gedicht sagt und bedeutet, aber doch nicht von der Kategorisierung der lyri­schen Strukturelemente. Ich lehne es auch schlicht ab, es mir vorschreiben zu lassen, wie ich etwas zu sehen habe, was meine Wahrnehmung zu erkennen hätte. Wie sich die Bilder bei einem anderen gezeigt hatten, würden sie sich mir sowieso nicht zeigen. Auch wenn es selbstverständlich eine übermäßige Fülle an Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten gibt und notwendigerweise geben muss, haben Wahrnehmungen letztendlich immer ein an eine einzelne Person gebundenes nicht zu knackendes individuelles Copyright. Meine gehören mir, ich mag sie, das bin ich und nicht jemand anders, der mir erklären will, was ich eigentlich zu sehen und zu empfinden hätte. Um nicht falsch verstanden zu werden, ich liebe Informationen, die mein Blickfeld erweitern, mag zum Bei­spiel Ausstellungskataloge, die mir Rahmenbedingungen und Situation in der ein Bild entstanden ist, näher bringen, aber manchen Beiträgen scheint der ab­sonderliche Impe­tus innezuwohnen, mir erklären zu müssen, wie eine be­stimmte Farbkombi­nation in einem ausgewählten Bildsegment auf mich zu wir­ken habe. Das will ich nicht nur nicht wissen, das nervt. Ich würde den Nach­mittag im Mai nicht in seine Einzel­teile zerlegen und sie zu analysieren versu­chen. Ich glaub­te, davon lieber träu­men zu sollen, wie die Erde durch den ver­meintlichen Kuss des Himmels.


Verkümmernde Seele


Ich konnte mich nicht über zu wenige Freunde und Bekannte beklagen, nur ich hatte oft kein Interesse, den Kontakt zu suchen, als ob es mir zu mühsam wäre oder einen inef­fektiven Aufwand erfordere. In der WG kannte ich dieses Phänomen nicht. War ich schon müde und träge geworden, zumindest in mei­ner freien Zeit. Ich verglich die un­terschiedlichen Situationen damals und jetzt. Natürlich traf man sich immer in der WG. Bekannte und Freunde kamen gern. Am großen Küchentisch traf man auch meistens noch andere Leute, hier war das Leben, war immer Leben, intensives Leben. Intensiv war für mich das Le­ben in der Uni, in Gesprächen, Seminaren, in der Bibliothek. Wenn ich ein Re­ferat halten musste, wenn ich für einen Artikel in einer Fachzeitschrift oder sonst wo recherchierte, aber außerhalb meiner Arbeit nur laue Pfade. Meine Lebenshal­tung musste ich organisiert bekommen, und dann? Dann war eigent­lich alles beliebig. Anregende Diskurse über bedeutsame Themen wurden nir­gendwo geführt. Nirgendwo saßen Menschen beim Wein zusammen und erzähl­ten Geschichten, dass man sich die Bäuche hielt vor Lachen, nirgendwo pas­sierte etwas, es gab keine Anregung und kein intensives Leben im Privatbe­reich mehr. Meine Bekannten waren noch da, aber meine Seele schien zu ver­kümmern.


Schnelle Sympathie


Dieser Nachmittag mit Mira passte nicht in das laue, beliebige Dahinleben. Er schien in mir etwas angeregt zu haben, das mich immer wieder daran denken ließ. Ob der Auf­wand, sie zu besuchen, gerechtfertigt sei, so eine Frage könnte mir hier nie kommen. Ich dachte oft daran, wie es dieser jungen Frau mit dem schon großen Kind im Bauch jetzt wohl ginge. Ich hatte eigentlich ja nur zufäl­lig neben ihr am Tisch gesessen und ihr dann wegen ihrer Lage angeboten, sie nach Hause zu fahren. Wäre ich von ihrer Haus­tür aus zu mir gefahren, es wäre bei einem kurzen Intermezzo geblieben. Ich ging mit rein, um mich zum Zeitvertreib mit ihr zu unterhalten. Wir hätten zum Beispiel über le­ckere Käse­sorten sprechen können. So lief es allerdings nicht. Wir, die uns überhaupt nicht kannten, hatten viel von uns persönlich preisgegeben. Ich hatte mich wohl schon mal mit Freunden darüber unterhalten, dass ich meine Entschei­dung aus der WG auszu­ziehen bereue, aber was ich dieser unbekannten Mira erzählte, hatte ich noch nie je­mandem gesagt. Warum? Ich hätte ihr mein per­sönliches Befinden nicht so detailliert schildern müssen. Was hatte mich dazu veranlasst? Sympathisch war sie mir schon di­rekt erschienen. Wir hatten ja nur zwei Sätze gewechselt. Wenn sie sich distanzierter verhalten hätte, wäre mir der Gedanke, sie nach Hause bringen zu wollen, wahrschein­lich gar nicht erst gekommen. Hatte der erste Blick vielleicht schon unsere gegenseitige Auf­merksamkeit geweckt, hatten wir direkt erkannt, dass wir uns eventuell mögen wür­den?


Kann es sein, dass wir uns lieben?


Ich konnte und wollte Mira ja nicht direkt in den nächsten Tagen anrufen. Also, nach ei­ner Woche telefonierte ich mit ihr, und erklärte, dass ich mal anfragen wolle, ob ich sie kraft meines Automobils wieder irgendwo hin befördern dürfe, ob es sie danach gelüste. „Nein, ich habe im Moment keine Gelüste zum Auto­fahren, aber lass mal bei dir schnell welche wachsen, die dich unverzüglich hierher befördern. Wo steckst du denn eigent­lich? Ich war schon davon ausge­gangen, dass du dich nicht mehr melden würdest und habe schon überlegt, ob in der letzten Woche etwas misslich für dich gewesen sein könnte. Und bring ein bisschen Zeit mit, sodass du auch noch zum Abendbrot bleiben kannst.“ forderte sie mich am Telefon auf. „Na du lebst ja doch noch und bist nicht in der Zwischenzeit in deinem Apartmentgefängnis verwelkt.“ wurde ich freund­lich lachend mit Umarmung und Kuss begrüßt. „Ja, ich habe mir tatsächlich schon Sorgen um dich gemacht. Wie du deine Situation beschrieben hast, finde ich sie schon sehr unerträglich. Als angehender Sozialphilosoph müsstest du doch bestimmt schon theoretisch wissen, dass dein Privatleben den Bedürfnis­sen menschlicher Sozialwesen nicht gerecht wird.“ erklärte Mira und lachte. „Ich weiß es nicht nur theoretisch, Mira, ich erfahre es auch praktisch und will es so schnell wie möglich ändern.“ reagierte ich darauf, „Ein erster Schritt ist schon, dass du mich wissen lässt, was das kleine ungeborene Kind mit der sie umhüllenden Mutter anstellt, ob es sie immer noch schwindlig werden lässt.“ „Ja das schon, aber sonst ist es sehr lieb und brav. Es lässt mich nicht mies und kratzbürstig werden, macht mir nicht den Blues, quält mich auch nicht sonst irgendwie, sondern scheint sich ausschließlich mit der Produktion von Glückshormonen für meine Nahrung und meinen Sauerstoff zu bedanken. Ein Glückskind muss es sein, zumindest solange es bei mir im Bauch ist. Nein, in der Tat, sonst habe ich auch schon mal Tage, an denen ich mich schlaffer fühle, alles so notwendig erledigt bekomme, das gibt es nicht mehr. Ich bin immer gut drauf.“ erklärte Mira lachend, „Warum hast du dich nicht mal gemel­det. Ich wollte dich schon anrufen, konnte aber nirgendwo eine Telefonnummer von dir finden.“ „Mira, du hattest mir freundlicherweise angeboten, dich besuchen zu können, wenn mich meine Lage sehr stören sollte. Aber sonst kennen wir uns doch gar nicht. Wir haben doch sonst nichts miteinander zu tun, und da rufe ich dich doch nicht gleich am nächsten Abend an, als ob ich's nicht abwarten könnte.“ klärte ich es auf. Sie schau­te mich an, lächelte zwar, aber mit einem leicht skeptisch verzogenen Mund. Sie ant­wortete nicht, sondern blies eine tie­fen Luftstoß durch die Nase aus. Es schien ihr nicht gefallen zu haben, was ich gesagt hatte. „Ich geh uns mal einen Kaffee machen. Für dich Espresso, nicht war?“ erklärte sie und verschwand zur Küchenzeile. Als sie sich mit dem Kaffee wieder gesetzt hatte, meinte sie: „Du hast schon recht, Laurent, im Grunde sind wir füreinander völlig fremde Personen, die zwar sehr persönlich miteinan­der gere­det haben, aber ansonsten haben wir nichts miteinander zu tun. Nur ich empfand es gar nicht so, ich nahm das Fremde in dir nicht wahr, du erzeug­test kein Bedürfnis, mehr Di­stanz zu wahren. Als ob du mir sehr vertraut wä­rest, empfand ich dich. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber eigentlich war es fast von Anfang an da, eine Art von Sympathie ist entstanden, ein vertrautes Wohlgefühl, ohne dass ich mich mit einem einzigen Gedanken damit befasst hätte.“ erläuterte Mira. Dass ich sie am liebsten auch am nächsten Tag direkt gern angerufen hätte, und diese Fremdheitsfloskeln formal zwar korrekt, aber eigentlich vorgeschoben waren, sagte ich ihr nicht. Ich wollte es vor mir selbst auch gar nicht zulassen. Dass ich den Freitagnachmittag in der letzten Woche als außergewöhnlich und nett empfunden und mich öfter daran erinnert hatte, war ja in Ordnung, aber etwas anderes, darüber hinaus Gehendes konnte nicht sein. Ich hatte nicht von Mira geträumt, mich in sie verliebt, Unsinn. Ich kann­te sie ja wirklich überhaupt nicht. Lapidar reagierte ich auf ihre Erklä­rung: „Ja, das ist wohl so, dass wir blitzschnell den anderen wahrnehmen und für uns eine Einschätzung seiner Person zurecht legen. Bei mir bist du da auch sicher in die Kategorie Sympathisch, Vertrauensvoll eingeordnet worden, sonst hätte ich bestimmt nicht so mit dir reden können.“ Das schien Mira auch nicht zu ge­fallen. Sie presste die Lippen zusammen und schaute in eine andere Rich­tung. Nach einer Weile drehte sie sich wieder zu mir und lächelte. „Was ist heute los mit dir, Laurent? Am letzten Freitag warst du so nett, so lieb, freund­lich und of­fen, aber heute bist du kantig, verstockt und kommst mir vor, als ob du einen Pflichtbesuch zu erledigen hättest. Was ist mit dir passiert? Hast du dir irgend­welche Gedanken gemacht, die du mir nicht verrätst. Du musst mir ja nichts sagen, aber in der vorigen Woche hättest du's. Erkläre mir doch wenigs­tens, warum du es heute nicht tun willst.“ sprach sie mich an, und ich erwider­te ihr darauf: „Ich weiß es doch auch nicht, Mira, ich denke nicht, dass ich heu­te ver­stockt sein will, es verwirrt mich nur. Ich mag dich, Mira, obwohl ich dich gar nicht kenne. Ich habe die Woche über oft an dich denken müssen, und wäre am liebsten jeden Tag bei dir gewesen. Es ist verrückt, ich weiß nicht, wie ich es mir erklären soll, ich kann noch nicht einmal sagen, warum ich dich ger­ne sehen möchte. Was soll das? Es spielt sich real für mich so ab, hat aber zu der Realität, die ich erkennen kann, überhaupt keinen Bezug. Das ist doch irrsin­nig.“ Jetzt bekam Miras Lä­cheln ein Strahlen mit schelmischem Unterton. „Kann es sein, dass das mal Liebe werden soll, was in dir so anfängt?“ fragte sie und schaute mich an. „Ich fand dich auch sympathisch und nett, aber dass du täglich häufiger in meinen Ge­danken auftauchtest, ich mich abends fragte, was du jetzt wohl machen wür­dest, die Vorstellung, dass du Trübsal blasend in deiner Kemenate hocken wür­dest, nicht ertragen konnte, am liebsten zu dir gefahren wäre und nachge­schaut hätte, das war ja irgendwie mit Sympathie allein nicht zu erklären. Du musstest offensichtlich wohl etwas anderes in mir berührt haben, mir mehr bedeuten, als jemand, mit dem ich mich mal nett un­terhalten hatte. Und wenn du gar nicht weißt, warum das so ist, und dein ra­tionaler Einfuss auf diese Gedanken immer schwächer wird, dann soll das so etwas wie Liebe sein. Laurent, kann es sein, das wir anfangen uns zu verlie­ben?“ fragte sie wieder mit diesem schelmischen Lächeln. „Ich weiß nicht wie Liebe geht, aber ich könnte mir schon vorstellen, dass es so ähnlich aussehen könnte, wie das, was wir füreinander empfinden.“ reagierte ich auch lächelnd. „Zuerst geht Liebe so, dass man sich küssen muss. Also küss mich, bitte.“ er­klärte Mira den folgenden Schritt. Bevor sich unsere Lippen zum Küssen be­rührten, schauten wir uns lächelnd tief an. Nach intensi­vem Küssen blickten wir uns wieder an und küssten uns erneut. Es tat gut, war sehr angenehm, aber ein wenig sonderbar kam mir die Szenerie schon vor. Mira schien es nicht anders wahrzunehmen. „So, jetzt sind wir ver­liebt.“ erklärte sie kategorisch und lachte. „Laurent, ich denke, wir sollten ein­fach alles so akzeptieren, wie es ist, und das tun, wozu wir Lust haben, sollten es einfach so laufen lassen und unsere gegenseitigen Bedürfnisse respektieren. Ich mag dich, ich mag dich sehr. Mehr weiß ich auch nicht. Wie Liebe bei mir geht, kann ich dir nicht sa­gen. Null Erfahrung, hab' ich noch nie gehabt. Bis jetzt finde ich's aber aufre­gend, warm und vor allem dominant. Anscheinend ist für uns beide ja die An­wesenheit, die Nähe des anderen wichtig, dann soll­ten wir uns eben so oft wie möglich sehen. Das heißt, du müsstest herkom­men. Tu das bitte.“ Mira lächelte wieder und gab mir einen flüchtigen Kuss. „Aber anfassen möchte ich dich auch schon, wenn wir doch verliebt sind. Da habe ich zwar bislang noch gar nicht dran gedacht, dich zu streicheln und dich zu berühren, aber die Vorstel­lung gefällt mir. Das ist schon eine sonderbare Liebe, die wir machen, nicht wahr? Aber ein wenig kurios und lustig ist ja nicht schlecht. Oder erwartest du, dass Liebe für dich nur ganz ernst und wichtig sein muss. Aber nein, so kann ich dich nicht sehen, Laurent.“ entwickelte Mira einige Vorschläge zum weiteren Procedere. „Ob das alles so aufregend war? Auf jeden Fall verspüre ich ein starkes Bedürfnis, mich hinzulegen. Ah Laurent, jetzt wo wir sowieso schon verliebt sind, können wir uns doch gemeinsam bei mir auf's Bett legen und weiterreden, oder?“ schlug sie vor. Neben Mira auf dem Bett liegend, betrach­tete ich ihr Gesicht. Ich hatte den Eindruck, es zum ersten Mal bewusst wahr­zunehmen. Jetzt konnte ich mir vorstellen, dass Leute meinen, andere genau gesehen zu haben, aber dann für die Fahndungsfotos bei der Polizei völlig falsche Angaben machten. Ich hatte Mira ja am letzten Freitag und heute stun­denlang gesehen, ihr natürlich auch ins Gesicht ge­schaut, aber jetzt erschien es mir, als ob alles neu für mich daran wäre. Ihre Stirn, ihre Augenbrauen und Augen, wie sich ihre kleine Nase im Profil vorreck­te, ihre Wange mit dem da­hinterliegenden Ohr, Mund und Kinn, und wie sie sie beim Sprechen bewegte, als ob ich das alles noch nie gesehen hätte. Mir gefiel dieses Gesicht, das zu Mira gehörte, ich mochte es, meine Augen liebten seinen Anblick. Ich streichel­te Miras Wange. Sie drehte ihren Kopf zu mir und lächelte mich mit sanften glücklichen Augen an. Jetzt musste ich sie küssen.


Abendbrot mit Namensfindung


Mira redete darüber wie sie zur Namensfindung für ihr Töchterchen kommen wollte, während die Fingerkuppe meines rechten Mittelfingers sanft die Haut ihres Gesichtes touchierte, als plötzlich ihre Mutter reinkam. „Mira,“ sagte und kurz stockte, „wir kön­nen essen.“ meinte sie nur knapp. Als wir am Abendbrot­tisch Platz genommen hatten, bekam ich ostentativ einen Kuss von Mira. „Ja, wisst ihr, wir sind nämlich verliebt.“ er­klärte sie in einem kecken Tonfall ihren Eltern und lachte. Die wussten gar nicht, wie sie damit umgehen sollten und lächelten leicht verlegen. Dann erklärte Mira, dass man wohl nicht umhin kön­ne, was wir für einander empfänden, als Beginn einer Liebe zu be­zeichnen. Jetzt machten die Eltern entspanntere Gesichter und Frau Schönfeld wurde im Gespräch immer offener und launiger. Wir fuhren mit der Namensfindung fort. „Heute finden ja die Leute die Uraltnahmen wieder toll. „Wilhelm, Heinrich und Hubert, entsetz­lich, wie kann man seinen Kindern so etwas antun?“ fragte Frau Schönfeld, „Fehlt nur noch, dass sie sie auch wieder Anton und Adolf nennen werden. Oder beabsichtigst du auch, deine Tochter Hedwig, Agnes oder Ger­trud zu nennen?“ und lachte. „Nicht so di­rekt, aber als Kind hält man es für wichtig, so zu heißen, wie andere auch heißen. Gleichgültig wie es klingt und sich anhört. Nur das ist doch schade. Es gibt so wunder­volle Namen, die nicht auf die Heiligen des christlichen Abendlandes zurück gehen. Ich denke, dass im Arabischen, oder auch in einigen afrikanischen Sprachen viel mehr Wert auf den Klang gelegt wird. Vor allem die Polynesischen Namen finde ich wunder­schön.“ antwortete Mira. „Nur die indischen nicht. Die sind grässlich, oder?“ er­kundigte ich mich schelmisch lächelnd. „Nein, nein, ich halte die für sehr schön, nur du magst als Kind nicht einen Namen, mit dem du überall auffällst. Ich weiß überhaupt noch nicht, was ich machen soll. Vorschläge und Hilfen sind erwünscht, nur entscheiden werde ich natürlich schon.“ meinte sie dazu. „Das habe ich ja noch nie von dir gehört.“ reagierte Frau Schönfelder und zu mir ge­wandt, „Mira meint nämlich immer wir hätten einen indisch Vogel, und hätten dem unsere Tochter opfern wollen. Aber waren sie mal in Indien. Kennen sie die geistigen und philosophischen Strömungen dort. Nein, nein, ich fang jetzt nicht damit an, sonst werde ich nämlich gleich von meiner frisch verliebten Tochter gesteinigt. Sag' mal, Mira, nimmst du das eigentlich gar nicht ernst. Du machst so Witze damit.“ „Mutti, brems dich. Schon, schon, aber es ist doch ein schönes Gefühl, ich freu mich doch, dass wir uns lieben, dass ich verliebt bin, darf ich denn da nicht auch ein wenig lustig sein? Ein Requiem ist jedenfalls nicht die Musik, die ich mir zu meiner Liebe wünsche.“ Vater Schönfeld verfolg­te nur amüsiert die Unterhaltung, die hauptsächlich von den beiden Frauen be­stritten wurde. Sein Versuch, mit mir in ein Gespräch über mein Studium zu kommen, wurde von seiner Frau zunichte gemacht. Mira und ich unterhielten uns anschließend wieder auf ihrem Bett. Ich hätte immer hier liegen können und mit ihr reden, sich dabei gegenseitig anschauen und sich mit den Fingern betasten. Seit wann hatte ich das eigentlich nicht mehr gehabt? Nie hatte ich es gehabt. Mit einer Frau nebeneinanderliegend sich unterhalten und glücklich dabei sein. Die Abschiedsszenerie gestaltete sich lang und innig, fast so, als ob ich Mira jetzt wegen einer Forschungsfahrt für mehrere Jahre verlassen würde. Immer wieder küssten wir uns und streichelten unsere Gesichter. Jetzt glaubte ich zu spüren, was es Mira tatsächlich bedeutete.


Ekstatische Zustände?


Ich konnte das alles gar nicht verstehen und erfassen. Geschehen lassen, ein­fach laufen lassen, das schien nicht nur eine sinnvolle, sondern die einzig mög­liche Devise zu sein. Zu verstehen gab es da nichts. Es handelte sich schlicht um Wunder. Vielleicht kam Mira ja gar nicht aus dem Indischen, sondern war einfach eine Abkürzung des lateinischen Miracula, des Plurals von Wunder. Sze­nen des Nachmittags reminiszierend schlief ich ein. Beim Zeitung lesen am Frühstückstisch meinte ich wieder nüchtern zu sein. Mira Schönfeld, einer Frau, der ich bis vor einer Woche und einem Tag nichts bedeutet hatte, die mich bis dahin nicht eimal kannte, war ich plötzlich das emotional Wichtigste gewor­den, obwohl sie eigentlich immer noch so gut wie nichts von mir wusste und kannte. Was war das in ihr, das mich so sehen wollte wie sie mich so sah. Was bot ich ihren Au­gen, ihren Ohren, das sie sehen und verstehen konnten und mich für sie begehrenswert erscheinen ließ. Was weckte in ihr das Bedürfnis, sich meine Nähe zu wünschen und dies mit Wohlfühlemotionen zu verbinden. Ein Rausch, eine Verzückung, es schien wie ein ekstatischer Zustand, der zur Realität kei­nen Bezug hatte. Glaubte sie in mir das Idealbild des imaginären Wunschge­liebten, an dem sie möglicherweise über Jahre ge­malt hatte, erkennen zu kön­nen? Ich weiß es nicht. Jedenfalls schien es sich für mich außerhalb klar er­kennbarer, identifizierbarer Realitäten zu bewegen. Aber ich befand mich ja nicht in der Rolle des außenstehenden Betrachters, der den Phänomenen bei Mira zuschaute und sie zu verstehen versuchte. Wenn ich Miras Entwicklungen für au­ßerhalb der Realität liegend ansah, war es ja bei mir selbst nicht anders. Ich wähnte mich allerdings nicht in einem Trance ähnlichen Zustand, aber er­klären, was mich drängte, mir möglichst bald ihre Anwesenheit zu wünschen, in ihrer Nähe zu sein, konn­te ich auch nicht. Erotisch sexuelle Implikationen, weil sie eben eine Frau war, konnte es wenn überhaupt nur sehr indirekt und un­bewusst hintergründig haben. Ja, sie schien schon etwas zu versprechen, das mir bedeutsam war, das mir gefiel, wonach ich suchen könnte. Das fertige Bild ei­ner Frau, nach der ich als Freundin suchte, gab es nicht. Mit so etwas hatte sie nichts zu tun. Aufgeschlossen, verständnisvoll hatte sie auf mich ge­wirkt. Als authentisch, aufrichtig sah ich ihr Verhalten, Freude verbreitete sie und brach­te mich zum Lachen. Ihre Ironie und ihr untergründiger Humor gefielen mir. Vor allem aber vermittelte sie mir Vertrauen, Aufmerksamkeit und Anerkennung als Person, nicht für irgendwelche von mir erbrachen Leistungen. Ein harmonisches Bild, das mir ihre weichen Gesichtszüge mit den verständnisvoll spöttisch lächelnden Lippen und den schelmisch fragenden Augen zeigten. Aber ich war mir nicht sicher, ja glaubte es eher nicht, dass es das Bild, das mir gefiel, das ich darstellen konnte, allein war, was in mir dieses Bedürfnis, dieses Verlangen erzeugte. Zumindest hatte ich es nicht bewusst so gesehen, und auf Grund dessen beschlossen Mira zu lieben. Aber was gab es denn in mir, welche Bilder existierten denn dort, denen Mira entsprach und die bei mir diese Be­dürfnisse hervor rufen konnten? Ließe sich so etwas überhaupt ohne sexuelle Implika­tionen erklären? Oder waren es die Urerfahrungen von Vertrauen, Zuneigung, Aufmerk­samkeit und Anerkennung, von denen meine Wahrnehmung meinte, in Mira eine ad­äquate Entsprechung zu erkennen, dass ihr Bild mir vermittelte, meine Wunschpartnerin für zwischenmenschliche Beziehungen zu sein, sie mich schätzen, lieben und bewundern würde, wie ich es mir erträumte. Vielleicht gab es in mir ja doch die Vorstellung einer Frau, die ich lieben könnte und wollte, die mein Verlangen wecken würde, nur man ge­statte es meinem Bewusstsein nicht, dieses Bild erkennen zu können.

Bei Morgenstern hatte ich das Empfinden, dass er mich mögen müsse, mich durch seine Gedichte einschloss in den Kreis der Wissenden, die darüber scher­zen und lachen konn­ten, gemeinsam lachten, sich gemeinsam an den subtilen und teils skurrilen Scherzen freuen konnten. Vermittelte mir Mira auch das Empfinden, mich einschließen zu wollen, Lust daran zu haben, mich aufnehmen zu dürfen in ihren Kreis, in den Kreis der Vielfalt ihrer Welt, ihres Lebens und mich daran teilhaben zu lassen. Mir kam es schon vor, als ob sie sich für mich weit geöffnet habe, um mich eintreten zu lassen in das Empfinden ihrer Freu­de, ihre Zuneigung, ihrer Liebe und ihres Glücks.


Spaziergang im Forst


Ich rief Mira an, erklärte, das ich noch einkaufen müsse und ab dann zu ihr kommen könne. „Ja, mach es so. Ich freue mich, mein Liebster, muss ich jetzt wohl sagen.“ er­klärte sie mit einem zarten Lachen am Telefon. „Laurent,“ sagte sie nur als sie mich ein­treten ließ, wir uns umarmten und küssten. Mira schien heute nicht so lebhaft freude­strahlend. Ob es ihr heute nicht so gut ginge. „Nein, nein, schon.“ meinte Mira, „Nur mir ist heute so irgendwie anders. Ich habe von uns geträumt. War aber nix Besonderes. Was ich mitbekommen habe, war nur ein Ausschnitt, wie wir zusammen auf dem Bett liegen. Einfach wiederholt. Nix passiert. Wir sind nicht gemeinsam davon geflogen oder so et­was. Aber den ganzen Morgen über träume ich schon irgendwie. Ich hätte ein­fach im Bett liegen bleiben können und träumen. Ich bin heute so sentimental oder so innig­lich oder wie sagt man?“ sprach's und lachte sich halb tot. „Ge­fühlsselig oder beseelt.“ schlug ich noch vor. „Ich glaube, meine Seele würde am liebsten mit dir ein wenig spa­zieren gehen. Nach Liegen bekommt mir leichte Bewegung am besten. Und außerdem wird im Wald direkt an der Pro­duktionsstätte die Luft bestimmt besonders sauerstoffhal­tig sein. Hättest du auch Lust?“ fragte Mira. Also fuhren wir zum Forst. „Ich mag das ei­gentlich sehr hier, nur leider komme ich viel zu selten dazu. Der Geruch ist im Wald ein ganz anderer. Wie riechst du eigentlich, Laurent? Hinterher kann ich dich wo­möglich gar nicht riechen.“ lachend wollte Mira meinen Hals, mein Gesicht rie­chen. „Du hast Afters­have genommen. Lass das sein. Es stinkt und ist nutzlos, bei manchen sogar schädlich. Lass mal deine Hände riechen, oder riechen die nach Seife und Handkrem. Nein ganz nett, aber das besagt ja nicht viel.“ er­klärte sie mir und gab mir einen Kuss auf jeden Handrücken. „Ich finde es schon toll im Wald, das Grün der Blätter, und besonders das zarte jetzt, schmeichelt deinen Augen. Aber auch unabhängig von dem, was hier alles tat­sächlich los ist, was hier wächst und lebt, kann ein Wald unzählig viele Assozia­tionen hervorrufen. Wald hat ja früher eine viel stärkere Bedeutung im Leben der Menschen gehabt. Heute ist er zum großen Teil zu einer Fabrik degeneriert, wird als Produktionsstätte für die Papier- und Holzindustrie gesehen. Früher waren die Wälder größer und standen in ständiger Beziehung zum Leben der Menschen. Nicht nur Hänsel und Gretel haben sich dort verirrt, Hexen, Räuber und Zwerge hatten dort ihr Domizil, und auf alten Gemälden spielt die Gestal­tung des Waldes immer eine bedeutende Rolle. Diese große alte Buche lässt mich zum Beispiel an die tiefen dunklen Wälder denken, in denen man sich verirren konnte, die einem keinen Weg nach draußen wiesen. Ich kenne das ja gar nicht, nur aus der Literatur, aber mit solchen Buchen hatte es bestimmt zu tun. Wenn du auf einer Autobahn dadurch fährst, siehst du ja nichts, kannst nichts erkennen, erlebst nichts.“ stellte Mira ihre Beziehung zum Wald dar. Ich konnte sie nur bestätigen: „Unsere Beziehungen zum Wald haben sich stark re­duziert. Es nimmt alles nicht nur rasant zu in der Informations- und Wissens­gesellschaft, es gibt auch Bereiche die abnehmen oder sogar ganz verloren ge­hen, auch wenn sie eigentlich zu unseren liebsten gehören sollten. Man kennt sicher unendlich viele wissenschaftliche Details vom Wald, aber daraus wächst keine emotionale Beziehung, die dir spezifische Empfindungen vermitteln kann. Dazu musst du den Wald erleben und aufmerksam wahrnehmen können. Diese Vielfalt der unterschiedlichen Bereiche, die miteinander agieren, dieses Zusam­menspiel von mikroskopisch Kleinem bis zu den riesigen Bäumen. Wie ein gan­zer Kosmos wirkt es auf mich, ein Sinnbild des Lebens, wie ein riesiges Orches­ter, das ein wunderbares Klangbild erzeugt und ohne jeden Dirigenten optimal harmoniert. Wenn man ihn lässt, stellt der Wald ja ein eigen­ständiges Ökosys­tem dar, das sich immer wieder selbständig regeneriert. Wie er es ja wahr­scheinlich schon über Jahrmillionen getan hat. Also, nicht nur net­te historische Assoziationen, bitte, sondern ein wenig mehr Ehrfurcht vor der Komplexität dieses hervorra­gend bewährten Systems.“ „Sollte ich jetzt ein Ge­bet sprechen? Hieltest du das für angezeigt?“ fragte Mira schelmisch und ich antwortete: „Nein, nicht unbe­dingt, aber ein Gedicht, ein Lied könnte es schon sein.“ „Nur ich kenne kein ehrfurchtsvolles, andächtiges, außer so etwas Blödem wie: 'Im Wald da sind die Räuber'. So etwas meintest du doch nicht, oder?“ schaute sie mich wieder schelmisch an. „Ja, ja, prahlst hier mit der his­torischen Bedeutung des Waldes, aber nicht nur bei Gemälden war er wichtig, auch in der Musik und Literatur hat er eine herausragende Stellung gehabt, be­sonders in der Roman­tik. „Wer hat dich, du schöner Wald“ von Eichendorff konnte meine Mutti sogar singen.“ wies ich sie ironisch zurecht. „Bitte, sing es mir vor, bitte. Nein zuerst will ich dich küssen, aber dann.“ bat sie. Ich ver­suchte es. Die erste Strophe bekam ich noch zusammen:


„Wer hat dich, du schöner Wald
aufgebaut so hoch da droben?
Wohl dem Meister will ich loben
so lang noch meine Stimm erschallt
Lebe wohl, lebe wohl!
Lebe wohl, lebe wohl, du schöner Wald!“


„Wunderbar, du wirst es der Kleinen später vorsingen müssen. Kannst du noch mehr so etwas?“ fragte Mira „Ja meine Mutter hat immer viel gesungen. Nicht so Kleinkinder­kram, das mochte sie nicht, und mir lag auch nicht viel daran. Außer Versen in denen die Lautmalerei dominierte. Das fand ich auch oft lustig. Ich behalte das immer. Wahr­scheinlich vergisst du das, was du zuerst gelernt hast als Letztes.“ meinte ich. „Natür­lich,“ erklärte Mira, „schlimm wär's, wenn's nicht so wäre. Du kannst ja nichts, wenn du geboren wirst, außer schreien und an Mamas Zitze saugen. Alles was du kannst hast du doch zusammen mit dei­ner Gehirnentwicklung gelernt. Stell dir vor, du könntest wieder vergessen, wie laufen geht. Und wenn du da eben schon Lieder und Gedichte gelernt hast, wirst du die auch nicht wieder vergessen. Laurent, du bist so gebildet.“ verkünde­te sie, lachte und kniff mich dabei. „Ich glaube meine Träumereien sind verschwunden, einfach futsch, obwohl du mir ein romantisches Lied vorgesun­gen hast. Jetzt habe ich viel mehr Lust darauf, dich zu ärgern, als irgend wo­von zu träumen.“ meinte Mira, und ich entgegnete ihr, dass die zu respektie­rende Andacht des Waldes dies nicht gestatten würde. „Sag mal, mon amie, wie sieht es denn eigentlich mit deinen Laufvorstellungen aus? Du wirst ja si­cher auch bedenken, dass wir den gesamten Weg noch zurücklaufen müssen.“ er­kundigte ich mich. „Oh ja, mon ami, das hört sich gut an. Das ist für Mann und Frau, nicht wahr? Mon amour hörte sich das auch gut an? Aber chèrie das mag ich eigentlich nicht, genauso wenig wie Schatz und Liebling. Mein Liebster fän­de ich da noch am besten und manchmal vielleicht auch mein Süßer ganz lus­tig. Aber kann man sich nicht weiter auch einfach bei seinen Namen nen­nen, muss man sich eigentlich mit diesen Kosebezeichnungen anreden, wenn man verliebt ist? Ja wäre schon besser, nicht wahr, wenn du es öfter hörst, dass du für den anderen der Liebste bist.“ sinnierte Mira. Ich musste lächeln und er­klärte ihr: „Im Moment bist du die aller Süßeste für mich.“ An der nächs­ten Biegung wollten wir umkehren.


Wandlung zum Fatalismus?


„Laurent, ich will eigentlich gar nicht viel darüber nachdenken,“ erklärte Mira wieder zu Hause beim Kaffee, „aber weil es alles so unfassbar unerklärlich ist, reizt es mich doch immer wieder. Ich hatte dir ja gesagt, dass ich noch nie je­manden kennengelernt hätte, in den ich mich verlieben konnte. Ich habe es mir natürlich gewünscht, aber gesucht habe ich danach nie. Als ich schwanger wurde, habe ich gedacht, es jetzt sowie erst mal auf längere Zeit verschieben zu können, und gerade dann passiert es. Als du dich nach einer Woche noch nicht gemeldet hattest, dachte ich o. k., alles nur Anflug einer dum­men Vermu­tung. Auch als du am Freitag dann kamst, war mir klar, er will eben nicht mehr, will sich vielleicht nicht auf 'ne Schwangere einlassen, oder was auch immer. Und dann war eigentlich innerhalb von wenigen Minuten alles ganz anders. Al­les geschieht nicht so, wie ich mir mein Leben eigentlich vorstelle, wie ich es planen würde und könn­te. Ich glaube, das geht gar nicht. Mir kommt es ehr so vor, als ob das Leben mich lebt und zwar gar nicht schlecht. Alles zu planen und es dann durch adäquate Aktivitäten zu füllen und abzuarbeiten? Wie unat­traktiv, wie langweilig. Ich möchte das gar nicht mehr. Ich möchte es so wie es ist, so wie es daherkommt, ergreifen und voll leben können. Du wirst es sicher nicht so sehen, Laurent. Ich hatte ja sonst auch ein festes Kategorienge­füge, in das ich alles einordnen konnte, nur dann hat sich mein tatsächliches Leben nicht mehr dafür interessiert, hat sich nicht mehr daran gehalten, alles in Un­ordnung gebracht, hat mir gezeigt, dass es so unbrauchbar ist. Es hat mich ge­lehrt, offener und flexibler zu sein, und ich finde es gut so und bin froh dar­über.“ Mir war nicht ganz klar, was ich nicht so sehen würde, weil mir manches von dem, wie sie es sah, doch zu ab­strakt erschien, um mir konkret etwas dar­unter vorstellen zu können. Ich sah nur, dass ich sie mochte, auch für das, was sie gerade gesagt hatte, selbst wenn es fatalistisch erscheinende Anklänge hat­te. Dass sie mir einiges noch deutlicher erläutern würde, dessen war ich mir si­cher.


Ich bin doch ganz normal


Es sei eigentlich nicht richtig, dass sie seit dem Frühstück nichts gegessen habe, aber essen wenn man keinen Appetit habe, sei ja auch nicht richtig. Sie würde sich jetzt am liebsten zunächst mal wieder hinlegen nach dem Gewalt­marsch im Forst. Dass ich mich zu ihr legte, war selbstverständlich. Nur Mira legte sich nicht hin, sondern kniete in der Hocke neben mir und begann mein Hemd aufzuknöpfen, sie zog das T-Shirt aus der Hose und schob es hoch. „Zieh das mal aus, das geht so nicht.“ ordnete sie an. Was so nicht ginge, bekam ich nicht mitgeteilt. Als ich brav mit freiem Oberkörper auf dem Bett lag, wurde ich überall berochen. „Mhm, gut, sehr gut, du kleiner Stinker, gefällt mir. Und so zarte weiche Haut hast du. Vierundzwanzig bist du, nicht wahr? Dann wird das bestimmt immer so bleiben.“ meinte Mira, drückte mir an mehreren Stellen einen Kuss auf die Brust, strich mit jeder Wange einmal darüber und beugte sich zu meinem Kopf, damit wir uns küssen konnten. „Und weißt du was?“ sag­te sie, um mir dann leise etwas ins Ohr zu flüstern. „Nein Mira, das kann ich nicht.“ äußerte ich mich daraufhin fast ent­rüstet. „Oh je, du hast mich völlig falsch verstanden. Davon habe ich doch nichts ge­sagt. Ich habe doch nur ge­sagt, dass ich erstaunt darüber bin, mich oft so rattig zu füh­len, obwohl das biologisch gesehen ja eigentlich völlig funktionslos ist.“ „Darf ich mich jetzt wieder anziehen?“ fragte ich. Ein „Nein,“ mit einem Lachen erhielt ich darauf als kategorische Anweisung, „möchtest du denn gerne? Sonst könnte ich mich ja auch bei dir ein wenig ankuscheln und dich vielleicht ein bisschen strei­cheln.“ Mira legte ihren Kopf auf meine Schulter und ließ ihre linke Hand über meine Brust gleiten. Ich kraulte ihr in den Haaren und sie recke mir manchmal ihr strahlendes Gesicht entgegen, damit wir uns küssen konnten. Sie spielte mit meinen Brustwarzen und kniff sie heftig. Als ich leicht aufschrie, kratzte sie mir von oben bis unten über meinen freien Oberkörper, rich­tete sich auf, reckte sich und lachte. „Ich glaube, es ist doch alles in Ordnung.“ meinte sie und lachte wieder. „Weißt du,“ hob sie an, sich mit ihren Händen auf meine Schul­tern stützend, „ich fand es urkomisch. Ich dachte, wenn man verliebt wäre, müsse man total scharf aufeinander sein, und zuerst mal zusammen ins Bett wollen, aber daran habe ich bei dir überhaupt nicht gedacht. Gestern fiel mir das erst auf. Sonderbar, es spielte überhaupt keine Rolle, obwohl mein Sexual­trieb ja nicht stillgelegt ist. Vielleicht wollten wir so etwas gar nicht, wollten uns lieben wie Bruder und Schwester. Wenn du Lust und Sehnsucht hast, muss die sexuelle Begierde denn nicht dazu gehören? An­scheinend nicht. Ich weiß nicht wie wichtig es auch ist oder sein wird, nur das Zentrale, bei der Frage, ob du den andern liebst ist es jedenfalls nicht. Wenn ich möchte, mir dringend wünsche, dass du bei mir, in meiner Nähe bist, dann kommt ein Gedanke ans Bett dabei gar nicht vor. Die Anwesenheit deiner Person, dich zu erleben und dich zu er­fahren, macht die Lust und den Kitzel aus, alles mögliche andere kann sich daraus erge­ben. Beim Ficken, was ist das denn, nachher war's schön, vielleicht sehr schön, und dann? Dann ist da nix. Du wirst nicht jemand anders lieben können, weil dir der Sex mit ihm so gut gefällt, das ist überhaupt keine Basis. Da könntest du dich auch in deinen Dildo verlieben, wenn's dir damit Spaß macht.“ „Meinst du denn, es könnte sich bei uns doch irgendwann noch mal dahin entwickeln, dass wir auch zusammen ins Bett wollen, oder hältst du das bei unserer Liebe für völlig abwegig und überflüssig?“ erkundigte ich mich zu Miras perspektivischen Vorstellungen. Sie ließ sich zu mir runterfallen und biss mir in die Nase. „Es ist schon da. Für solche Frechheiten müsstest du eigentlich direkt aufgefressen werden. Aber nein, ich bin mir schon sicher, dass alles in Ordnung ist. Als ich gerade auf deiner Schulter lag und dich streichelte, merkte ich schon, wie ich Lust bekam, mehr zu machen, dass ich Lust auf deine Person mit deinem Körper habe. Weiß ich aber auch erst richtig seit jetzt. Jetzt habe ich's zum ersten Mal in Ansätzen gespürt. Aber bei dir, wie ist es denn da eigentlich. Für Männer stehen sexuelle Aspekte doch viel stärker im Vordergrund.“ wollte sie von mir wissen. „Also, dass ich eine Frau sehe, der Anblick ihres Körpers in mir sexuelle Lust erweckt und ich gern mit ihr Sex hätte, so läuft das bei mir eigentlich nicht. Ich glaube schon, dass es Bilder gibt, die bei mir mit sexuellen Konnotationen belegt sind, die kenne ich aber gar nicht. Die Frau wirkt dann auf mich wahrscheinlich nett oder interessant oder so ähnlich. Bei dir weiß ich das auch nicht. Ich fand dich schon nett, auch wie du sprachst, ob das vielleicht mit irgendwelchen erotischen Hintergründen im Bunde war, ich weiß es nicht, bewusst geworden ist mir davon jedenfalls nichts. Nur ganz unabhängig davon war dein Körper ja sowieso absolut tabu. Mich zu fragen, ob du vielleicht einen erotischen Hintern hättest, völlig undenkbar. Na ja, und so ist es eigentlich jetzt auch noch. Gedanken an Sex zwischen uns beiden gibt es gar nicht.“ stellte ich meine Situation dar. Fast entrüstet reagierte Mira darauf: „Was soll das denn? Ich bin doch keine Heilige, untouchable, weil ich einen dicken Bauch habe. Ich bin doch ganz normal. Vielleicht sieht der dicke Bauch ein wenig kurios aus, aber sonst ist doch alles genauso. Ich möchte, dass du mich begehrst, ich wünsche mir, dass du Lust hast, mich zu berühren und zu streicheln, mein Körper sehnt sich danach von dir angefasst zu werden. Er ist keine no-go-area für diene erotischen Fantasien und will es auch überhaupt nicht sein. Behandele mich also, bitte, ganz normal. Das tut mir gut und gefällt mir und nicht deine Unnahbarkeitsfantasien. Im Übrigen verfüge ich über einen sehr erotischen Po.“ Wir schauten uns an und ich meinte zögernd, dass ich sie schon verstehe, und auch für einsichtig halte, was sie gesagt habe, nur falle es mir schwer, so zu empfinden. Schwangerschaft und sexuelle Lust wollten bei mir nicht gut zusammen passen. „Mon ami, du machst es dir selber schwer. Warum bleibst du nicht einfach über Nacht hier. Dann können wir machen, wozu wir Lust haben. Ich werde dich nicht zu irgendetwas drängen. Vielleicht werden wir uns gar nicht anfassen, vielleicht werden wir uns streicheln, vielleicht werden wir auch Lust bekommen, etwas anderes zu machen, wer weiß. Nur dann könnten sich unsere Körper ein wenig mehr aneinander gewöhnen. Mit einem Gutenachtkuss von dir einzuschlafen und als erstes, wenn ich aufwache, morgens dich zu sehen, wäre allein schon ein kleiner Traum.“ erklärte Mira, lächelte mich an und gab mir einen Kuss.


Mein Fatum


Die Empfindungen widerstritten sich in mir. Auch abends im Bett bei ihr sein und mit ihr einschlafen zu können erschien mir schon verlockend, aber die Schwangerschaft in Ver­bindung mit möglichen sexuellen Ambitionen verunsi­cherten mich und machten mir ein wenig Angst. Natürlich würde ich über Nacht bleiben. Nicht weil die Argumente dafür überwogen hätten, sondern weil es immer so war, dass ich mich für Mira entschied. Ich sollte eben nach Hause fahren, mir holen, was ich für die Nacht brauche, während sie im Moment ein wenig Schlaf gut gebrauchen könne.


Beim ersten Mal begegnen wir uns, beim zweiten Mal erkennen wir, dass wir verliebt sind, beim dritten Mal stellen wir fest, das wir gemeinsam ins Bett müssen, was wird der Sonntag mit sich bringen? Ich sollte mich auch zum Fa­talisten umorientieren. Mög­lichkeiten zu gezielten Einflüssen auf das für mich vorgesehene Schicksal schien ich nicht mehr zu haben. Da ich diese Situation aber gar nicht klagend bedauerte, sondern alles freudig begrüßte, schien in­nerlich die Umorientierung schon längst vollzogen zu sein. Ich würde gespannt warten, was das Schicksal bei mir für den morgigen Tag vor­gesehen hätte. Aber jetzt musste es sich ja sogar auch noch um meine Nächte küm­mern. Ich konnte nur hoffen, dass das Schicksal sich damit nicht überfordert fühlte.


Gaby und Peter


Als ich zurückkam schlief Mira noch. Ich unterhielt mich mit den Eltern. Herr Schönfeld erklärte: „Mira hätte auch viel lieber etwas Geisteswissenschaftliches oder Kunst und Kultur Bezogenes studiert, aber alles was in Frage kam, war ihr zu unsicher. Sie verfügt eigentlich nicht über zu wenig Selbstachtung, hat keine schwache Selbstwertschätzung, wieso waren sie sich so sicher?“ „Ob ich mir so ganz sicher war, weiß ich nicht. Ich sah nur die Alternative. Entweder es klappt, dann habe ich das, was ich suche und für mich will, oder ich muss mich mein ganzes Leben lang mit etwas rumquälen, was nicht mein Ding ist. Folglich musste es klappen, und es hat mir ja auch Spaß gemacht, und macht es noch immer.“ erklärte ich dazu. „Ihre Einstellung gefällt mir und imponiert mir. Sonst sind sie auf ihre Freizeit angewiesen, um das zu tun, was sie wirklich erfüllt. Was haben sie denn für Freizeitbeschäfti­gungen?“ wollte Herr Schönfeld wis­sen. „Ihre Tochter“ ant­wortete ich kurz und wir lachten. Dann erklärte ich, dass ich bis vor nicht allzu langer Zeit in einer WG gelebt hätte, und dort keinen Mangel an Freizeitaktivitäten gehabt habe. „So eine konkrete durchgehende Betätigung könnte ich mir für mich auch gar nicht vorstellen. Mich intensiv ir­gend womit beschäftigen, das habe ich den ganzen Tag über. Mir ist dann per­sönlicher Kontakt mit anderen Menschen wichtiger und lieber. Ich gehe gern ins Theater und manchmal auch ins Kino, trinke gern Wein, schätze leckeres Essen aber ich lese auch gern Belletristisches. Ein bunter Strauß an Vorlieben, aber kein deklariertes Hobby.“ erläuterte ich meine Vorstellung. „Mira schläft immer noch. Ich denke wir sollten sie zum Abendbrot wecken. Was haben sie denn heute mit ihr ge­macht, Herr Berger, dass sie sich so umfänglich davon erholen muss?“ fragte Frau Schönfeld und lächelte. Ich erzählte es ihr und dass Mira möchte, dass ich bei ihr über­nachte. „Dann wecken sie sie jetzt auch mal am besten, da können sie ja schon üben.“ meinte sie und schmunzelte. Mira schien sich in anderen Welten zu befinden. Es dauerte bis sie sich wieder voll orientie­ren konnte. Beim Abendbrot war sie aber wieder hellwach und 'king of the ta­ble'. Sie brachte uns immer wieder durch ihre Darstellungen und Aus­führungen zum Lachen. Ich räumte mit Frau Schönfeld ab, während Papa und Tochter sich schon ins Wohnzimmer begeben hatten. „Wenn ich gewusst hätte, dass alle so wür­den, hätte ich bestimmt fünf davon haben wollen.“ meinte Frau Schönfeld und wir lach­ten wegen ihrer leicht kuriosen Ausdrucksweise. „Fünf Stück davon das hätte aber auch ganz schön viel Arbeit bedeutet.“ meinte ich dazu. „Ja das war es ja auch. Es war sehr schön mit Mira, aber es bereitete natürlich auch ei­nige Umstände. Und so meinten wir, eins sei schön, aber das reiche auch. Dass sie so 'ne tolle Puppe wurde und uns so viel Spaß gemacht hat, konnte man als Baby ja noch nicht erkennen.“ reagierte Frau Schön­feld darauf. Wie sie redete, konnte ich mir gut vorstellen, dass Mira die 'tolle Puppe' ihr zu verdanken hät­te. Mit meiner Bemerkung, ich fände es schon in Ordnung, wie sie es gemacht hätten. Ich sei genügsam und wäre mit einer völlig zufrieden, begaben wir uns auch ins Wohnzimmer. Wenn wir uns heute Nacht vertrügen, ob ich mir dann nicht überlegen wolle, hierher zu ziehen. „Mutti, du bist unmöglich. Dir scheint das rasante Tempo, in dem sich alles entwickelt hat, noch nicht schnell genug zu sein. Lass uns doch mal sehen, wie sich was ergibt. Mir kommt alles als sehr schnell vor. Ich brauche es nicht schneller, sondern denke eher, ob es langsa­mer nicht vielleicht besser wäre. Ich sehe Laurent heute zum zweiten Mal, nachdem wir uns kennengelernt haben, und du meinst gleich, er solle doch schon hier einziehen. Hast dich wohl selbst in ihn verliebt, wie? Dad pass mal ein bisschen besser auf.“ meinte Mira und fuhr fort, „Ich muss heute Abend ein Glas Wein trinken. Soll ich das hier tun oder gleich im Bett. Lieber im Bett, nicht war. Ich werde heute wahrscheinlich sowieso nicht so schnell müde sein.“ Auf mei­nen verwunderten Blick erklärte sie, dass bei einer großen Untersu­chung festgestellt worden sei, Kinder von Frauen, die während der Schwanger­schaft zwei Glas Wein pro Woche getrunken hätten, seien am cleversten, und nicht die völligen Abstinenzkinder. Zu Anfang habe sie sich aber trotzdem nicht getraut. „Diese vins désalcoolisés kann man natürlich auch trinken. Aber bei Wein bin ich ziemlich fimschig. Die schmecken mir nicht, und da ärgert man sich bei jedem Schluck. Das zweite Glas trinke ich immer Dienstags. Also musst du Dienstagabend hier sein, wenn du dich an dem Besäufnis be­teiligen willst.“ sagte Mira, lachte und erklärte weiter „Mutti, ich trau mich gar nicht, mit dem ins Bett zu gehen, der hat Angst vor mir.“ Frau Schönfeld grinste, schaute mich an und meinte: „Du nimmst ja den Wein mit, der wird dich mutig machen. Aber warum der Herr Berger Angst vor dir hat, verstehe ich nicht. Hast du ihm gedroht?“ „Nein, der hat Angst, weil wir zu zweit sind und er ist ganz alleine. Kann man ja verstehen, oder? Übri­gens, du willst dir diesen Men­schen in dein Haus holen, und sprichst immer von Herrn Berger. Wenn du ihn nicht mit Laurent anredest, wird er sowie so nie kommen. Und du genauso Dad.“ „Ja, ist ihnen das denn Recht, Herr Berger? Dann müssten sie mich aber auch Gaby nennen, und dich dann Peter?“ meinte sie fragend zu ihrem Mann gewandt. Der lächelte und nickte. „Dann muss ich ja meinen Wein doch hier trinken. So etwas kann man doch nicht einfach halbschlafend sagen. Das ist doch etwas Besonderes. Da müssen wir doch drauf anstoßen, und um den Hals fallen müsst ihr euch gegenseitig.“ erläuterte Mira den Ablauf der Zeremonie, und alle befolgten es.


Schau die kleine Tigerin


„Komm doch mal her.“ forderte Mira mich auf, als wir uns auszogen, „Schau mal da drin tobt sie sich aus, die kleine Tigerin. Manchmal scheint's ihr in der Kugel schon zu eng zu werden, dann drückt sie mit einem Ärmchen oder Bein­chen eine Wölbung nach außen. Meistens kannst du auch einfach mit der Hand spüren, wie sie sich bewegt. Willst'e mal fühlen? Aber ich glaube jetzt schläft sie. Ich spüre nämlich auch nichts.“ Wir umarmten und küssten uns, und in Mi­ras Blick lag etwas Zufriedenes leicht Glückliches. Im Bett kam sie zu mir, beugte sich über mich und sagte: „Du bist mein Liebster, mein Einziger und Al­lerliebster. Das muss ich dir einfach noch mal sagen, Laurent. Es tut mir gut, es so sagen zu können und es mich dir sagen zu hören.“ Es schien mir, als ob Mira das Empfinden hatte, mich mit ihrem Baby verbunden zu haben, und sie sich dadurch voller und umfänglicher von mir aufgenommen fühlte. In der Tat war es ja auch so, dass ich mich zu dem, was mit ihrer Schwangerschaft zu tun hatte, relativ distanziert verhielt. Ich wusste auch nicht recht, wie ich da­mit umgehen sollte und war eher reserviert. Jetzt hatte sie mir ihren Bauch ge­zeigt, mit mir darüber gesprochen, mich fühlen lassen, un­sere Bäuche hatten beim Küssen aneinander gelegen. Sie hatte mich ihrem Bauch, ihr mit ihrem Bauch Aufmerksamkeit schenken lassen. Ihren schwangeren Bauch in mein Empfinden für sie integriert. Unsicherheit und Zurückhaltung waren durch die­se kurze Szene plötzlich wie verschwunden. Mir war es direkt gar nicht be­wusst geworden, aber Mira schien verspürt zu haben, dass sich für mich etwas geän­dert hatte. „Meine Liebe,“ reagierte ich sie umarmend. Lange lagen unse­re Wangen aneinander. Als sie ihren Kopf ein wenig hob, blinzelte Mira mir di­rekt vor meinem Gesicht zu und meinte: „Ich glaube ich werde jetzt wieder se­lig oder so. Komm ganz nah zu mir. Unsere Körper wollen sich gegenseitig spü­ren können. Wir lagen dicht aneinander und unsere Hände berührten sanft die Haut des anderen. „Hast du immer so große Brüste, oder hängt das auch mit der Schwangerschaft zusammen?“ wollte ich wissen. „Ach, meine Glocken sind jetzt schon so groß wie richtige Milchkuh-Euter. Ich möchte wissen, wohin das noch führen soll. Und vor allem, was davon wieder zurück geht. Mit solchen Dingern kannst du doch nicht leben. Das ist ja schrecklich. Lass uns über et­was Anderes, Schönes reden.“ reagierte Mira, „Mir ist heute im Wald bewusst geworden, dass ich gar nichts singen kann, auch Gedichte kann ich so gut wie keine rezitieren. Das ist schade, sehr schade, nicht wahr? Du kennst sicher ganz vieles?“ „Du wirst auch einiges in der Schule gelernt haben und hast es wider vergessen. Mir geht es nicht anders. Nur die frühen Kindergedichte, die kenn ich noch, aber sonst sind auch alles nur Bruchstücke übrig geblieben. Un­ser Musiklehrer hatte mal einen Kunstliedsänger auf dem Klavier begleitet. Uns sang er die die Lieder beim Klavierspielen im Unterricht selbst vor. Ich habe bestimmt viele gekannt, na ja ich kenn sie heute auch noch, aber singen kann ich immer nur die erste Zeile oder irgendetwas aus der Mitte, was mir beson­ders gefiel. Zum Beispiel aus der Winterreise den Leiermann:


Drüben hinterm Dorfe steht ein Leiermann

Und mit starren Fingern dreht er, was er kann.


Und dann ist es auch schon vorbei.


Marietta


Ich mochte den Musiklehrer eigentlich. Er hat mir auch viele Zugänge eröffnet. Aber vor allem mochte ich seine Tochter. Ich hatte überhaupt keinen Kontakt zu ihr, aber ich fand sie wunderschön. Ihre mittellangen schwarzen Haare, wie sie lachte und in meinen Erin­nerungen hatte sie große tiefe Augen. Vor meiner Pubertät fand ich immer Frauen toll, die viel älter waren als ich, präpubertärer Ödipus bestimmt. Zum Beispiel mit vier habe ich schon unserem Kindermäd­chen die spätere Ehe versprochen. Ah, die hatte ja auch schwarze Haare und du auch. Anscheinend mag ich seit der unerfüllten Liebe zu unse­rem Kinder­mädchen Frauen mit schwarzen Haa­ren. Na so etwas, da brauche ich zwan­zig Jahre um das raus zu bekommen.“ stellte ich erstaunt fest und lachte. „Da liebst du also in mir dein Kindermäd­chen. Oh je, Laurent, das werde ich aber nicht machen für dich.“ bejammerte Mira die augenblickliche Lage. Ich sinnier­te: „Ich habe nie gedacht, Frauen mit schwarzen Haaren gefallen mir besser oder etwas in der Richtung, aber dass Marietta irgendeinen Einfluss auf mein Bild von Frauen ausgeübt hat, kann schon gut sein. Ich mochte sie wirklich sehr, und als ich mit fünfzehn-sechzehn erfuhr, dass sie ge­heiratet hatte, gefiel mir das gar nicht. Ich kannte sie über­haupt nicht mehr, dachte auch nicht an sie und dass es etwas zwischen uns ge­ben könnte, sah ich nur mit vier Jahren so, trotzdem gefiel es mir nicht. Ich weiß noch, dass ich ihr selber nichts vor­warf, sondern Schuld daran war dieser mir völlig unbekannte Mann. Ja, ja, sie muss schon eine kleine Madonna für mich ge­wesen sein. Denkst du, das es ein Zeichen ist, dass etwas davon in meinem Gehirn haften geblieben ist, und sich jetzt immer noch bei Wahrnehmungspro­zessen und Entscheidungsfindungen einmischt?“ „Natürlich,“ meinte Mira, „wenn du sogar Gedichte aus der Zeit nicht vergessen hast, dann werden so tiefe emotionale Empfindungen doch nicht verloren gehen. Wie du Zuneigung und Liebe siehst, wirst du auch ihr zu verdanken haben. Die Details kannst du nicht erkennen und bewusst darauf zurückführen, aber dass dir Vertrauen und Zuneigung zu empfinden leichter möglich ist, wenn die Frau auch noch schwarze Haare hat, das kann schon so sein. Spätestens, wenn du mich mal aus Versehen Marietta nennst, werden wir's genau wissen.“ sie lachte und schloss meinen Kopf in ihre Arme. Nach­dem Mira sich darüber beklagte, dass sie sich als kleines Kind in niemanden verliebt habe, und jetzt gar nicht eruie­ren könne, warum sie mich liebe, unter­hielten wir uns noch kurze Zeit und schlie­fen dann eng aneinander gekuschelt ein.


Hochzeitsmorgen


Als ich am Sonntagmorgen aufwachte, hatten wir uns im Schlaf gelöst. Ich wollte war­ten, bis Mira wach wurde, aber sie schlief und schlief. Ich holte mir ein Buch aus dem Regal, Musils Törleß, das war lange her. Ich war begeistert damals von Musil. Hatte eine regelrechte Musilphase, aber nach dem 'Mann ohne Eigenschaften' war plötzlich Schluss. Warum? Ich weiß es nicht. Mir hatte nichts missfallen, aber ich habe mich nie wieder mit Musil befasst. Heute, an einem Sonntagmorgen im Mai bei Mira Schönfeld nahm ich zum ersten Mal wieder den Törleß in die Hand, weil ich Lust dazu verspürte. Vielleicht war es doch nicht dass vorherbestimmte Fatum, das sich an mir vollzog, son­dern die­se junge Frau, die sich Zugang zu Gehirnregionen bei mir verschafft hatte, zu denen meine eigenen Bewusstseinssphären keinen Zutritt hatten. Ob man so etwas jetzt den Medizinern im Studium beibrachte? Wohl eher nicht. Ob ihr vermittels über­sinnlicher, magischer Kräfte so etwas gelangt. So wird es sein. Mit Elfen und Feen wird sie im Bunde stehen, das könnte einiges erklären. Ich hatte das dringende Bedürfnis, meiner schlafenden Fee, einen elfensanften Kuss auf die Wange zu hauchen. Trotzdem schlug sie die Augen auf, sah in mein Gesicht, lächelte und brachte mit schlafender, ton­loser Stimme ein: „Komm!“ hervor. Wir lagen aneinander träumten, schmusten und küssten uns als meine Fee plötzlich verkündete: „Ich steh' heute nicht auf!“. Na, dann wür­den wir heute eben mal nicht aufstehen. Mir war alles gleichgültig, schön und ange­nehm würde es schon werden. Mich hatte heute wahrscheinlich, das innig­lich Sentimen­tale erfasst oder uns beide. Wir lagen einfach direkt voreinander, er­zählten uns etwas, der andere fragte dazu, oder fand einen Anlass, selbst et­was zu erzählen. Es war wun­derschön den anderen beim Erzählen anzuschau­en. Oft gab es etwas zum Lachen und die Anlässe sich zu Streicheln und zu Küssen waren vielfältig. „Ich will ja nicht stören, aber ihr wisst, dass es zwölf Uhr ist?“ kam Miras Mutter rein. Das wussten wir nicht. Ich beschwerte mich: „Gaby, Mira will heute nicht aufstehen.“ „Soll ich mal schimpfen?“ bot sie an und verließ das Zimmer wieder. Wir schmusten noch ein wenig und gelangten dann zu der Überzeugung, dass es jetzt wohl angebrachter sei, in vertikaler Körperaus­richtung am weiteren Tagesgeschehen teilzunehmen. Doch bevor wir den Entschluss realisieren konnten, kam Frau Gaby Schönfeld mit einem großen Tablett herein. „Es­presso, war doch richtig, nicht wahr?“ fragte sie mich. „Oh, Mutti, was machst du. Wir wollten gerade aufstehen, aber jetzt tun wir's natürlich nicht. Danke, danke, das ist rie­sig lieb von dir.“ Dann flüsterte ihre Mutter Mira etwas ins Ohr und Mira lachte. Nach der Hochzeits­nacht be­käme man immer das Frühstück ans Bett gebracht, habe sie gesagt, erklärte Mira. „Irgendwie war es für mich auch so ähnlich. Die erste Nacht mit meinem Liebsten zusammen, und für dich ja auch wohl, Laurent. Sonst assozi­iert man immer mit Hochzeitsnacht, das fleißig gefickt werden muss. So ein Schwach­sinn, wir haben uns geliebt, oder war es für dich nicht wie eine wun­derschöne Hochzeitsnacht?“ Ich stimmte Mira einfach zu, obwohl ich es eigent­lich eher nicht so sah, dass wir jetzt verheiratet wären.


Zusammenleben


Ab jetzt verbrachte ich jede freie Minute bei Mira. In den Haushalt war ich voll inte­griert, auch mit allen möglichen Hilfen und kleinen Aufgaben. Mein Apart­ment stand leer. Was sollte ich dort? Bei Schönfelds zu wohnen brächte aus­schließlich Vorteile mit sich. Also war der Umzug beschlossen. Gästezimmer und Bügelzimmer waren zu mei­nem Domizil umfunktioniert worden. Gäste konnten auch weiter bei mir schlafen, da ich immer bei Mira schlief. Das Se­mester ging zu Ende, für mich bedeutete es allerdings nicht ausschließlich Frei­zeit. Für Mira rückte der Geburtstermin langsam näher. Sie wollte im Geburts­haus und nicht in der Klink entbinden, und ich sollte sie dabei begleiten. Das war auch für mich mittlerweile selbstverständlich. Es gab keine irgendwie gear­teten Vorbehalte oder Distanzen mehr. In kürzester Zeit war eben alles ganz normal geworden. Wir hatten auch Wege zu unserer Sexualität gefunden und konnten problemlos damit umgehen. Alles war natürlich immer noch spannend und aufregend, man erlebte es zum ersten Mal mit einer geliebten Freundin beziehungsweise einem geliebten Freund. Spannender war es aber noch, sich gegenseitig zu erkunden. Dazu brauchte man nicht dem anderen etwas aus seiner jeweiligen Biographie zu erzählen. Das tat man auch, aber viel mehr über die Persönlichkeit des anderen erfuhr man, wenn man über etwas anderes sprach, und sich dabei ganz auf seinen Partner einlassen, ihm die gesamte Auf­merksamkeit widmete, alle Wahrnehmungs­möglichkeiten bewusst auf ihn aus­richten konnte, sich nicht ausschließlich auf seine verbalen Informationen fo­kussierte und Mimik, Gestik und Körpersprache in Bruchteilen zwangsläufig schludrig nebenbei mitbekam, wenn man nicht nur den Text der Worte hören wollte, sondern auch bewusst der Melodie der Stim­me lauschte, dann wurden Gespräche zu kleinen gegenseitigen Opernauffüh­rungen. Jedes Gespräch war eine Scene d'amour, in der man sich gegenseitig Aufmerksamkeit, Anerken­nung und Zuneigung vermittelte und in der man sich öffnete, Lust daran emp­fand dem Partner tieferen Zugang zu seiner Persönlich­keit zu gewähren. Um einen Gesprächspartner so wahrzunehmen, musste man vielleicht nicht unbe­dingt verliebt sein, nur wir hatten es noch nie so erlebt. Unsere Lie­be mit ihrer gegenseitig hohen Aufmerksamkeit hatte uns den Zugang dazu ermöglicht und die Lust daran geweckt. Dass wir irgendwann irgend wodurch kein Interesse, keine Lust mehr an dieser in­tensiven Art von Kommunikation haben, es als un­bedeutend vergessen könn­ten, war nicht vorstellbar. Wir waren eher ein wenig süchtig danach.


Welchen Namen?


Mira hatte ein so simples, klares und dezidiertes Verhältnis zu Namensgebung für Kin­der gezeigt, als sie mir damals Erläuterungen zu ihrem Namen gab, jetzt war davon nichts mehr vorhanden. Sie bekam Panik, wenn sie an den Geburts­termin dachte, die Kleine auf der Welt wäre, und sie sich immer noch nicht für einen Namen hätte ent­scheiden können. Es ging nicht darum eine Wahl zu tref­fen, ob die kleine Laura oder vielleicht doch lieber Lena heißen sollte. Die Pro­bleme waren tiefgreifend struktureller Natur. Natürlich hieße ein Kind gern so, wie man übliche Vornamen kenne, aber wenn Mira zum Beispiel damals Yvonne geheißen hätte, wären sie in der Klasse zu dritt mit diesem Namen gewesen. Das hätte sie auch nicht gewollt. Ergo schieden die Top-Ten-Listen aus, aber bei allem anderen war es offen, nur schön klingen sollte es, wenn sie ihr Töch­terchen rufen würde. Da klang es einfach in anderen Sprachen meistens melo­discher als in dem oft gehackten Indogermanischen, nur zu exotisch sollte es ja auch wieder nicht sein. Zusätzlich belegte man den Namen ja auch noch mit einer Vorstel­lung, dem imaginierten Bild des dazu passenden Kindes, und wenn es sich dann tat­sächlich überhaupt nicht so entwickeln würde? Das kräftige stabile Kind sich zeitlebens als zarter Schmetterling sehen musste? „Ich bin völlig verwirrt, Laurent, weiß überhaupt nicht, was ich machen soll. Willst du nicht aus den Namen, die mir gefallen, einen aus­suchen, und so machen wir's dann?“ bat Mira mich. „Nein Mira, welchen Namen deine Tochter für ihr gesam­tes Leben tragen soll, das wird schon deiner Entscheidung überlas­sen bleiben müssen. Ich glaube auch nicht, dass es deiner Tochter später gefiele, wenn ein anderer ihr den Namen gegeben hätte. Nur ich denke, du machst dir ein zu großes Problem, weil du befürchtest, dass deiner Tochter später nicht gefallen könnte, was du jetzt als schön für sie empfindest. Aber wird das so schlimm sein? Es ist doch selbstverständlich, dass du etwas auswählst, was dir gefällt. Vorher fragen kannst du sie ja nicht.“ „Werd' ich aber tun. Du weißt ja, dass ich mich immer mit ihr unterhalte.“ warf Mira lächelnd ein. „Wird es etwa ein Pro­blem geben, wenn deiner Tochter der Name nicht besonders gefällt?“ fuhr ich fort, „Liebst du deine Mutter ein Körnchen weniger, weil sie dir einen indischen Namen gegeben hat? Du kannst ihr doch mehrere Namen geben, dann kann sie sich ja immer noch mit einem der anderen anreden lassen, wenn ihr der erste nicht gefällt.“ Kurze Zeit später kam Mira mit einem Plan. „Nalani, Ruth, Rebecca“ sollte sie heißen. Sie erläuterte einiges dazu und bat mich um meine Meinung. „Mira, sie sind alle wunderschön. Jede junge Frau wird neidisch sein, weil sie nicht auch Nalani Schönfeld, Ruth Schönfeld oder Rebecca Schönfeld heißen kann. Wenn dein Töchterchen es nicht so sehen sollte, wird sie sich un­seren Argumenten nicht entziehen können und doch glücklich damit werden. Willst du deine Namensfindungskreativität nicht auch mal für mich anwenden und einen neuen Namen für mich suchen?“ reagierte ich auf ihre Auswahl. „Das werde ich überhaupt nicht tun, mon amour, weil für mich 'Laurent' der unschlagbar schönste Name ist, den ein Mann nur haben kann.“ sagte es und lachte.


Nalanis Geburt


Die Räumlichkeiten im Geburtshaus kannten wir ja, trotzdem hatte ich bei Ge­burt im­mer eine Assoziation zum Kreißsaal, aber hier war Wohnzimmeratmo­sphäre angesagt. Man stand in Kontakt mit der Geburtsabteilung eines Kran­kenhauses, weil man sich nicht sicher war, ob bei Mira alles problemlos verlau­fen würde. „Jetzt hab' ich doch Angst, du musst ganz nah bei mir sein, Lau­rent?“ schmiegte sich Mira an mich. Nur ich hatte wahrscheinlich ein viel mul­migeres Gefühl als die selbst betroffene Mira. Allein die Vorstellung, dass sie unendliche Schmerzen erleiden müsste, konnte ich schon nicht er­tragen. Ich hatte starke Zweifel, ob so etwas sein müsse. Bei keinen anderen Säugetie­ren gab es das. Die Art wäre bestimmt schon längst ausgestorben, die unter sol­chen Foltermethoden ihre Jungen hätte zur Welt bringen müssen. Wo sollte denn da bei den Menschen ein evolutionärer Vorteil liegen. Bei den Umständen der Geburt konnte ich ihn jedenfalls nicht erkennen. Ich bezweifelte auch, ob die Vorteile einer natürlichen Geburt diese Schmerzen rechtfertigten und nicht die Geburt durch Kaiserschnitt oder unter Spi­ralanästhesie sinnvoller sei. Ich konnte Miras Qualen nicht ertragen. Die Folterknechte hätte ich anschreien können, endlich aufzuhören, aber es war keiner da. Ich war hilflos, ich konnte nur weinen. Trotz ihrer Schmerzen umarmte Mira lächelnd meinen Kopf. „Du musst nicht weinen, Laurent,“ tröstete sie mich, „Wir schaffen das schon.“ Ich merkte wie ich Miras Hand fast zerdrückte. Millionen von Frauen erleiden täg­lich diese Qualen und selbst für jedes dümmste Arschloch auf dieser Welt hat sich einmal eine Frau dies gefallen lassen. Ja, ja, dass man seine Mütter hoch­achten sollte, jetzt konnte ich es schon sehr deutlich empfinden. „Du warst das also. Jetzt kannste dich nicht mehr ver­kriechen.“ begrüßte Mira entspannt glücklich das kleine verknautschte, neugierig schau­ende Gesicht auf ihrer Brust. Sie redete immer mit ihr, wie mit einem kleinen vierjähri­gen Kumpel, und das kleine Gesicht schien zu hören, woher die Stimme kam.


Vier Stunden später waren wir mit einer zusätzlichen kleinen Madame wieder zu Hause. Oma und Opa Schönfeld konnten sich nicht bremsen. Sämtliche ver­fügbaren Glückshor­mone waren wohl zu Ausschüttung gebracht worden. Man­ches konnte man einfach überhaupt nicht verstehen, zum Beispiel, warum Gaby mich immer umarmte und küss­te. Alle saßen auf Miras Bett und wollten etwas erfahren. Ob ich Mira auch gut unter­stützt hätte. Mira blinzelte mich an und erklärte: „Ja, doch, Laurent hat sehr mitemp­funden. Er hat immer fleißig mit gepresst und mir dabei fast meine Hand zerdrückt.“ Ich erklärte, dass ich diese Geburtsqualen für unerträglich hielte. „Wenn jeder Mensch im­mer daran denken würde, dass sich seine Mutter dafür hätte foltern lassen, damit er zur Welt kommen könne, lebten wir bestimmt im Matriarchat.“ Mira und Nalani mussten jetzt erst mal schlafen, und wir besprachen alles beim Kaffee in der Küche weiter.


Alles um Nalani


Jetzt war das Neue, Großartige, Spannende nicht mehr in erster Linie die wun­derbare Liebe, sondern Nalani. Das traf nicht nur für Mira zu, sondern ich emp­fand es genauso. Dass ich genetisch ja gar nicht der Vater war, der Gedanke kam nicht. Es war unser Kind, unser wüstes Kind. Nalani konnte sehr intensiv und heftig an Miras Brustwarzen saugen. Als Mira plötzlich mal „Au!“ aufschrie, stoppte die Kleine, öffnet die Augen und schaute Mira an. „Ja, du musst nicht so wüst sein. Du bekommst doch alles. Ist doch sowieso alles nur für dich.“ er­klärte die ihr. Nach der Instruktion durch die Mama schloss Nalani wieder ihre großen Augen und fuhr im gewohnten Stil fort. Das wüste Kind war an Köst­lichkeit nicht zu überbieten. Nalani hörte mir auch mit großen offenen Augen zu, wenn ich mit ihr sprach, versuchte sich durch eigene „Öhs und Ahs und Ohs“ in das Gespräch einzubringen oder lächelte sanft. Sobald aber die Stimme der Mama er­klang, wurde die Unterhaltung mit mir zum billigen unbedeuten­den Geschwätz. Wenn Mira mit ihr sprach, konnte ich mich ruhig zu Wort mel­den, es interessierte sie nicht. Sie würdigte mich keines Blickes. Zwischen uns im Bett zu liegen und sich von uns beiden unterhalten zu lassen, schien sie sichtlich zu genießen. Im wachen Zustand, sich aus ei­ner derartigen Situation zur Seite auf ihren Platz legen zu lassen, akzeptierte sie meis­tens nicht. Nalani würde bestimmt später mal eine große Kommunikatorin. Auch Oma Gabi und Peter liebten es sehr, mit der jungen Frau ins Gespräch zu kommen. Wenn sie nicht schlief oder trank, wurde sie ständig von jemandem unterhalten, nur beim Baden schien es ihr auch wichtiger, sich auf das Wasser konzentrieren zu können. Es ereignete sich ständig Neues, Lustiges und Süßes um und mit Nala­ni. Schade war nur, dass es für die nächsten sieben bis acht Monate kalt sein würde, und die Aktivitäten mit ihr drau­ßen sehr begrenzt sein würden.


Neues Antikonzeptivum


Mira hatte alles ohne jedwede Komplikationen überstanden, als ob es für den Körper ei­ner zweiundzwanzigjährigen Frau selbstverständlich sei, auch mal ein Kind zu bekom­men. Ein weiteres sollte es allerdings so schnell nicht geben. Das alte Präparat, das sie jahrelang genommen hatte, wollte Mira, auch wenn die Schwangerschaft gar nicht ur­sächlich damit zusammenhing, nicht weiter nehmen. Mit ihrer Frauenärztin hatte sie sich ein wenig gezankt, weil die bei der festen Ansicht geblieben war, dass Mira bei der Einnahme irgendwelche Fehler gemacht haben müsse. Sie wollte sich in der Klinik bera­ten lassen. Hier erklärte man ihr auch, dass ihr Präparat sehr gut verträglich sei, sie aber nicht die erste Frau wäre, die trotzdem ein Kind bekommen habe. Das Risiko sei aber so gering, dass man das Präparat nicht als unsicher bezeichnen könne. Wieso es zu diesen Schwangerschaften komme, habe noch niemand herausge­funden. Wie schön es hinterher zu erfahren, aber jetzt spielte es keine Rolle mehr. Im Prinzip war es ja ein großes Glück gewesen. Sie würde doch auf Nala­ni nicht verzichten wollen. Mira ließ sich ein Medikament verschreiben, das von der Struktur her ähnlich war, bei dem es aber noch nie zu ungewollten Schwangerschaften gekommen sei. Ich stand der Verhütung durch die „Pille“ sowieso nicht sympathisch gegenüber. Dies Einwirkung auf das Hormonale Sys­tem der Frau stellte nach meiner Meinung einen massiven körperlichen Eigriff dar, dessen letztendlichen Einflüsse auf das gesamte Zusammenspiel der kör­perlichen Prozesse sicher nicht detailliert bekannt waren. Viele Diskussionen über gesundheitliche Aspekte von Nahrungsmitteln waren doch Petitessen ge­gen die gezielt vorgenommenen Einwirkungen durch die Ovulationnshemmer.


Dominante Nalani


Nalani dominierte eindeutig das Geschehen. So lieb und freundlich, wie sie sich im All­gemeinen zeigte, so unerbittlich war sie auch, wenn etwas so geregelt werden sollte, wie es sich nicht mit ihren Vorstellungen zu decken schien. Nur Mamas Küssen, Schmu­sen und Säugen waren dann in der Lage ihre Erbostheit wieder zu besänftigen. Natür­lich hatte Nalani das Leben verändert, aber ob und wie sich dadurch die Beziehung zwi­schen Mira und mir verändert haben könnte, sah ich nicht. Sie schien uns eher noch be­reichert. Mira konnte sich nicht nur über ihr Töchterchen freuen, sondern hatte das Glück, die Freude mit mir teilen und gemeinsam genießen zu können. Ich sah es nicht so, dass unse­re Zuneigung füreinander in irgendeiner weise an Bedeutung verloren hät­te, weil sich jetzt alles auf Nalani foccusiere. Unsere Liebe war auch jetzt noch ge­nau wie vorher das, was man mit ironischem Unterton als 'heiß und innig' be­zeichnen wür­de. Unsere Lust aufeinander hatte sich nicht verändert.


Ich bin das Zentrum


Wir lebten jetzt schon sieben Monate zusammen. Eine kurze Zeit für eine Be­ziehung, doch obwohl sich alles so intensiv und temporeich entwickelt hatte, empfand ich es als meinen selbstverständlichen Alltag. Auch wenn ich im No­vember sagen konnte, im April Mira noch gar nicht gekannt zu haben, erschien es mir, als ob dies mein selbstverständ­liches Leben sei. Ein Leben, das zu mir passte, mir gehörte, das ich mochte und liebte und das mich glücklich sein ließ. Mira schien es ein wenig anders zu sehen. Ich hatte ihr gesagt, dass ich später zurückkäme, weil ich noch etwas Dringendes zu erledigen hätte und deshalb nicht mit spazieren gehen könne. Nichts Besonderes, so etwas konnte schon mal vorkommen. Als Nalani eingeschlafen war, meinte Mira: „Ich weiß es nicht genau, Laurent, aber ich denke, dass wir beide doch sehr unterschiedli­che Menschen sind.“ gespannt lauschte ich, und Mira fuhr fort, „Wenn man mich fragen würde, wer ich bin, was meine Persönlichkeit ist, dann würde ich erzählen, dass ich mit meinen Eltern zusammen lebe, ein kleines Kind habe, zum ersten Mal in meinem Leben mit einem ganz lieben Freund zusammen bin, was mich sehr glücklich sein lässt und dass ich Me­dizin studiere. Ich stelle mir vor, dass der, der dich nach deiner Person fragte, zu hören bekäme, dass du den Master in Sozialphilosophie machtest und was du wo schon alles veröffent­licht hättest, deine Dissertation schon in die Wege geleitet sei und du auf jeden Fall im Wissenschaftsbereich bleiben würdest. Ich käme da gar nicht vor.“ Wenn ich ehr­lich sein sollte, könnte Mira nicht ganz Unrecht haben. „Und worin und woran liegt der Unterschied unserer Persönlichkeiten?“ fragte ich sie. „Stell es dir doch mal umgekehrt vor. Ich würde mich über die letzten Vorlesungen, Seminare und meine Perspektive im Medizinstudium definieren. Lächerlich wäre das doch. Das wäre ja nicht der Mensch Mira. Für dich scheint es aber so zu sein. Als der Mensch Laurent erscheint dir der, der in seinem Studium Aner­kanntes leistet und dort Beachtung findet. Das ist für dich das Wichtigste an dir. Das andere ist neben­sächlich und kann vergessen werden.“ erläuterte sie. „Nein, Mira, das ist nicht wahr.“ reagierte ich darauf, und sie meinte. „Natürlich bedeutet dir unsere Be­ziehung, unser Leben etwas. Du möchtest es nicht ver­lieren. Es ist sicher mehr als dein Hobby. Nur es ist subsidiär, du definierst dich nicht darüber, sondern über das, was du beruflich machst. Was du tatsächlich leistest ist ja unerheb­lich, das Entscheidende ist die Beachtung und Anerken­nung die du dafür erhältst oder selber siehst. Und da ist dir die Anerkennung in der Uni am wichtigsten, die macht den Laurent Berger aus. Die Aufmerksam­keit und Anerkennung, die du von Mira Schönfeld einfach so erhältst, weil sie dich liebt, und von Nalani und meinen Eltern können damit nicht konkurrieren.“ „Mira, du verdrehst alles. Auch wenn wir beide uns noch so lie­ben, hat doch je­der immer seine eigene Identität, die er auch behält und be­halten sollte. Es ist doch erschreckend, wenn man sich nur noch über Pflichter­füllung für eine Gruppe definieren kann und gar nicht mehr weiß, wer man sel­ber eigentlich ist. Und was ich an der Uni mache, das bin ich, das bin ich seit meiner Jugend im­mer gewesen. Da sehe ich schon meine Identität und meine Persönlichkeit. Ich mach es auch gern und nicht nur für Anerkennung. Es inter­essiert mich, macht mir Freude und bestätigt mich.“ antwortete ich darauf. „Und wofür brauchst du dann mich und Nalani? Weil der Herr Sozialphilosoph auch mal seinen Spaß ha­ben will, obwohl er den ja eigentlich auch schon an der Uni hat. Mensch, Lau­rent, dass ich dir das sagen muss, dass du mehr und vornehmlich etwas ande­res bist, als jemand, der seine Arbeit macht. Das hast du hauptsächlich erst in der Schule gelernt, dass du auch dafür geliebt und an­erkannt wirst, wenn du gute Arbeit machen kannst. Es geht dir nicht um die Arbeit, es geht um Auf­merksamkeit, Beachtung, Anerkennung, Liebe, Zuneigung. Du brauchst Ver­trauen und Sicherheit. Du kannst hervorragend mit anderen kommunizieren, weil das dei­ne Welt ist, in der du lebst. Dass das alles für dich möglichst ideal funktioniert, ist das Entscheidende für dich als Menschen. Wenn du deine Ar­beit für das Wichtigste hältst und darin deine Person erkennst, dann liebst du sie an erster Stelle. Laurent Berger ist mit seinem Herzen bei der Arbeit und nicht bei mir.“ erklärte Mira intensiver sprechend. „Das ist doch alles gar nicht wahr.“ warf ich ein. Weiter kam ich nicht. „Laurent, versteh mich bitte nicht falsch. Ich mag dich. Ich liebe dich und will das auch behalten, nur unsere Be­ziehung kann sich nicht bei dir auf einem Nebenplatz abspielen. Das ertrag ich nicht und das ist auch keine Basis. Unsere Gemeinsamkeit ist kein Nebenbe­reich, sie ist das Zentrum. So ist es aber für dich offensichtlich nicht. Ich will das nicht. Ich bin nicht deine Kebse neben der Hauptfrau Uni.“ sagte es, stieß die heruntergefal­lene Strohalmschachtel durch den Raum und ging in ihr Zim­mer.


Zum ersten Mal allein


Was sollte das bedeuten? Es war heute nichts anders gewesen als die sieben Monate vorher auch schon. Nie war sie auf die Idee gekommen, dass mein Herz nicht bei ihr sein könne. Hatte sie die Tatsache, dass ich in der Uni und nicht bei ihr war, auf die Idee gebracht, die Uni sei mir wichtiger als sie? War die Fragestellung dieser Alternative nicht schon unsinnig. Bist du lieber Mensch oder Arbeiter? Hatte sie mich im Grunde gefragt und geschlossen, dass ich lie­ber Arbeiter sei als Mensch. Als Mensch würde ich sie lie­ben können, als Arbei­ter sei mir das aber nur zweitrangig. So ein Unsinn. Hatte sie viel­leicht einfach ein starkes Bedürfnis nach einem Zusammensein mit mir, war enttäuscht, dass ich es nicht dazu hatte kommen lassen und hatte dann geprüft, ob es nicht daran lie­gen könne, dass mir unsere Liebe nicht so viel bedeute wie ihr. Wir verhielten uns schon sieben Monate lang wie Amor und Psyche und jetzt unver­mittelt tiefste Zweifel und Ansprüche? Es verwirrte mich. Wenn ich nicht hier gewohnt hätte, wäre ich jetzt nach Hause gefahren. Bei Mira schlafen konnte ich nicht. Zum ersten Mal seit ich hier wohnte. Ich weiß nicht wie lange ich noch grü­belnd bei mir im Bett gelegen habe, als ich Nalani hörte, kamen mir die Trä­nen. Könnte es sein, dass so der Anfang vom Ende aussehen würde? Ich heulte noch mehr.


Ganz allein eure Angelegenheit


Als Gaby mich am nächsten Morgen aus meinem Zimmer kommen sah, ging sie zu Mira. Ich deckte weiter den Frühstückstisch. Gaby, die fast immer zu Scherzen aufgelegt war, machte ein ernstes Gesicht. „Ihr habt euch gestritten, nicht wahr?“ meinte sie. „Ja, Mona ist der Ansicht ...“ weiter kam ich nicht, weil Gaby mich unterbrach. „Laurent, nie­mand sähe es so gern wie ich, dass ihr beiden eure Meinungsverschiedenheiten beile­gen könntet, aber das ist ganz al­lein eure Angelegenheit. Keiner kann sie klären, außer ihr beiden selbst. Oder meinst du, es würde dir helfen, wenn du Mira sagen könntest: 'Gaby sieht das auch so wie ich.'? Doch wohl kaum, oder? Du wirst dir schon selber et­was ein­fallen lassen müssen. Mira möchte in ihrem Zimmer bleiben und nicht gestört werden. Zur Uni will sie heute nicht. Du könntest also den Wagen nehmen.“ Mira brauchte jetzt mein Auto. Sie musste ja immer zum Stillen kommen, und auch sonst war es für sie im Moment nützlicher als für mich. Im Seminar fiel es mir nicht nur schwer, mich zu konzentrieren, ich bekam überhaupt nichts mit. Ich erklärte, mir sei nicht gut, holte mir in der Cafeteria einen Kaffee und setzte mich damit draußen auf eine Bank im kalten Novembersturm. Was ich eigentlich denken sollte, wusste ich gar nicht. Jedes mal wenn ich sah, wie Mira zu mir gesprochen hatte, wurden mir die Augen feucht. So hatte sie noch nie mit mir geredet, so hätte sie eigentlich nie mit mir reden können. War das ein Zeichen, dass wir bislang in einem Traum gelebt hatten, und die Realität ganz anders mit uns umgehen könnte. Aber warum sprach sie plötzlich so mit mir, konnte mich so behandeln? Ich hatte nichts gemacht. Nur ihre Vorstellungen hatten sie dazu veranlasst, sich so zu enragieren. Was sie sah, hatte ja nie irgendeine prakti­sche Bedeutung gehabt. Nie hatte sie sich in einer sekundären Position empfunden, nie sich beklagt, dass sie mir nicht wichtig genug sei. Woher diese plötzliche Befürchtung, ja Gewissheit sogar mit der Erklärung, dass sie es so nicht wolle und ertragen könne. Bislang gab es nicht einmal etwas, von dem sie meinte, es an mir nicht leiden oder er­tragen zu können. Aber was sollte sich denn überhaupt ändern, dass Mira es würde er­tragen können, sagen, dass sie mir das Wichtigste sei? Das hatte ich vorher auch schon gesagt. Sollte ich das Studium fliegen lassen? So ein Unfug. Sie fand es ja auch gut und mochte mich dafür, dass ich so etwas machte. Ratloses Grübeln. Sollte ich das jetzt den ganzen Tag so weiterbetreiben bis ich nach Hause fuhr? Da wollte ich heute am liebsten auch gar nicht hin. Ich hatte nichts, wo ich bleiben konnte. Aber was hätte ich jetzt in meinem Apartment anfangen sollen? Spazieren gehen, mir vom Sturm die Haare ver­wüsten lassen, das wäre eine Alternative. Ich hatte ja das Auto dabei, konnte also in den ruhigen Forst fahren. Wie ein Kind, das seine Mutter verloren hat, heulte ich auf dem Weg, den Mira und ich damals am Samstag gemeinsam gegangen waren. Ein we­nig war es auch wohl so. Vieles von dem, was ein Kind bei seiner Mutter findet und was für den Menschen sein ganzes Leben über von großer Bedeutung bleibt, hatten wir in unserer Beziehung gesehen, und es hatte uns glücklich sein lassen. Für sicher und selbstverständlich hatte ich es gehalten, da es ja auf Gegenseitigkeit beruhte. Keiner würde es zerbrechen wollen. Doch jetzt schien es auf dem Wege, für mich verloren zu gehen.


Ich bin nicht deine Zweitfrau


An meinen Gedanken und Vorstellungen hatte sich nichts geändert, aber der wüste Um­gang des Sturms mit den Kronen und Ästen der ehrwürdigen alten Bäume, der von ih­nen die Herausgabe auch des letzten Blattes forderte, schaffte eine Atmosphäre zu der mein zaghaftes Zaudern nicht mehr passte. Gefestigt fuhr ich nach Hause. Ich hatte mir einen Espresso gemacht, saß am Küchentisch und schaute in die Zeitung. Peter kam rein, sah mich mit hochge­zogenen Brauen an und meinte: „Ehekrise?“ „Ja, so könnte man das bezeich­nen.“ antwortete ich mit einem gequälten Lächeln. „Ist es denn schlimm?“ fragte Peter noch. Ich zuckte mit den Schultern, und Peter hielt mir mit einer Hand den Unterarm. „Ihr werdet das schon packen.“ meinte er tröstend. Wir saßen bei­de stumm Zeitung lesend nebeneinander am Tisch, als Gaby aus Mi­ras Zimmer kam. Nachdem sie Windeln entsorgt und anderes in die Wäsche gegeben hatte, sagte sie: „Mira fragt, ob du mit ihr sprechen würdest.“ Was hatte das denn zu bedeuten, 'ob ich mit ihr sprechen würde', Nahm sie etwa an, dass ich es eventuell ablehnen könnte, mich mit ihr zu unterhalten? Mira saß auf dem Bett und hatte verweinte Augen. Sie ver­suchte ein Lächeln. „Setz dich doch zu mir, Laurent!“ forderte sie mich auf. Leicht unsi­cher saßen wir am Kopf des Bettes nebeneinander und schauten uns an: Mira streichel­te meine Wange und lächelte wieder. „Ich habe dich beleidigt, nicht wahr? Ich will das nicht. Es tut mir leid, ganz schrecklich leid. Mir war nur vor längerer Zeit schon mal auf­gefallen, dass es für uns beide ganz anders läuft. Mein Studium und später meinen Job werde ich machen, werde es ordentlich machen, aber es wird nie mein Leben sein. Es hat für mich eine Funktion wie Hausaufgaben, mein Leben findet anderswo statt. Bei dir ist es aber anders. Es ist nicht eine Pflicht die du erfüllen musst, es bedeutet dir etwas, du machst es gern. Ich wollte das eigentlich nur mal mit dir ansprechen und habe mich dann völlig verrannt. Wir sind keine anderen Menschen und ich empfinde mich auch nicht als deine Zweitfrau. Ich weiß, dass du mich über alles liebst und ich dir außeror­dentlich viel bedeute. Meinst du, es könnte alles so werden, als ob das nicht geschehen wäre, Laurent?“ fragte sie, und ich meinte: „Nein, nein Mira, für so völlig abwegig und uninteressant halte ich das gar nicht, was du gesagt hast, sonst wärest du ja auch nicht darauf gekommen. Dass du dich daran orien­tierst, wo du die meiste, dir am bedeut­samsten erscheinende Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommst, ist fast überall so. Schau dir doch mal die ganzen Teenies an, die alle Stars werden wollen. Öffentlich be­wundert werden, welch größere Aufmerksamkeit gibt es. Natürlich bedeutet es mir auch etwas, zu er­fahren, dass du etwas weißt, etwas kannst, das andere dich beachten und an­erkennen, es ist nicht unwichtig. Aber ich glaube, bei dir wird es nicht viel an­ders sein. Alle brauchen das mehr oder weniger intensiv. In deiner Vorstellung wirst du nicht nur die Frau mit einem netten Freund sein, sondern auch die Frau, die mit ihrer Klug­heit, ihrer Intelligenz, ihrem Humor etc. zufrieden ist und das bekommst du durch et­was bestätigt. Es gibt etwas das dir als eine sol­che Frau Aufmerksamkeit schenkt dich anerkennt. Deine Selbstachtung und deine Selbstwertschätzung sind durchwoben von Anerkennungen und wären ohne entsprechende Aufmerksamkeit die dir zuteil wird nicht denkbar. Vor al­lem aber ist dein Selbstbild doch viel differenzierter. Ich denke nicht, das ich sagen kann, ich definiere mich über meine Arbeit, ich bin wesentlich mehr. Ich bin auch der, der Literatur liebt, der sich gern Opern anschaut und vieles, vie­les mehr. Alles was du an mir entdeckst und vieles was du noch nicht an mir entdeckt hast. Eine Dicho­tomie Arbeit oder Beziehung kann es nicht geben. Meine Persönlichkeit gleicht ehr ei­nem Biotop mit vielen darin vorkommenden Einzelbereichen die miteinander agieren und schon mit einander harmonieren müssen. Oder kannst du das gar nicht so ähnlich sehen, Mira?“ Mira sah mich ernst an, dann lächelte sie und mit einem lachenden „Herr Berger, sie sind ja so gebildet.“ fiel sie über mich her. Wir balgten und küssten uns. Mira saß halb auf mir und stützte sich mit ihrem Armen in Höhe meines Kopfes auf dem Bett ab. Sie schaute in meine Augen und fragte: „Jetzt?“ Natürlich. Wir blieben ein­fach aufeinander liegen, jeder betastete mit seinen Fingern das erschöpfte glückliche Gesicht des anderen. „Ich glaube ein bisschen gehört das zur Liebe doch schon dazu. Würde zumindest ganz gut dazu passen, nicht wahr?“ sin­nierte Mira wir lachten und rollten uns auf die Seite.


Nalanis Club


Nalani hatte von alledem nichts mitbekommen. Wenn sie schlief, lebte sie an­scheinend in einer anderen Welt, in der sie Geräuschen und Belästigungen aus dieser Welt nicht zugänglich war. Wir hatten uns gerade zum Abendbrot ge­setzt, als Nalani mitteilte, dass sie sich jetzt wieder in dieser Welt befinde: „Nalani, wer wird denn so ein Geschrei ma­chen? Freudenlieder musst du sin­gen, ja, etwa so:


Freut euch, ihr Nalanis alle!
Freue sich, wer immer kann:
Laurent hat viel an uns getan.
Freude, Freude über Freude:
Mami wehret allem Leide.
Wonne, Wonne über Wonne:
Laurent ist die Gnadensonne.


Nalani hatte Mira die ganze Zeit mit erstaunten großen Augen angestarrt. Wir hatten ihr ja sonst auch immer etwas vorgesungen. Kinderlieder oder Schlaf­liedchen, aber in eine dieser Kategorien schien das soeben Vernommene über­haupt nicht zu passen. Etwas völlig Neues musste sie gerade erlebt haben, zu­mal Mira es den weihnachtlich huldvol­len Sphären entrissen und näher in den Bereich von Schlachtgesängen jubelnder Fuß­ballfans gebracht hatte. Vielleicht würde sie bei der Stärkung an Miras Brust ja nochmal darüber nachdenken, wo so etwas in ihrer neuen Welt wohl am besten einzuordnen wäre. Wenn sie ge­sättigt war, hatte sie Muße sich zu orientieren. Mitglied der Runde am Küchen­tisch zu sein, war eine ihrer bevorzugten Positionen. Sie meldete sich dann zu Wort und erwartete, das eine oder einer ihrer Stammtischkollegen darauf rea­gierte. Es ergaben sich oft lustige Szenen, und wenn alle lachten, lachte Nalani auch. Das Men­schen Sozialwesen sind, nicht nur weil sie das Erste und We­sentlichste aus den Kontak­ten zu ihrer Mutter lernen, sondern auch von Anfang an die Kommunikation mit anderen Menschen wünschen, suchen und lieben, wo konnte man das in der Praxis deutlicher er­kennen als an unserem Groupie Nalani.


Familiensaga


Ob das die Vorgabe für einen Rhythmus darstellen solle, und man davon aus­zugehen habe, dass wir uns jetzt alle sechs bis sieben Monate zerstreiten wür­den, wollte Peter wissen. „Ja, genau Dad, nur die Abstände werden immer kür­zer werden, sodass wir uns irgendwann permanent streiten werden. So wie ich das jetzt am liebsten mit dir möch­te. Du bist unmöglich. Hast du dich denn nie mit Mutti gestritten? Wenn du jetzt 'nein' sagst, dann lügst du.“ reagiert Mira. „Ich denke, man sollte nur ein wenig vorsichtig sein. Einmal Gesagtes ist nicht wieder aus der Welt zu bekommen, auch wenn man sich für alles ent­schuldigt und alles verziehen wird. Der Mund, der dich einmal 'Idiot' ge­nannt hat, wird immer der bleiben, der das potentiell wieder tun könnte. Auch wenn du sehr erbost bist, solltest du versuchen, dich zu bremsen, damit du dich nicht zu et­was hinreißen lässt, was du hinterher nicht gewollt hättest. Ungeschehen zu machen ist es nicht wieder. Ich habe dich doch auch nie 'Idiot' genannt, Schatz, nicht war? Obwohl du dich manchmal sehr idiotisch benommen hast.“ schloss Gaby lachend an Peter gewandt uns strich ihm dabei übers Haar. „Ach Gaby, das hätte ich dir doch durchgehen lassen bei deiner Exaltiertheit.“ rea­giert Peter und an mich gewandt fuhr er fort, „Stell dir vor, da wollte sie doch ...“ und dann erzählte er eine Story, die alle zum Lachen brachte. Gaby konterte mit einer ebensolchen. Stundenlang blieben wir am Tisch sitzen und bogen uns oft vor Lachen über Kurioses aus der Historie des Schönfeldschen Familienlebens. Mira konnte auch einiges dazu beisteuern, und die Omi schien auch in diesen Kreis gepasst zu haben. Das, was man sich gemeinhin unter ei­ner normalen biederen Kleinfamilie vorzustellen hatte, war auf Schönfelds wohl nicht anwendbar, und zu dem Bild eines Anwaltsehepaares mit einem Kind passte es erst recht nicht. Es gefiel mir, gefiel mir sehr, dass es sich bei uns je­mals zu einem routinehaften familialen Alltagstrott entwickeln könnte, diese Furcht schien bei der Charakteristik des Systems der Familie Schönfeld ausge­schlossen.


Wintertimes


Es wurde Winter, das erste gemeinsame Weihnachtsfest mit einem lebendigen Christ­kindchen konnte gefeiert werden, und Nalanis Köpfchen schien sich jeden Tag mit neu­en Erkenntnissen und Kombinationen vollsaugen zu wollen. Mira kannte mittlerweile ganz viele Lieder, und die Gesangsstunden genossen hohes Ansehen bei Nalani. Ich hat­te ihr mal ein Morgenstern Gedicht vorgetragen. Sie konnte ja nichts davon verstehen, aber die Theatralik meiner Sprache und der Mimik schienen ihr dabei sehr zu gefallen. Dass der kleine Hund mit Namen Fips vom Onkel einen Schlips erhielt, begeisterte sie klanglich so, dass sie im­mer laut kicherte, als ob ich sie gekitzelt hätte. Die Zeiten wür­den härter wer­den. Im nächsten Semester standen für uns beide Examina an und unser pri­vat verfügbarer Zeitraum würde schrumpfen. Eine Kinderfrau zu engagieren, hatte Gaby strickt zurückgewiesen. Sie schmuse sowieso viel lieber mit Nalani, als in der Kanzlei Streitigkeiten vor Gericht zu bringen. Die Tage wurden länger und wärmer und Madam begann, die Welt außerhalb der Wohnung im Sportwa­gen visuell zu okkupieren. Die Wahrnehmung dieser vielfältigen neuen Ein­drücke schien jedoch nicht wenig an­strengend zu sein, sodass Nalani immer schon auf dem Weg eine Recreationsphase be­nötigte und regelmäßig nach kurz­er Zeit einschlief.


Was würden wir denn eigentlich im Mai machen? Ein großes Fest veranstalten? Wir woll­ten auf jeden Fall ins Bistro, und Nalani sollte auch mit. Sie war ja da­mals auch dabei gewesen. Jetzt würde sie sehen können, wie der Herr Inge­nieur seinen Espresso trank, aber ich war der Ansicht, es dürfte uns schwer fal­len, ihr den Bedeutungsgehalt dieses Szenarios nahe zu bringen. Mira sah das völlig anders. Sie würde es Nalani erklären. Dass sie ihr zuhöre, sei sicher, und wie sie es hinterher interpretiere, sei schließlich ihre Sache, das stünde ihr ja genauso frei, wie jedem anderen Menschen auch. Ja, Nalani hatte viel zu inter­pretieren, denn Mira erzählte ihr alles Mögliche, meistens den größten Blöd­sinn, aber Nalani hörte immer mit aufmerksamem Interesse zu und mischte sich in Pausen oder auf Fragen mit eigenen Beiträgen ein. Wir wollten es uns einfach zu Hause gemütlich machen. Essen gehen wollten wir nicht, aber zu Hause sollte es schon ein nettes Menü geben.


Jahresfeierlichkeiten


Nachmittags im Bistro mussten wir uns immer wieder Küssen und anstrahlen. Wer uns zusah, hielt uns bestimmt nicht für wenig crazy. Wir waren ja schließ­lich keine Teenies mehr, bei denen man das noch als nicht ungewöhnlich hätte durchgehen lassen. Als wir das Bistro verließen, vielen wir uns um den Hals und mussten schrecklich lachen. Ein wenig skurril mutete der Bistrobesuch schon an, aber er war auch mit Sentiments ver­bunden. Es war richtig und o. k. gewesen, dass wir es gemacht hatten, aber im nächs­ten Jahr würden wir es nicht mehr brauchen. Es würde ein albernes Ritual sein, wir wa­ren woanders. Der gemütliche Abend blieb am Esstisch hängen. Bis wir ins Bett gingen saßen wir bei Speiseresten, Wein und Käse am Tisch. Unsere Gespräche waren so inten­siv, dass wir es als störend empfunden hätten, die Lokalitäten wechseln zu müssen. Das Aufregendste konnte Peter berichten. Unser Haus stand zum Ver­kauf, und Peter fragte, was wir davon hielten, es zu kaufen. Finanziell stelle es für Schönfelds kein Problem dar. Mira und ich schauten uns an. Heute hatte be­stimmt der Himmel die Erde nicht still ge­küsst, und den Mond konnte man we­gen der Wolkendecke auch nicht sehen, aber Peter hatte diesen Tag trotzdem zu einem wunderschönen Maientag werden lassen. Das erfor­derliche Küssen besorgten Mira und ich schon persönlich und unsere Seelen schwebten allemal. Wie hätte man es in Erwägung ziehen können, das Haus nicht zu kaufen? Es war eine wunderschöne alte Anwaltsvilla mit drei Etagen und einer kleineren Dachge­schosswohnung. Im Parterre, das früher mal die Praxisräume beher­bergt hatte, sollten wir mit Nalani wohnen, Gaby und Peter blieben hier in der ersten Etage. Die zweite Eta­ge sollte vermietet werden. Dass dort Bernd und Uta einziehen würden, wünschten wir nicht nur, sondern hielten es für so gut wie sicher. Bernd war mein bester Freund aus der WG. Er wohnte dort auch nicht mehr, weil er Uta kennengelernt, sich in sie verliebt und mit ihr eine ge­meinsame Wohnung hatte. Wir trafen uns öfter, mochten uns alle ge­genseitig, und Bernd vermisste auch trotz Uta die umfänglichen Kommunikationsmög­lichkeiten der WG. Würde es irgendetwas geben können, dass es Bernd und Uta nicht auch als Wunschvorstellung erscheinen ließe, mit uns zusammen zu woh­nen. Ob die kleine Dachgeschosswohnung überhaupt wieder vermietet werden solle, oder ob wir eventuell selber Bedarf für die Räume haben könnten, woll­ten wir später entscheiden. Dass wir dabei und der Planung weiterer Details kein Interesse hatten, uns mit solchen Quisquilien wie Gedanken über den ak­tuellen Sitzort zu befassen, war naheliegend. Mira war der Ansicht, zur Feier des einjährigen Bestehens unserer Liebe seien gemeinsame Tänze unverzicht­bar. Tatsächlich schien es aber wohl mehr die Freude über die zukünfti­ge Per­spektive zu sein, die sie körperlich mit mir ausagieren wollte. „Das sollten wir öf­ter machen.“ erklärte Mira, legte dann aber etwas Bluesiges auf, schmiegte sich eng an mich und meinte. „Laurent mein Allerliebster, ich kann es nicht ein­fach so fassen. Ich spüre, wie es in meinem Bauch kribbelt, als ob eine Sonne aufgehen und der Himmel sich weit öffnen würde.“ „Und die Erde still geküsst hätte.“ ergänzte ich. „Was ist das? Das kenne ich irgendwo her.“ wollte Mira wissen. „In den schönen Maiennächten pas­siert das schon mal öfter.“ Und dann sprach ich ihr leise die Mondnacht vor. „Und deine Seele ist in einer Maiennacht wirklich nach Hause geflogen. Und ein Jahr später wird sie ein wunderschönes großes neues Zuhause mit Freunden bekommen. Meine Liebe hat eine gute Wahl getroffen, weil deine Seele mit den Maiennächten, in denen sich Himmel und Erde küssen, im Bunde steht.“ sprach sie, während ihre Lippen meine zum Küssen suchten. „Und so schrecklich gebildet bist du.“ verkündete sie lachend, wobei sie mir kräftig in den Bauch boxte und wegrannte. Sie war aus ihren Maienträumen zurückge­kehrt, und hätte wahrscheinlich am liebsten mit mir Fangen gespielt oder Ähnliches. Übermütig vor Freude schien Mira. Dass wir uns heute Abend nicht lieben würden, war auszuschließen.


Erweiterte Ansicht


Ich musste meine Ansichten erweitern. An diesen wunderschönen Maientagen schien nicht nur der Himmel die Erde still zu küssen, sondern auch das Schick­sal schien sich mit einem Kuss uns zuzuwenden. Aber wie hatte ich mir das vorzustellen. Dass der Himmel sich der Erde zuwendet, eine süße Vorstellung. Dass es die Erde veranlasste von ihm zu träumen, war nur zu verständlich. Aber das Fatum? Konnte man dazu denn poetische oder lyrische Assoziationen entwickeln? Mir gelang es nicht. Nicht nur dass es ein Neutrum war, störte da­bei, es besingen zu können, auch seine stoische Verfasstheit, seine starre Fest­legung ließen Gedanken an eine lyrisch flexible Geschmeidigkeit als Grundlage für ein emotional gewünschtes Mitschwingen nicht zu. Wahrscheinlich war es aber auch gar nicht das gesamte Schicksal in seiner rüden Determiniertheit, das uns je­des Jahr in den Maientagen diese Gunst erwies. Dieser gesamte Fa­talismus war mir im Grunde sowieso unsympathisch. In keinem der von mir als angenehm empfundenen emotionalen Bereiche ließen sich irgendwo Assozia­tionen zum Fatalen finden. Mich mu­tete viel mehr an, dass Tyche wäh­rend des Kusses vom Himmel zur Erde herab stieg, vermittels ihrer Flügel über die stil­len Lande zu uns nach Hause flog und dort ihr Füll­horn über uns aus­schüttete. Vielleicht würde sie in einer späteren Maiennacht ja auch noch mal den kleinen Pluto bei uns absetzen, aber angesichts unserer Berufe, hielt ich das doch eher für nicht so sehr wahrscheinlich.



FIN





Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.


Joseph von Eichendorff, Mondnacht


„Kann es sein, dass das
mal Liebe werden soll?“
erkundigt sich Mira bei Laurent.
Laurent hatte Mira
nach Hause gebracht.
Sie war noch nie richtig verliebt
und Laurent auch nicht.
Laurent vermutet,
dass es auch mit dem Mai
zu tun haben muss.




Mira und Laurent – Seite 32 von 32

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.04.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /