Inhalt

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Introduction und Inhalt

Elvi Mad

Ruth – Lebensszenen 

Mutige Wege einer selbstbewussten Frau

 

 Entwicklungsroman

 

 

 L'amour sumonte tout.

 Beim nächsten Elternsprechtag saßen wir beide uns an einem
kleinen Schul­tisch gegenüber. Wir blickten uns spöttisch lächelnd
an, und Ralf begann for­melhaft etwas von Alyssia vorzutragen.
„Ralf, hörst du mal bitte auf, so einen Stuss zu reden!“ stoppte
ich ihn. „Was sollen wir denn machen?“ fragte er hilf­los.
Ich war aufgestanden, zu ihm rüber gegangen und forderte
ihn auf: „Steh bitte auf, so kann man doch nicht sitzen.“
Wir standen uns direkt gegen­über, und sahen uns in die Augen.
„Weißt du was der Schülerin Alyssia Stein am aller besten helfen
wird, wenn du jetzt sofort und unverzüglich ihre Mutter küsst.“
erklärte ich. Er atmete tief, schaute mich mit großen Augen an,
und zog mich zu sich. Obwohl ich es für mein offizielles
Selbstverständnis immer abgestritten hätte, aber jetzt ging
für mich ein kleiner Traum in Erfüllung. Ich presste mich an ihn,
und rieb mich an sei­nem Körper. Ralf begann an meiner Bluse
zu fum­meln. Ich wehrte ab. „Küs­sen, nicht ausziehen!“
erklärte ich, obwohl ich nach meinem Empfinden eigent­lich
nichts dagegen, wahrscheinlich sogar nichts lieber gehabt hätte.

 

 

Ruth - Lebensszenen

Ruth – Lebensszenen 2

Wegbeschreibung 2

Ruth – das Buch 6

Behördenfreuden 6

Alyssia 6

Kennenlernen Torsten Stein 6

Gemeinsames Essen 7

Spaziergang 7

Junger Referendar 8

Näheres Kennenlernen 8

Heirat 9

Neue Lebensbedingungen 9

Enkelkinder 9

Lehrer Lahrmann macht Überstunden 10

Herr Lahrmann und die Kinder 11

Kompliment für Herrn Lahrmann 11

Ralf und Ruth 12

Ruth aus Moabit 13

Situationen klären 14

Scène d'amour mit Elternsprechtag 14

Wie weiter 15

Treffen im Landgasthaus 15

Schulrechts Fortbildung 17

Das Tagungsbett 18

Fortbildungsnächte 19

Wieder daheim 20

Ruth will klare Verhältnisse 20

Trennung von Torsten 21

The Day After 23

Omi Sylvia regelt alles 24

Ruths Mutter 25

Ralf und Ruth sind frei 26

Gemeinsame Feier 26

Hochzeitsnacht 28

Mamis Liebster 29

Ralfs First Visit 30

Erste Nacht zu Hause 31

Ralfs Einzug 31

Einzugsnacht 32

Omi Sylvias Hilfe 34

Neue Pläne 35

Neues Leben 36

Elias kommt 36

Bianca 38

Cynthia 39

Britta arbeitslos 40

Brittas Trennung 41

Britta zieht ein 42

Britta braucht Arbeit 43

Maximilian Kreutz 44

Britta wird Kunstlehrerin 47

Der Kunstsaal 48

Einsam – Allein zu Haus 50

Therapie 51

Alyssia first time 53

Madame et Monsieur Ledoux 53

Probleme bei Max und Britta 54

Neues Haus für Brittas Family 55

Gespräche mit Anja 56

Nächste Therapiesitzung mit Ralf 56

Schüleraustausch Alyssia - Daniel 58

Alyssia in San Francisco 59

Ferienplanung 60

Vorbereitung auf's Lycée mit Frau Durand 60

Neuer Indoor Style 61

Camille Durand 62

Neue Innenarchitektur 64

Die Bibliothek 64

Alyssia in Tain l'Heremitage 65

Gespräch mit Madame Ledoux 66

Deutschlandtour mit Daniel und Alyssia 67

Daniel in Hamburg 68

Daniel verliebt sich in Ruth Stein 68

Ledoux in Hamburg 70

Alyssia wieder in Tain l'Heremitage und am Lycée 71

Alyssia back at home 72

Camilles Probleme 72

Daniel in Hamburg und Ende der Liebe 74

Ralfs Institut 76

Meine Freundin Alyssia 76

Ruth ist unzufrieden 77

Urlaub in den Cevennen 79

Weiberrat 80

Alys Abitur und Studienbeginn 81

Alyssias Abwesenheit 82

Leeres Haus 84

Camille und Christoph ziehen bei uns ein 84

Camille und Christoph wohnen bei uns 87

Montpellier Besuch mit Lucien und Ferienplanung 88

Alyssia und Lucien in der Auvergne 90

Planungen für Camilles Hochzeit 90

Hochzeitstag von Camille und Christoph 91

Alyssias Gedichtband 92

Urlaub im Hérault 93

Erfolg von Alyssias Buch 94

Alys neuer Reichtum 95

Weitere Aktivitäten für Alyssias Buch 96

Entwicklung der Beziehung zu Lucien 96

Neue Pläne für die Kanzlei 99

Ralf ist unzufrieden und organisiert sein Institut um 100

Elias Schüleraustausch 101

Neue Situation für Alyssia 102

Südostasien Pläne 103

Besuch mit Roussillon-Tour 104

Elias Vorbereitung auf den Austausch 105

Lucille in Hamburg 107

Elias in Frankreich 109

Anruf aus Montpellier 109

Ankunft in Montpellier 110

Erste Berührung mit Alyssia 112

Besuch beim Professor 113

Gemeinsamer Besuch in der Klinik 116

Alyssia mach die Augen auf! 118

Camille, Julienne und Lucien bei Alyssia 122

Mittwochmorgen angeschnallt 124

Ankunft von Camille, Julienne und Lucien am Mittwoch 126

Alyssia isst 127

Donnerstag neue Überraschung 128

Freitag Neues vom Professor 134

Freitag Fotoprüfung 137

Samstag bis Mittwoch 140

Komm nach Haus meine Liebe 141

Je reviens mon amour 146

Vorstellung in der Klinik und erste Einkäufe 147

Bon week-end 150

Semaines prochaines 154

Allein in Hamburg 159

Lucien und Julienne 163

La Barista 170

Alyssias Rehabilitation 172

Julienne und Andy 173

Weihnachtsvorbereitung 174

Fête de Noël 175

Weihnachten 179

Weihnachtsspaziergang 179

Lucien verschwunden 180

Andy besucht Julienne 181

Neues Lernen 184

Bettgeflüster 185

Printemps 187

Reise wieder zurück 189

Tempo le Bistro 190

Le petit sourire 190

Bedenken 191

Alyssia wieder zu Hause 193

Alyssias Kummer 195

Urlaub für Lucien und Alyssia 197

Die neue Zeit ohne Alyssia 199

Meine Tochter liest und schreibt wieder 200

Alyssias Besuch in Hamburg 202

Haus der drei Freundinnen 203

 

 

 

Ruth – Lebensszenen

Frauen haben für vieles mehr Verständnis und einen besseren Durchblick, sie können vieles tiefer empfinden und besser nachvollziehen, aber entscheiden werden sie häufiger gegen sich selbst. Ruth Stein lässt das für sich nicht mehr zu. Sie zeigt uns ein Stück ihres von Selbstbewusstsein und Liebe geprägten Weges auf. Die Entwicklung einer jungen unzufriedenen Regierungsrä­tin bei der täglichen Suche nach Glück und Erfüllung.

Behördenfreuden


Draußen versucht typisches Hamburger Regenwetter wieder Tristesse unter den Menschen zu verbreiten, und lässt selbst durch die trüben grauen Schleier vor den Fenstern die Menschen in den Häusern nicht unbelästigt. Vor Regen verhangenem Fenster am Schreibtisch sitzend, den Widerspruch gegen die Ab­lehnung eines Bauantrages prüfend, stelle ich mir vor, ich würde ihm einfach stattgeben. Ich sehe den Menschen, wie glücklich er strahlt, wenn er den Um­schlag meiner Nachricht geöffnet, und sie gelesen hat, wie er seinen Anwalt be­wundert, und der sich über das Lob freut. Die Möglichkeit, Freude zu ver­breiten an so einem Tag, öffnet der Sonne einen kleinen Spalt in der trüben Re­gendecke, und lässt uns beide freundlich zwinkernd zublinzeln. Doch mit der Sonne im Bunde sind wir hier nicht. Es herrscht oft Tristesse in den Köpfen, selbst wenn die Strahlen der Sonne draußen die Gemüter der Menschen ver­golden. Manche meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter scheint das nicht zu stören. Sie empfinden es nicht so. Sie scheinen es nicht zu merken oder zu wissen, dass die Freuden des Lebens und die Erwartung von Glück sich in an­deren Räumen als denen des Amtes für Bauordnung und Hochbau zeigen.


Alyssia


Wenn ich Mittags die letzten Aktendeckel zuklappe, und meinen Schreibtisch­stuhl anschiebe, beginnt für mich selbst bei trübstem Wetter die Sonne ihre Strahlen zu entfalten. My Sunshine Baby ist mein Töchterchen Alyssia, die ich Mittags immer von der Schule abhole. Morgens wird sie von unserem Kinder­mädchen gebracht, aber ab mittags, wenn sie aus der Schule kommt, will ich sie für mich haben, will ich für sie da sein. Sie versüßt mir den Tag, sie ist mei­ne emotionale Basis. Der Umgang mit ihr, ihrer kindlichen Unbefangenheit und Freude, ihrer Zuneigung und ihrem Vertrauen, vermitteln mir Kraft und Stärke, lassen mich lächeln über die angebliche Bedeutung vieler aufgeblasener Pro­bleme. Sie erinnern mich immer wieder daran, in welchen Räumen des menschlichen Seelenbauwerks Freude und Glück zu suchen sind.


Kennenlernen Torsten Stein


Als Regierungsrätin habe ich mich halb freistellen lassen. Aus finanziellen Gründen brauchte ich zwar nicht zu arbeiten, wozu mein Mann mich auch zu drängen versuchte, um mir ein angenehmeres Leben zu bereiten. Aber das entsprach absolut nicht meinen Vorstellungen von angenehmerem Leben, mich mit Alyssia zu befassen, und ansonsten als funktionsloses Luxusweibchen den ganzen Tag bedient zu werden. Alyssia war ein Teil, ein sehr wichtiger Teil meines Lebens, aber trotzdem existierte auch noch die Ruth, die eigene von Alyssia unabhängige Vorstellungen hatte, und die wollte ich nicht in der beim Durchblättern von Modemagazinen oder Ähnlichem entstehenden Agonie beer­digen. Mein Mann hat mir auch nahegelegt, doch bei ihm zu arbeiten, da hätte ich größere Freiheiten, und könne meinen Einsatz nach meinen Wünschen sel­ber gestalten. Verstanden hat er es nicht, worum es mir ging. Er war Haupteig­ner eines der größten Architekturbüros hier, und hatte Bauaufträge rund um die Welt. Er war selbstverständlich in der Branche überall bekannt, und ich hat­te mal einen Antrag von seinem Büro bearbeitet. Als ich noch Nachfragen hat­te, wurde ich mit ihm persönlich verbunden, und nach dem Telefonat wollte er selber vorbei kommen, und den Antrag abholen. Angeblich für den Fall, dass eventuell noch bestehende Unklarheiten sofort vor Ort bereinigt werden könn­ten. Das Telefongespräch malte ein freundliches Lächeln auf mein Gesicht, er hatte nett, charmant, witzig und keinesfalls überheblich gesprochen. Ich emp­fand Freude daran, mir zu überlegen, was für „bestehende Unklarheiten“ ich denn noch einbauen könnte, wenn er den Antrag abholte, obwohl eigentlich überhaupt keine mehr bestanden. Als er tatsächlich persönlich vorbei kam, hatte er mich bald durchschaut, und fragte mich lächelnd: „Frau Sender, warum tun sie das? Ich glaube ich sollte sie mal zum Essen einladen, damit nicht im­mer so schrecklich viele Unklarheiten auftreten. Würden Sie sich von mir einla­den lassen?“ Meine Verlegenheit war mit Sicherheit zu erkennen. Scherzend bemerkte ich, ich glaube dass es sich dabei um eine Form von Be­amtenbestechung handele, und ich wisse nicht, ob ich das annehmen dürfe.


Gemeinsames Essen


Wir scherzten noch ein wenig weiter, und am übernächsten Abend holte er mich mit seinem Bentley aus meiner kleinen Etagenwohnung ab. Vorm Kem­pinski wartete sein Chauffeur, um den Wagen zu ihm nach Hause zu bringen. „Und wie kommen wir jetzt nach Hause? Ich komme aber nicht mit zu ihnen.“ entfuhr es mir erschreckt. Herr Stein lachte laut auf, und beruhigte mich: „Ein Taxifahrer wird uns beide nach Hause bringen, er wird beide unterschiedlichen Adressen finden, da bin ich mir sicher.“ Beim Essen erklärte er mir, dass ihn unser relativ belangloses Telefonat derart freudig überrascht hätte, dass er mich unbedingt habe kennen lernen wollen, und er seine Erwartungen mehr als bestätigt gefunden habe. Er machte mir noch weitere Komplimente. Er müsse doch wohl seine Vorurteile über die Mitarbeiterinnen der Baubehörde stark re­vidieren. Als ich ihn fragte, ob er beabsichtige mir gleich eine Heiratsantrag zu machen, lachte er sich halb tot. Es wurde ein sehr lustiger und amüsanter Abend.


Spaziergang


Als Torsten Stein – wir duzten uns bereits - mich zum dritten Mal zum Essen einladen wollte, erklärte ich ihm, wie schön auch ich unsere Treffen empfunden hätte, dass ich mir aber auch Gedanken mache, welche Perspektive das haben könne, ob ich in Zukunft immer alle zwei Wochen mit Torsten essen gehen würde oder was sonst? Ich würde lieber mal ohne Essen mit ihm reden, beim Spazierengehen zum Beispiel. Wir unterhielten uns dann über unsere jeweilige Situation und unsere Perspektiven, er empfinde mich als sehr angenehm, und möge mich sehr gut leiden. Es seien für ihn die schönsten Abende gewesen, wenn wir zusammen essen gewesen seien, er habe, obwohl ihn seine Mutter immer dazu gedrängt habe, eigentlich nie das Bedürfnis gehabt, eine Frau zu haben, ihm sei das immer ähnlich einer zusätzliche Aufgabe erschien. Seitdem er mich kennengelernt habe, fange aber die Sicherheit seiner Einschätzung an, starke Risse zu bekommen. Ob ich nicht zu ihm ins Büro kommen wolle, sie hätten zwar die rechtlichen Angelegenheiten immer von einer Sozietät mit Fachanwälten bearbeiten lassen, aber er könne es sich gut vorstellen eine Bau­rechtsabteilung im eigenen Hause zu haben. Dann würden wir uns öfter sehen, und hätten mehr Möglichkeiten, uns kennen zu lernen. Ich mochte ihn auch gut leiden, und einen Freund hatte ich auch schon lange nicht mehr.


Junger Referendar


Es gab nur einen jungen Referendar den ich süß fand, der aber selbst nichts davon wusste, und in einer Beziehung zu ihm würde ich sicher keine Perspekti­ve sehen. Wir verstanden uns nur sehr gut, und unterhielten uns gern. Er war mir sehr sympathisch, er lächelte immer, war sehr freundlich, aber der Blick seiner Augen konnte eine leicht traurige Note nicht verbergen. Pitt, so nannten wir Peter Rieder, den Referendar, saß am Schreibtisch, stützte sein Kinn mit der linken Hand, und starrte die Wand an, als ich seinen Raum betrat. „Pitt wo­von träumst du?“ fragte ich, und ließ mich in dem Sessel gegenüber nieder „Ach Ruth“ sinnierte er, „Ich bin hier eigentlich völlig fehl am Platz. Glücklich werde ich hier nie. Wovon ich träume, ist ein anderes Leben, ist das Chaos aus einer bunten, blumigen Welt, die mit meinem strukturierten Leben hier und schon immer nichts zu tun hat. Kunst, Literatur, Natur es ist einfach ein Be­dürfnis nach allem, was ein Leben verspricht, auf dessen Vielfältigkeit und Far­bigkeit ich mich freuen würde, in dem ich mich freier fühlen würde, das ich ge­nießen könnte. Und ich kann und konnte mich in meinem ganzen Leben nie dazu entscheiden, mich darauf einzulassen oder irgendetwas zu tun, um dem näher zu kommen. Es ist als ob eine innere Stimme zu mir sagt, 'du musst dich für das Rationale, das Geordnete entscheiden'. Ich empfinde mich wie in einer Zwangsjacke, sehe um mich herum all die Menschen, die sich befreit haben, nur ich kann es nicht, obwohl ich weiß, dass es mit jeder sogenannten vernünf­tigen Entscheidung immer schwieriger werden wird.“ Ich lauschte seiner Dar­stellung immer interessierter. Ich konnte seine Empfindungen sehr gut nach­vollziehen. In mir selbst regte er ähnliche Gedanken an. Eine Lösung für sein Problem hatte ich natürlich nicht. Er war mir noch viel sympathischer gewor­den. Gern hätte ich ihm durchs Haar gestrichen, sein Gesicht berührt. Das Traurige in seinem Blick löste fast bei mir selbst Tränen aus. Wenn er mir das bei sich zuhause erzählt hätte, wären wir möglicherweise gemeinsam weinend im Bett gelandet.


Näheres Kennenlernen


Ich dankte Torsten für sein Angebot, aber einfach meine Beamtenstelle aufge­ben, und mal so auf Verdacht bei Torsten arbeiten, wollte ich natürlich nicht. Ich erklärte ihm, dass er mich dann ja beim Kennenlernen immer bei der Ar­beit stören würde. Ich fände es auch schön, wenn wir uns näher kennen lernen würden, allerdings in der Freizeit. So geschah's dann auch. Er konnte mich schon stark beeindrucken, und begeistern mit dem, was wir unternahmen, und was er mir zeigte. Wir küssten uns schon länger, aber die erste Einladung zum Abendessen zu ihm nach Hause erfolgte noch unter der Bedingung, no Sex und ich anschließend zu mir. Das änderte sich aber alles sehr schnell. Obwohl ich noch meine eigene Wohnung hatte, lebte ich fast ausschließlich bei Torsten, und begleitete ihn als seine Partnerin bei allen möglichen Empfängen und Events. Torstens Mutter mit der ich mich sehr gut verstand, meinte, das sei doch so kein Zustand. Wenn ich schon richtig mit ihm zusammen lebe, dann solle er mich gefälligst heiraten.


Heirat


Was ihr Sohn natürlich brav befolgte.

Obwohl ich das luxuriöse Leben ja schon so genoss, bedeutete es mir schon et­was, die offizielle Frau Stein zu sein. Die Hochzeit wurde pompös gefeiert mit Menschen, die ich zum allergrößten Teil nicht kannte. Verwandte gab es nur wenige, und meinen Eltern schien es auch eher leicht unangenehm, obwohl sie sich natürlich über das Glück ihrer Tochter freuten. Meine Mutter, zu der ich ein exzellentes vertrauliches Verhältnis hatte, kam uns auch später selten be­suchen. Sie fühlte sich nicht wohl in unserem Ambiente, und wenn wir Kontakt wünschten, fuhr ich besser zu ihr.


Neue Lebensbedingungen


Zunächst brauchte das Ehepaar Stein mal ein neues Zuhause. Von allem was wir uns ansahen, gefiel mir eine etwas ältere Reeder Villa am besten, hielt sie allerdings für völlig überdimensioniert. Besonders gefiel mir auch der riesige Park, den man ohne Gärtner sicher gar nicht hätte in Ordnung halten können. Alles spielte keine Rolle, wenn sie mir gefiel, wurde sie gekauft. Jetzt war Frau Stein auch noch zur Schlossherrin geworden. Ein wenig als Cinderella kam sich die kleine ehemalige Regierungsrätin Ruth Sender schon vor. Ich beschloss aber für mich, dass es mir das Wichtigste sei, auf dem Teppich zu bleiben und die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Daher vermied ich Kontakte zu den Ladies aus meiner nominell adäquaten Society weitgehend. Frau Stein wollte weiter bei der Behörde arbeiten, was Torsten zwar überhaupt nicht verstand, aber ak­zeptierte.


Enkelkinder


Schwiegermutter Sylvia, wollte wissen, warum es denn keine Enkelkinder gebe und mir selbst gefiel die Vorstellung mittlerweile auch sehr. Früher war ich eher der Ansicht gewesen, ich brauche so etwas nicht in meinem Leben. Frau­en, die alles Mögliche und Unmögliche unternahmen, um doch noch schwanger zu werden, attestierte ich einen psychischen Defekt, und meinte, sie sollten lieber froh sein, dass sie sich den ganzen Stress, der mit Kinderkriegen zusam­menhing, ersparen könnten. Warum sich meine Einstellung zu einer freudigen Erwartung gewandelt hatte, blieb mir ein völliges Rätsel, wofür ich allerdings bis heute auch ohne Rätsellösung unendlich dankbar bin. Es waren keinesfalls irgendwie geartete Bedürfnisse, Gelüste oder Instinkte meine Qualitäten als treusorgende Mutter unter Beweis stellen zu wollen. Es machte mir einfach nur Freude, an das neue junge entwickelnde Leben zu denken. Ich wollte mich daran erfreuen, und mich bedanken für das, was mir geschenkt wurde. Viel­leicht hatte ich erst jetzt die Freiheit, es so zu betrachten, und unter diesem Aspekt zu sehen, während es vorher immer mit dem Druck, Ansprüchen ge­recht werden zu müssen und Verantwortung zu tragen, verbunden war. Jeden­falls wurde ich schwanger und gebar ein Mädchen, bei dem ich unbedingt dar­auf bestand, dass es Alyssia heißen müsse. So hieß meine Freundin in den USA während meines Austauschjahres. Ich habe sie geliebt und verehrt, und bin auch heute noch der Ansicht, dass unsere Freundschaft für mich die wichtigste Erfahrung während dieses Jahres war. Sie hat mich erfahren lassen, was Selbstbewusst­sein und Selbstvertrauen für eine junge Frau bedeuten, und hat die kleine Ruth, die darauf warten musste, was Eltern, Lehrer oder andere ihr sagten, da­mit sie wusste, was sie zu tun hatte, in mir ein für alle mal sterben lassen. Ich hatte schon damals geschworen, wenn ich mal irgendwo einen Na­men verge­ben könnte, wäre der 'Alyssia'. Das es meine eigene Tochter sein würde, daran hat­te ich natürlich nicht im Traum gedacht. Mir schwebte eher so etwas wie der Name für ein Segelbötchen vor.

Ich musste mich durchsetzen, dass ich trotz Alyssia wieder arbeiten konnte. Auch dass ich das Kindermädchen nur für morgens akzeptieren wollte, musste erkämpft werden, aber in meinen Vorstellungen zum Umgang mit Alyssia viel es mir nicht schwer unerbittlich zu sein. Sie war in meinem Bauch gewachsen, hatte von meiner Milch gelebt, und fing an meine Sprache zu sprechen, und ich ließ mir von niemandem, auch den verpflichtendsten Mütterratgebern nicht, vorschreiben, wie unser Umgang miteinander, und die Rahmenbedingungen dafür aussehen sollten. Viele hätten sich vielleicht darauf eingelassen, aber eine Mutter, deren Tochter den Namen Alyssia trägt, niemals.


Alyssias Schulweg


Als sie zur Schule kam, wurde sie vom Kindermädchen hingebracht und von mir abgeholt. Sie hätte gut den Weg allein laufen können, was auch viele ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen mit teils weiteren Wegen taten. Die Berichte über Kindesentführungen hatten mich aber so schockiert, dass es für mich un­verzichtbar war, jede Möglichkeit dazu grundsätzlich auszuschließen. Wenn ich mir vorstellte, was diesen Mädchen angetan worden war, würde meiner kleinen Alyssia zugefügt, geriet ich in Panik. Ich hätte nicht gewusst, was für ein Leben es für mich mit so einer Erfahrung noch hätte geben können. Ich hatte Regeln für ausnahmsweise früheres Unterrichtsende getroffen, und der Schulleiterin hatte ich massive Konsequenzen angedroht, für den Fall, dass Alyssia einmal alleine die Schule verlassen sollte. Mit dem Klassenlehrer traf ich Absprachen, aber der war schon von der Schulleiterin informiert worden. Alyssia selbst hat­te ich es natürlich auch eingeschärft, aber Kinder können natürlich auch schon mal Anlässe sehen, eine Situation völlig anders einzuschätzen.


Lehrer Lahrmann macht Überstunden


Ich hatte sie immer draußen vor dem Schultor in Empfang genommen. Eines Tages, Alyssia war schon im zweiten Schuljahr, regnete es mittags heftig, und ich hatte keinen Schirm dabei. Im Wagen wartete ich nie, weil sie sonst allein hätte die Straße überqueren, und auf dem Parkplatz mein Auto suchen müs­sen. Da ich sonst völlig durchnässt worden wäre, lief ich ins Schulgebäude, und war­tete in der Eingangshalle auf sie. Mir gefiel das so viel besser, und ich frag­te mich, warum ich nicht schon früher auf die Idee gekommen war. Also mach­te ich es ab jetzt eben immer so. Eines Mittags wartete und wartete ich. Die regu­läre Zeit war schon um 10 Minuten überschritten. Ich beschloss zu Alyssi­as Klasse zu gehen, um nachzuschauen, ob sie eventuell schon weg wären, und ich nicht informiert worden sei. Aber da kam die kleine Bande schon aus der Tür gestürmt. Ob er heute Überstunden gemacht habe, fragte ich Herrn Lahr­mann, Alyssias Lehrer. „Nein,“ meinte er „die Kinder hatten noch so viele un­endlich wichtige Fragen, mit denen ich sie keinesfalls unbeantwortet nach Hau­se schicken konnte.“ „Man merkt ihnen richtig an, das sie Freude an den klei­nen Strolchen haben, das finde ich sehr schön und kann es sehr gut nach­vollziehen, aber wie sie es schaffen diese riesige Bande im Klassenraum ruhig zum Lernen zu bringen, ist mir ein absolutes Rätsel.“ bemerkte ich. „Ja sehen sie, Frau Stein, wenn das ein Dirigent mit erwachsenen Orchestermusikern schafft, wird er als großer Impresario verehrt, auf den Lehrer in der Schule aber, wird möglicherweise ein ganzes Leben lang geschimpft. Unfug! Das ist einfach schlicht mein Beruf, Frau Stein, das hab' ich gelernt, dafür bin ich ein­gesetzt und dafür werde ich bezahlt.“ antwortete er mir. „Ich bewundere sie trotz­dem.“ verließ ich den Rufen Alyssias folgend unser kurzes Gespräch.


Herr Lahrmann und die Kinder


Ich bewunderte ihn auch wirklich, für Alyssia war Herrn Lahrmanns Wort Got­tes Gesetz. Durch seine natürliche, warme, lockere und freundliche Art schaffte er eine Atmosphäre, in der die Kinder sich wohl fühlen konnten. Er war mehr als ein Lehrer, der seine pädagogischen und didaktisch Planungen auf die Schüler anwendet. Wenn er die Kinder anschaute, wussten sie, dass er sie ver­stand, akzeptierte und ernst nahm, dass er ihre Lust auf Unfug verständnisvoll nachvollziehen konnte, und dass er bereit war, sich auf ihre Fragen und Proble­me ernsthaft einzulassen. Auch die Kinder spürten, das er Freude und Lust hatte, sie stark und stolz zu sehen, oder sie lachend sich wohl zu fühlen, sie waren sich sicher, ihm vertrauen zu können. Er war mehr als ein Freund, er war ihr Bezugspunkt in dieser Welt, die Schule hieß, und der ihnen Freude ver­mittelte, in dieser Welt sich zu mühen und zu entwickeln. Gewiss kann man lernen, dass so etwas wichtig ist, aber was sich in der Praxis dann entwickelt, ist sicher stärker an die Persönlichkeit des Lehrers, als an gelerntes Wissen ge­bunden. Bei Herrn Lahrmann hielt ich das für optimal, und ich war glücklich, bei der Vorstellung, dass Kinder ja viel Bedeutenderes für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit lernen, als Lesen, Schreiben, Rechnen, und das meine kleine Alyssa das bei Herrn Lahrmann tun konnte.


Kompliment für Herrn Lahrmann


Jetzt blieb ich nicht mehr draußen oder irgendwo im Schulgebäude wartend stehen, sondern ging immer direkt zu Alyssias Klassenraum. Es gefiel mir gut, mit Herrn Lahrmann ein paar Worte zu wechseln. Er reagierte meist witzig und besonders liebte ich es, ihn mit Komplimenten für seine pädagogischen Fähig­keiten ärgern. Aber auch darauf reagierte er meist lustig und seine Arbeit als selbstverständlich darstellend. „Herr Lahrmann, ich bin richtig froh, dass Alys­sia so einen tollen Lehrer wie sie hat, und wenn ich ihnen das mal sagen will, werde ich immer von ihren Understatements abgewimmelt. Können sie gar kein Kompliment oder Lob einfach mal annehmen, und sich darüber freuen?“ „Frau Stein, sie machen mich verlegen. Ich verspreche ihnen, dass ich ihr nächstes Kompliment annehmen, und ihnen dafür danken werde.“ versicherte er. Am nächsten Tag überlegte ich schon in der Behörde, wie ich ihn wohl är­gern könnte. Als ich Alys abholte sagte ich zu Herrn Lahrmann: „Herr Lahr­mann, sie sind ein wirklich schöner junger Mann.“ er stutzte, errötete leicht, und überlegte wohl wie er darauf reagieren sollte. Mit meinem Finger auf ihn zeigend warnte ich ihn, „Sie haben mir gestern etwas versprochen, Herr Lahr­mann. Ich will ihnen aber helfen. Wenn man einer Frau sagt, dass sie schön sei, sagt sie einfach 'Danke'.“ „Danke, Frau Stein,“ reagierte er immer noch mit rötlichem Gesicht lächelnd, „ich konnte ja nicht ahnen, dass sie mich damit reinlegen würden, als ich ihnen das so leichtfertig zugesagt habe. Ich werde mir bei ihnen demnächst doch besser überlegen müssen, was ich sage.“


Ich mochte ihn. Mir gefiel sein freundliches, natürliches Wesen. Er konnte im­mer lachen, oder ironisch witzig sein. Er liebte es, lustig provozierend heraus­zufordern. Er war als Lehrer ein bunter, 'normaler' erwachsener Mann geblie­ben, obwohl er in seinem Beruf stets nur mit kleinen Kindern zu tun hatte. Ob er sich wohl mit seiner Persönlichkeit selbst auseinander setzte, und sich be­wusst so verhielt, oder ob es einfach so seine unreflektierte selbstverständliche Art war? Ob er sich durch alle Zwänge und Pressionen in seinem bisherigen Le­ben nicht hatte verbiegen und verhärten lassen, und immer locker und natür­lich hatte bleiben können? Was ihm seine Eltern wohl vermittelt hatten. Er zeigte keiner­lei Zwang, sich selbst etwas beweisen zu müssen. Seine Mutter hatte ihn mit Sicherheit nicht zur Schnecke gemacht. Ich glaube eher, dass sie ihm viel Lie­be gegeben haben wird, die ihm Selbstvertrauen und sensible Emp­findsamkeit vermittelte. Er gefiel mir sehr. Er war kein Adonis, das hätte mich glaube ich, auch eher gestört oder abgestoßen, trotzdem empfand ich ihn als schön. Es er­freute mich, ihn anzuschauen. Seine Augen und sein lächelnder Mund, strahl­ten eine Schönheit aus, die jeder empfinden konnte, die aber von den Augen des Betrachters nach gängigen Schönheitsidealen nicht zu taxieren waren. Nur zu gern hätt' ich mal gewusst, wie er sich wohl verhielt, wenn er zärtlich zu seiner Frau war.


Ralf und Ruth


Es wurde selbstverständ­lich, dass wir mittags bei Alyssias Schulschluss ein we­nig scherzten, und uns beiden, sowohl Herrn Lahrmann als auch mir, gefiel es offensichtlich. Manchmal sprachen wir aber auch über ernstere Angelegenhei­ten, z. B. warum gerade dies oder jenes für Kinder in Alyssias Alter wichtig sei, oder wir sprachen über Privates, z. B. warum ich darauf bestanden hätte, das Alys diesen Namen bekam. Dass es sich bei Herrn Lahrmann nicht nur um eine neutrale Person handelte, die ich sympathisch fand, und mit der ich mich gern traf, sondern um einen Mann, der mir als solcher gefiel, war für mich ausge­schlossen. Dadurch, dass es jeden Mittag kurz etwas zu besprechen, einige Worte zu wechseln gab, wurde die Gesprächsatmosphäre immer selbstver­ständlicher und offener. Ich hätte gesagt, es sei angenehm, wie mit einer gu­ten Freundin zu reden und zu scherzen. Alyssia war immer die letzte ihrer Klasse, die das Schulgebäude verließ.

Unser mittägliches Gespräch war schon seit 1½ Jahren zum festen Ritual und mittlerweile recht persönlich und vertraulich geworden. Als ich einmal Alyssia abholen wollte, erklärte ich Herrn Lahrmann:“Also ich empfinde das irgendwie kurios, seit mehr als 1½ Jahren unterhalten wir uns hier jeden Mittag, und re­den uns immer noch mit Herr Lahrmann und Frau Stein an, mir kommt das et­was pervers vor. Mit Kollegen in der Behörde die ich viel, viel weniger kenne, duze ich mich selbstverständlich. Ich finde, wir sollten das auch tun. Ich würde mich von dir lieber als Ruth anreden lassen, und du?“ Es schien ihm einiges durch den Kopf zu laufen, aber dann sagte er: „Ich finde das auch gut, dann bin ich für die Ruth der Ralf.“ wir gaben uns die Hand und lächelten uns gegen­seitig an.


Ruth aus Moabit


Einige Tage später sagte Ralf lächelnd, als ich rein kam: „Da kommt Ruth, die Moabiterin“ auf mein erstaunt fragendes Gesicht erklärte er: „Ja kennst du das nicht „Ruth aus Moabit“, seht in der Bibel. Da gibt es ein ganzes Buch Ruth.“ Genaueres wusste er aber auch nicht. „Ich habe von der Bibel und so etwas Ähnlichem überhaupt keine Ahnung. Da kenne ich nur so, was jeder weiß, Adam und Eva und Moses und Vater Abraham.“ Ralf schüttete sich vor Lachen und kam gar nicht wieder zu sich. „Hör auf! Sag worüber du lachst! Ich will es wissen.“Vater Abraham.“ prustete und lachte er wieder. Vater Abraham und die Schlümpfe, das sei mal ein ganz saudämlicher Schlager gewesen. Als er mir das näher erläuterte, und mir etwas davon vorsang, kamen mir auch dunkle Erinnerungen. Ich war mir sicher, dass es mit Abraham etwas auch in der Bibel gab. Ja, meinte Ralf, den gäbe es auch, und der sei sogar sehr be­deutend. Er stehe unter anderem als Sinnbild für das Ende von Menschenop­fern, aber wenn ich Vater Abraham sage, würden alle immer an diesen dämli­chen Schlager denken. „Na, wenn der Herr Lehrer das sagt, dann muss ich das ja wohl glauben. Für Alyssia ist das, was du sagst ja auch immer Gottes Wort. Da hat ihre Mutter nicht den Hauch einer Chance.“ reagierte ich. Plötzlich drückte Ralf mir einen Kuss auf die Stirn. „Was war das denn?“ wollte ich er­staunt wissen. „Ja, du hast mir doch gesagt, ich solle Komplimente einfach dankend annehmen.“ Ich lächelte ihn noch schelmisch an, und verließ mit Alyssia die Schule.

Das kurze Gespräch mit Ralf war zu einer festen Position in meinem Tagesab­lauf geworden. So sehr ich mich auf die Begegnung mit meiner Tochter freute, so sehr freute ich mich auf die wenigen Worte mit Ralf. Ich überlegte oft schon Nachmittags oder Abends, womit ich ihn am nächsten Tag überraschen konnte. Ich mochte ihn sehr, er gefiel mir sehr gut. Nur die Bedeutung, wie eine gute Freundin, so war es nicht mehr, so konnte ich es mir selber auch nicht mehr einreden. Dass es mal mehr werden könnte, darüber brauchte ich nicht lange nachzudenken. Er war seit zwei Jahren ver­heiratet mit einer Frau, die acht Jahre jünger war als er, und sie hatten ein zweijähriges Kind. Für mich war es auch undenkbar, leichtfertig etwas zu ris­kieren, das unsere Position gefährden könnte.

„Hör mal Herr Lehrer!“ feixte ich ihn am nächsten Tag an, „Mit den Bibelkennt­nissen, da steht es ja wohl auch nicht zum Besten. Das war die Ruth aus Moab und nicht die Ruth aus Berlin-Moabit. Oh je, oh je! Und weißt du was die ge­sagt hat“ ich kam mit meinem Kopf näher zu ihm, als ob ich ihm ein Geheimnis verraten wollte: „'Wohin du gehst, dahin will auch ich gehen, und wo du bleibst, da bleibe auch ich.' Allerdings nicht zu ihrem Liebsten, sondern zu ihrer Schwiegermutter. Und David und Jesus, die wirst du Bibelforscher ja wohl auch kennen, die stammen von dieser Frau ab. Also ein wenig mehr Respekt vor den Ruths bitte, ja!“ „Hab ich je gesagt, das Lehrer nicht mehr lernen können?“ antwortete Ralf, “Ich freu' mich immer, wenn ich von dir etwas lernen kann. Vielleicht könnten wir daraus ja mal ein Projekt machen. 'Lehrer lernen von El­tern! Heute das Buch Ruth'“ „Als Lehrer bist du viel zu frech.“ verabschiedete ich mich zu der auf dem Flur wartenden Alyssia.


Situationen klären


Nach einiger Zeit meinte Ralf, wir müssten mal dringend etwas Persönliches besprechen. Alyssia wurde gebeten, ein wenig auf dem Flur zu warten. „Ruth, im Kollegium tuschelt man schon über uns.“ fing Ralf an, „Ich bin glücklich ver­heiratet, und habe ein kleines Kind, und ich möchte auch, dass das so bleibt.“ „Ich weiß.“ antwortete ich ihm, „ich auch. Tun wir etwas, damit das nicht so bleibt? Mittags 5 Minuten miteinander reden, zerstört das deine Ehe? Wenn ich zu Hause ankomme, existiert für mich nur noch Alyssia. Ralf Lahrmann ist dann längst vergessen.“ Ralf machte ein bekümmertes unzufriedenes Gesicht. „Was willst du denn?“ fuhr ich energischer fort, „Willst du mich nicht mehr se­hen? Magst du mich nicht mehr? Gefallen dir unsere Gespräche nicht mehr? Nur damit deine Kollegen nichts zu tuscheln haben. Wenn das so ist, dann lege ­ich allerdings auch überhaupt keinen Wert darauf. Dann warte ich mit Sicher­heit viel lieber draußen vor der Schule.“ Wir standen auf, und Ralf umarmte mich. „Entschuldigung, du hast Recht, Ruth, es tut mir leid, dass ich das nicht selber gesehen habe. Vergiss es, wenn's geht.“ Was ich sagte war selbstver­ständlich gelogen, und mir selber derartiges einzureden, hatte ich auch schon längst aufgeben müssen. Meine Augen übernahmen oft die Dominanz beim ko­ordinierten Agieren der Sinne während unserer Treffen. Während Ralf etwas sagte, fragten sie, wie es sich wohl anfühlen würde, die Haut seiner Hand, die auf dem Pult lag, zu berühren, oder wenn die Spitzen von Daumen, Mittel- und Ringfinger bei einer Gestik zusammengelegt mir nahe kamen, fragten die Au­gen, ob sie nicht noch näher kommen könnten, und mit ihren Kuppen die Haut an meinem Hals und meinem Gesicht befühlen könnte? Meine Augen blickten anders, und zu dem, was sie sahen und welche Fragen sich ihnen stellten, ver­mittelten sie auch eine Information an die Muskeln um meinen Mund. Sie brachten meine Lippen in eine Position, die bereit war zum Lächeln, aus der sich aber auch leicht eine Form zum Küssen entwickeln konnte, nur wenn ich etwas sagen wollte, musste ich einmal schlucken. Auch meine Ohren, die ja nichts anderes hörten als sonst auch, schienen trotzdem mehr und anderes wahrzunehmen. Ich war der Ansicht, alles seien meine Eindrücke, und sie wür­de nur mir bewusst, an Ralfs Reaktionen und seinen Blicken, war mir aber deutlich, dass er meine allmählichen Veränderungen bemerkt, und vielleicht in ähnlicher Weise für sich mitvollzogen hatte.

Dass Ralf etwas anderes, als das Getuschel der Kollegen ansprechen wollte, war mir klar, doch ebenso klar war mir, dass ich das nicht hören wollte. Ich log, und reagierte heftig, um das zu verhindern.


Scène d'amour mit Elternsprechtag


Es blieb also alles beim Alten. Fast, denn durch unser kurzes Gespräch hatten die mittäglichen Treffen eine zusätzliche Sanktionierung erhalten. Wir hatten uns gegenseitig bestätigt, dass unsere Kurzgespräche keinen Einfluss auf un­sere Beziehungen haben würden, obwohl wir beide wussten, dass es anders war. Dass Ralf mir geglaubt hat, ich habe ihn vergessen, wenn ich zu Hause sei, glaube ich kaum. Er konnte mir aber auch nicht beweisen, dass ich beim Einschlafen von ihm träumte, und der Satinbezug des Kopfkissens seine Haut symbolisierte. Als übliche Gespräche waren unsere Mittagsmeetings kaum noch zu bezeichnen, sie glichen immer mehr kleinen Scènes d'amour, zwar ohne Umarmung und Küssen, und es fehlten auch die eindeutigen Benennungen und Wörter, die in diesen Szenen gebräuchlich sind, aber der Austausch der Emo­tionen wurde dadurch in nichts behindert. Wir wollten es auch immer noch kei­nesfalls so verstanden wissen. Trotzdem war Ralf besonders gern abends bei mir zu Gast in meinen Gedanken, und im Bett hatte er eigentlich schon lange einen Stammplatz. Ein wohliges Prickeln durchzog mich, wenn ich mich an sei­nen imaginären Körper kuschelte.

Beim nächsten Elternsprechtag saßen wir beide uns an einem kleinen Schul­tisch gegenüber. Wir blickten uns spöttisch lächelnd an, und Ralf begann for­melhaft etwas von Alyssia vorzutragen. „Ralf, hörst du mal bitte auf, so einen Stuss zu reden!“ stoppte ich ihn. „Was sollen wir denn machen?“ fragte er hilf­los. Ich war aufgestanden, zu ihm rüber gegangen und forderte ihn auf: „Steh bitte auf, so kann man doch nicht sitzen.“ Wir standen uns direkt gegen­über, und sahen uns in die Augen. „Weißt du was der Schülerin Alyssia Stein am aller besten helfen wird, wenn du jetzt sofort und unverzüglich ihre Mutter küsst.“ erklärte ich. Er atmete tief, schaute mich mit großen Augen an, und zog mich zu sich. Obwohl ich es für mein offizielles Selbstverständnis immer abgestritten hätte, aber jetzt ging für mich ein kleiner Traum in Erfüllung. Ich presste mich an ihn, und rieb mich an sei­nem Körper. Ralf begann an meiner Bluse zu fum­meln. Ich wehrte ab. „Küs­sen, nicht ausziehen!“ erklärte ich, obwohl ich nach meinem Empfinden eigent­lich nichts dagegen, wahrscheinlich sogar nicht lieber gehabt hätte. Aber die Vorstellungen von Klassenraum und Elternsprechtag konnten sich glücklicherweise gegen jedwede Ausgestaltung meiner Empfin­dungen be­haupten. Ich stoppte Ralf, weil ich befürchtete, dass vielleicht die nächsten El­tern reinkommen würden. Er schaute auf die Uhr und meinte: „Oh ja!“. Fast die gesamte Sprechzeit hatten wir geknutscht. Zum Glück hatten sich die nächsten Eltern aber brav wartend auf die Stühle im Flur gesetzt. Obwohl ich schnell einiges zu ordnen versucht hatte, kam ich mir noch ziemlich verwüstet vor. Ich versuchte möglichst schnell zum Wagen zu gelangen, und im Auto­spiegel einiges Weitere wieder in Ordnung zu bringen. Auf der Rückfahrt über­legte ich, wann ich wohl so leidenschaftlich geküsst hatte, und geküsst worden war. Von einem Freund in der Schule war mir als Erinnerung hängen geblieben, dass wir lange und viel geknutscht hatten, aber Näheres wusste ich gar nicht mehr. Bei Torsten kam es mir immer wie ein kleines Pflichtprogramm vor. Er sagte es nicht, aber ich merkte es, dass er nicht mehr wollte. „Und was hat Herr Lahrmann gesagt?“ wollte Alyssia wissen. Ich stellte mir die Situation vor, wenn ich ihr gesagt hätte, wie's wirklich gewesen war, und musste lächeln. Wir hätten gar nicht viel über sie geredet, weil wir das ja jeden Tag könnten, er­klärte ich, und schnitt dann schnell ein anderes Thema an. Gern hätte ich ihr das Glück vermittelt, das dieser Elternsprechtag ihrer Mutter geschenkt hatte. Sie war ja Ralfs Schülerin. Ihr war dieser Termin ja zu verdanken.


Wie weiter


Ich wollte das wieder, nochmal und nicht erst am nächsten Elternsprechtag. Aber wie und wo? Dieses Versteck spielen und Tricksen und Lügen, ich hasste so etwas eigentlich, aber wie anders sollte man es arrangieren. Ich hätte sicher einiges leichter umdisponieren können, aber bei Ralf kannte ich mich ja über­haupt nicht aus. Vielleicht hatte er einen Sport-Club oder regelmäßigen Fit­ness-Termin, den er mal für etwas anderes nutzen konnte, und seine Frau er­führe dann zufällig, dass er gar nicht dort gewesen sei. Widerlich diese Vorstel­lungen. Ich wollte mit so etwas nichts zu tun haben. Aber wie sonst? Ich war ratlos. Wollte ich das Verbotene anständig geregelt haben? Ich wusste nur, dass ich auf diesen Mann nicht verzichten wollte.

Am nächsten Tag in der Schule erklärte ich ihm: „Raahalf, ich will das noch­mal.“ Er schaute mich mit tiefem leicht wehmütigem Blick an, strich mir mit der Oberseite seiner Finger vorn am Haar entlang und fragte: „Ruth, was ma­chen wir eigentlich? Ich kann das von mir aus nicht mehr stoppen. Ich habe Lust auf dich, ich spüre ständig dieses Verlangen, ich träume von dir, ich will dich. Ich weiß nicht was ich tun soll, und wie ich damit umgehen soll. Es ist nicht dadurch zur Seite zu drängen, dass ich mir vorsage, 'Ich liebe Britta.', und dass ich unsere Situation nicht zerstören will. Es ist trotzdem immer da. Es ist einfach so, dass du mich total verhext hast, Frau Stein.“ „Ralf, müssten wir nicht mal anderswo etwas länger ungestört reden. Wir könnten ja ein wenig raus fahren in ein Café außerhalb. Da sieht dich dann keiner von dei­nen Kollegen. Mach du doch einen Vorschlag, wie du es am Besten geregelt bekommst. Für mich ist das kein Problem.“ Ralf war einverstanden. Wir wollten uns in einem Landgast­haus außerhalb treffen.


Treffen im Landgasthaus


Es war wundervoll, auf einem Rokoko-Sofa eng aneinander gerückt miteinan­der reden zu können. Wir, die uns sonst nicht berühren durften, konnten die Wärme und Bewegung des Körpers des anderen spüren. Wie zwei Magnetpole, die endlich nicht länger auseinander gehalten wurden. Wir strahlten uns an, und legten die Arme auf die Schultern des anderen. Wie Kinder freuten wir uns, ganz simple Alltäglichkeiten für uns neu ausprobieren zu können. Wenn wir zum Beispiel unsere Hände aufeinander legten, strahlten unsere Augen sich an, als ob wieder eine kleine Ungeheuerlichkeit passiert wäre, und unsere Lip­pen suchten einander zum glücklichen gegenseitigen Berühren und Küssen. Die lange zwanghafte Distanz, machte jede Art der Berührung des anderen zu ei­nem neuen Erlebnis. Die hastige Kussekstase während des Elternsprechtages war bedeutungslos für das zärtliche Entdecken des anderen.

„Ralf, was du in der Schule gesagt hast, war sehr schön für mich. Es hat mir sehr gut gefallen, und mich gefreut. Du hast von dir gesprochen, aber für mich war es ein großartiges Kompliment.“ begann ich und Ralf schien zu überlegen, was er denn eigentlich in der Schule gesagt hatte. „Es ist für eine Frau ein sehr schönes Gefühl, begehrt zu werden, das zu hören, verspüren zu können, und nicht einfach jemand zu sein, der die selbstverständliche Rolle des Partner er­füllt. Es macht mir Lust, wenn du mir sagst, dass du mich willst, und von mir träumst. Aber wenn das ehrlich ist, bedeutet es mehr, als nur mal eben in ei­ner Absteige miteinander ficken zu wollen. Was ich will, ist auch und sogar vor allem der Ralf, den ich jetzt seit Jahren kenne. Ich möchte mehr mit ihm reden als mittags vier Sätze, ich möchte mehr mit ihm erleben, als an einem Lehrer­pult zu stehen. Der In­halt unserer Gespräche, und wie wir aufeinander reagiert haben, hat mein In­teresse an deiner Person geweckt, und die ich, je näher ich sie kennen lernte, immer mehr lieben gelernt habe. Ich habe gar nicht ge­merkt, worauf ich mich einließ, und habe mich immer mit den vier Sätzen am Mittag vor mir selbst ge­täuscht. Unsere kurzen Gespräche haben für mich eine neue Welt eröffnet, die ich bis­lang nicht kannte. Wie wir miteinander kommu­niziert haben, uns ausgetauscht haben, uns begegnet sind, hat mir Freude ge­macht, und mich glücklich sein las­sen. Ich habe mit dir ohne Sex erkannt, dass es auch eine ganz andere Art von Beziehung zwischen Mann und Frau geben kann, auf die ich nicht mehr ver­zichten möchte.“ Ralf schaute mich tief an, streichelte über mein Haar und be­fühlte mit seinen Fingerspitzen mein Gesicht. „Ich habe das schon damals ge­merkt, Ruth,“ antwortete er „als ich dich mit dem Getuschel im Kollegium an­gesprochen habe. Das Kollegium war mir ei­gentlich schnurtz, das war so eine Eröffnungsformel, worum es mir eigentlich ging, konnte ich nicht sagen, es war, dass ich sich etwas in mir sich entwickeln fühlte, dass nicht parallel zu meiner derzeitigen Situation existieren konnte, dass ich dich sehr mochte, dass ich in der letzten Stunde häufig auf die Uhr schaute, und es nicht abwarten konn­te, dass du kamst. Als du mal krank warst, und eure Haushaltsfrau kam, hat mir das den Rest des Tages verdor­ben. Ich selber bin krank zur Schule gekom­men, nur um dich mittags kurz se­hen zu können. Ich merkte, dass ich mich in dich verliebt hatte, und nicht nur rituell täglich einige Worte mit dir wechselte.“ „Ich weiß gar nicht, wann das in mir angefangen hat, weil ich es ja auch im­mer zu verdrängen versucht, und vor mir selbst abgestritten habe. Ich weiß nur, dass es mir damals sehr gut ge­fallen hat, dich meinen Namen sagen zu hören. Wenn du Ruth sagtet, wirkte es auf mich immer, wie ein emotionaler Kuss, als wenn du jedes Mal gesagt hät­test: 'Ruth, ich liebe dich.'“ bemerkt ich dazu „Nur jetzt stehen wir vor einem Dilemma. Ich will und werde dich nicht aufgeben. Das ist mein Leben, Ralf, mein Leben mit dir, das will ich leben, und nicht verlieren, aber ich kann mir gar nicht ausmalen, was dann aus mir wird. Und für dich, wie sieht es da aus, du wirst dich einfach entscheiden können? Doch auch wohl kaum.“ „Einfach,“ Ralf verzog seinen Mund zu einem gequälten Lächeln, „einfach entscheiden, das hätte ich gerne. Selbstverständlich kann und werde ich nicht auf dich ver­zichten. Nur die leidtragende ist Britta, die mich liebt und verehrt, und die nichts zu der Entwicklung beigetragen hat, und nichts dazu beitragen konnte, sie zu verhindern. Es bricht mir das Herz, wenn ich mir nur die Situation vorzu­stellen versuche, in der ich es ihr sagen müsste.“ antwortete Ralf. So redeten, streichelten und küssten wir uns bei Kaffee und Kuchen noch eine Weile und beschlossen, uns auf diese Weise noch mal wieder zu treffen.

Auch beim nächsten mal waren wir Gott sei Dank wieder allein. Für mich war es ja viel riskanter als für Ralf. Ich musste ja immer damit rechnen, dass ei­ner aus der Branche vorbeikam, der mich mal bei irgendeinem Empfang oder auf irgendeinem Foto gesehen hatte, sich erinnerte und die Frau Stein mit ei­nem jungen Mann schmusend im Café sah. Vielleicht gar nicht schlecht, dann hätte es Torsten so mit Sicherheit erfahren, aber ich würde ihm das schon lie­ber sel­ber sagen. Wir waren nämlich zu dem Schluss gekommen, dass es keine Alter­native gebe, und wir es beide durchstehen wollten. Wir hatten schon ausge­rechnet, wie viel Geld wir haben würden, und dass ich auf keinen Fall des Gel­des wegen meine Stundenzahl erhöhen würde, denn es ging mir ja darum, dass ich mit Alyssia zusammen sein konnte, und nicht darum, dass ich sie gut versorgt wusste. Wir hatten schon überlegt, wie viel Geld wir maximal für eine Wohnung ausgeben könnten, und dass dafür sicher etwas Passables zu finden sei. Wir fingen auch an über alles andere zu spinnen, und freuten uns richtig auf die kleine kuschelige Family. Ralf meinte: „Ruht, ich möchte so gern mal mit dir zusammen sein. Wir planen hier unser zukünftiges Family-Life und wa­ren noch nie zusammen im Bett.“ „Was möchte ich denn lieber, mein Süßer?“ antwortete ich ihm, „Und ich habe auch schon ganz viel überlegt, wie das mög­lichen zu machen wäre, aber es war letztlich alles unbrauchbar, und so an ei­nem Nachmittag für ein paar Stunden ins Hotel, das gefällt mir nicht. Wenn dir etwas einfällt, würde mich das freuen.“


Schulrechts Fortbildung


Eines Mittags fragte Torsten mich, ob ich nicht Lust hätte, gemeinsam zu einer Fortbildung zu fahren. Bei der Fortbildung handele es sich um Schulrecht, und da könnten sich nicht nur Lehrer anmelden, sondern sie sei offen für alle Be­amten. Schulrecht sei zwar das Letzte, wofür er sich interessiere, aber er habe eben die Möglichkeit gesehen, dass ich mich da ja auch anmelden könne. Ich überlegte. Zu Hause würde Fortbildung reichen, aber in der Behörde, ich musst ja Sonderurlaub beantragen, und dann für Schulrecht, wie sollte ich das denn begründen. Ich wolle mich auf eine Stelle in der Schulbehörde bewerben? Die würden sich ja alle schief lachen, und dann auch noch mit so fundamentalen Themen, die gerade mal für die Schülervertretung reichten. Ich hab dann auf das Formular geschrieben. „Interesse an nicht fachspezifischen Rechtsgebie­ten“, den Leiter bei der Genehmigung angerufen, und ihm von einem persönli­chen Problem be­richtet. Seit dem ich Frau Stein bin, legt jeder Wert darauf, mir bei Problemen, besonders den persönlichen zu helfen. Ich hab' ihm dann im Vertrauen gesagt, dass ich jetzt in der Elternvertretung an der Schule meiner Tochter sei, und als Juristin keinen blassen Schimmer von Schulrecht habe, und es ja so leicht zu peinlichen Situationen kommen könne. Aber das habe ich ja nicht als Fortbil­dungsbedarf nennen können. Das sei völlig in Ordnung was ich geschrieben habe, und das könne er auch vertreten. Etwas anderes habe er gar nicht ge­hört. Ich hätte ja auch reinschreiben können, ich wolle endlich mal dazu kom­men, mit meinem Freund zu ficken. Darin hätte er wahrscheinlich eher nicht so großen zusätzlichen Erkenntnisgewinn für die Behörde gesehen.


Das Tagungsbett


Von dem Tagungshaus gab es zwar ganz nette Fotos, aber dass gar keine Zim­mer abgebildet waren, ist uns überhaupt nicht aufgefallen. Als wir die Zimmer sahen, meinte Ralf, dass Jugendherbergen heute besser ausgestattet seien. Und gerade die Betten. Wie Kinderbetten aus den 50 er Jahren, zu kurz, zu schmal und dann ziemlich hohe Bretter an den Seiten. Ich konnte gleichzeitig heulen und lachen. Es war ja furchtbar traurig, aber andererseits auch voller Ironie. Da hatten wir's trotz allen Widrigkeiten geschafft, uns ein paar schöne Nächte im Bett zu organisieren, und dann waren gerade die Betten das Un­brauchbarste in dieser ganzen Tagungsklitsche. Wir mussten uns natürlich erst­mal um den Hals fallen, und da es kein Klassenraum war, und draußen kei­ne Eltern warteten, gab es keinen Grund, es nur beim Küssen zu belassen. Jetzt hatte ich überhaupt nichts dagegen, das Ralf mir die Bluse aus der Hose zog, und ich seine Hände auf der Haut meines Rückens spüren konnte. Meine vom BH befreiten Brüste wollten nicht nur Ralfs Hände, sondern auch seine Brust spüren. Unter ständigem Küssen befreiten wir gegenseitig unsere Körper nach und nach von den einzelnen Teilen, die sie umhüllten. Als nichts mehr verhüllt war, atmete ich schon intensiv. Ich nahm Ralfs Kopf zwischen meine Hände, schaute ihn an, schlang meine Arme wieder um seinen Hals, und ließ mich mit ihm nach hinten auf das Bett fallen. Ralf wollte mit seinem Mund lieb­kosend an meinem Körper runter. Ich wollte ihn, sein Gesicht, das Abbild sei­ner Person nicht verlieren. „Bleib bei mir!“ sagte ich, und hielt seinen Kopf fest. Ich wollte seine Augen sehen, seine Lippen und seine Zunge an meinen spü­ren. Erregt genug war ich schon längst, und unsere Finger waren ja sowieso teilweise dort. Ich wollte nicht mehr gestreichelt werden, ich musste Ralf erleben. Ein Drang, ein Verlangen hatte mich erfasst, wie es sonst so von mir gar nicht kannte. Gierig war ich, diesen Mann jetzt sofort zu erleben. So ein Mann, so können Männer also auch sein. Im Moment schien ich das Kinder­bett gar nicht wahrzu­nehmen. Ich erlebte mich auch selbst völlig anders als sonst. Ich wusste gar nicht, wie gut es tun kann. Ich stöhnte oder schrie oft sehr laut. Ralf stockte und meinte, das sei durchs ganze Haus zu hören. Sonst war ich immer völlig stumm gewesen. Ich hätte nicht nur stöhnen, sonder auch vor Freude und Glück jubilieren oder weinen können. Ich wusste gar nicht oder gar nicht mehr, was es bedeuten konnte, und dass, was man mit dem gleichen Wort bezeichnet, so völlig verschieden sein kann. Ich konnte hinterher gar nicht aufhören Ralf vor Freude immer wieder an mich zu drücken und zu küssen. Trotz Folterbett war ich selig. Ich meinte immer, beim masturbieren auch einen Or­gasmus gehabt zu haben, aber jetzt war ich mir nicht mehr ganz sicher. Viel­leicht gab es ja hier auch große und Flush Versionen. Ralf lag halb neben mir und halb auf der Bettkante, hatte seinen Kopf auf den linken Arm gestützt und streichelte mir mit der anderen Hand sanft über den ganzen Körper: „Du bist wunderschön, Ruth.“ sinnierte er, „ich könnte dich stundenlang nur anschau­en.“ Das sei mir ein bisschen zu wenig, erklärte ich, und außerdem könne ich nicht mehr so lange hier liegen bleiben. Ich hatte ein Gefühl, als ob morgen meine sämtlichen Gliedmaßen von Konfrontationen mit den Bettbegrenzungen mit blauen Flecken übersät sein müssten, und mein Rückgrat sei mir von der Matratze an zwei Stellen gebrochen worden. Beim ersten Mal nehme man ja immer vieles in Kauf, aber nochmal mache ich das nicht mit. Ich sei mir sicher, dass es Häuser mit Betten gebe, in denen das Lieben wesentlich angenehmer sei, als in diesem Prokrustesbett. Ich würde uns jetzt ein Hotelzimmer suchen. Ralf möge mich bei Seminarbeginn entschuldigen, ich käme ein wenig später. Ich musste nur aufpassen, dass ich mir Bargeld besorgte oder von meinem pri­vaten Girokonto bezahlte. Wenn Torsten zufällig feststellen sollte, dass in mei­ner Fortbildungswoche unbekannte Hotelkosten abgebucht worden waren, würde das wahrscheinlich ein wenig unangenehm werden.


Fortbildungsnächte


Wir fuhren direkt nach Seminarschluss ins Hotel, aßen auch dort zu Abend, nahmen noch eine Flasche Sekt mit aufs Zimmer, die wir aber gar nicht erst öffneten. Ich wollte diesen Mann Ralf und ich wollte diesen Körper. Ihn sehen und küssen, meinen Körper an ihm reiben, ihn alles spüren lassen, was er be­gehrte. Ihn an mich gepresst empfinden und mit meinen Händen greifen und krallen, und zwischendurch immer wieder küssen. Ich würde mich gern um ihn winden, wie eine paarende Schlange, jedes Körperteil an ihn drücken und im­mer wieder wälzen, mich aalen in der Empfindung seines Körpers. Ich wollte nicht schmusen, streicheln, säuseln, das war auch schön, aber nicht jetzt. Jetzt wollte ich meinem ekstatischen Verlangen folgen. Schweißnass war ich schon, bevor ich Ralf in mir spüren wollte. Ich war nicht mehr laut wie heute Nachmit­tag, aber es war für mich noch viel erregender, wilder und ausdauernder, als vorher. Alle Glücksgefühle dieser Welt schienen sich danach bei mir zu versam­meln und meinen Körper empfand ich als so leicht, dass er schweben könnte. Ich reckte mich und schlang meine Arme ganz fest um meinen lieben, lieben Ralf. Ich konnte nicht aufhören, ihn selig anzustrahlen und immer wieder zu küssen. Ralf lag halb auf mir und ich merkte, wie ich wieder anfing, meine Brüste an ihm zu reiben. Ein unstillbares körperliches Verlangen, dass ich über­haupt nicht von mir kannte, hatte mich okkupiert. Von diesem Mann, den ich liebte, bei dem ich glücklich war, wenn ich mich mit ihm unterhalten und ihn anschauen konnte, den ich gern zärtlich berührte, wollte ich gierig in stän­diger Erregung gehalten werden. Ob es das überwältigende Erlebnis des ersten Mals war, ob er in mir neue Dimensionen sexueller Begierden aufgetan hatte, der ob es eine für mich neue, unbekannte Welt war, die ich nicht wieder ver­lassen wollte, es blieb mir unklar. Ich hauchte Ralf lächelnd ein fragendes „Nochmal?“ zu. Ralf lächelte und zog dabei die Augenbrauen hoch, als ob er sagen wolle: „Ich weiß nicht? Vielleicht.“. Es wurde wieder ein Kampf mit aus­dauerndem Hochgefühl. Aber dann geschah alles eher wie in Trance. Ich konn­te eigentlich gar nicht mehr, aber ich wollte nicht aufhören in orgiastischer Er­regung immer noch mehr zu bekommen, als wenn diese Nacht die letzte Chan­ce dazu böte. Ich kam mir vor, wie das Mädchen, das zum ersten mal in sei­nem Leben Eis bekommt, und nicht mehr aufhören kann zu essen, obwohl es sich schon längst übergeben musste.

Mir war endgültig klar geworden, das es keinen anderen Mann für mich auf die­ser Welt gab, als den, mit dem ich auch das erlebt hatte, und dass es nichts geben konnte, was mich daran hin­dern würde, Ralf für mich zu bekommen. Wir taten in der Woche alles, was in unseren Kräften stand, um morgens zu Semi­narbeginn fix und fertig zu sein, und mit geräderten unausgeschlafenen Kör­pern in den Fortbildungssesseln zu hängen. So brauchten wir nicht den Vor­tragsinhalten zu lauschen und die Präsentatio­nen aufzunehmen, weil unsere Sinne dazu gar nicht in der Lage waren, und al­les wie ein Rauschen in fernen Räumen an ihnen vorbei lief. Die wichtigste Auf­gabe bestand darin, sich selbst am Einschlafen zu hindern. Manchmal war es auch einfach unvermeidlich, dass einer für eine Stunde im Kinderbett ver­schwand, und der andere ihn dann weckte. Ich merkte, dass mich der perma­nente Schlafentzug immer zänkischer und aggressiver werden ließ. Und dann noch ständig dieses belanglose Schul­rechtsgeschwafel, ich verspürte nicht we­nig Lust, der Figur da vorne meine Kaffeetasse an den Kopf zu werfen, damit sie endlich die Klappe hielte. Am dritten Morgen saß ich nach dem Wecken wei­nend im Bett. „Ralf ich kann nicht mehr. Das ist zu viel. Ich bin einfach tot. Ich komme nicht mit. Sag' ich sei krank.“ er kam zu mir, ich zog ihn runter und sagte bevor wir uns küssten: „Bin ich ja auch. Ich bin liebeskrank.“ „Ralf, wenn du gern möchtest, dass wir zu­sammen frühstücken, steh ich auf, aber ich würde auch gern direkt weiter­schlafen. Als am Freitagvormittag das Seminar beendet wurde, sind wir ins Ho­tel gegangen, um ein paar Stunden zu schlafen. Beim Wachwerden sinnierten wir darüber, was sich in dieser Woche eigentlich für uns abgespielt hatte. Wir hatten nur gern mal in Ruhe miteinander ins Bett gewollt. Einmal sich gegen­seitig erleben, die Haut den Körper des anderen erfahren. Die gierig orgiasti­schen Nächte, die wir uns fast zwanghaft verschaften, waren nicht vorherseh­bar. Sie waren ein Rausch, in den wir geraten waren, und den wir zum Ab­schied noch einmal bekräftigen mussten. Am frühen Abend waren wir zu Hau­se. Für mich stand eindeutig fest, dass dies die anstrengendste und gleichzeitig wundervollste Woche in meinem gesamten Leben war.


Wieder daheim


Am Wochenende ging ich immer schon mit Alyssia ins Bett. Ich hätte eine gan­ze Woche Erholung gebrauchen können. Das wäre eine Vorstellung: Eine Wo­che wildes Leben, eine Woche Erholung, immer abwechselnd. Aber es könnte mich schon freuen, allein mit Ralf in Urlaub zu fahren, gemeinsam etwas unter­nehmen, etwas erkunden. Vierzehn Tage, das wäre für Alyssia und für mich das Limit.

Am Montag in der Schule meinte ich: „Herr Lahrmann, ich muss mir das mit ih­nen noch mal sehr genau überlegen, wenn sie das demnächst mit mir auch so machen, können sie mich spätesten nach ¾ Jahren zum Friedhof bringen.“ „Ja Frau Stein, ich wollte sie auch schon fragen, ob sich diese unersättliche Maßlo­sigkeit, diese nicht enden wollende Gier bei ihnen auch in anderen Lebensbe­reichen zeigt,“ reagierte Ralf „ich habe das ganze Wochenende nur geschlafen. Britta war ganz erstaunt.“ Wir verabschiedeten uns mit einem tief verständi­genden Blick von verbündeten Geheimnisträgern, dem vertrauten Kuss eines alten Ehepaares, und strichen uns gegenseitig mit der Hand über die Wangen. „Mami, warum hast du Herrn Lahrmann geküsst?“ wollte Alys im Auto wissen. „Na ja, er ist ein netter Mensch, und wenn man sich schon so lange kennt wie wir, da kann man ja schon mal jemandem einen Kuss geben?“


Ruth will klare Verhältnisse


Mir ging das verrückte Bild von eben durch den Kopf. Da hatten wir eine ganze Woche lang gemeinsam jede Nacht bis zur totalen Erschöpfung das Bett durch­wühlt und gefickt, und plötzlich war er wieder der Lehrer, bei dem die Mutter ihr Kind abholt. Ich wollte diese albernen Szenerien nicht mehr. Ich wollte den Mann, der Schauspieler, gefiel mir nicht mehr. Und ich wollte auch diese Rolle nicht mehr. Ich wollte nicht mehr spielen. Wir brauchten einen Termin, und das möglichst bald. Wir wollten es ja beide gleichzeitig den Partnern sagen. Für mich stand alles fest. Es gab kein Zurück. Mich konnte nichts halten.

Am nächsten Tag in der Schule erklärte ich Ralf: „Ich will das nicht mehr wei­ter so. Ich kann das nicht mehr. Auch wenn wir immer weiter warten, ein Termin wird sich uns nicht aufdrängen. Lass uns lieber bald einen suchen.“ „Ruth ich weiß, was es für dich bedeutet, und was du opferst, und einfach für uns weg­wirfst, aber du sagst es einem Mann, von dem du im Voraus weißt, dass der schon irgendwie damit klarkommen wird. Ruth ich habe Angst, ich muss eine liebe, nette, völlig unbeteiligte Frau ins Unglück stürzen, es bricht mir das Herz. Ich weiß nicht, wie ich das durchstehen soll, wie ich es aushalten soll, Britta unsere Absicht mittzuteilen.“ entgegnete Ralf. Ich ver­mittelte ihm, dass wir das eigentlich längst geklärt hätten, dass beides neben­einander nicht exis­tieren könne. Sich von Britta nicht trennen bedeute, es gibt keine Ruth für ihn, und er habe sich mehr als eindeutig für Ruth entschieden. Wenn's darum gin­ge, wie er ihr das am schonensten vermitteln könne, und was er tun könne, dass er es durchstehe, könnten wir uns ja nochmal im Café bespre­chen. Aber immer von einem Tag zum nächsten warten, und schauen, ob sich vielleicht mal irgend etwas entwickelt, das mache ich nicht mehr mit. Ich habe ihn schon vor mehr als einem Jahr verschlingen können, ich habe lange genug gewartet, ich habe vieles getan, und sei bereit auf vieles zu verzichten. Wenn er nicht se­hen wolle, dass für ihn jetzt Handlungsbedarf bestehe, könne er mir ge­stohlen bleiben. „Ruth, bitte, Ruth“ reagierte Ralf mit ängstlichen Augen, und wir be­schlossen noch einen Café-Termin. Wir sprachen für Ralf noch mal alles durch, und legten einen Termin fest, von dem ich sicher wusste, dass Torsten früh zu Hause sein würde, und Britta war sowieso daheim.


Trennung von Torsten


Ich hatte Torsten vorher noch informiert, dass wir etwas zu besprechen hätten, und er sich nicht kurzfristig für diesen Abend etwas annehmen dürfe.

Als Alyssia im Bett war setzten wir uns in die Couch und ich sprach ihn an:

„Torsten, ich muss dir etwas sagen, was dich sehr treffen wird, es wird dir weh tun. Aber es geht nicht anders, einen Ausweg gibt es nicht. Ich werde mich von dir trennen. Unsere gemeinsame Zeit ist vorbei.“ erklärte ich ihm.

Torsten reagierte entsetzt: „Wieso? Warum? War denn was nicht in Ordnung?

Hat etwas gefehlt? Du hast nie was gesagt.“

Ich wollte es erklären:“ Torsten, Nichts hat gefehlt. Alles war richtig. Unsere Liebe war leer, und das weiß ich erst jetzt. Wo war dein Herz in der Zeit unse­rer Liebe? Bei mir war es nicht. Es gehörte den Häusern, der Firma. Da ist es immer geblieben. Bei mir war es nie, nicht wenn wir uns küssten, nicht wenn wir uns liebten. Teil deines Lebens war ich. Niemals das Zentrum. Deine Autos, deine Frau, das Ficken, alles korrekt erledigt. Niemand kann sich beschweren. Ich hab es auch nicht getan, weil ich's gar nicht bemerkte. Mir ging es ja gut, was sollt' ich beklagen? Mir fehlte ja nichts. Bis ich merkte, es gibt noch was anderes. Das Freude ausstrahlt, was dich erfasst. Was dich nicht loslässt, am Tag und in Träumen, das du nicht kanntest, das anfängt zu brennen. Du kannst es nicht löschen, auch wenn's dich verzehrt. Ohne Bedeutung sind die Dinge des Tages, ohne Wert aller Luxus, der dich umgibt. Du willst es behal­ten, es soll dir gehören. Dein Herz ist erfasst, lösen kannst du dich nicht. Es gibt kein Zurück, selbst wenn du es wolltest. So ist das für mich. Ich liebe einen Mann, mit dem will ich leben. Ich will nur noch Ralf, den Lehrer von Alys.

Was zwischen uns war, Torsten, es ist vorbei. Es ist mir zu wenig, es kann nicht mehr werden. Ich brauch' es nicht mehr. Auch wenn es dich schmerzt.“


Nachdenklich schien es Torsten schon zu stimmen, aber es schien ihn auch cool zu lassen. „Was hat dieser Grundschullehrer denn, was ich nicht habe?“ wollte er wissen. „Er hat größer Ohren und kann schneller laufen als du.“ rea­gierte ich gereizt, „du hast nichts, aber auch gar nichts verstanden. Im Übrigen sprich nicht immer so despektierlich von 'diesem Grundschullehrer', wir lieben uns, falls ich's dir noch mal ausdrücklich sagen muss.“ „Entschuldige mal, da spannt mir einer die Frau aus, und ich soll ihn möglicherweise noch mit zärtli­chen Kosenamen bedenken, ja, erwartest du das etwa von mir?“


So sah er das, jemand hatte ihm seine Frau ausgespannt, trotz allem was ich ihm zu erklären versucht hatte, das war typisch mein Torsten. Das konnte ich, wenn es auch wahrscheinlich vergeblich war, nicht stehen lassen. „Ich muss dir das noch einmal deutlich sagen, niemand hat dir deine Frau ausgespannt. Dei­ne Frau hat höchstpersönlich selber gemerkt, dass es trotz heiler Welt und Lu­xus etwas gibt, das du ihr nicht bietest, und was du vielleicht niemals ver­stehst. Ich hab es gefunden, und ich will es. Es gibt keinen Rivalen, der sich aus dei­nem Eigentum bedienen will.“


„Für mich hört sich das an wie ein schaurig schönes Liebesmelodram. Hast du denn mal daran gedacht, was das in Zukunft für dich bedeutet, wenn du dir nicht mehr ein Collier aussuchen kannst, weil es dir besser gefällt, ohne vorher nach dem Preis zu fragen, sondern als halbe Regierungsrätin plus Grundschul­lehrer nach Sonderangeboten für Lebensmittel Ausschau halten musst. Wie lange es dauern wird, bis dich so etwas anfängt zu nerven, und sich die Sehn­sucht nach deinem früheren sorglosen Leben langsam anfängt, vor das Bedürf­nis nach dem mittlerweile alltäglich gewordenen Grundschullehrer zu schieben? Ob dann nicht Vorwürfe auftauchen könnten, vieles zu leichtfertig aufgegeben zu haben. Ob du dich nicht zurücksehnen wirst, wenn der realistische Alltag dominiert, und der alles ausblendende Liebesrausch sich gelegt hat?“


Ich hatte mich ja selbst oft grübelnd damit gequält. Es war ja nicht unmöglich, dass meine Sucht, meine Gier nachlassen würden, dass es für mich alltäglich würde. Ich hielt es für sehr unwahrscheinlich. Ralf hatte für mich eine neu Di­mension in meinem Leben erschlossen. Er hatte mich erkennen lassen, was es ist, was eine Frau von einem Mann will. Vielleicht wollen andere Frauen ja et­was anderes, aber für mich war es so. Ich wollte nicht nur befriedigt werden, ich brauchte sein Bedürfnis, seine Lust, sein Begehren nach mir, nach meiner Person. Ich brauchte es, dass er sich auf und über mich freute, und Lust emp­fand mich glücklich zu machen. Seit ihm habe ich erst erfahren, dass Liebe, Lust und eroti­sches Bedürfnis wesentlich mehr sein kann, als die Lust mit ei­nem netten Mann zu ficken. Ich empfand mich eingebunden im warmen ver­trauensvollen Nest unserer Ge­meinsamkeit. Und solange wir nicht verhungern müssten, gabt es für mich nichts, was darüber stand.


„Torsten du redest mit mir, als wenn du Alys eine Schaudergeschichte erzählen wolltest. Selbst wenn Ralf mich einmal verlassen sollte, ein Zurück zu dir wird es nie geben, ich kann mir das gar nicht mehr wünschen. Du sprichst mit ei­nem anderen Menschen. Die Ruth, die du kennengelernt und geheiratet hast, die bin ich nicht mehr. Ich mache dir gar keine Vorwürfe. Ich denke, du konn­test vieles nicht erkennen, wie ich selber es ja auch nicht gesehen habe. Du warst immer korrekt, und ich dachte ja auch, dass ich glücklich sein müsste. Ich habe jetzt nur erkannt, wie wichtig etwas Anderes, ganz Emotionales für mein Leben ist, und wie falsch ich mei­ne Gefühle bisher verstanden und fehl interpretiert habe. Ich glaube, das gilt für sehr viele Menschen. Für dich wäre das si­cher auch nicht schlecht, mal zu überlegen, was das wohl für ein Torsten ist, der so begeistert von seinen tollen Projekten und großen Erfolgen erzählt, und der gar nicht merkt, dass seine Frau, die ihn ja sowieso bewundert, und ihn immer freundlich bestätigt, eigentlich viel lieber etwas ganz anders von ihm hören möchte.“


Torsten war immer ganz ruhig geblieben, als wenn es ihn emotional kaum be­rühre. Vielleicht bedeutete es für ihn ja auch tatsächlich nicht mehr als eine lästiges Umorganisieren seines Privatbereichs. „Überlegen willst du dir das nicht nochmal?“ schaute er mich fragend an. „Ich habe es mir ganz oft und ganz lange überlegt, weil ich mir absolut sicher sein wollte, das Richtige zu tun. Es gibt kein Zurück, Torsten. Ich brauche es mir nicht noch einmal zu überlegen. Ich kenne das Ergebnis.“ machte ich deutlich.


„Wo wollt ihr denn wohnen?“ fragte Torsten. „Lass uns so etwas bitte morgen klären,“ bat ich „dann können wir sicherlich nüchterner über Organisatorisches reden, und zu sinnvolleren Lösungen kommen als jetzt.“ Wahrscheinlich hätte er am liebsten sofort schon Verträge aufgesetzt und unterschrieben, damit er nach erfolgreicher Lösung der Probleme zufrieden schlafen konnte. So stellte ich ihn mir vor. Dieses Bild hatte sich immer schlimmer werdend in mir entwi­ckelt, und meine Antipathien gegenüber Torstens Verhalten ständig zunehmen lassen. Die Dissonanzen zwischen uns wurden für mich immer eklatanter, wäh­rend Torsten nichts davon zu bemerken schien.

Heute Nacht konnte ich nicht mehr neben ihm im Bett liegen. Ich hätte es nicht ertragen, neben jemandem im Bett zu liegen, der nach all dem, was ich ihm erklärt hatte, zufrieden schlummernd seinen Schlaf genoss. Ich erklärte Tors­ten, dass ich heute Nacht allein schlafen müsse, und so blieb es auch fortan immer.


The Day After


Am nächsten Morgen klingelte das Telefon. Sylvia, Torstens Mutter rief mich im Büro an. Wir verstanden uns beide prächtig, und mochten uns gern. Ich freute mich immer sehr, wenn sie zu uns kam. Leider konnte sie meist nicht lange bleiben, da ihr Mann zu schusselig war, um alleine klar zu kommen. Ich sei die einzige Frau aus ihrem Bekanntenkreis, mit der man vernünftig reden könne, und zu dem mache es noch Spaß, hatte sie mir mal gesagt. Zwischen uns bei­den wurde es tatsächlich auch oft recht vertraulich und lustig, und wir hatten immer vieles, worüber wir gemeinsam lachen konnten. Durch unsere Gesprä­che hatten wir sehr viel übereinander erfahren, sie kannte mich sicher viel bes­ser als Torsten. Sylvia stritt es zwar ab, dass sie lieber eine Tochter als einen Sohn gehabt hät­te, als ich sie mal konkret danach fragte, aber ich glaube von meiner Mutter zu wissen, dass es für eine Frau ein sehr erfüllendes Empfinden sein kann, eine erwachsene Tochter zu haben, zu der sie ein tiefes vertrauens­volles Verhältnis hat. So behandelte mich Sylvia auch, als ob es zwischen uns keine irgendwie gearteten Distanzen mehr gebe.

„Liebes, was ist passiert? Torsten hat mich vorhin angerufen, du willst dich von ihm trennen.“ vernahm ich ihre weinerlich klingende Stimme. „Keine Angst, ich werde dich nicht in deiner Entscheidung beeinflussen, ich möchte nur gern mit dir darüber sprechen. Warum hast du denn nicht schon früher mal etwas ge­sagt. Dieser dämliche Stiesel (damit meinte sie ihren Sohn). Ich wollte nicht am Telefon darüber sprechen, wann darf ich mal vorbei kommen.“ Sylvia schluckte immer zwischen den Sätzen, als wenn sie weinte, oder das Weinen zu unterdrücken versuchte. Ich bat sie, doch gleich heute Mittag zu kommen. Ich wolle zwar mit Torsten noch das Organisatorische klären, aber das ließe sich um einen Tag verschoben, sicher noch nüchterner regeln.

Ihren Sohn hatte sie mir gegenüber immer trotz all seines großen beruflichen Erfolgs als ein wenig stieselig bezeichnet, das habe er von seinem Vater ge­erbt. Aber vielleicht sei das ja bei allen Männern so, sie sei der Ansicht, dass Frauen in der Regel sowieso eine umfänglichere Gesamtübersicht und einen besseren Blick für's Wesentliche hätten. Dass er mich geheiratet hätte, sei das Beste gewesen, was er bislang in seinem Leben getan hätte. Wir hatten ge­meinsam darüber gelacht, und für mich war es auch wieder eine Bestätigung, wie sehr sie sich eigentlich eine liebevolle Tochter wünschte.


Omi Sylvia regelt alles


Als ich mit Alyssia nach Hause kam, war Sylvia schon da. Sie umarmte mich, drückte mich lange an sich, und fing dabei an zu weinen. „Ruth, meine Liebste, was hat er dir angetan?“ fragte sie. „Gar nichts, es ist meine Schuld. Na viel­leicht nicht nur, wenn es überhaupt so etwas wie Schuld gibt.“ fing ich an zu erklären. Alys standen auch schon die Tränen in den Augen. „Warum weinst du Omi, hat dir jemand etwas getan?“ erkundigte sie sich besorgt. „Nein, nein meine Süße, es ist alles in Ordnung. Mir fällt nur im Moment nicht ein, wie ich dir das erklären sollte. Später wirst du das sicher erfahren. Es geht auch schon wieder vorbei, my Darling.“ Alyssia und Sylvia waren ein unzertrennliches Ge­spann. Sie überboten sich gegenseitig an Liebe und Zuneigung. Alys war für Sylvia die Sonne ihrer älteren Tage, und Sylvia für Alys die Göttin aller Wohlta­ten und Freundlichkeiten, die der Himmel zu bieten hatte. Mir fiel auf, dass ich mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, wann ich Alyssia infor­mieren wollte, zu lange sollte ich nicht mehr warten, damit sie es nicht sonst wie verletzend erfuhr.


Nachdem ich einen Tee zubereitet hatte, bat ich Alys, mich und Omi allein et­was besprechen zu lassen. Später habe Omi sicher noch Zeit für sie.

Dann erklärte ich Sylvia genau, wie sich alles entwickelt hatte, bis zu dem fes­ten Entschluss, mit Ralf leben zu wollen, und mich von Torsten zu trennen. Sie hatte mich nur die ganze Zeit aufmerksam angeschaut, und kein Wort gesagt. „Ja und gestern Abend habe ich versucht, es Torsten zu erklären, aber ich glaube, verstanden hat er mich nicht.“ schloss ich meine Darstellung. Sylvia stand auf, drückte meinen Kopf an ihren Bauch und wiederholte mehrfach: „Ich versteh dich gut, Liebes, sehr gut kann ich dich verstehen.“ Ich stand auf, und wollte sie auch umarmen. Sylvia weinte. „So etwas Schönes ist mir im Le­ben leider nie begegnet. Und ich weiß auch noch nicht mal, ob ich dumme Kuh es überhaupt bemerkt hätte.“ sie hatte richtig angefangen zu schluchzen. Nach­dem sie sich wieder beruhigt hatte, fragte sie, ob er denn gar nicht ver­sucht habe, um mich zu kämpfen. „Ich weiß nicht, ob er eingesehen hat, dass es so­wieso erfolglos wäre, er hat mir nur die materiellen Konsequenzen für mich aufgezeigt und gefragt, ob ich mir das nicht doch noch mal überlegen wollte.“ Überall, bei allen Lebewesen könne man es erkennen, nur die meisten Männer seien zu schusselig, zu erkennen, was das für eine Frau bedeute, wenn ein Mann um sie kämpfe, erklärte Sylvia. Sie werde dafür sorgen, dass Torsten mich ordentlich behandle. Sie entwickelte richtigen Kampfgeist. Solange wir keine Gütertrennung hätten, gehöre seit unserer Heirat von Allem die Hälfte mir, vom Haus zum Beispiel. Die Sonderangebote von Aldi könne er sich erst mal von der Backe putzen. Sie wolle ihrem Sohn nichts Schlechtes, aber er müsse doch wohl einsehen, dass es zum großen Teil auch seiner Stieseligkeit zu verdanken wäre, dass es sich so entwickelt habe. Wenn man meine, man brauche sich mit nichts anderem als freundlich korrektem Verhalten und Geld auf seine Frau einzulassen, müsse man sich nicht wundern, wenn sie eines Ta­ges so nicht mehr zufrieden mit ihm sei.


Tatsächlich hat sie ihm sofort abends noch ins Gewissen geredet. Sie habe es für die beste Entscheidung in seinem Leben gehalten, mich zu heiraten, sie habe ihn dafür bewundert, aber der größte Fehler seines Lebens sei, wie er da­mit umgegangen sei. Sie könne mich sehr gut verstehen.

Mir wurde es peinlich, ich habe mich dann zurückgezogen. Vor seiner Mutter wurde der große Architektur Impresario immer ganz klein, und ließ sich artig zusammenfalten. Sylvia wurde gegenüber ihrem Sohn zu einer völlig anderen Frau. Möglicherweise war sie es seit Torstens Kindheit gewohnt, sich so ihm ge­genüber durchzusetzen. Wie eine gestrenge Gouvernante herrschte sie ihn an: „So geht das nicht! So kannst du das nicht machen!“ und Torsten wagte nicht zu widersprechen.

Nach Stunden holte Sylvia mich rein. Ich war schon verwundert über die lange Dauer ihrer Unterhaltung. „Wir haben uns mal überlegt, wie es vielleicht funk­tionieren könnte, und dann stellten sie mir einen Plan vor, bei dem ich mich fast schämte, ihn zu akzeptieren. Das Haus bekam ich, alles Vermögen wurde geteilt, bis auf Anteile am Architekturbüro, um der Firma keinen Schaden zuzu­fügen, und weil es schwierig war die Wertsteigerung seit unserer Heirat zu be­ziffern, dafür sollte ich offiziell für Alyssia jeden Monat 5.000,-€ erhalten, und wenn es an etwas mangele, sollte auch weitere Unterstützung möglich sein. Ungläubig erstaunt schaute ich einen nach dem andern an. Ich hauchte nur ein „Danke“. Dann fiel ich Sylvia um den Hals: „Danke, danke, danke,“ flüsterte ich ihr zu, als mir einfiel, dass ich mich ja eigentlich bei Torsten für seine Groß­zügigkeit bedanken musste, was ich auch sofort tat.


Ruths Mutter


Meiner Mutter hatte ich es schon viel früher erzählt. „Mutti ich glaube, ich habe mich verliebt,“ begann ich damals, als ich sie besuchte, und ich fing an zu er­zählen, wie es sich entwickelt hatte, und wie viel es mir bedeute, Ralf zu sehen und ein paar Worte mit ihm zu wechseln. „Ich kann das verstehen. Ich wün­sche mir nur, dass es dich auch wirklich glücklich macht, und dir nicht das Herz zerreißt. Du wirst sehr viel Kraft, ich meine psychische, gebrauchen, wenn du das durchstehen willst. Du wirst sehr stark sein müssen, meine Liebe. Meine Unterstützung hast du, auf meine Hilfe kannst du rechnen, wenn du sie irgend­wie gebrauchen kannst. Nur sag bitte Papi keinen Ton davon, der wird sich blos tierisch darüber aufregen, was für einen Unfug du machst.“ unterstützte sie mich. Ihre Unterstützung habe ich mir später noch öfter versichern lassen, wenn mich Zweifel befielen, besonders wenn die Skrupel, zwei Familien durch unser Liebesbedürfnis zu zerstören, bei mir mal wieder die Oberhand gewon­nen hatten.


Ralf und Ruth sind frei


Jetzt bekam Ralf nicht nur eine Frau, die er liebte, sondern gleichzeitig auch noch eine ziemlich betuchte, die neben dem Geld noch über eine Villa mit Park verfügte, und ein zusätzliches Monatsgehalt, das weit über seinem eigenen lag, erhielt. Vorher hatten wir ganz naiv überlegt, wie wir mit seinem und meinem halben Gehalt wohl leben würden. Was für eine Wohnung wir uns würden leis­ten können. Ich hatte dabei keine Verlust- und Mangelempfindungen, eher freute ich mich auf die zu erwartende kuschelige und viel heimeligere Perspek­tive. Ob ich Ralf die Entwicklung heute einfach so nach der Schule mitteilen sollte? Nein, die freudige Nachricht brauchte ein angemesseneres Ambiente, ich würde ihn zum Abendessen einladen, vielleicht in ein exklusives Restau­rant.

Wir hatten ausgemacht, unsere Partner am gleichen Abend zu informieren. Britta hatte trotz Ralfs Erklärungsversuchen, die sicher sehr sanft und einfühl­sam waren, fast die ganze Nacht geweint, und immer wieder gefragt, was sie denn falsch gemacht habe, sie sei doch bereit, alles zu ändern, und ob sie es nicht nochmal versuchen könnten. Sie wolle nicht ohne ihn, und nicht mit ei­nem anderen Mann leben. Sie habe ihm immer wieder versichert, wie sehr sie ihn liebe, und dass sie ihn brauche. Ralf war am Mittag danach noch ziemlich zerknirscht, und erklärte, dass er sich sehr mies dabei gefühlt habe, es sei für ihn die unangenehmst Situation in seinem ganzen bisherigen Leben überhaupt gewesen. Nie wieder könne er so etwas durchstehen. Nur die schreckliche Vor­stellung, dass dann zwischen uns beiden ein für alle mal alles vorbei gewesen sei, habe ihn die Zähne zusammenbeißen, und konsequent bleiben lassen. Für ihn sei es ein Kampf mit sich selbst gewesen. Britta habe sich im Atelier krank gemeldet, und sei mit Elias erst einmal zu ihren Eltern gefahren.

Heute ging es ihm schon besser. Britta hatte angerufen und einen sehr aufge­räumten Eindruck gemacht. Es täte ihr zwar schrecklich weh, aber mit so et­was müsse man in der Liebe anscheinend wohl rechnen. Sie habe sich ja schließlich auch seinetwegen von ihrem Freund getrennt, und der sei auch völ­lig schockiert und enttäuscht gewesen. Sie möchte nur, dass dies und jenes so und so geregelt würde. Ralf habe alles nochmals vielfach entschuldigt, und ihr versichert, dass er sie immer noch liebe, und nichts Geringschätziges über sie denke. Alle ihre Wünsche würden selbstverständlich erfüllt, bis auf die unerfüll­baren. Sie hätten sogar noch miteinander gescherzt, und sich wie sehr gute Freunde verabschie­det.


Gemeinsame Feier


„Dann haben wir's ja jetzt beide geschafft, da müssten wir doch eigentlich ein wenig feiern, oder?“ teste ich seine Stimmung „Was hältst du davon, wenn ich dich mal chic zum Essen einladen würde?“ erwartete ich seine Zustimmung. „Willst du nicht lieber zu mir kommen? Ich bin doch ganz allein. Wäre das nicht gemütlicher zum Feiern?“ wandte Ralf ein. „Ralf dann landen wir hinterher mit Sicherheit im Bett. Wäre ja auch sehr schön, aber auf dem Platz, der noch fast warm von Britta ist, könnte ich mich nicht wohlfühlen. Ralf, das will ich nicht.“ erklärte ich ihm meine eindeutige Ablehnung. „Also Restaurant“ gab er seine Zustimmung. „Ich hol dich ab. Aber zieh dich ganz fein an. So mit weißem Hemd, Krawatte und schickem Anzug, sonst nehme ich dich nicht mit. Mit dei­nen Schulklamotten lassen die dich da nicht rein.“ klärte ich ihn noch auf. Ich habe Stunden am Telefon verbracht, um so kurzfristig noch alles wunschge­mäß geregelt zu bekommen. Schließlich ließ sich im Fairmont dann doch noch alles meinen Vorstellungen entsprechend organisieren.

Abends stand ich vor seiner Haustür und klingelte. Ralf hatte mich noch nie im Abendkleid gesehen. Er wollte gar nicht wieder aufhören mich zu drücken und zu küssen. „Ralf du verschmierst alles. Lass uns das nach dem Essen machen.“ versuchte ich ihn zu stoppen. Er schaute mich an und staunte: „Mein Gott, was bist du schön. Ich habe dich ja schon immer für eine sehr schöne Frau gehal­ten, aber so kommt das noch viel mehr zum Ausdruck.“ Ich bedankte mich für sein Kompliment, und meinte, dass das hoffentlich nicht der Grund sei, wes­halb er mich liebe. Ralf war immer nur aufs Neue erstaunt. Er war noch nie in diesem Hotel-Restaurant gewesen. Als ich ihm sagte, dass ich für ihn eigentlich eine Karte ohne Preise hätte haben wollen, und er solle sich einfach aussuchen worauf er Lust habe, wollte er wissen, ob wir heute gemeinsam meinen Ab­schied vom Luxus feierten. „Es kommt noch viel schlimmer Ralf,“ setzte ich an „wir feiern auch, weil wir eine neue Wohnung haben. Ich meine du, ich nicht, für mich ist sie nicht neu. Ich bekomme die Villa, Ralf, du kannst morgens im Park joggen.“

Ralf starrte mich mit großen Augen an, sein Mund stand leicht offen. „Sag et­was, Ralf!“ forderte ich ihn auf. „Ich kann nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Muss ich dann immer alles putzen?“ bemerkte er noch schelmisch, kam zu mir, und fragte mich küssend: „Schöne Ruth von Moabit, wie hast du das denn wieder hingekriegt?“ „Frauen kriegen immer alles hin, wenn sie's wollen. Quatsch! Ich gar nicht.“ erklärte ich ihm, „ich hab nichts dafür getan, hat alles meine Schwiegermutter gemacht, sie mag mich sehr gern. Ich sie übrigens auch. Du wirst sie ja kennenlernen, Alyssia und Omi Sylvia sind nämlich die dicksten Freunde unter der Sonne, und ohne gegenseitige Besuche halten sie es nie lange aus. Und weißt du wofür sie noch gesorgt hat? Wir bekommen je­den Monat das Gehalt eines Ministerialrats, 5.000,-- € überwiesen für Alyssia. Und das ist noch längst nicht alles. Ich bekomme von der ganzen Knete die Hälfte, ich weiß noch gar nicht, wie viel das genau ist, aber dass es weit, weit mehr als eine Mille sein wird, das weiß ich sicher. Na mein kleiner Krösus, jetzt fällt dir überhaupt nichts mehr ein.“ Ralf starrte mich nur an, wiegte den Kopf hin und her und brachte nur ein „Nein wirklich nicht,“ hervor. „Und deswegen, mein Liebling, feiern wir heute Abend auch nicht den Abschied vom Luxus, son­dern den Beginn, und das geht nur mit exquisitem Schampus.“ Ralf staunte immer nur. Er habe sich so auf unser gemeinsames Leben gefreut, und sei da­für bereit gewesen, alles in Kauf zu nehmen, und jetzt werde er zusätzlich noch mit solchen materiellen Wonnen überschüttet. Alyssias Großmutter müsse wirklich eine fantastische Frau sein, er wisse jetzt schon, dass er sie bis an sein Lebensende verehren werde. Wir sprachen noch über unsere Eltern und Schwiegereltern und kamen übereinstimmend zu dem Schluss, dass Frauen sensibler für so etwas, wie zwischen uns beiden seien, und es besser verstehen und nachvollziehen könnten. Dass ich für heute Nacht für uns beide eine Suite gebucht hatte, habe ich Ralf natürlich noch nicht verraten. Dass ich immer flei­ßig Champagner trank, obwohl wir ja mit dem Auto gekommen waren, schien ihn überhaupt nicht zu irritieren. Wir hatten noch einen Espresso getrunken, die Rechnung bezahlt, und wollten gehen.


Hochzeitsnacht


„Hicks, ich glaube ich kann gar nicht mehr fahren,“ bemerkte ich leicht ange­säuselt. „Natürlich nicht. Ich lasse ein Taxi rufen.“ bemerkte Ralf, und wollte schon losrennen. „Das ist doch viel zu umständlich,“ hielt ich ihn zurück „wie gut dass ich für solche Fälle etwas reserviert habe. Lass uns rauf gehen.“ Ralf starrte mich entgeistert an. „Du wolltest doch heute Abend gern mit mir ins Bett, oder habe ich dich da etwa falsch verstanden?“ Ralf lächelte und stand immer noch starr vor mir. „Jetzt muss der Herr mir meinen Mantel holen, und dann darf er die Dame küssen.“ versuchte ich seine Entgeisterung zu lösen. „Du bist wahnsinnig! Du bist wahnsinnig!“ tanzte Ralf durch die Räume, als wir in der Suite angekommen waren. Er warf mich auf's Bett und wäre am liebsten gleich über mich hergefallen. Ich bremste ihn „So geht das nicht Ralf. Kennst du das denn nicht aus Filmen? Da kommt doch gleich erst noch jemand.“ Er schaute mich wieder lächelnd staunend an. Ihm fiel nichts dazu ein. Ich hatte, obwohl ich den Champagner vom Essen schon gut spüren konnte, beim Schlüsselabholen an der Rezeption noch schnell eine Flasche für's Zimmer be­stellt. „Wenn dir nichts einfällt, musst du eben warten.“ beschied ich ihn strikt. Wir sind hier bei Maria Callas zu Gast, und wenn die hier war, bekam sie vorm zu Bett gehen auch immer noch etwas gebracht. Als Ralf noch rätselte, kam der Champagner. „Oh nein!“ seufzte er auf „was kommt denn jetzt als Nächs­tes.“ Die ganzen Überraschungen heute Abend schienen langsam die Grenze seines Fassungsvermögens zu erreichen. „Mein Schatz, das ist unsere Hoch­zeitsnacht, wir sind jetzt beide frei, und dazu braucht man doch wenigstens ein Gläschen Schampus, oder siehst du das anders?“ Ralf schüttelte nur heftig den Kopf, seine Augen wurden feucht, und weinend umarmte und küsste er mich. „Ich kann es gar nicht fassen, das ist zu viel für mich. Warum hast du denn heute Mittag keinen Ton davon verlauten lassen, du coole Madame?“ wollte er von mir wissen. „So etwas kann man sich doch nicht einfach am Pult in einer Schulklasse zuraunen, das braucht doch einen passenden Rahmen und so ist's doch ganz nett, oder möchtest du das nicht so, mein Prinzchen?“ frag­te ich, und fügte hinzu „keine Angst, wir werden das jetzt nicht jeden Abend so ma­chen, aber für heute muss es doch so sein. Und jetzt komm, deine Braut war­tet auf dich.“ wollte ich diese Diskussion beenden, und begann Ralf die Krawat­te aufzuziehen. Wir waren sonst meistens hektisch übereinander hergefal­len, als wenn es auf jede Sekunde ankäme, und wir keine Zeit verstreichen las­sen dürften. Jetzt zogen wir uns küssend langsam gegenseitig aus, und legten uns ku­schelnd nebeneinander ins Bett, als ob uns nichts mehr zu stören vermöch­te, keine hektische Gier mehr treiben könne. Wir fühlten uns schon vorher si­cher und glücklich. Trotzdem haben wir in der Nacht fast gar nicht geschlafen, wir konnten nicht genug bekommen, von dem Empfinden, frei ohne Anspan­nung zusammen sein zu können, das wir ab heute immer, jeden Tag haben würden.

Als wir geweckt wurden, fühlte ich mich nicht lebensfähig. Ich hatte ja nicht nur kaum geschlafen, sondern auch fast die ganze Nacht gear­beitet, und eini­ges an Alkohol in meinem Körper umgesetzt. Aber es war ja nicht da­mit getan, dass ich mich in der Behörde krank meldete, ich musste mich ja auch um Alys kümmern, und Ralf wollte auf jeden Fall zur Schule. Also, hurry up, Madame. Das wunderschöne Bad konnte leider gar nicht ausgiebig genutzt werden.


Mamis Liebster


Es wurde knapp, als ich zu Hause rein kam, musste ich gleich Alys wecken. Als sie mich im Abendleid sah, fragte sie mich erstaunt, „Wo willst du hin, Mami, wo warst du?“ „Ich war aus, mein Schatz.“ erklärte ich ihr kurz. „Mit Herrn Lahrmann?“ wollte sie wissen. Ich hatte ihr am Nachmittag alles lange erklärt, und ihr auch klar gemacht, dass Torsten immer ihr Vater bleiben werde, nur die Vorstellung, dass ihr - zwar hoch geschätzter - Lehrer jetzt immer bei uns sein werde, und mit mir schmusen, und zusammen ins Bett gehen würde, kam ihr doch befremdlich vor. „Ja natürlich,“ antwortete ich ihr. „Habt ihr euch auch geküsst.“ wollte Alys es noch genauer wissen. „Selbstverständlich mein Schatz, ich hab's dir ja erklärt, Ralf Lahrmann ist doch mein Liebster, wieso sollten wir uns nicht küssen?“ erwiderte ich. „Habt ihr denn auch gefickt?“ fragte sie ganz selbstverständlich unbefangen. „Alys, bitte, so spricht man nicht, und selbst wenn, ist das etwas, was keinen anderen Menschen etwas angeht. Ich möchte nicht, dass du mich oder jemand anders so etwas fragst, o.k.?“ sie verzog ein wenig beleidigt ihre Lippen in die Breite, und die Augenbrauen in die Höhe, schien es aber zu akzeptieren. Ich wies sie noch mal darauf hin, das sie mir versprochen hätte, nicht mit den Mitschülerinnen darüber zu reden. Herr Lahr­mann werde das in den nächsten Tagen selber tun, so lange könne sie doch si­cher ein Geheimnis bewahren. Sie konnte sich aber nicht verkneifen, morgens Ralf zu fragen, ob's denn schön gewesen wäre mit Mami. Er hätte zunächst kurz gestutzt, und ihr dann geantwortet: „Du neugierige Biene, kannst du dir denn vorstellen, dass es nicht schön sein könnte mit deiner Mami? Du kennst sie doch schon viel länger als ich.“ „Na ja, mit mir kann sie auch schon mal meckern, aber wenn sie ihr Liebster sind, wird sie das bei ihnen sicher nicht tun.“ habe sie altklug hinzugefügt und sei verschmitzt lächelnd in die Pause ge­rannt. Bis Ralf bei uns wohnte, musste sie ihn jeden Tag auf irgendetwas ande­res zu unserem Verhältnis ansprechen. Bei manchen Fragen hatte er sie auch vertröstet auf die Zeit, bis er bei uns wohne, weil man dazu mehr Zeit benöti­ge, als jetzt so kurz in der Pause. Sie hatten sich schon vorher darauf geeinigt, dass Alyssia Ralf in der Schule weiterhin mit Herr Lahrmann anreden würde, sie sich zu Hause aber gegenseitig duzen wollten. Ralf hatte ihr öfter gesagt, wie sehr er sich auf uns freue, und sie gefragt, wie denn dieses oder jenes bei uns geregelt sei.


Ralfs First Visit


Als Ralf dann zum ersten mal zu uns kam, und Alyssia aus der Schule mit nach Hause brachte, war sie sofort Chief-instructor zur Benutzung unseres Hauses. Sie wollte Ralf gar nicht mehr frei geben, bis wir sie überreden konnten, ihm bei Kaffee, Kuchen und Kakao ja auch noch weitere Erklärungen vermitteln zu können. Als Ralf meinte, er müsse wohl noch schrecklich viel lernen, bis er richtig bei uns wohnen könne, tröstete Alys ihn, so schlimm sei das nicht, das würde man ganz schnell kapieren, da brauche er gar keine Angst vor zu haben. Dann schaute sie mich mit großen fragenden Augen leicht errötend an, ob sie Herrn Lahrmann bei uns zu Hause denn auch mal einen Kuss geben dürfe. Ich nickte nur intensiv mit breit gezogenen Lippen, als wenn ich sagen wollte: „Selbstverständlich, das ist völlig o. k..“ Sie sprang auf, schlang ihre Arme um Ralfs Hals und gab ihm einen dicken Kuss auf seine linke Wange. So schnell war die Freundschaft geschlossen. Ihre anfänglichen Bedenken, die ich gut nachempfinden konnte, schienen in kürzester Zeit verflogen. Ich liebte meine Süße, ich möchte ihr viel mehr Beachtung und Aufmerksamkeit schenken. Knallrot hatten sich ihre Bäckchen gefärbt, und ein wenig Stolz leuchtete aus ihren Augen. Ralf zeigte sich von der Freundlichkeit, besonders auch von Alys­sias, mit der er hier empfangen werde, sehr beeindruckt. Er werde immer wie­der aufs Neue positiv überrascht.

Wir baten, ihn doch über Nacht bei uns zu bleiben, und am nächsten Morgen von hier aus zur Schule zu fahren. Ralf wandte ein, er habe nichts dabei, und er müsse sich auch unbedingt noch ein wenig auf den morgigen Unterricht vor­bereiten. „Du kannst doch jetzt eben zu dir fahren, und alles holen, was du brauchst. Vielleicht bekommen wir ja Angst, wenn wir ganz allein sind.“ schlug Alys vor. Ich sah Ralf zweifelnd lächeln, aber ich glaube, er konnte es Alyssia nicht abschlagen. In kapp einer Stunde war er zurück. Natürlich wurde aus der Unterrichtsvorbereitung nicht viel. Alys hatte ihn ständig okkupiert. Ich war zur Randfigur degradiert. Sie wollte alles von Ralf wissen. Ob wir zusammen ins Bett gingen, ob das schön wäre, ob wir ganz nackt dabei wären und so fast un­endlich weiter. Wunderbar, wie Ralf darauf angemessen, für Alyssia verständ­lich und nicht ausweichend reagieren konnte. Warum konnte ich das nicht, warum war ich oft so leicht schockiert, und es fehlten mir die für Alyssia pas­senden Worte, um es ihr verständlich und nüchtern erklären zu können. Viel­leicht hatte er es ja auch gelernt für den Sexualkundeunterricht, aber gab es so etwas denn in der Grundschule überhaupt? Er habe zwar mal eine Fortbil­dung besucht, aber da habe man sich mehr mit Problemen zu Beginn der Pu­bertät beschäftigt, doch im WDR-Kinderfunk gebe es einmal in der Woche eine Szene, die nenne sich Herzfunk, die halte er nicht nur für die Kinder selbst für sehr gelungen, sondern sie demonstriere auch Erwachsenen, wie sie damit um­gehen könnten. Das Schlimmste sei, wenn man mit seinen Reaktionen und Antworten die Kinder langsam zum Schweigen bringe, und die sie bedrängen­den Fragen nicht mehr stellten, weil sie sowieso keine Antworten, sondern eher Zurechtweisungen erwarteten. Genau das hatte ich getan. Ich wollte von Ralf wissen, wie ich denn hätte reagieren können. Ich hätte das im Prinzip ja gar nicht so ganz falsch gemacht. Ich dürfe mich nur nicht davon schockieren las­sen, wenn meine neunjährige Tochter Wörter wie 'Ficken' gebrauche. Das ge­höre heute schon zum Sprachschatz im ersten Schuljahr. Wenn sie vielleicht gefragt hätte, ob wir uns denn auch geliebt, oder ganz lieb gehabt hätten, sei ich wahrscheinlich ganz ruhig und im Tonfall freundlich geblieben, und hätte ihr erklärt, dass das bei Verliebten immer so sei. Dass es aber etwas sehr Privates unter den Verliebten sei, was nur ihnen beiden gehöre, und wenn jemand ein­fach direkt danach frage, die Verliebten wahrscheinlich ärgerlich oder beleidigt würden. Das solle sie besser nie jemanden fragen, selbst ihre Mami nicht. Wahrscheinlich hätte sie mich dann umarmt ,und sich bei mir entschuldigt. Ich beschloss den Vorfall noch mal mit Alys anzusprechen.


Erste Nacht zu Hause


Abends und nachts gehörte Ralf mir, oder ich ihm. Mit den Unterrichtsvorberei­tungen hatte es wieder nicht hingehauen. Auf dem Weg zur Schule hatte Alys­sia ihn gefragt, ob er nicht genug Kaffee getrunken habe, weil er ständig gäh­ne. Ralf habe darauf geantwortet, dass er zu wenig Schlaf bekommen habe, weil wir noch so lange geredet hätten. Alyssia habe ihn verschmitzt lächelnd angeschaut, und mit erhobenem Zeigefinger erklärt: „Na ich weiß nicht, Herr Lahrmann. Lehrer dürfen nicht lügen“.


Ralfs Einzug


Torsten hatte sich sofort ein leerstehendes bezugsfertiges Loft besorgt. Als ich ihm klar machte, dass er ja wohl nicht mit unseren Möbeln umziehen könne, hat er sich sofort von einer bekannten Innenarchitektin alles komplett einrich­ten lassen. Einige Kartons und nicht eingepackte Gegenstände in seinem Ar­beitszimmer sollten noch bis spätestens zum Wochenende abgeholt sein.


Als ich Ralf erklärte, dass er am Wochenende einziehen müsse, meinte er zu­nächst, das sei unmöglich. „Hast du vielleicht schon mal an eine Spedition ge­dacht, mein Schatz?“ merkte ich an. „Das ist zu teuer, das kann ich nicht be­zahlen, und so kurzfristig ist es noch mal doppelt so teuer.“ reagierte Ralf. „Ich will aber nicht mehr länger warten, ich habe lange genug gewartet. Ich will am Sonntag mit dir deinen Einzug feiern. Und übrigens ich will ja, dass du zu mir ziehst, da werde ich mich ja wohl selbstverständlich um das Finanzielle küm­mern.“ Ralf konnte nur noch gehorsam lächeln, und war am Samstagnachmit­tag eingezogen. Zur absolut wichtigsten Person beim Umzug entwickelte sich Alyssia. Sie half Ralf beim Einpacken und Vorbereiten so intensiv, dass sie un­bedingt bei ihm übernachten musste, um am nächsten Morgen wieder rechtzei­tig weiterarbeiten zu können. Sie schikanierte die Männer von der Spedition, wenn sie mal irgendeine Kleinigkeit nicht ganz genau ihren Anweisungen ent­sprechend ausführten. „Sie haben aber 'ne resolute Tochter, Frau Stein.“ be­merkte einer der Transporteure „und dann so 'nen junges Ding. Was macht die erst, wenn die mal erwachsen ist?“ Das würde sich sicher legen, sei ich der fes­ten Ansicht. Wir hätten ja alle unsere kindliche Wildheit eingebüßt. Obwohl ich für mich selbst seit kurzer Zeit dabei war, sie wieder neu zu entdecken, und auskosten zu wollen.


Mit Alyssia überlegte ich, wie wir denn feiern wollten. Nur unter uns, war sofort klar. Wir bestellten bei einem Catering Unternehmen die leckersten Gerichte, dass uns beim Bestellen schon das Wasser im Munde zusammenlief. Alles war so üppig, dass wir mit Sicherheit noch für den Abend, wenn nicht sogar für die ganze Woche genug hatten. Nachmittags wollte Alys gern gemeinsam lustige Spiele machen und zum See raus fahren, sie müsse Ralf unbedingt ihre Höhle zeigen. „Wie bitte, was ist das denn? Da hab ich ja noch nie etwas von gehört.“ erschrak ich. Das sei auch eigentlich ein Geheimnis, aber zu Ralfs Einzug kön­ne man da mal eine Ausnahme machen. Meine Schwiegermutter hatte wahr­scheinlich dafür gesorgt, das es zum Geheimnis erklärt wurde, weil sie zu recht annahm, dass mich das sehr bedenklich stimmen würde. Das wollte ich unbe­dingt sehen. Also am Nachmittag nach dem Essen zuerst zum See, dann Kaffee und Kuchen in der Gartenwirtschaft am See, anschließend nach Hause und ge­meinsame Spiele. Sie fände es auch sehr schön, wenn man sich gegenseitig seine Lieblingsgeschichten oder Gedichte vorlesen würde, meinte Alyssia noch. Ich fand's auch toll. Das könnten wir ja am Abend machen, schlug ich vor. „Ne, nach dem Abendessen geh ich in mein Zimmer. Dann braucht ihr doch Zeit für euch beide. Ralf ist doch nur bei uns, weil ihr beide euch ganz doll lieb habt, und da müsst ihr doch mal für euch alleine sein, oder?“ erklärte Alys selbstsi­cher. Meine Süße, wie liebte ich sie, ich musste sie an mich drücken und meine Augen füllten sich vor Rührung mit Tränen.


Es wurde für uns Drei ein wundervolles Erlebnis. Natürlich lachte die Sonne den ganzen Tag, und die geheime Höhle stellte sich als harmloser Überhang in einer Böschung fern vom Ufer heraus. Bei den Spielen, haben wir uns oft gebo­gen vor Lachen, und das Vorlesen der Lieblingstexte erzeugte eine so vertrauli­che, beinahe andächtige Stimmung, als ob damit Ralfs Einzug der Abendsegen erteilt worden wäre. Wir waren wieder richtig ernst und beschaulich geworden. Beim Abendessen sprachen wir über verschiedene Aspekt unserer neuen Situa­tion, und Ralf meinte zu Alys, der Abschied von ihrem Vater sei ihr doch sicher sehr schwer gefallen. „Ach weißt du, ich hab' ihn ja immer noch, er bleibt ja mein Vater, und jetzt hab' ich noch einen dazu, der sogar meistens zu Hause ist, wenn ich auch da bin. Da werd' ich das schon verkraften, sehr gut sogar, meine ich.“ Ralf schaute mich an und sagte leise „Wundervoll ist deine Tochter, Ruth, ich hab's ja in der Schule schon gemerkt, was für ein tolles Mädchen sie ist, aber jetzt wird es mir immer noch viel klarer.“ Und Ralf fing an, Bespiele aufzuzählen. „Stop Ralf, hör auf!“ bremste ich ihn. Da wird unsere Kleine ja nur überheblich von, und fängt an, sich etwas einzubilden. Alys selbst nahm sich noch ein paar Weintrauben, und äußerte sich altklug: „Na, ihr habt viel­leicht Probleme.“


Einzugsnacht


Alys hatte sich tatsächlich nach dem Abendessen zurückgezogen. Wir unter­hielten uns noch über sie, und dass ich ungeheure Angst davor hätte, dass es in der Pubertät zu einem Bruch zwischen uns kommen könnte, und ich nicht wüsste, wie ich das überleben solle. Ralf meinte, dass er mich für intelligent genug halte, um mit ungewöhnlichen pubertären Ansichten angemessen umge­hen zu können, und ich mir doch im Vorhinein keine Angst einreden solle. Für seinen Sohn Elias wolle er auch bald um eine Besuchsre­gelung bemühen. Er habe sich immer viel um ihn gekümmert, und der Kontakt zu ihm fehle ihm schon jetzt, obwohl er momen­tan kaum noch wisse, was mit ihm selbst eigent­lich geschehe. „Das steht doch schon in der Bibel, seit 4.000 Jahren was mit dir geschieht 'So nahm der Ralf die Ruth und ging bei ihr ein.' Das verstehst du doch, oder muss ich's dir über­setzen; mein lieber Herr Grundschullehrer? Und jetzt komm, deine Ruth war­tet.“ forderte ich ihn auf, ins Bett zu kommen. Am Morgen hätte ich Ralf fast verhauen, wenn ich's noch gekonnt hätte, aber ich war ja selbst genauso Schuld daran. „Heute war's ja noch mal o.k., aber ich kann so nicht zur Arbeit gehen und mich bis mittags konzentrieren. Ich schlafe am Schreibtisch mit dem Kopf auf den Akten ein. Ich kann das nicht verhin­dern. Ich bin total gerä­dert. Ich schaff das nicht mit so wenig Schlaf, und dann noch so ausgelaugt. Ich kann ja auch nicht genug bekommen, aber wir müssen uns einfach ein Li­mit setzen, sonst läuft das nicht mehr. An Samstagen oder vor Feiertagen kön­nen wir uns dann ja mal austoben so lange wir wollen und können, aber vor Arbeitstagen macht mich das einfach für den nächsten Morgen unbrauchbar.“ versuchte ich's Ralf zu erklären. „Ja, ja mir geht’s ja nicht anders“ bestätigte er mich, „aber bis jetzt waren's ja auch immer Ausnahmesituationen, ich bin der Ansicht, dass wir keine Schwierigkeiten haben werden, es auf ein sinnvolles Maß zu begrenzen.“

Es gelang uns dann auch zunehmend besser. Wenn wir beieinander lagen, konnten wir einfach nicht aufhören immer wieder von Neuem an uns zu spie­len, wenn Ralf mal nicht konnte, verwöhnte er mich anders. Er sei schließlich keine 20 mehr hatte er mal gesagt, als es nicht sofort wieder ging. Ob er und Britta es denn noch intensiver getrieben hätten als wir beide, fragte ich, ob­wohl ich da sonst überhaupt nichts von hören wollte. „Das hat mit Britta nichts zu tun. Die kannte ich da noch gar nicht. Und übrigens, da war sie 3 Jahre äl­ter als deine Tochter jetzt, da hätte mich wohl nicht nur der Altersunterschied ein wenig ge­stört. Nein, ich merke einfach, dass ich längere Pausen brauche, zunehmend, und dass es insgesamt nicht mehr so oft geht. Daran merkst du als Mann am frühesten, dass du schon in relativ jungen Jahren immer älter wirst.“ „Und weist du schon, wann es soweit sein wird, dass es überhaupt nicht mehr geht?“ Solche Fragen von mir waren natürlich Anlass, sofort wieder er­neut übereinan­der herzufallen. Die Vorstellung als Paar unterschiedlich Lust auf Sex zu haben, und sich nicht locker zufriedenstellend verständigen zu können, löste in mir schon leichten Horror aus. Andererseits hatte ich mit Torsten ja auch ein ganz sonderbares Verhältnis. Im Nachhinein kommt es mir vor wie Selbstbefriedi­gung mit Partner, statt Vibrator lässt man seinen Mann arbeiten, der damit auch ganz zufrieden ist. Ich meine schon den Wunsch, nach etwas anderem gehabt zu haben, aber ich wusste ja gar nicht was, und Torsten hatte mir ja auch keinerlei Anlass geboten, auf irgendwelche anderen Gedanken zu kom­men. Nachdem ich einmal mit Ralf geschlafen hatte, konnte ich mit Torsten nicht mehr. Er hat es immer einfach akzeptiert, wie er damit klar ge­kommen ist, ob er eine Freundin dafür hatte, oder sich irgendwelche Damen bestellt hat, oder es einfach so unterdrücken konnte, es hat mich nicht im Ge­ringsten interessiert. Für mich stand nur fest, dass es so etwas wie bisher, für ihn mit mir niemals mehr geben würde.


Omi Sylvias Hilfe


Omi Sylvia war jetzt ziemlich häufig bei uns. Ihren Mann hatte sie einfach wis­sen lassen, dass wir sie jetzt dringender brauchten, als er sie. Wenn sie bei uns war, kümmerte sie sich um alles. Wir hatten ja außer der Putzfrau alles Perso­nal entlassen müssen. Sonst wäre von unserem Geld sicher bald nicht mehr viel vorhanden gewesen. Allein der Unterhalt der Villa verschlang einiges, und die war uns ja sehr wichtig. Der Park wurde zweimal im Jahr durch eine Firma ein wenig strukturiert, das meiste machten wir das Jahr über allerdings selber, was uns sehr viel Freude bereitete und uns zu richtigen Gartenfans werden ließ. Wir hatten nicht nur das halbverfallene alte Gewächshaus renovie­ren und ausbauen lassen, sondern auch einen richtigen Gemüse- und Blumen­garten angelegt, in denen Alyssia und Ralf eindeutig die Oberherrschaft ausüb­ten, und sich bei Tisch manchmal gegenseitig Informationen zukommen ließen, die ich als normal Sterbliche gar nicht verstand.

Als Sylvia Ralf zum ersten Mal sah, meinte sie gleich nach dem Händeschüt­teln: „Das kann ich mir gut vorstellen, Ruth, dass man sich in so was Junges, Wildes leicht verlieben kann.“ Ich bog mich vor Lachen und Ralf lächelte leicht errötend verlegen. „Sylvia, Ralf ist nicht jung, der ist fast genau so alt wie ich, und wild ist er auch nicht. Er ist nicht nur Beamter wie ich, sonder kann 'ne riesige Bande von kleinen wilden Strolchen bändigen.“ wollte ich sie aufklären. „Na ihr wisst schon, wie ich das meine,“ entgegnete sie leicht grinsend. Nach­dem Alyssia ihr wohl einiges zu Ralf erzählt hatte, meinte sie mal beim Kaffee zu ihm: „Alyssia, die ist ja total begeistert von ihnen, die scheint sie ja richtig zu verehren. Ich glaube,Sie machen mich eifersüchtig. Da muss ich ja um mei­ne Position bei ihr kämpfen.“ „Sie haben schon gewonnen, Frau Stein,“ erwi­derte Ralf „ich glaube, ich bin für Alys ein glücklicher Vaterersatz, aber die Be­ziehung eines jungen Mädchens zu ihrer geliebten Omi greift so tief an ihr Herz, da können andere gar nicht hin gelangen.“ „Ein wunderbarer junger Mann sind sie, Herr Lahrmann.“ fühlte sich Sylvia geschmeichelt, „warum re­den wir uns eigentlich nicht mit du und dem Vornamen an? Wenn's sie nicht stört, bin ich für sie Sylvia.“ Ralf bedankte sich artig, dann schüttelten sie sich die Hände und umarmten sich. Ich war glücklich. Der letzte Rest von Fremd­heit schien zu verschwinden.

Um mich war Sylvia immer äußerst besorgt, und fragte mich zwischendurch ständig ob alles o.k. sei, ob wir auch mit dem Geld auskämen, ob mit meiner Arbeit alles gut liefe etc. Ich fragte sie mal, ob ich den Eindruck mache, dass nicht alles gut liefe, und ich unzufrieden sei. Nein im Gegenteil, meinte sie, sie habe nur Angst um mich, dass mir irgend etwas fehlen oder passieren könne, wir seien ja ganz allein. Wahrscheinlich hatte sie die Vorstellung, dass Pussycat Ruth mit 34 Jahren ohne einen Big Spender im Rücken gefährlich lebte. Ich be­stätigte ihr also weiterhin, dass es mir prächtig ginge, oder ganz schlecht, weil die Tomaten alle im Regen faul geworden seien. Wenn größere Reparaturen am Haus erforderlich waren, ließ sie das immer von Torsten organisieren und be­zahlen, und auch sonst ließ sie ihn noch manchmal unverhofft ein paar Tau­send Euro überweisen. Diese Frau musste mich wohl außergewöhnlich mögen.


Neue Pläne


Tatsächlich hatte ich bei meiner Arbeit wirklich den Kaffee auf, das war es nicht, wofür ich Jura studiert, und die ganzen damit verbundenen Qualen auf mich genommen hatte. In der Schule war ich stärker an politischen Fragestel­lungen interessiert gewesen. Weniger an Tagespolitik als an der Entwicklung von Gesellschafts- und Herrschaftsformen. Dabei hatte ich mich besonders für das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung interessiert. Auf die­ser Ebene war Rechtsfindung und Rechtsprechung für mich höchst interessant. Nur es war bisher unüblich aus der Hamburger Baubehörde jemanden zur Bun­desverfassungsrichterin zu ernennen. Doch was sollte ich machen, wo sollte ich hin? Für Ralf sah ich das nicht viel anders. Jetzt konnte er sich noch jeden Tag über die Fortschritte und das Heranwachsen der jungen Leute freuen, aber es würde meiner Ansicht nach, mit Sicherheit der Tag kommen, an dem ihm das zu grauen Routine werden würde, nur sei es dann zu spät für einen Absprung. Wir sprachen oft darüber, und führten uns immer nur die großen Hindernisse vor Augen, die im Wege standen. Ich hatte keine Chance, etwas anderes zu beginnen, weil sich meine ganzen Erfahrungen ausschließlich auf Bau- und Ar­chitekturrecht beschränkten, und Ralf sah keine Möglichkeit, da er im Studium aus Bequemlichkeit Mathe und Sport als Fächer gewählt habe, und seine Schwerpunkte und Interessen in allgemeinen Pädagogikbereichen gelegen hät­ten. Eine Lösung für unsere Probleme sahen wir nicht. Das eine gefiel uns nicht, weil es keine Verbesserung darstellte, das andere war uns zu riskant, weil es leichtfertig unsere bisherige Grundlage aufs Spiel zu setzen schien. Bis wir zu dem Schluss kamen, dass ohne Risiko nichts zu haben sei, und wir sonst in 20 Jahren immer noch hier säßen, unsere Unzufriedenheit beklagten, und dann sei wirklich alles zu spät. Unsere primäre Devise lautete daher: Jetzt oder nie.

Ich wollte mich ganz beurlauben lassen, um eine Anwaltspraxis für Bau- und Architekturrecht eröffnen zu können. Meine Freundin Anja war Feuer und Flam­me, wollte sofort voll mit einsteigen, und vermittelte mir ungeheure Zuver­sicht, andere Kollegen, wollten uns zunächst als Nebenbeschäftigung auf Honor­arbasis unterstützen, und abwarten, wie es lief. Bei einem Anwalt, des­sen Praxis nicht so gut lief, und der sich gern beteiligen wollte, waren wir zwar skeptisch, andererseits hatten wir so direkt eine Fachanwaltszulassung, also holten wir ihn ins Boot, wir waren uns sicher, ihn schon aufpolieren zu können. Als meine Beurlaubung endete, bin ich ganz ausgestiegen, und habe mich aus­zahlen las­sen. Es lief, wie wir uns das nicht zu erträumen gewagt hätten. An­scheinend hatte sich das Gerücht verbreitet, dass die Sozietät Stein, Linke, Fender über geheimste Behördeninformationen und -kontakte verfügte. Einer unserer ers­ten Kunden war Torstens Büro, für dass ich natürlich unbedingt einen Erfolg verbuchen musste, was auch gelang, und uns gleichzeitig Aner­kennung in der Branche eintrug. Wenn Stein & Partner GmbH erfolgreich mit dieser Kanzlei zu­sammen arbeitete, was konnte da empfehlenswerter sein. Wir mussten ständig neue Leute einstellen, und platzten nach einem dreiviertel Jahr in unserem Büro aus allen Nähten. Wir zogen um in ein Hochhaus in der Innenstadt, und ver­breiteten uns über zwei Etagen. Nach drei Jahren hatten Anja und ich endlich un­sere Fachanwaltszulassung, und nebenbei floss die Asche ohne Ende. Wir wa­ren zwar offiziell Freiberufler, fühlten uns aber eher wie die Cheffinnen oder vielleicht Mütter, die primär das Wohl der gesamten Kanzlei im Auge haben mussten. Ich empfand zum ersten Mal nicht nur Aner­kennung durch Ralf meinen Mann, sondern auch durch meine eigene Arbeit. Ich freute mich nicht nur Abends nach der Arbeit nach Hause zu kommen, son­dern auch morgens zur Arbeit hin zu fahren. Auch dieses Glück hätte ich mit Torsten nie gefunden, da mir vorgemacht wurde, und ich es beinahe geglaubt hätte, das Glück sei dann gefunden, wenn man es soweit gebracht habe, sich bedienen lassen zu können.


Neues Leben


Unsere langen Nächte waren selten geworden, aber unsere Lust auf einander hatte, nicht ab sondern eher zugenommen. Durch unser beider Arbeitsbelas­tung hatten sich unsere gemeinsamen Zeiten verringert, und zusammen unse­re Lust auszukosten, ist nicht nur ein freudiger, wilder, wohliger Moment, son­dern auch ein bedeutsames Element für die Basis meiner körperlich, psychi­schen Alltagsverfassung. Eine erfüllte Nacht vermittelte mir Kraft, Freude und Zufriedenheit für den gesamten Tag.

Ralf hatte sich zunächst auch mit halber Stelle freistellen lassen, und hatte be­gonnen zu promovieren. Dann hat er sich voll zu Forschungszwecken beurlau­ben lassen, und seine Promotion abgeschlossen. Er schrieb zur an seiner Habi­litation, und hatte eine Dozentenstelle an der Uni. Er lud öfter Studis nach Hause ein, die über seine luxuriösen Wohnverhältnisse erstaunt waren, und de­nen er dringend riet, sich eine reiche Frau zu nehmen. Am meisten freute sich aber Alyssia, die jetzt 13 ½ Jahre alt war, und ständig wichtigste Besprechun­gen mit ihren Freundinnen bei uns veranstaltete. Sie versuchten immer Aufse­hen bei den jungen Studenten zu erregen, und sie von der Arbeit mit Ralf ab­zuhalten. Unser Haus hatte sich mit neuem Leben gefüllt, so dass wir ruhige, be­sinnliche Zeiten oft richtig planen mussten.


Elias kommt


Elias, der Sohn von Ralf drängte Britta, die mittlerweile mit einem neuen Part­ner zusammenlebte, immer, dass er zu uns möchte. Er ist 6 Jahre alt und kommt im Sommer in die Schule. Er wollte nicht primär wegen Ralf zu uns, sondern wegen Alyssia, die er vergötterte. Alyssia mochte ihn auch sehr, und hatte selber Lust daran, mit ihm alle möglichen Streiche auszuhecken. Alys fiel immer wieder etwas Neues ein, das ihn faszinierte und begeisterte. So hatte sie ihm zum Beispiel Fußballspielen beigebracht, obwohl sie selbst nie Fußball gespielt hatte. Es bereitete mir große Freude, den beiden zuzuschauen. Elias war immer traurig, wenn er wieder nach Hause musste. Anfangs hat er immer geweint, und sich geweigert, ins Auto einzusteigen.

Britta, mit der ich mich mittlerweile sehr gut verstand, hat mir mal weinend ihr Leid geklagt, sie könne Elias gut verstehen, hier sei immer die große lebhafte bunte Welt für ihn, und zu Hause sei er ständig allein. Auch der Kindergarten habe gegen Alyssia nicht den Hauch einer Chance. Es begeistere sie immer zu sehen, wie ein Mädchen mitten in der Pubertät sich so einfühlsam und liebevoll mit einem kleinen 6-jährigen Jungen beschäftige. Sie sei überzeugt, dass Alys­sia bestimmt mal eine ganz tolle Frau werden würde. Wie ihre Mutter, fügte sie schmunzelnd hinzu. Zusätzlich würde Elias mit ihrem Freund nicht richtig warm. Ihr Freund versuche alles Mögliche, aber Elias schotte sich ab. An sein Herz ließe er ihn nicht ran. Sie selbst sei ja auch so häufig nicht da. Sie sehe sich für Elias in einer ausweglosen Position. Und Britta weinte, dass ich sie ganz lange trösten musste. Sie habe schon mal gedacht, auch wenn es sie sel­ber sehr schmerzen würde, dass es im Sinne von Elias besser sei, wenn er bei uns leben würde als bei ihr. Aber abgesehen davon, wäre das ja für uns auch gar nicht möglich, sich ständig um so einen kleinen Steppke kümmern zu müs­sen. Mir schoss alles blitzartig durch den Kopf. So ein junges Männlein auf­wachsen zu sehen, gemeinsam mit ihm am Tisch zu sitzen, seinen Problemen zuzuhören, es abends ins Bett zu bringen, Lust hätte ich dazu schon, und zu alt empfand ich mich schon längst nicht mit 38 Jahren. Andere Frauen bekom­men in diesem Alter oft erst ihr erstes Kind. Andererseits waren wir ja häufig nicht zu Hause. Und immer nur Alys, das würde zu viel für sie, und wäre nicht o.k.. Aber eine Kinderfrau, eine nette junge Kinderfrau, das wäre doch kein Pro­blem. „Britta,“ sprach ich sie an, „wenn du das wirklich so siehst, und wenn das dein fester Wunsch ist, den du nicht morgen wieder revidieren möchtest, dann würde ich das mal mit Ralf und Alys besprechen. Ich halte das nicht für unmöglich, und könnte mir das auch sehr schön für Elias und für uns vorstel­len. Dir stehen hier natürlich immer alle Türen offen. Du könntest ihn selbst­verständlich jederzeit besuchen, oder mit ihm etwas unternehmen, oder was du möchtest.“ Britta nickte zustimmend, viel mir um den Hals und fing wieder an zu weinen. Sie hatte noch nicht aufgehört zu weinen, und erklärte: „Ich bin eine furchtbare Heulsuse, immer fließen mir gleich die Tränenbäche,“ und wäh­rend sie die letzten Tränen abwischte sinnierte sie: „Dass ich so eine nette, lie­be, tolle Frau wie dich, mal so verteufeln konnte, werde ich mir mein Leben lang vorwerfen.“ „Britta, hör auf mit so einem Unfug, ich hätte das an deiner Stelle genauso getan. Vergiss es. Denk nicht mehr daran, und sprich nicht mehr da­von. Das ist Schnee von gestern, der ist nicht mehr da, der ist heute ge­schmolzen. Ich habe dich vom ersten Moment an, als dich mal auf dem Schul­fest gesehen habe, gemocht, und das ist heute noch viel stärker gewor­den. Das lass uns bewahren und pflegen, das ist jetzt wichtig. Für uns beide.“ entgegne­te ich auf ihre Selbstvorwürfe. „Ich werde das,“ überlegte ich „ja, heute Abend mit Ralf und Alyssia besprechen, und rufe dich morgen an. Ich kann nicht ver­sprechen, dass es erfolgreich sein wird, und du kannst es dir ja heute Nacht auch noch einmal überdenken, ob du dir wirklich sicher bist.“


Beim Abendbrot berichtete ich von dem Gespräch mit Britta. Bevor ich meine Meinung überhaupt darstellen konnte, posaunte Alyssia schon los: „Au ja, dann bekommt Elias mein Zimmer, und ich kriege das tolle Gästezimmer mit den großen Fenstern unterm Dach.“ „Dann hätten wir das wichtigst Problem ja schon mal gelöst,“ kommentierte ich. Alys kniff die Lippen zusammen und grinste, sie hatte meine Ironie verstanden. Ich stellte meine Überlegungen vor, und wollte von den beiden hören, ob sie sich darauf freuen könnten. „Also ich schon.“ erklärte Alyssia als erste, „nicht wegen des Zimmers. Ich stelle mir das schön und lustig vor. Wir würden ja nicht immer zusammenhängen, natürlich auch mal, aber Elias würde ja auch hier lesen, schreiben und rechnen lernen, er würde im Garten helfen und bestimmt auch mal motzen und sich beschwe­ren, er würde uns am Tisch lustige Sachen erzählen, und mal weinen, wenn er traurig wäre. Er würde seine kleinen Kumpels aus der Schule mitbringen, und so etwas alles und noch viel, viel mehr. Ich würde mich freuen, wenn es hier so etwas gäbe, und nicht nur wir alten Knacker immer unter uns wären.“ Ralf hat­te mit großen Augen Alyssia angeschaut und ihr zugehört. „Wunderschön, wie du das gesagt hast, du hast mir richtig Lust darauf gemacht.“ lobte Ralf Alys Stellungnahme „selbstverständlich möchte ich gern, dass Elias bei uns wohnt, nichts lieber als das. Nur wir sind ja oft beide den ganzen Tag nicht zu Hause, und das wäre dann für Alys zu viel. Sie kann was mit ihm unterneh­men, wenn sie möchte, aber sie muss selber frei bleiben, und kann nicht Elias Kindermäd­chen spielen.“ „Selbstverständlich nicht, ich hatte ja auch nicht an eine Frau gedacht, die sich nur darum kümmert, dass er morgens ordentlich zur Schule kommt, sondern an jemand der den ganzen Tag hier ist. Und da wäre es eigentlich ganz wichtig, dass du Alyssia gut mit ihr klar kommst.“ er­läuterte ich. „Ich brauch keine Gouvernante, ich schmeiß' die raus.“ schnarrte Alys. „Nein selbstverständlich nicht. Wenn jemand für Elias, den ganzen Tag im Haus ist, dann ist der oder die ja nicht nur bei Elias im Zimmer, sondern im ganzen Haus, und da wirst du mit dieser Person ja zwangsläufig auch häufiger zusammen treffen. Wenn man sich dann nicht riechen oder ausstehen kann, dann tut das weh, dann wird das immer unerträglicher, und es wird nicht mehr gehen. Deswegen meine ich, dass es jemand sein sollte, mit dem du dich auch gut verstehen könntest. Ich denke auch es sollte eine möglichst junge Frau sein, und deine Stimme würde den Ausschlag für die Entscheidung geben.“ er­läuterte ich detaillierter. Alyssia war einverstanden.

Ich würde also Britta erklären, dass es von uns aus funktionieren könne und wir uns alle darauf freuen würden. Britta selbst war bei ihrer Vorstellung ge­blieben. Wir wollten Elias gemeinsam fragen, wenn er wieder bei uns war. Nachdem die Mutti geschworen hatte, ihn ganz ehrlich oft besuchen zu kom­men, war er schwer begeistert, und wir leiteten alles in die Wege.


Bianca


Eine 19 jährige Kindergärtnerin, in Brasilien geboren aber hier aufgewachsen, nicht nur die hübscheste der Bewerberinnen, sondern eine ausgesprochene Schönheit, hatte Alyssia ausgesucht. Bianca war aber nicht nur schön, sie hat­te gute Zeugnisse, schien ein offenes Herz und ein immer zum Lachen bereites Gesicht zu haben. Wir hatten sie schnell ins Herz geschlossen, und sie gehörte so gut wie zur Familie. Sie übernachtete öfter bei uns, weil sie abends aus frei­en Stücken länger geblieben war. Alyssia und Bianca waren ein Herz und eine Seele. Was sie bei ihren vielfältigen Konsultation immer zu besprechen hatten, blieb uns natürlich alles verborgen. Eines Tages weinte Bianca und teilte uns mit, dass sie nicht länger zu uns kommen dürfe. Der Grund war, dass ihr Freund es ihr verboten habe. Wer denn dieser Freund sei, dass er ihr das ein­fach verbieten wolle, antwortete sie, das dürfe sie nicht sagen, sonst bringe er sie um. Wir hatten ja Biancas Adresse und ihre Handynummer, und informier­ten sofort die Polizei. Die Adresse war fingiert und ihr Name war im Melderegis­ter mit unbekannt verzogen notiert. Ihre Handynummer, unter der sie sonst immer zu erreichen gewesen war, meldete 'kein Anschluss unter dieser Num­mer'. Wir versuchten, der Polizei zu vermitteln, dass wir uns sehr große Sorgen um sie machten. Die meinten nur, man könne ja eine Vermisstenanzeige auf­gegeben, aber wir sollten uns keine Illusionen über den Erfolg machen, für sie deute das eher darauf hin, dass sie etwas mit dem Drogenmilieu zu tun habe, es gebe hier einen brasilianischen Drogenhändlerring, an den sie aber nicht ran kämen, und wenn Bianca eine schöne junge Brasilianerin sei, könne man sich durchaus vorstellen, dass sie sie irgendwann eingefangen hätten, und als sie gemerkt habe, wo sie rein geraten sei, nicht mehr raus gekonnt hätte.

Unsere Bianca und Drogen? Wir konnten es uns nicht vorstellen. Wir fragten Alyssia zu allen möglichen Angelegenheiten, und da kam einiges zu Tage. Sie hatte ihr erzählt, dass sie ganz reiche Freunde habe, die noch viel mehr Geld hätten als wir. Mehr dürfe sie aber davon nicht erzählen. Dann hatte sie ihr auch noch vermittelt, dass man das meiste Geld auf der Welt mit Kokain und Heroin verdienen könne, aber es sei eben auch sehr gefährlich. Sie habe ihr al­les genau erklären können. Einmal habe sie auch ein Briefchen mit Kokain mit­gebracht, um es ihr zu zeigen. Sie habe es aber wieder zugemacht, und wieder mitgenommen.

„Alys, warum hast du uns, denn nie etwas gesagt?“ fragte Ralf entsetzt. „Das ergab sich ja immer nur so nebenbei. Ich habe halt nur gedacht, die Bianca hat Ahnung davon. Aber ich bin nie auf die Idee gekommen, das sie selber etwas damit zu tun haben könnte.“ war Alyssias Antwort.

¾ Jahr später wurde Biancas fast verweste Leiche aus der Elbe gezogen. Ralf musste noch zur Identifizierung beitragen. Verwandte oder sonst irgendwelche Anhaltspunkt waren nicht zu ermitteln. Wir hätten ihre Bewerbungspapiere ko­pieren sollen, das konnte doch nicht alles ein Fake gewesen sein, für so eine lapidare Stelle als Tagesbetreuung. Vielleicht hatte sie aussteigen wollen, und sich versteckt, damit wir ihre wirkliche Adresse nicht verraten konnten. Die Mafia hatte sie aber doch entdeckt. Man mochte sich gar nicht vorstellen, was unserer Bianca passiert war. Wie kann man nur ein so lebenslustiges, freundli­ches, warmherziges 19 jähriges Mädchen einfach abschlachten. Menschen konnten das nicht sein, oder ich weiß nicht mehr, was unter Mensch zu verste­hen ist.

Für Alyssia hat es Monate gedauert, bis sie halbwegs darüber hinweg gekom­men war. Ich vermute, ein leichter dunkler Schatten auf ihrem Gemüt wird nie mehr ganz verschwinden. Mit ihren Freundinnen hatte sie immer wieder nach Mög­lichkeiten gesucht, diese Bestien zu killen. Sie hatten sich so intensiv mit der Drogenmafia beschäftigt, dass wir mehrfach meinten, sie eindringlich war­nen zu müssen, keine irgendwie gearteten Aktivitäten zu entwickeln, da wir keine Lust hätten, sie wie Bianca aus der Elbe fischen zu müssen.


Cynthia


Das neue Kindermädchen hatte Alys zwar auch ausgesucht, sie mochte sie auch, aber das Verhältnis blieb distanzierter. Ich habe mit Cynthia mal darüber ge­sprochen, und ihr zu vermitteln versucht, dass für uns alle der Schock über das Schicksal von Bianca noch nicht völlig überwunden sei, und uns in unserer Freundlichkeit, Offenheit und Sympathie ihr gegenüber möglicherweise behin­dere. Sie fühle sich aber ganz wohl bei uns, sehe uns als nett, freundlich und großzügig an, sei mit allem zufrieden, und habe Spaß an ihrer Arbeit.

Elias haben wir Biancas Tod verschwiegen, weil wir die möglichen Konsequen­zen nicht einschätzen konnten. Er kam mit Cynthia prima klar, und hatte viel Freude mit ihr. Sie eröffnete ihm viele neue Möglichkeiten, und sorgte dafür, dass er Freunde zu uns nach Hause einlud. Er hatte für sich fest beschlossen, wenn er groß sei, Cynthia zu heiraten. Britta, deren Besuche von ihm Anfangs immer noch stürmisch begrüßt wurden, waren für Elias alltägliche Intermezzi geworden, und es konnte durchaus vorkommen, dass er einen Zoobesuch oder Ähnliches mit Britta ablehnte, weil er unbedingt etwas anderes, Wichtigeres zu erledigen habe. Britta kam trotzdem immer häufiger zu uns.


Britta arbeitslos


Eines Nachmittags, als ich mal ein wenig früher nach Hause gekommen war, sah ich sie bei uns allein im Park auf einer Bank sitzen. Ich konnte erkennen, wie sie sich mit einem Taschentuch mehrfach durch das Gesicht wischte. Sie weinte. Wahrscheinlich hatte Elias sie wieder zurückgewiesen. Ich ging zu ihr, setzte mich neben sie, und wollte den Grund wissen. Bevor sie etwas sagen konnte, brach sie wieder in lautes Weinen aus, und erklärte mir heulend: „Ich hab keine Arbeit mehr. Ich steh auf der Straße, ich habe nichts.“ Nachdem sie noch einige Zeit geweint hatte, beruhigte sie sich langsam, und begann mir die näheren Zusammenhänge zu erläutern. Ich unterbrach sie und schlug ihr vor, es doch ruhiger und entspannter bei einer Tasse Tee oder Kaffee im Haus zu tun. Es hatte mit ihr und ihrer Arbeit nichts zu tun, das Unternehmen für Archi­tekturfotografie hatte nach großen finanziellen Erfolgen seiner Filialen in Shanghai und Kuala Lumpur beschlossen, dass der Einsatz für das Hamburger Atelier sich nicht genügend rentiere, die Filiale in Manila zur Zentrale des Un­ternehmens gemacht, organisiere von dort aus alles ,und habe sich aus dem europäischen Markt völlig zurück gezogen. Man habe ihr mehrere Möglichkei­ten in Südostasien angeboten, aber sie habe nicht gekonnt und gewollt. Ich versuchte sie zu beruhigen. Sie habe sich doch durch ihre bisherige Tätigkeit beste Referenzen erworben, und es sei sicher nicht schwierig für sie, wieder et­was Neues zu finden. Sie stellte die Situation trotz ihrer Referenzen als ziem­lich hoffnungslos dar, so hoffnungslos, dass ich ihr diesmal sicher auch nicht helfen könne. Sie schaute mich an und lächelte wieder.


Ich hatte ihr damals den Job besorgt, ohne dass sie es wusste oder mich kann­te. Als Ralf mir erzählt hatte, dass seine Frau gerne wieder arbeiten würde, aber die Chancen als Designerin ohne Berufspraxis und mit Kind hoffnungslos seien, hatte ich ihn gefragt, ob ich mal etwas versuchen solle. Ich hatte das Ar­chitekturfotografiestudio, von dem Torstens Firma alles Optische produzieren ließ angerufen, und dem Chef Brittas Qualitäten angedient, sie als frisch, krea­tiv, unverbraucht, und als Bereicherung für seine Firma empfohlen, und ihre feh­lenden Kenntnisse in Architekturfotografie ins Positive gewendet, obwohl ich nicht eine ihrer Arbeiten gesehen hatte. Wenn Frau Stein das so empfahl, konnte das nicht einfach so übergangen werden. Ich hatte den Chef zwar noch gebeten, Britta nichts von unserem Gespräch zu erzählen, da sie sich sonst un­terstützt fühlen könne, und es ihr wichtig sei, alleine nach der Qualität ihrer Arbeit bewertet zu werden. Er hat ihr dann doch gesagt, dass Frau Stein sie ja über alle Maßen gelobt habe, die sie natürlich gar nicht kannte, oder an die sie sich nicht erinnern konnte. Noch ein zusätzlicher Punkt für ihre Einstellung. Ralf hatte ihr erzählt, den Tipp von einem Kollegen bekommen zu haben. Er rief mich an, dass Britta sich nicht vorstellen wolle, weil es sowieso völlig hoff­nungslos sei, sie habe mit Architekturfotografie außer historischer Industriear­chitektur noch nie etwas zu tun gehabt, und habe keinen blassen Schimmer davon. Ich hatte ihm noch mal erläutert, dass es da nicht nur ums Fotografie­ren von Gebäuden ginge, sondern dass sie Medien aus allen Möglichkeiten der visuellen Darstellung und Vermittlung produzierten, das dort sowohl Graphik-Designer als auch Filmhochschulabsolventen säßen, und sie habe, wenn sie dem Chef nicht gerade erzähle, sie könne das nicht, und habe keine Lust dar­an, hervorragende Chancen, dort eine Anstellung zu bekommen. Er solle sich alles einfallen lassen, sie umzustimmen. So eine sichere Chance bekäme sie nicht wieder. Irgendwann später, als wir uns schon gut kannten, fiel Britta plötzlich ein, dass bei ihrer Vorstellung von Frau Stein gesprochen worden war, „Du warst das natürlich.“ entfuhr es ihr mit dem Finger auf mich zeigend „das ist ja frech, einfach tolle Sachen von mir zu erzählen, obwohl du mich über­haupt nicht kennst.“


Brittas Trennung


„Das ich keine Arbeit mehr habe, ist ja noch nicht mal alles.“ begann Britta, „Zu Hause ist für mich auch das reinste Chaos. Permanent haben wir Streit, mein Freund und ich. Hinterher weiß ich oft gar nicht worum es eigentlich ging. Diese ewigen gegenseitigen Vorwürfe, Anschuldigungen und Beleidigungen, ich will es nicht mehr, und will es auch nicht mehr ertragen. Es verhärtet meine Seele. Miteinander ins Bett gehen wir nur noch, wenn wir mal wieder großen Frieden geschlossen, und uns versprochen haben, in Zukunft alles anders zu machen. Aber es bleibt immer alles beim Alten, und wiederholt sich nur perma­nent. Ich weiß, dass ich da raus will, aber ich weiß nicht wie. Selbst wenn wir miteinander schlafen, bin ich mir gar nicht sicher, ob ich ihn überhaupt noch liebe, oder ob wir nicht einfach so aus Gewohnheit aneinander kleben bleiben. Ich war immer froh, wenn ich im Atelier war, oder bin es, wenn ich bei euch sein kann. Zu Haus empfinde ich es nur noch als angespannt und stressig, glücklich bin ich da eigentlich nie.“ Britta weinte jetzt nicht, sondern ihr Gesicht zeichneten eher bittere, verhärmte Züge. Wir saßen neben einander auf der Couch, „Lass dich mal drücken, meine Arme“ umschlang ich sie „Wie du es dar­stellst, wäre das für mich die Katastrophe. Keinen Tag würde ich das länger er­tragen. Was kann es denn schlimmeres geben? Ich will dir keine alten Allge­meinplätze auftischen, aber meine Mutter hat mir mal gesagt, Frauen hätten für Vieles mehr Verständnis und einen besseren Durchblick, sie könnten Vieles tiefer empfinden und besser nachvollziehen, aber entscheiden würden sie häu­figer gegen sich selbst. Ich habe das damals gar nicht richtig verstanden, aber vergessen habe ich es trotzdem nicht. Im Laufe der Zeit habe ich es immer besser verstehen gelernt, ich will mich nicht mehr gegen mich selber entschei­den. Was willst du denn mit einem Mann, der nicht versuchen will, dich zu ver­stehen, und der sich nicht gern auf dich einlassen will, sondern Streit mit dir anfängt, der dir verspricht, alles zu ändern, aber praktisch das Gewohnte im­mer weiter spielt. Der Kerl kann dich nicht lieben, auch wenn er's dir hoch und heilig verspricht, Lust daran, dich glücklich zu machen, kann er jedenfalls nicht haben, sonst würde er sich sein eigenes Verhalten verbieten. Such nicht nach Entschuldigungen, sag nicht, du beteiligtest dich ja auch daran. Ohne ihn gibt es das bei dir nicht. Versuch nichts zu verzeihen, weil du ihn ja liebst. Als du ihn liebtest, war er ein anderer. So wie heute hättest du dich nie in ihn ver­liebt. Du liebst ein Bild, das es nicht mehr gibt. Welches Recht hat dieser Mensch, dich zu kränken, und dich zu verbittern. Entscheide dich für dich selbst, Britta, und lass dich nicht von irgendwelchen Rücksichten abhalten. Du musst mit dei­nem Leben leben, etwas anderes hast du nicht.“


Britta schaute mich stumm, mit großen Augen an, dann strich sie mir mit der Oberseite der Finger ihrer rechten Hand zart über die Wange, lächelte mich an und hauchte: „Ruht, ich liebe dich.“. Ein wenig verlegen lächelte ich zurück. „Du persönlich musst etwas tun, Britta, wenn du etwas ändern willst. Und du kannst das auch.“ sprach ich weiter. „Ja, selbstverständlich,“ und beinahe tri­umphierend verkündete Britta, „Und das werde ich auch.“ Wir lächelten uns an, und als ich wissen wollte, was sie denn zu tun gedenke, erklärte sie: „Ich werde mich von ihm trennen, und zwar sofort, heute noch, ohne Rolle rück­wärts.“ Dann versuchten wir alles abzuklären, wie es organisatorisch laufen könne. Da ihr Freund der Mieter der Wohnung sei, und auch die Miete überwei­se, könne sie ihn schlecht raus werfen, sie müsse sich schon selbst etwas an­deres suchen, und dachte für die ersten Nächte an ein Hotel. Das hielt ich na­türlich für Unsinn, und bot ihr an, dass sie selbstverständlich bei uns übernach­ten könne. Bei mir im Hinterkopf liefen natürlich auch Gedanken ab, dass sich das dann eventuell länger hinziehen könne, und da sie ja den ganzen Tag zu Hause sein würde, und Ralf auch öfter zu Hause war, sich nicht Kommunikatio­nen über schöne alte Zeiten entwickeln könnten, mit Folgen, die ich absolut nicht akzeptieren konnte, und auf jeden Fall verhindern wollte.

Ich versuchte Britta noch zu warnen, dass die Trennung von ihrem Freund nicht so einfach werden würde, wie sie das hier verkündete. Sie werde ganz stark sein müssen, die Zähne zusammenbeißen, und sich nicht von ihrem Ent­schluss abbringen lassen, auch wenn er noch so Mitleid erregend weine, be­schwöre, in Zukunft wirklich alles anders zu machen, und ihr den Himmel auf Er­den verspräche. Er würde ihr erklären, ohne sie nicht leben zu können, und viel­leicht sogar sich umzubringen. Sie solle sich auf keinen Fall auf einen Streit einlassen, sondern ihm nur erklären, dass es vorbei sei, und kein zurück mehr gebe. Es werde sicher nicht leicht für sie. Britta stand auf, reckte sich, hob lä­chelnd ihre Arme mit geballten Fäusten und machte sich auf den Weg nach Hause. „Ich wünsche dir so sehr, dass du ganz stark sein kannst, Liebes.“ ver­abschiedete ich sie.


Britta zieht ein


Ich kümmerte mich um alles Mögliche im Haus, beschäftigte mich mit Cynthia, den Kindern und der Abendbrotvorbereitung. Ralf war inzwischen nach Hause gekommen, und ich hatte über allem vergessen, von dem Gespräch mit Britta zu berichten. Mittlerweile waren drei Stunden vergangen, wir wollten gerade mit dem Abendbrot beginnen, als es klingelte. Vor der Tür stand Britta mit Kof­fer und einer Tasche. „Juhu! Juhu! Geschafft! Geschafft! Ich bin frei!“ stürzte sie sich mir um den Hals, „Es war genau wie du's gesagt hattest, ich brauchte nur die einzelnen Szenen abzuhaken. Das hat mir sehr geholfen, cool zu blei­ben. Danke Ruth, danke, danke, danke.“ Sie küsste mich dabei mehrfach auf jede Wange. Die anderen saßen am Tisch, und schauten uns nur staunend und verständnislos zu. Zu Ralf gewandt meinte Britta scherzend: „Ob du so 'ne tolle Frau wirklich verdient hast, das weiß ich ja doch nicht so richtig.“ Alyssia und Elias wollten unbedingt sofort wissen, was los sei, und Ralf saß nur leicht lä­chelnd mit großen Augen da. Nachdem ich mein Verschulden für ihre Uninfor­miertheit dargelegt hatte, erzählte Britta in Einzelheiten, wie es abgelaufen sei und wie cool sie immer nur ihren Entschluss wiederholt habe, ihn manchmal gefragt, ob er sie nicht verstanden haben, oder nicht hören könne, was sie sage. „Toll Mutti,“ strahlte Elias, „ich hab ja immer gesagt der Typ ist doof. Wohnst du jetzt auch bei uns, Mutti?“ „Echt cool.“ anerkannte Alyssia mit dem Kopf nickend. Sie hatte konzentriert Brittas Ausführungen verfolgt, und dabei sicher einiges für sie dringend speichernswert befunden.

Ich erklärte das mit Brittas Unterkunftsbedarf, und überlegte, ob es nicht am besten sei, meine Befürchtungen mit den beiden direkt zu besprechen. Britta sprach ich darauf an, als ich ihr das Gästezimmer zeigte. Sie versicherte mir, das dies für sie das Wichtigste sei, was sie an ihrer Emotionalität zu kontrollie­ren habe, und dass sie vor sich selbst nicht mehr existieren könne, wenn sie mir das antäte. Ralf sprach ich abends im Bett darauf an. Er wollte mich ärgern und meinte, dass es gar nicht so unwahrscheinlich sei. Sie sei ja nun um eini­ges reifer und älter, und hübsch sei sie ja auch immer noch, er befürchte, dass man sich als Mann da gar nicht entziehen könne. Nach mehreren weiteren Al­bernheiten von ihm und meiner Drohung, Britta sofort morgen raus zu werfen, wenn ich keine ernsthafte Erklärung von ihm bekäme, versicherte er mir dann, dass es eines gebe, was er für nichts auf der Welt gefährden oder belasten würde, das sei für ihn unsere Beziehung, aber darüber seien wir uns doch bei­de einig, er könne mir das aber gern öfter bestätigen, wenn ich das brauche. Normalerweise wäre der Zusatz Anlass zu einer großen Bestrafung mit den üb­lichen Folgen gewesen, aber heute war ich so schlapp, dass ich ihn nur einmal kneifen konnte und dann weiter schmuste.


Britta braucht Arbeit


Noch länger als gewöhnlich saßen wir zusammen im Wohnraum. Wir waren ja jetzt zu fünf Personen, und mit Cynthia tagsüber zu sechs. Wir überlegten, wie wir eine Wohnung für Britta trotz ihrer Arbeitslosigkeit finden könnten, und sa­hen keine Chance, außer dafür zu sorgen, dass sie so schnell wie möglich wie­der eine Beschäftigung finden würde. Alle wurden eingebunden, ich wollte un­sere Kundendatei durchforsten, Ralf sollte erkunden, welche Beschäftigungs­möglichkeiten für Designerinnen es im Unibereich gebe, Britta, Alyssia und Eli­as, der mittlerweile auch schon lesen konnte, suchten nach sinnvollen Möglich­keiten in Fachzeitschriften, Zeitungen und Internet zur Veröffentlichung einer Anzeige, und sollten auch die Anzeige entwerfen. Brittas Möbel wurden nach und nach abgeholt, und in unserer Garage gelagert. Sie selbst hatte sich sofort eine neue Handynummer besorgt, und teilte sie nur ausgesuchten Bekannten mit, von denen sie sicher sein konnte, dass sie ihr Versprechen, die Nummer nicht weiterzugeben, hielten. In den folgenden Tagen versuchte ihr ehemaliger Freund, sie ständig bei uns zu erreichen, bis Ralf ihm sehr deutlich und ein­dringlich vermittelte, dass jeder weitere Anruf von ihm eine Anzeige zur Folge haben würde. Unsere Jobvermittlungsversuche für Britta blieben trotz unseres geballten Einsatzes und der lustigen Anzeige mit einem von Elias ge­zeichneten Haus, absolut erfolglos.


Maximilian Kreutz


Ralf hatte die Teilnehmer eines Doktoranden-Kolloquiums nach Hause eingela­den, die meisten waren schon gegangen, nur einer besprach am Tisch mit Ralf noch etwas, als Britta begann den Tisch abzuräumen. Als Ralf schon ins Haus gegangen war, kamen der Doktorand, der seine Sachen zusammen packte, und Britta ins Gespräch. Das Gespräch wurde länger, beide setzten sich wieder hin, und redeten und lachten und redeten. Ich wagte es gar nicht, sie zu stören und Britta zu sagen, dass das Abendbrot zubereitet sei. Bei der Verabschie­dung schüttelten sie sich immer wieder die Hände, dass Alex und Alyssia schon an­fingen, alberne Witze zu machen. „Mutti hat 'nen neuen Freund.“ verkündete Elias gleich, und er und Alys lachten sich krumm. „Nein, ich fand den schon sehr nett, und witzig war der auch.“ erklärte Britta, und wollte von Ralf alles über ihn wissen. Ralf wusste aber auch nur, dass er Historiker war mit Pädago­gik als Zweitfach, und da promoviere er jetzt. Er habe mal mit ihm darüber ge­sprochen, ob er ins Lehramt gehen wolle oder nicht. Er habe die Ansicht geäu­ßert, dass die Chancen als Historiker eine Beschäftigung zu finden, geringer als Null seien, deshalb habe er auch seine Promotion in Pädagogik begonnen. Ob Ralf die Leute denn öfter zu uns einlade, wollte Britta noch wissen. „Kann ich machen, wenn du das gerne möchtest.“ erwiderte Ralf, und beide grinsten sich an. Am nächsten Tag habe Herr Kreutz zu Ralf in der Uni gesagt, er habe ja nicht nur bewundernswerte Wohnverhältnisse, sondern ebenso bewunderns­wertes Personal. Ralf habe ihn dann darüber aufgeklärt, mit wem er sich unter­halten habe, und dann habe er alles ganz genau wissen wollen. Ralf habe ihm vorgeschlagen, sie doch mal zum Essen einzuladen, sie würde sich bestimmt freuen, und da könne sie ihm dann alles viel besser selber beantworten. Er habe ihm ihre Handynummer mit dem Geheimhinweis gegeben. Nachmittags war Britta ganz erstaunt, von ihrem gestrigen Gesprächspartner angerufen zu werden, und die Einladung zum Abendessen, die er schon für den gleichen Abend geplant hatte, verschob sie erst mal auf den nächsten Tag. Sie war ganz verwirrt, und wusste gar nicht, wie sie das bewerten sollte, sie hatte ihn schon sehr nett und amüsant gefunden, und meinte, dass man mit ihm sicher viel zu lachen haben würde, doch mehr habe sie auch bislang nicht empfunden. Aber das sollte sich schnell ändern. Zunehmend häufiger war Britta jetzt abends un­terwegs mit ihrem Maxe, so nannte sie Maximilian Kreutz, und lobte sein Wis­sen und seine Qualitäten immer überschwänglicher. Eines Abends kam sie recht früh wieder, und warf sich weinend auf die Couch. „Was ist passiert, Lie­bes, sag es!“ kniete ich mich zu ihr und strich ihr übers Haar. Sie hob den Kopf, sah mich an, und sagte heulend: „Er hat 'ne Freundin.“ Ich wollte von Britta Genaueres wissen. Es war wohl schon eine langjährige Beziehung, und er habe eigentlich schon länger Schluss machen wollen, sich aber bislang nicht dazu durchringen können, und getraut. Er habe es immer wieder Tag für Tag ver­schoben, aber jetzt würde er definitiv diese Beziehung beenden. „Ich meine das ist ja alles nicht unmöglich, das kann ja so stimmen, aber warum hat er es dir erst jetzt gesagt?“ meinte ich zu Britta. Das habe sie ihn ja als erstes ge­fragt. Er habe immer gedacht er würde das Verhältnis beenden, und dann sei das kein Thema mehr. Am nächsten Tag, Samstagmittag rief er an. Wir saßen gerade am Mittagstisch, und Britta kam es gar nicht in den Sinn, mit dem Tele­fon aufzusehen. „Na, hast du die Beziehung beendet?“ fragte sie barsch, nach dem sie seinen Namen vernommen hatte. „Und warum rufst du mich dann an?“ … „Da ist nichts zu besprechen, solange du deine Beziehung nicht beendet hast. Ich habe dir das ja gestern Abend schon gesagt, bevor du das nicht geregelt hast, herrscht absolute Funkstille zwischen uns, und ich glaube, das hast du sehr genau verstanden.“ … „Herr je, von jeder schwachen Frau wird selbstverständlich erwartet, dass sie sich traut, und das durchsteht. Entweder lügst du mich an, oder du bist ein absolutes Weichei, und beides löst in mir weder sympathische noch amouröse Gefühle, sondern Abscheu und Ekel aus. Bring das auf die Reihe, dann kannst du dich wieder melden. Dann werden wir weiter sehen. Vorher empfinde ich Anrufe von dir als Belästigung. Tschüß“

Elias starrte Britta mit großen Augen an, dann sprang er auf, lief zu ihr hin, und fiel ihr um den Hals, wobei er bewunderte: „Mutti, du bist Klasse, einsame Klasse.“ Alyssia zog wider ihr breite Schnute und nickte anerkennend, meinte dann aber „Ich dachte, der wäre so nett?“ „Ja, das dachte ich ja auch, oder denke es immer noch, ich glaube ihm das sogar mit seiner Beziehung, nur wenn ihm seine Angst wichtiger ist als ich, und er meint, mir so etwas einfach verschweigen zu können, dann will ich das nicht, dann bedeute ich ihm zu we­nig, das reicht mir nicht.“ erklärte Britta. „Ja, ja, ein Mann der seine Frau ein­fach belügt oder ihr etwas verschweigt, der zeigt, dass er sie eigentlich für 'ne unbedeutende Tussi hält, und nicht wirklich liebt, das glaube ich auch.“ sinnier­te Alys, die ja eigentlich mit ihren 14 Jahren nicht mehr meine Süße war. Grö­ßere Ausbrüche hatte es in der Pubertät nicht gegeben, ihr Verhalten ließ sich aber oft nur schwer in einem Gesamtrahmen sehen. Mal liebte sie es mit Elias kleinkindliche Späße zu machen, mal kam sie mit Fragen, zu denen ich selbst nur sagen konnte, das es sich dabei um philosophische handele. Wir haben öf­ter gemeinsam im Internet nachgeschaut, und ich habe versucht ihr das Dar­gestellte dann verständlich zu erläutern.

Maximilian Kreutz hatte Ralf noch mal in der Uni angesprochen, und Ralf hatte ihm verdeutlicht, wie sehr und warum er Brittas Sicht unterstütze, und jede Frau für dämlich halte, die so mit sich verfahren ließe. Seiner Meinung nach sei das Wesentliche in der Liebe, das man die tatsächliche oder mögliche Sicht des anderen wahrnehme, und zwar nicht als notwendige Pflicht, sondern weil es ei­nem selber Lust bereite. Er habe nur sich selbst und seine Unbequemlichkeiten im Vordergrund gesehen, das sei ihm das wichtigst gewesen. Das sei keine Lie­be, so könne Liebe nicht funktionieren. Mit einer einfachen Entschuldigung sei das nicht zu reparieren. Er glaube auch, dass er bei Britta keine Chance habe, wenn er nicht deutlich vermitteln könne, dass er seine Sichtweise zu Frauen und seine Einstellung zur Liebe ändere. Auf Floskeln und Getändel falle sie nicht mehr herein.


Nach 14 Tagen rief Max an. Unter seine Beziehung hatte er sofort am Sonntag nach dem Telefonat einen Schlussstrich gezogen. Er habe sich lang und viele Gedanken gemacht, und erst zu ein wenig Klarheit für sich selbst kommen wol­len, bevor er mit Britta rede. Sie solle aussuchen, wo sie sich treffen sollten und Britta schlug ihm vor, einfach zu ihr zu kommen. Sie hockten in Brittas Zimmer, stundenlang. Zwischendurch sah man mal jemanden zur Toilette ge­hen, Britta holte mehrmals neuen Kaffee, und am nächsten Morgen stand Ma­ximilians Auto immer noch vor der Tür. Als ich im Büro mal gerade ein wenig Luft hatte, rief ich Britta an. „Ja, ich frag mich im Nachhinein, ob das nicht doch ein wenig voreilig war.“ sinnierte Britta und erklärte weiter, „Aber ich konnte nicht anders, ich hab's gewollt. Es war so toll, was und wie er's gesagt hat. Er hat all meine Kritikpunkte für sich selber vorgebracht, und viel deutli­cher formuliert, als ich es gekonnt hätte. Ihm sei durch mich eigentlich klar ge­worden, dass er bisher noch nie eine Frau wirklich geliebt habe, gar nicht ge­wusst habe, was das eigentlich sei. Er wisse aber jetzt, was das bedeuten wür­de, und dass er es unbedingt wolle, aber nicht wisse, ob er überhaupt in der Lage dazu sein werde. Er sehe für sich in mir und meiner Liebe zu ihm, die ein­zige Chance, ihm dabei zu helfen. Er wünsche sich das von tiefstem Herzen für sich und für uns. Das ist vielleicht so eine verkürzt Quintessenz dessen, was er gesagt hat. Alle seine Erklärungsversuche konnte ich immer nur voll bestäti­gen, und oft war es sogar richtig lehrreich für mich. Manchmal standen seine Augen voll Tränen, und er fragte mich Sachen, über die ich mir selbst noch nie be­wusst Gedanken gemacht hatte. Er war einfach himmlisch, Ruth. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich getäuscht haben sollte, dass es nicht seine tiefe ehrliche Überzeugung war. Es kann nicht so gewesen sein, dass er 14 Tage darüber nachgedacht hat, wie er mich wohl am besten herumkriegen könnte, er muss tief in sich selbst geforscht, und den Entschluss gefasst ha­ben, umfängliche Änderungen vorzunehmen. Er hat eigentlich meine Erwartun­gen und Wünsche von sich aus mehr als erfüllt. Er war himmlisch, toll und süß, und da konnte ich nicht mehr, da wollt ich ihn haben.“ „Ja wunderschön, Britta,“ empfand ich, was sie erlebt hatte und fügte scherzend hinzu, „jetzt musst du nur noch aufpassen, dass er's auch wirklich macht, und nicht immer auf den nächsten Tag verschiebt. Nein Quatsch, was ich nur wirklich meine ist, dass Ein­stellung und Verhalten ja auch immer einen sehr starken emotionalen Anteil haben, und den kann man nicht einfach per rationalem Beschluss än­dern, das braucht neues und anderes Erleben und Erfahren. Aber wenn er auf dich hört, wirst du ihm ja vieles vermitteln können. Und dass du eine starke Frau bist, haben wir ja jetzt schon mehrfach erleben können.“ Mit „Danke Ruth, ich freu mich, wenn du nach Hause kommst,“ verabschiedete sie sich.


Alys und Elias hatten natürlich auch sofort wissen wollen, ob sie sich wieder vertragen hätten, und Elias wollte noch wissen, ob Max jetzt ihr Freund sei, und sie sich nie mehr zanken würden. Manchmal war Maximilian bei uns, aber die meisten Nächte verbrachte Britta bei ihm. Max wusste wirklich alles, und konn­te Geschichten von Wikingern, Rittern und Römern den Kindern spannend und lustig erzählen. Sie bewunderten ihn nicht nur, sondern hatten ihn auch schnell ins Herz geschlossen. Sie drängten Britta immer, wann Max denn mal käme, warum sie immer zu ihm fahre, er könne doch auch herkommen, bei uns sei es doch auch schön. Britta selbst war richtig high, sie lief oft trällernd durchs Haus, fiel allen ständig um den Hals, und verstand es, selbst den gräss­lichsten Regentagen durch ihre gute Laune die zu Trübsal verleitende Wirkung zu rauben. Britta war völlig aufgeblüht.


Britta wird Kunstlehrerin


Eines Morgens berichtete sie beim Frühstück: „Es ist nicht ganz unmöglich, dass ich wieder eine Beschäftigung finden könnte.“ Max habe davon erfahren, dass an seiner ehemaligen Schule dringend Lehrkräfte für den Kunstunterricht gesucht würden, und dazu auch Fachkräfte ohne Lehramt als Angestellte ein­gestellt werden könnten. Der derzeitige Schuleiter sei sein ehemaliger Klassen­lehrer, zu dem er ein sehr gutes Verhältnis habe, so dass er vielleicht etwas be­wirken könne. Max hatte sie angepriesen, dass sie durch ihre Praxis Erfahrun­gen in al­len Bereichen der visuellen Medien gesammelt habe, von Aquarellma­lerei bis Videocollagen. So sei sie nicht nur in der Lage, den Schülern modere Techni­ken aus der Praxis zu vermitteln, von denen übliche Kunstpädagogen un­berührt seien, sondern sie würde auch sicher dafür sorgen können, das gesam­te mediale Image der Schule aufzupolieren. Sie sei eine Expertin, die in ihrem Be­ruf mehr als das dreifache von dem verdient habe als bei dieser Stelle, ein Ge­winn für die Schule, den man sich nur leisten könne, weil die Prosperität im Ausland stattfinde, und viele Entwicklungen hier rückläufig seien.

Brittas Vorstellung war erfolgreich, Brittas Vorstellungen sind immer erfolg­reich. Ihr frisches , Lebensfreude ausstrahlendes Auftreten in Verbindung mit ihrer immer noch jugendlich wirkenden Schönheit, wecken wahrscheinlich bei jedem Mann den Wunsch, diese Frau in seiner Nähe beschäftigt wissen zu wol­len. Jetzt wurde sie also Lehrerin für Kunstunterricht am Gymnasium. Alys konnte es gar nicht fassen: „Du könntest also meine Kunstlehrerin sein?“ Auf Brittas Zustimmung fragte sie weiter: „Und warum bist du nicht zu unserer Schule gekommen, unsere Kunstfrau ist so 'ne doofe Ziege. Kannst du dich nicht versetzen lassen, Lehrer können sich doch versetzen lassen? Mach das doch“


Britta war bis zum Beginn des nächsten Monats, an dem sie in der Schule an­fangen sollte, kaum noch zu sehen. Ihr Zimmer war vollgepackt mit Büchern über Kunstpädagogik, Kunstunterricht, Richtlinien für den Kunstunterricht, und sie selbst saß oder lag immer lesend und Notizen machend zwischen ihnen. Jetzt musste Max immer zu ihr kommen. Sie sollte 10 Klassen in Doppelstun­den unterrichten und 2 AGs durchführen, was Ralf und Max für ziemlich stres­sig hielten. An die beiden hatte sie auch viele Fragen zum Unterricht, und die versuchten ihr hilfreiche Tipps zu geben. Meistens saßen sie, wenn Max abends kam, gemeinsam am Tisch und konferierten. Anschließend musste Max den beiden Kindern noch wenigstens eine Geschichte mit Nachfragen erzählen. Britta war schon längst wieder in ihren Schulvorbereitungen versunken, und ich gab Max manchmal eine Flasche Wein mit rauf, um die ganzen Unter­richtspläne und Rahmenrichtlinien in Brittas Kopf besser aufweichen zu kön­nen.

Britta sagte mir, dass sie sich mittlerweile richtig auf die Schule freue. Die rie­sige Angst vom Anfang, als sie sich völlig orientierungslos gesehen habe, sei verschwunden. Sie wisse jetzt , was sie in den betreffenden Klassen zu tun habe, sei voller Ideen, und ihr fiele immer noch Neues ein. In Bezug auf den Um­gang mit den Schülern habe sie zwar noch Unsicherheiten, aber durch die guten Tipps sei sie auch diesbezüglich schon viel zuversichtlicher geworden.

Im Atelier habe ihr die Arbeit Spaß gemacht, wenn das in der Schule funktio­niere, wie sie es sich vorstelle, habe sie zum erst mal das Gefühl, et­was Wich­tiges zu tun.

Ihr erster Schultag stellte sich für sie durchwachsen dar. Sie war erstaunt über das teilweise völlig unterschiedliche Verhalten der Schüler. Während es in der einen Klasse toll gelaufen sei, habe sie mit der Parallelklasse nichts anfangen können. Am schlimmsten sei aber die als Kunstsaal bezeichnete Zimmerhöhle. Er habe alles das, was ein Zeichensaal nicht haben dürfe, und nichts von dem, was er eigentlich haben müsse. Am Abend hat sie sich stundenlang mit Ralf und Max beraten, die dafür sorgen konnten, dass aus dem durchwachsenen ein zufriedenes Bild wurde. Sie kam zunehmend besser mit den Schülern klar, und es gab kaum Tage, an denen sie unzufrieden mit ihrer Arbeit nach Hause kam.


Der Kunstsaal


Dem Schuleiter hatte sie mal drastisch erklärt, um was für einen Stall es sich dabei handele, was hier als Kunstraum bezeichnet werde, außer den Wasser­hähnen für's Aquarell malen sei hier nicht nur alles funktionslos, sondern sogar funktionswidrig. Sie könne sich noch so sehr anstrengen, aber gegen diese Ar­beitsbedingungen könne man kaum anarbeiten. Er finde das ja auch nicht schön, aber für so etwas stelle die Stadt mit Sicherheit kein Geld zur Verfü­gung, habe der Schuleiter zunächst reagiert. Sie habe ihm geantwortet, wenn man den Heizungskeller zum Physiklabor erkläre, sei das ja auch ein unhaltba­rer Zu­stand, der geändert werden müsse, nichts, gar nichts anderes sei das mit dem Kunstraum, nur da akzeptiere man es eben, weil man ästhetische Bil­dung und Entwicklung geringer schätze. Unter diesen Umständen würde es von dieser Schule niemals Menschen geben, die später irgendetwas Bedeutendes im künstlerisch Bereich hervorbringen würden. Das könne man doch nicht so ein­fach hinnehmen, da müsse man doch für kämpfen. „Sie sind toll, Frau Lahr­mann, ich mag sie, sie gefallen mir.“ habe er sie angelächelt, und sei mit ihr in sein Büro gegangen. Dann habe er sie darüber informiert, wie der Weg eines Antrags zu verlaufen habe, nur wenn er das darstellen solle, wisse er jetzt schon, dass es zum Scheitern verurteilt sei. Er habe jetzt schon gemerkt, dass sie so etwas viel besser und überzeugender könne, außerdem fehle ihm auch jede begründete Sachkenntnis, ob Britta nicht etwas formulieren könne, habe er sie gebeten.

Zu hause fragte sie mich, ob ich irgendetwas über rechtliche Vorschriften für Kunsträume wisse. Ich fragte sie, wofür sie das denn brauche, ob sie ihre Schule verklagen wolle. Dann erzählte sie mir alles. Es gebe wohl etwas, aber das gelte nur für Neubauten, und bringe auch mit Sicherheit nicht viel, weil da immer nur Mindestanforderungen genannt seien, und keine irgendwie gearte­ten pädagogischen Begründungen, ich würde es ihr aber trotzdem mal mit­bringen. Ich hätte da aber noch eine ganz andere Idee, von der ich nicht wisse, ob es klappen würde. Am nächsten Morgen rief ich Torsten an. Der Bau von Ate­liers und Kunsträumen war bei ihnen ja etwas Alltägliches. „Ich persönlich habe da gar keine Ahnung von, ich finde sie nur immer sehr schön, aber die Frau Rosch, die ist bei uns Queen of Art Rooms, die schick ich dir mal vorbei, dann kannste mit der alles abklären. Ich rufe die mal gleich an, dass sie sich bei dir meldet.“ half mir Torsten. Fünf Minuten später rief Frau Rosch an, eine halbe Stunde später war sie mit einem Koffer voll möglicherweise Verwertba­rem bei mir. Wenn der Chef erklärt, dass es um seine Frau geht, muss wahr­scheinlich alles andere warten. Wir klärten noch mal ab, worum es genau gehe, und wie so eine Stellungnahme aussehen könne. Zwei Tage später be­kam ich Mittags 2 Exemplare eines 20 seitigen Dossiers samt Text und Bei­spielfotos auf CD's zu Kunst-, Zeichen- und Grafikräumen in denen nicht nur alle möglichen Details aufgeführt und begründet waren sonder auch differen­zierte Innenausstattungserfordernisse und -optionen dargestellt waren. Ich rief sofort Frau Rosch an, und teilte ihr Bewunderung und Dankbarkeit mit. „Ja, sind sie zufrieden, Frau Stein?“ reagierte sie nur, „das freut mich, das ist schön.“ Meiner Ansicht nach konnte sie das gar nicht in so kurzer Zeit alleine geschafft haben, möglicherweise war die ganze Abteilung in Aufruhr versetzt worden. Als ich mich bei Torsten bedankte, und ihn nach den Kosten fragen wollte, erklärte er es zur kleinen Gefälligkeit für die befreundete Sozietät Stein.

Britta bekam den Mund nicht mehr zu, fragte erstaunt mit großen Augen: „Wo hast du das denn her? Wo gibt’s denn so etwas?“ „Dass ist extra für dich ange­fertigt, mein Schatz, das gibt es nur einmal auf der ganzen Welt.“ antwortete ich, und erklärte ihr die Zusammenhänge. „Oh Ruth, ich hab ja nie an so etwas geglaubt, aber jetzt kann ich wohl nicht anders. Der liebe Gott muss dich als meinen Schutzengel eingesetzt haben.“ sagte sie lachend und warf sich mir um den Hals. In einem ihr gut bekannten Atelier konnte sie zusätzlich eine Präsen­tation anfertigen, in der sie auch im als Kontrast die derzeitige Situation ein­blenden konnte. Jetzt suchte Britta nur noch nach pädagogischen und entwick­lungspsychologische Zusammenhängen, und schaffte es sogar zu einem Neu­rowissenschaftler vorzudringen, der zur Entwicklung und Prägung ästhetischer Wahrnehmung forschte und sich lange mit ihr unterhielt. Die Kollegin, die auch Kunstunterricht erteilte, und den Schuleiter hatte sie vorher informiert. Beide waren begeistert und sicherten ihr ihre volle Unterstützung zu. Die hatte sie gar nicht mehr nötig. In der Lehrerkonferenz war es während ihrer Vorstellung totenstill geworden. Als sie mit dem Satz schloss. „Aus fachdidaktischer Sicht kann das sicher noch feiner differenziert werden, aber ich bin der Ansicht, dass die von mir vorgetragenen Fakten auch schon deutlich reichen, um die Unhalt­barkeit des derzeitigen Zustandes und die zwingende Notwendigkeit zur sofor­tigen Veränderung erkennbar werden zu lassen.“ klatschte das ganze Kollegi­um anhaltend Beifall. Selbstverständlich, kam der Antrag in die Schulkonfe­renz, und der Schulleiter wollte unbedingt, dass sie den Antrag auch dort be­gründe, obwohl sie nicht Mitglied der Schulkonferenz war. Den Eltern schien erst jetzt bewusst zu werden, was hier für ein unhaltbarer Zustand herrsche, da müsse man doch mal die Presse informieren. Die Eltern konnten das ja tun. Am übernächsten Tag waren alle Tageszeitungen und das Lokalfernsehen an der Schule, der Schulleiter konnte ihnen nur den derzeitigen Zustand zeigen und verwies sie für das Fachliche an Britta, die jedem ein Dossier zum Ab­schreiben und gut pressetaugliche Fotos von Sollzuständen überreichen konn­te. Die Journalisten hatten's einfach und der Hauptartikel auf jeder ersten Lo­kalteilseite lautete etwa: „Eltern sehen schwarz für die kulturelle Bildung ihrer Kinder.“ Selbst das Lokalfernsehen hatte einen mehrminütigen Spott zusam­mengestellt, obwohl außer einigen Worten des Schulleiter und einer Umschau im Kunstraum keine bewegten Bilder existierten. Der Schuleiter empfahl dem Schulausschußvorsitzenden, doch seine Fachfrau dazu referieren zu lassen, die sei nicht nur absolut kompetent, sondern könne das auch außergewöhnlich gut präsentieren. Britta wurde zum Schulausschuss eingeladen. Der Vorsitzende bedankte sich artig für die hervorragende Präsentation, und meinte, dass hier unbedingt schnell gehandelt werden müsse, sei ja wohl selbstverständlich, es werde dafür gesorgt, dass möglichst sofort eine Konkretisierung für eine mögli­che Maßnahme in die Wege geleitet werde, die man dann beschließen könne. Für die Verwaltung bat er noch um 2 Dossiers, da die ja auch nicht in allen Tei­len so bewandert sein könnten.

Die Schule hatte zwei Jahre nach Brittas Beginn den schönsten und exklusivs­ten Kunstsaal der Stadt, und bekam den Nimbus einer Schule mit besonders hochqualifizierter kunstpädagogischer Förderung. Wegen der hervorragenden Arbeitsbedingungen bewarben sich immer wieder Lehrer zu der Schule, von der sie aber nur eine wegen ihres Hauptfaches Latein einstellen konnten. Der Schuleiter konnte nicht aufhören, jedes Mal, wenn über den Kunstsaal gespro­chen wurde, zu betonen: „Das ist Frau Lahrmanns Geschenk an die Schule. Ohne sie gäbe es das nicht. Und sie bekommt am wenigsten Gehalt von allen.“

Natürlich war Britta nicht nur zu einer geachteten und beliebten Kollegin ge­worden, sondern man vermutete in ihr wegen ihrer Präsentationen, auch Wis­sen und Können, über das sonst niemand an der Schule verfüge. Sie wurde häufig von Kolleginnen und Kollegen um Rat gefragt, oder um Hilfe gebeten, und wenn man die Kollegen gefragt hätte, ob Frau Lahrmann hier wichtige Ar­beit leiste, hätte es keinen gegeben, der nicht sofort mit „natürlich, aber selbstverständlich“ geantwortet hätte.


Einsam – Allein zu Haus


Bei uns im Haus hatte sich auch vieles verändert. Das volle bunte lebenslustige Haus gab es nicht mehr. Britta war ausgezogen, und wohnte jetzt mit Maximili­an zusammen in einer Wohnung in unserer Nähe. Max war im Schuldienst an Alyssias Schule, unterrichtete aber ausschließlich in der Oberstufe. Alys war ganz stolz, wenn sie vor den Großen zeigen konnte, was für ein lockeres Ver­hältnis sie zu ihm hatte, und erklärte, dass sie ihn so gut kenne damit, dass er der Freund der Mutter ihre Bruders sei. Zu uns kamen Max und Britta außer an Wochenenden relativ selten, weil beide sehr beschäftigt waren. Nur Britta kam schon manchmal auf einen Kaffee vorbei. Ralf hatte eine Professur in Magde­burg, und war an vier Tagen in der Woche nicht anwesend. Er kam erst Don­nerstagabend zurück, und musste Montag sehr früh wieder fahren. Ich hatte das Gefühl, trotz der Kinder oft recht einsam zu sein. Wenn Sylvia uns besuch­te, überbrückte das vielleicht einen Tag. Es war einfach Ralf, den ich abends sehen wollte. Ich hatte vor meiner Heirat mit Torsten immer alleine gewohnt, aber Einsamkeitsgefühle hatte ich nie gekannt. Selbst mit Torsten war ich sehr häufig allein, weil er oft unterwegs war. Die vier Tage, an denen Ralf nicht zu Hause war, schienen immer länger zu werden. Manchmal wurde ich schon montags Nachmittags auf dem Weg von der Kanzlei nach Hause traurig, weil niemand – d. h. Ralf – zu Hause war. Bei der Arbeit war alles o. k., aber wenn ich zu Hause war wurde es schlimm, durch die Kinder gab es noch ein wenig Ablenkung, aber wenn sie im Bett waren, fühlte ich mich einfach nur allein. Früher hätte ich immer gern mehr Zeit zum Lesen gehabt, jetzt hatte ich sie, nur ich hatte fast nie mehr Lust zum Lesen. Ich hatte Abends zu nichts Lust. Ich konnte nicht mal mehr Ralf anrufen. Zu Anfang haben wir uns jeden Abend angerufen, und viel Spaß dabei gehabt, wenn ich jetzt anrief, flennte ich nur die ganze Zeit. Einmal ist er nachts von Magdeburg nach Hause gekommen, weil ich ihm am Telefon gebeten hatte, er solle kommen, ich hielte es nicht mehr aus. Am Wochenende war alles, wie nie gewesen. Wir hatten öfter dar­über geredet, aber am Wochenende war ich ein anderer Mensch, der zwar wusste, was Montags bis Mittwochs passiert war, aber in die Situation einfüh­len konnte ich mich nicht. Dann konnte ich so großartige Sprüche entwickeln wie: „Ach die drei Abende, das werd' ich schon schaffen. Was sind denn drei Abende.“ Außer mit Ralf konnte ich bisher mit niemandem darüber sprechen. Wir überlegten verschiedene Möglichkeiten. Eventuell war es die ganze Verän­derung der Lebhaftigkeit in unserem Haus, der auch noch durch Ralfs Abwe­senheit die Krone aufgesetzt wurde. Vielleicht war es einfach so, dass ich abends einen Ausgleich zu meiner täglichen Arbeit brauchte, von der Ralf ein grundsätzlicher Bestandteil war. Möglicherweise hatte sich die Situation, die ja von Anfang an zwar nicht schön war, die ich aber noch ertragen konnte, zu ei­ner regelrechten Phobie entwickelt. Wir überlegten, ob es nicht irgendeine Möglichkeit geben könne, das Ralf wieder nach Hause käme. Andererseits war mein Verhalten ja nicht akzeptabel. Es kann doch nicht sein, dass eine 40 jäh­rige Frau ohne ihr Kuscheltier nicht einschlafen kann, und im Wissen darum, dass es nicht vorhanden ist, in tiefe depressive Zustände verfällt. Ich brauchte Hilfe. Meiner Einschätzung nach sollte ich nicht einfach einen Psychotherapeu­ten aufsuchen, sondern es handelte sich hier ziemlich sicher um depressive An­wandlungen. Ich suchte mir also einen Spezialisten für depressive Erkrankun­gen aus. Prof. Dr. Rütten von der Uni gefiel mir, und schien für meine Angele­genheiten genau die richtigen Kompetenzen zu haben.


Therapie


Er gefiel mir auch, als ich zum ersten Besuch bei ihm war. Er machte auf mich einen warmherzigen, einfühlsamen, freundlichen Eindruck. Das erste Gespräch dauerte ewig. Ich musste ihm nicht nur mein ganzes Leben schildern, er wollte auch vieles aus meiner Familiengeschichte wissen. Am sonderbarsten fiel mir hinterher auf, dass ich mir gar nicht ausgefragt vorkam, sondern es mir richtig Freude gemacht hatte, alles zu erläutern. Als ich ihm zu Beginn sagte, ich wis­se gar nicht, ob es sich um eine Depression handele, meine Krankheit sei, dass ich keine Nacht mehr ohne meinen Mann aushalte. Lächelte er und meinte, dass höre sich ja sehr interessant an. Zum Schluss erklärte er mir, das es sich bei mir eindeutig um depressive Erscheinungen handele, ich aber eine sehr gute Prognose hätten. Es seien wahrscheinlich mehrere Komponenten, die die Grundlage bildeten, aber ausschlaggebender Auslöser sei nicht die Abwesen­heit meines Partner gewesen, sondern die Tatsache, das sich sonst all unsere sozialen Beziehungen über unser Haus abgespielt hätten, und das sei alles ver­schwunden. Ich sei tatsächliche sozial-emotional vereinsamt, da ja keine alter­nativen sozialen Beziehungen, von mir nach draußen bestünden. Mein Partner symbolisiere für mich eine andere Welt, und gebe mir am Wochenende die Illu­sion, dass alles wieder anders sei. Meine persönlichen dispositionalen Voraus­setzungen halte er nach unserem ersten Gespräch für, wenn überhaupt, äu­ßerst unbedeutend. Dass sei die entscheidenste Voraussetzung dafür, dass ich wieder unbelastet, glücklich und zufrieden sein könne. Ich wäre besser noch früher gekommen, aber das sei ja jetzt irrelevant. Sehr günstig und förderlich sei es allerdings, wenn mein Partner während der Behandlung nicht ständig ab­wesend sein müsse. Er sei doch Beamter und habe ein Kind, da könne er sich doch gut für ein Jahr freistellen lassen, und dann sähe für mich bestimmt schon alles ganz anders aus, da sei er sich sicher. Das wäre sehr, sehr hilf­reich, und würde mir doch sicher auch gefallen, ich solle es doch mal mit mei­nem Partner überlegen. Vor diesen depressiven Phasen müsse ich mich schüt­zen, ich hätte ja selbst erfahren, wie es sich permanent steigere. Er würde mir solange ein Medikament empfehlen, das so gut wie nebenwirkungsfrei sei, es könne allenfalls Anorgasmie auftreten. Als ich kategorisch erklärte. „Dann will ich das nicht. Dann bekomme ich ja am Wochenende auch noch Depressio­nen.“ Musste er lachen und erklärte, er müsse mich nur darauf hinweisen, dass es ggf. auftreten könne. „Aber wenn das auftritt, setze ich das sofort ab.“ drohte ich. Ich ließ mir einen Termin für eine Folgesitzung geben, in der dann ein Therapiekonzept erstellt werden und die Behandlungsstufen festgelegt wer­den sollten.

Ralf gefiel die Freistellung persönlich nicht besonders, aber selbstverständlich sei meine Gesundheit und mein Glück für ihn das Wichtigste. Die Erklärungen und Erläuterungen von Prof. Rütten konnte er sehr gut nachvollziehen und wir freuten uns gemeinsam darauf, dass bald alles wieder anders werden würde. Wie genau, das wussten wir nicht, aber ich war mir sicher, dass diese grässli­che Zeit bald vorbei sein würde. Meine Freude übertrug sich schnell auf Ralf und wurde zum Anlass für eine lange, lange Nacht. Am Samstagmorgen kamen kurz nach 10 Uhr Elias und Alys rein und wollten wissen, was los sei, warum wir nicht aufstünden. Wir erklärten, dass wir einfach noch so müde seien, wo­bei Alys mich angrinste. Dann tuschelten die beiden etwas, befahlen uns liegen zu bleiben, und waren kurze Zeit später mit dem Frühstück wieder da. Unsere beiden Süßen, was würde ich erst heulen, wenn sie mal nicht mehr da wären. Bei Alyssia konnte das schon bald der Fall sein. Wir hatten nämlich überlegt, dass es gut wäre, wenn sie als Austauschschülerin für ein Jahr in die USA gin­ge. Sie selbst meinte, dass ein ganzes Jahr ziemlich lang sei, aber sie fände es trotzdem super.

Bis zu den Semesterferien waren es noch drei Wochen, also drei mal vier Tage, und ab dem nächsten Semester war Ralf freigestellt, so dass er fast anderthalb Jahre zu Hause war. Die Tabletten konnten laut Information überhaupt noch nicht wirken, trotzdem ging es mir gleich in der ersten Woche blendend. Ich rief Ralf jeden Abend an, wir feixten und liebkosten uns, und ich konnte auch ohne Ralf wohlig einschlummern.


Alyssia first time


Wenn Elias im Bett war, hatte ich oft intensive Gespräche mit Alyssia von Frau zu Frau. Sie überlegte ob sie's mal mit 'nem Jungen machen sollte. Die meis­ten bei ihr in der Klasse hätten schon mal. Einerseits wüsste sie ja schon mal gerne, wie das wäre, andererseits hätte sie auch ein bisschen Angst, aber ab­gesehen davon, kenne sie niemanden, mit dem sie das gerne machen würde. Sie wollte alles von mir wissen und ich versuchte ihr klar zu machen, warum man sich vom ersten mal nicht so viel erhoffen sollte, da es meist schwer sei, sich dabei völlig frei und unverkrampft zu fühlen. Ich versuchte ihr zu verdeut­lichen, was wichtig sei, damit es auch beim ersten Mal schön werden könnte. Im nächsten Urlaub ist es dann passiert. Sie hat einen französisch Jungen ken­nen gelernt, und sich feurig in ihn verliebt. Es existierte nur noch Daniel für sie, und für Daniel ausschließlich Alyssia. Alyssia war auch häufig bei Daniels Familie zum Essen und fuhr mit ihnen raus. Ich sprach Madame Ledoux mal an, ob ihnen das auch recht sei? Sie war ganz begeistert, es mache sie und ih­ren Mann selbst sehr glücklich, diese junge Liebe zu sehen, darüber hinaus sei Alyssia ja nicht nur ein sehr schönes, sondern auch sehr intelligentes und wun­dervolles Mädchen. Sie hätten sie beide schon ins Herz geschlossen. Eines Mor­gens kam Alyssia zu mir ins Bett. Ralf war schon aufgestanden. Sie kuschelte sich an mich und sagte leise: „Mami ich hab.“ Obwohl ich sofort verstand frag­te ich: „Was hast du?“ Leicht verlegen errötend und ein wenig stolz lächelnd schaute sie mich an und sagte: „Mit Daniel gefickt.“ Sie ließ ihr Gesicht an mei­nen Hals fallen und weinte. Ich streichelte ihr übers Haar und wollte wissen, ob's denn nicht schön gewesen sei. „Doch irgendwie schon aber auch ein biss­chen komisch.“ „Und warum weinst du?“ fragte ich sie. „Ich weiß gar nicht. Jetzt ist es passiert. Und wenn ich's dir sage, muss ich einfach weinen.“ „Ja, meine kleine Süße ist jetzt eine richtige Frau geworden.“ strahlte ich sie an. Wir küssten uns, und als ich sie fragte, ob sie's denn noch mal machen würde, zog sie ihre breite Schnute und nickte heftig, als ob sie sagen wollte: „Auf je­den Fall, selbstverständlich.“ „Wir haben ja nicht nur gefickt, Mami. Daniel ist sehr lieb zu mir. Wie du mir's gesagt hast. Ich glaube, dass er wirklich Lust daran hat, mich glücklich zu machen mit Küssen und Streicheln und schöne Dinge sagen. Es ist sehr, sehr sehr schön mit ihm.“ „Meine süße junge Frau, ich muss es dir noch mal sagen, dass ich dich ganz, ganz, ganz lieb habe.“ sagte ich, umschlang sie mit meinen Armen und drückte sie ganz fest an mich.


Madame et Monsieur Ledoux


Als ich Daniels Mutter, darauf ansprach, ob sie wisse, dass die beiden mitein­ander schliefen, und ob ihr das recht sei, meinte sie, Daniel habe ihr zwar nichts davon erzählt, obwohl er ihr sonst immer alles Mögliche über Alyssia vorschwärme, aber das sei doch heute ganz normal und selbstverständlich, und es sei ja besser so, als wenn es unter anderen Umständen geschehe. Wir schlugen vor, mal gemeinsam essen zu gehen. Daniel und Alyssia waren sofort nach dem Essen verschwunden, während es für Madame und Monsieur Ledoux und für uns noch ein langer Abend wurde. Ich brachte zwischendurch Elias ins Bett, und die Gespräche zwischen uns wurden immer persönlicher und vertrau­licher. Wir verstanden uns ausgezeichnet, und haben viel gelacht. Als ich er­zählte, dass ich zur Zeit einen Therapeuten habe, weil ich es keine Nacht mehr ohne meinen Partner ausgehalten habe, war das natürlich auch Anlass zu aus­gedehnten Späßen. Als Monsieur Ledoux erklärte, wie sehr er Ralf beneide, wurde er mit gestrengem Blick lächelnd von Madame Ledoux zurecht gewie­sen. Wir beschlossen uns unbedingt gegenseitig besuchen zu wollen, und tauschten Adressen und Telefonnummern aus. Die Ledoux hatten ein Weingut bei Tain-l'Hermitage ein wenig nördlich von Valence. Monsieur erläuterte ein wenig, was für einen Wein sie erzeugten, und versprach, uns mal etwas zu schicken. Von der Situation im Weingeschäft wolle er im Urlaub nicht reden, das würde ihm die Stimmung verderben.

Daniel und Alyssia schliefen jetzt immer bei uns. Ich erklärte Daniel, dass sie auch ohne weiteres bei Ledoux schlafen könnten, seine Eltern hätten mit Si­cherheit nichts dagegen. Er traue sich nicht, es sei ihm peinlich. Als ich ihm er­klärte, dass sich seine Mutter bestimmt freuen würde, von ihm ins Vertrauen gezogen zu werden, erklärte Alyssa ihm, warum er das unbedingt tun müsse, und er solle nicht so ein Feigling sein. Dann haben sie's beide Daniels Mutter erzählt, sie habe sie beide umarmt, geküsst und sei angefangen zu weinen.


Probleme bei Max und Britta


Zu Hause konnte ich jetzt auch Britta von meiner kuriosen Situation erzählen. Weil ich mir sicher war, dass es anders werden würde, war ich auch in der Lage darüber zu scherzen. „Warum hast du denn nichts gesagt? Warum hast du dich denn nicht mal gemeldet?“ Sie könne sich das gut vorstellen, dass das zutreffe, was der Professor gesagt habe. Sie empfinde zwar im Moment noch keinen Mangel, aber ihre privaten Kontakte hätten sich auch, seit sie mit Max zusammen sei, und an der Schule beschäftigt wäre, stark verringert. Sie halte diese Entwicklung auch eher für bedenklich, zumal wenn es mal Probleme un­tereinander gebe. „Besteht denn ein Anlass zu der Befürchtung?“ wollte ich von Britta wissen. „Nein, direkt nicht. Es ist nur so, das Max gerne Kinder oder ein Kind möchte, und ich das eigentlich überhaupt nicht mehr will. Ich kann ihn ja verstehen, ich habe auch nichts gegen Kinder, im Gegenteil, nur dieses ganze Gequäle mit Schwangerschaft, Geburt, und Tag und Nacht Stillen usw. das brauch ich absolut nicht. Da habe ich einen Horror vor, aber freuen könnte ich mich darauf nicht. Ich habe Spaß daran, in der Schule zu sein, wenn ich die Kids dazu bringen kann, Freude an der Arbeit zu haben, mir neue Ideen zu überlegen und umzusetzen. Spaß am Kinderkacke ausnehmen habe ich mit Si­cherheit nicht.“ erklärte Britta ihre Situation. Ich hielte ihre Situation schon für sehr ernst, und meinte, dass man da nicht einfach so mit leben könne, dass sich einer – in diesem Falle sie – gegen den anderen durchsetzte. „Aber ich mach das nicht, wenn ich das gegen meinen Wunsch und Willen durchziehen soll, macht mich das kaputt, da kann und will ich nicht mit leben.“ betonte Britta deutlich. Das verlange ja auch niemand, ich wolle nur sagen, dass Max Vorstellungen für ihn ja die gleiche emotionale Bedeutung haben könnten. Und zwei so konträre Positionen mit so starker emotionaler Gewichtung einfach ge­genüber stehen zu lassen, sei schon ein massiver Konflikt, den man lösen müs­se, und bei dem es nicht reiche, nur freundlich miteinander zu reden, aber den Konflikt weiter im Raum stehen zu lassen. „Aber was soll ich denn machen, Ruth ich kann das ja alles gut verstehen, ich finde das ja auch schön ein Haus mit lebhaften heranwachsenden Kindern zu haben, keine Frage, nur Babyge­bär- und -aufzuchtmaschine das bin ich nicht mehr, und will es auch nicht wie­der sein.“ erklärte Britta. „Liebes, ich versteh dich sehr gut, ich könnte mir das für mich auch nicht mehr vorstellen, obwohl ja noch viele Frauen mit 40 und darüber fleißig Kinder kriegen, ich weiß gar nicht, wann ich mir das für mich noch hätte vorstellen können, hab ich mich nie gefragt. Ich hatte ja Alyssia, das war alles keine Qual, das habe ich sehr schön und intensiv empfunden, und mit Torsten reichte mir das auch. Viele Frauen empfinden ja den Wunsch nach einem Kind, wenn sie glücklich verliebt sind, auf die Idee, dass ich mir von Ralf ein Kind wünschen könnte, bin ich nie gekommen. Wenn das bei dir so ist, wie du sagst, wird dich niemand zu etwas anderem überreden können und dürfen. Nur euer Konflikt ist damit nicht gelöst, und das kann nicht gut ge­hen.“ versuchte ich Britta zu verdeutlichen. „Meinst du denn, Maximilian wäre bereit dazu, dass wir mal alle vier darüber sprächen?“ fragte ich Britta. Sie glaube schon, dass sie ihm das klar machen könne. Er habe eine hohe Meinung von uns, und erwarte mit Sicherheit nichts Böses. Ich informierte Ralf über das Problem der beiden, und er meinte auch, wenn man das einfach so weiter lau­fen lasse, wären sie wahrscheinlich in einem Jahr nicht mehr zusammen. Sie kamen zum Essen zu uns, und nachdem Elias im Bett war und Alyssia in ihrem Zimmer, schnitt ich das Thema an. Ich berichtete, was Britta mir erzählt hatte, und Ralf eine Lösung für so dringend erforderlich halte, dass er der Ansicht sei, dass sonst ihre Beziehung nicht mehr lange halten werde. Ich wisse auch keine Lösung, die müssten sie letztendlich selber finden, aber es könne doch hilfreich sein, gemeinsam zu überlegen und zu diskutieren. Nachdem Max begriffen hat­te, dass er Brittas Einstellung einfach respektieren und akzeptieren müsse und alles andere keine Problemlösung sei, konnten wir einer Problemlösung näher kommen. Britta und Max wollten Kinder adoptieren, wie und wodurch genau sollte noch geklärt werden, der Gedanke, dadurch Kinder vor Waisenhaus, Ar­mut und Hunger zu retten gefiel ihnen so gut, dass sie sich schon richtig dar­auf freuen konnten.


Neues Haus für Brittas Family


Ralf hatte zwischendurch Max mal erklärt, seinen Wunsch nach Family mit Kin­dern fände er klasse, aber er müsse sich doch auch mal Gedanken machen, wo die denn leben sollten, in seiner Etagenwohnung, das sei doch Kinderquälerei. Also musste für die Family ein Haus gebaut werden. Als das erste Waisenkind ein 4 jähriges Mädchen aus Columbien ankam, war das Haus fertig. Das Haus war so üppig, dass es regulär ihre Verhältnisse wohl um das Vierfache über­schritten hätte. Es war eine kleine moderne Villa mit großem Garten in unserer Nähe. Ich war permanent mit Brittas Haus beschäftigt, und hatte alle Connecti­ons ausgenutzt, um für sie Schönes günstig zu erreichen. Und als es zum Schluss doch nicht ganz reichte, bin ich noch mit einem unbefristeten zinslosen Darlehen eingesprungen. Britta war total happy, häufig bei uns und Elias häu­fig bei ihr.


Gespräche mit Anja


Zu meiner Freundin Anja, mit der ich ja unsere Sozietät initiiert hatte, war die Beziehung immer noch sehr freundlich, wir verstanden uns ja auch als die Cheffinnen der ganzen Firma, und alles lief wie geschmiert, nur unser privates persönliches Verhältnis war nicht mehr das, was es einmal war. Eigentlich exis­tierte es überhaupt nicht mehr. Ich fragte sie, ob sie nicht mal Zeit für ein per­sönliches Gespräch nach Büroschluss habe, natürlich hatte sie. Wir gingen in ein Café, und ich sagte ihr, dass mir neulich aufgefallen sei, dass wir zwar sehr gut in der Kanzlei mit einander klar kämen, aber persönlich eigentlich nichts mehr miteinander zu tun hätten. „Ohch!“ stöhnte sie erleichtert auf, „Ich hatte schon gedacht es wäre etwas Schlimmes. Du wolltest mich los werden, oder so etwas ähnliches.“ „Anja, rede nicht so einen Blödsinn.“ reagierte ich, wir lach­ten uns beide an, und ich erklärte weiter, „Schlimm ist das aber eigentlich schon.“ und dann erzählte ich ihr meine Geschichte mit Ralf und was der Psychiater dazu gemeint hätte. Sie beklagte auch, dass ich doch früher mal hätte etwas sagen soll. Ich verdeutlichte, dass dies ja gerade das Problem sei, alle persönlichen Kontakte hätten sich mit Menschen abgespielt, die zu uns ge­kommen seien, oder bei uns gewesen wären, und innerhalb kürzester Zeit sei da bis auf die Kinder nichts mehr gewesen. Ich hätte von mir aus gar keine Kontakte nach außen gehabt, weil ich mich gar nicht darum gekümmert hätte, oder bestehende einfach hätte einschlafen lassen. „Mit dir hätte ich nicht dar­über sprechen können, die Basis war gar nicht mehr da, ich fand dich zwar im­mer noch nett, und ich freute mich auch dich in der Kanzlei zu sehen, aber das war eben alles Office. Du warst für mich nicht mehr die Anja mit der ich früher zusammen gehockt, und gemeinsam über Liebesprobleme beratschlagen konn­te. Das ist meine Schuld. Ich habe einfach nicht gesehen, wie bedeutsam so etwas ist. Ich habe einfach genossen, was ich hatte, und als plötzlich alles weg war, habe ich mich an Ralf gekrallt, als Sinnbild für die vormals heile Welt.“ so versuchte ich meine Situation darzustellen. Anja blickte lange träumend auf die Straße. Sie senkte den Blick zu ihrem Cappuccino, und begann ihn umzurüh­ren, wobei sie nach kurzer Zeit sagte: „Ich glaube, ich versteh das sehr, sehr gut was du sagst. Im Grunde bin ich eigentlich auch verdammt einsam. Ich dreh zwar noch nicht durch, aber eine Freude ist das nicht, wenn ich aus dem Büro nach Hause komme. Ich bin viel lieber im Büro als bei mir. Ich versuche mich viel abzulenken, bin fast jeden Abend unterwegs, aber Freunde, so wie das zwischen uns damals war, hab ich auch nicht. Ich habe mir da nur noch keine Gedanken drüber gemacht. Ich habe das immer so hingenommen, als ob ich das akzeptieren müsste, und mich immer gefreut, wenn ich Morgens wieder ins Büro kam, und zum Beispiel dich sah. Dann war meine Welt wieder in Ord­nung. Weiß du was Ruth, wir machen etwas, so läuft das nicht weiter, wenn wir beide das wollen, kriegen wir alles hin. Wir treffen uns an einem Abend, und dann können wir uns bei 'ner Flasche Wein mal wilde Sachen ausdenken“ Wir umarmten uns und beschlossen, dass Anja zu uns kommen, und bei uns über­nachten sollte.


Nächste Therapiesitzung mit Ralf


Bei meiner nächsten Sitzung bei Prof. Rütten ging es mir wieder so blendend, dass ich gar nicht wusste, was ich eigentlich beim Therapeuten sollte. Ich habe ihm erzählt, wie toll es mir ging, und was ich schon alles unternommen hätte. Worauf er mich warnte, es sei zwar schön, dass es mir gut ginge, aber ich dür­fe nicht glauben, das das Problem behoben sei, wenn ich allein mit den Kindern im Haus sei, wäre die alte Situation sofort wieder da. Die Therapie abzubre­chen, weil ich keine Probleme verspüre, sei der dümmste Fehler den ich ma­chen könne. Mir kam die Idee, ob ich nicht mal Ralf mitschleppen sollte, dann bekäme er das authentisch mit und würde vielleicht ein wenig auf mich aufpas­sen, falls ich mal auf dumme Gedanken kommen sollte. Ich fragte Herrn Rüt­ten, ob das sinnvoll wäre, und er meinte, dass dies das Beste sei, was ich ma­chen könnte. Meistens seien da die Männer sehr reserviert, und lehnten es ab. Als Ralf beim nächsten mal mitkam, scherzte Herr Rütten: „Ja jetzt kann ich das schon viel besser verstehen, warum Frau Stein nachts nicht allein bleiben will.“ Wir setzten uns lächelnd zusammen und Ralf bekam auch noch mal alles persönlich erklärt. Das Therapiekonzept wurde erläutert, und einige Sitzungen wurden in gemeinsame Sitzungen mit Ralf umgewandelt. Spätestens in knapp einem Jahr solle alles vorbei sein, und ich mich locker in der Lage fühlen, auch mal einige Nächte in der Woche ohne meinen Partner auskommen zu können. Die einzelnen Sitzungen würden von Oberärzten durchgeführt, Herr Rütten sei aber auch immer ansprechbar für Fragen und Probleme.

Schon in der ersten Sitzung fragte uns der Oberarzt, warum wir das denn überhaupt machen würden. Wochenendehen seien immer eine sehr große Be­lastung, und hielten meist nicht lange. Auch wenn nicht der eine Partner in De­pressionen verfiele, gebe es eine Reihe von Stressfaktoren, die dazu führten, das diese Ehebedingungen die mit der höchsten Scheidungsrate seien. Wenn es irgendeine Möglichkeit gebe, solle man so etwas verhindern. Nachdem ihm Ralf das mit seiner Professur und seinem Alter erklärt hatte, meinte er er­staunt: „Ja aber sie haben das doch finanziell überhaupt nicht nötig. Sie kön­nen als Prof. Dr. Päd. doch auch etwas Privates machen, z. B. Erziehungsbera­tung, Vorträge, Fortbildungen, da fällt ihnen selber sicher noch viel mehr ein, oder müssen sie unbedingt im Staatsdienst bleiben. Wer eine Wochenendehe führt, ohne dringend finanziell darauf angewiesen zu sein, dem ist meiner An­sicht nach nicht zu helfen, weil er leichtfertig mit seiner Beziehung spielt. Sie dürfen nicht vergessen, dass es nicht darum geht, dass sie einmal vier Tage nicht zu Hause gewesen sind, das hat ihre Frau ja locker ausgehalten. Es ist das Perpetuierende ohne jede Aussicht auf Änderungen, sich immer Wiederho­lende ihrer überwiegenden Abwesenheit, das Stress auslöst und Empfindungen von Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit verbreitet. Die Empfindungen ihrer Frau für diese Situation sind keineswegs ungewöhnlich, andere reagieren viel­leicht nur anders, indem sie die Partnerschaft auflösen, oder sich einen Liebha­ber zulegen oder irgendetwas, dass ihnen diese unerträgliche Situation erträg­lich macht.

Ralf war ganz verlegen geworden und sprach auch erst nicht mit mir, als wir heraus kamen. Außer ein paar unbedeutenden Nebensächlichkeiten sprachen wir auch im Auto nicht miteinander. Ich wollte ihn selbst dazu beginnen lassen. Erst im Haus äußerte er sich: „Der hat mich ja ganz schön zusammen gefaltet? Siehst du das auch so.“ „Was soll ich so sehen, ob er dich zusammen gefaltet hat? Das sehe ich eher nicht so.“ antwortete ich, „ob ich das auch so sehe, wie er es dargestellt hat? Was sollte ich da anders sehen?“ „Dann bin ich also ein ganz schöner Depp gewesen, der sich überhaupt nicht darum gekümmert hat, was es bedeutet. Ich bin Schuld daran, was du durchgemacht hast, und muss dir danken, dass du trotzdem immer so fest zu mir gestanden hast.“ reagierte Ralf. Er setzt sich auf die Couch, zog mich auf seinen Schoß, vergrub sein Ge­sicht in meine Schulter, und weinte leise vor sich hin. Nachdem ich ihm eine Zeit lang übers Haar gestreichelt hatte, hob ich seinen Kopf, gab in auf jedes tränende Auge einen Kuss und tröstete ihn: „Komm Schatz, hör auf, wir haben es ja beide nicht gewusst, und sind einfach hinein gestolpert. Es wird sich ja al­les ändern, darüber haben wir uns doch schon gefreut, daran solltest du den­ken und aufhören zu weinen. Ich empfinde das nicht so, als ob du mir etwas angetan hättest. Ich werfe dir nichts vor. Ich habe mich immer nur auf dich gefreut, und werde es auch weiterhin tun. Es sei denn, du bist wieder mal rotz­frech zu deiner Liebsten, da weißt du ja was das für Konsequenzen hat.“ Ralf konnte wieder lächeln. Langsam befühlte er mein Gesicht mit seinen Fingersit­zen, zog meinen Kopf zu sich und küsste mich. „Ach Ruth,“ stöhnte er, „wir ha­ben schon so vieles durchgestanden, dann werden wir das auch noch durchste­hen.“ „Nein so nicht, Ralf, so gar nicht.“ reagierte ich leicht gereizt, „ich lege keinen Wert darauf, mit dir ein Jammertal zu durchleiden. Wir haben nichts durchgemacht. Wir haben uns fast Unmögliches vorgenommen, und immer ge­wonnen. Erinnerst du dich noch daran, wie wir uns damals klar gemacht ha­ben, dass permanentes Risiken abwägen nie zur Veränderungen führt. Wenn wir nichts gewagt hätten, und uns darauf gefreut hätten, säßen heute immer noch Herr Grundschullehrer und Frau Regierungsrätin im Bett und jammerten, wie schlimm doch alles sei. Ich will mit dir gewinnen, und mich darüber freuen können, ich will mit dir leben und lachen, und nicht mit dir jammern. Unsere Sozietät war deinem möglichen Pädagogischen Institut gegenüber ein reines Vabanquespiel. Überleg dir etwas, worauf du dich freuen könntest. Du hast an­derthalb Jahre Zeit es umzusetzen.“ „Jetzt verhaust du mich auch noch, wie soll ich mich denn da freuen?“ reagiert Ralf ironisch lächelnd. „Das war nötig. Wenn du wieder brav bist, werde ich dich heute Abend trösten.“ stellte ich ihm in Aussicht.


Schüleraustausch Alyssia - Daniel


Alyssia wollte nicht mehr in die USA sondern nach Frankreich, ihr Französisch sei nicht gut genug. Wir kamen zu dem Schluss, dass es unverzichtbar sei, flie­ßend englisch zu sprechen. Es sei zwar nicht schlecht auch gut französisch sprechen zu können, aber nicht so zwingend erforderlich. „Ja, aber wenn ich einen französischen Mann habe, dann muss ich den doch auch verstehen kön­nen und ihm sagen können, was er tun soll.“ argumentierte Madmoiselle Alys­sia. Dagegen gab es natürlich keine stichhaltigen Argumente. Wir schlugen vor, mal zu erkunden, ob es nicht möglich sei, dass sie ein halbes Jahr bei Le­doux wohne, Daniels Schule besuche, und Daniel ein halbes Jahr zu uns kom­me, und mit ihr zur Schule ginge, wenn sie sich immer noch liebten. Nur wenn ihr französischer Mann eine deutsche Frau habe, dann müsse er sich ja auch ein wenig anstrengen, um sie zu verstehen. Wenn er überhaupt keine Deutsch­kenntnisse habe, würde das mit einem Schüleraustausch an eine deutsche Schule wahrscheinlich nicht funktionieren. Wenn sie und Daniel das wollten, und Ledoux damit einverstanden wären, könnten wir das dann mit den Schulen und Austauschprogrammen organisieren, während sie in den USA wäre. Alyssia war Feuer und Flamme, und wollte sofort heute Abend mit Daniel sprechen. Daniel war begeistert von der Idee und hat sofort seine Eltern gefragt, die fän­den das auch toll, wenn Alyssia für ein halbes Jahr bei ihnen sein könnte, sie wüssten aber nicht sicher, ob das von der Schule aus möglich wäre. Daniel selbst fand das mit dem Deutsch-Lernen nicht so gut, es sei so schwer. Dann hatte Alys ihm erklärt, wenn er sie wirklich liebe, müsse er auch ein wenig deutsch verstehen. Aber er liebe sie doch jetzt auch schon wirklich ohne Deutsch, habe Daniel entgegnet. Alyssia habe ihm zu verstehen gegeben, wie schön es für sie wäre, wenn sie zu ihm Liebling, Süßer, Schatz oder böser Jun­ge sagen könne, und er würde das verstehen. Dann habe er wissen wollen, was das bedeute, und wie man das zu einer Frau sage. Er habe sich alles auf­geschrieben, selber vorgelesen und sei absolut überzeugt, deutsch lernen zu müssen. Die beiden waren so süß, wie schade, dass man damit rechnen muss­te, dass so junge Beziehungen irgendwann enden würden. Ich wollte mir das Drama nicht vorstellen, wenn Daniel ihr eines Tages mitteilen würde, er habe jetzt eine andere Freundin. Am nächsten Abend schon rief Alys mich zum PC, Monsieur Ledoux wolle mich sprechen. Er hatte schon alles geklärt, von der Schule her bestünden keine Probleme, und der Wechsel Daniels in den Deutsch-Kurs sei auch organisiert. Ein Nachhilfelehrer solle ihm helfen, die feh­lenden fast 1½ Jahre nachzuholen. Alyssia habe Daniel ja so schöne deutsche Wörter gesagt, er probiere sie schon überall aus, und sei davon überzeugt, dringend deutsch lernen zu müssen. Max hatte sich an seiner Schule erkundigt. Völlig selbstverständlich sei es da. Er brachte noch Informationsmaterial über unterschiedliche Austauschprogramme mit. Bei einem Austauschdienst war man froh, dass wir alles selber organisieren würden, das erspare ihnen viel Ar­beit.


Alyssia in San Francisco


Aber zunächst ging's ja mal in die USA. Sie hatte eine Familie in San Francisco zugewiesen bekommen. Er Mathematik-Professor an der Uni, sie Zahnärztin, fünf Kinder, 4 davon Jungen, alle älter als Alyssia und ein Mädchen ein Jahr jünger als Alys. Die Mutter konnte sich gar nicht stoppen in ihren Lobeshym­nen über das wundervolle Mädchen Alyssia. Sie bringe glückliches und lustiges Leben in ihr Haus, wie sie es früher nie gekannt hätten. Alle hätten sie in ihr Herz geschlossen, und die Jungen lägen ihr zu Füßen. Nur ihre Tochter würde mit Alyssia nicht richtig warm. Möglicherweise sei sie ein wenig eifersüchtig auf die Anerkennung und Beachtung, die Alyssia erfahre. Sie ließe aber nicht mit sich darüber reden. Die Mutter wollte noch wissen, ob es o. k. sei, dass sie sehr, sehr viel am PC säße und skype. Ja ich hielte das auf für ein wenig pro­blematisch, nur sie rede und unterhalte sich gern, bei mir würde ich die Ge­spräche immer beenden, wenn ich's für lang genug hielte, dann wolle sie aber noch mit allen anderen sprechen. Ich fände es ja einerseits sehr schön, aber insgesamt wären das für sie ja immer unendlich lange Sitzungen. In ihren Freund in Frankreich sei sie immer noch bis über beide Ohren verliebt, und mit ihm würde sie am liebsten Tag und Nacht skypen. Alles übrige wie Freundinnen kämen dann noch dazu. Ich würde mal mit ihr darüber sprechen, aber ich wüsste nicht, ob ich da großen Einfluss habe. Bei uns fände das immer nur abends statt , da sie nach der Schule und den Hausaufgaben immer noch an­dere Beschäftigungen habe, käme sie bis zum Abendbrot gar nicht dazu.

Mir kam es vor, dass sie die Jungs gut leiden mochte und viel Spaß mit ihnen hatte, ihr das ein wenig Raubeinige gut gefiel, und der enge Kontakt mit ihnen über ein ganzes Jahr leicht dazu hätte führen können, dass sie engere Bezie­hungen zu einem knüpfte, und der feinfühligere Daniel an Bedeutung verlieren würde. Aber nicht im Geringsten. Das Erste was sie bei der Rückkehr nach der Begrüßung sofort erledigen musste war, Daniel anskypen, und ihm mitteilen, dass sie wieder zu Hause sei.


Ferienplanung


In den Ferien musste sie natürlich zu Daniel. Wir haben es dann aufgeteilt, Alyssa halb bei Ledoux und Daniel halb bei uns. Vielleicht ganz wichtig, damit sie sich ein wenig auskennt, wenn die Schule beginnt. In Tain l'Heremitage gibt es nur ein Lycée für Köche, zum Lycée Notre Dame, zu dem auch Daniel gehen wird, muss sie jeden Tag nach Valence fahren. Sie wird aber nicht mit ihm im gleichen Zweig sein, da er économique et sociale gewählt hat und Alyssia das Lycée litteraire besuchen wird. Alys fährt alleine runter, wir holen sie wider ab und nehmen Daniel mit, und Ledoux holen Daniel von uns wieder ab


Vorbereitung auf's Lycée mit Frau Durand


Max hatte eine französische Kollegin an der Schule, die selbst an einem Lycée litteraire unterrichtet hatte. Wir luden sie zu uns ein, und sie erklärte uns die Struktur, die Unterrichtsinhalte der Fächer und Art und Arbeit mit den Schülern

Alyssia bekam Angst, dass sie es nicht schaffen würde. Wir versuchten, sie zu trösten, und zeigten ihr auf, wie viel schwierige Arbeit Daniel auf sich nehme, um sie besuchen zu können. Die Französischlehrerin meinte, dass es schon eine sehr schwere Umstellung sei, wenn sie im Lycée tatsächlich erfolgreich mitarbeiten wolle. „Ja natürlich.“ erklärte Alys „Ich will da nicht immer als die kleine doofe Deutsche sitzen.“ Wenn wir das wünschten, sei sie bereit Alyssia so etwas wie vorbereitenden Nachhilfeunterricht zu geben. Sie habe auch noch Lehr- und Schülermaterial, das eventuell nicht mehr ganz up todate sei, aber im Wesentlichen habe sich da nichts verändert, zur Not könne man sich ja auch etwas besorgen. Alys schien Frau Durand zu mögen, stellte sich vor, dass so ihre Ängste behoben werden könnten, und war Feuer und Flamme. Selbst­verständlich waren wir einverstanden. Die Honorarvorstellungen von Frau Du­rand schienen uns weit unter dem Limit zu liegen, und wir boten ihr fast das Doppelte an. Alles Argumentieren, wie wichtig uns unsere Tochter sei, war er­folglos. Sie könne das nicht annehmen. Dann flüsterte Alyssia ihr etwas ins Ohr. Frau Durand lächelte ein wenig verlegen, und meinte: „Wenn ihre Tochter mir das befielt, muss ich das ja wohl akzeptieren.“ Art und Häufigkeit sollten sie nach Bedarf und Frau Durands Möglichkeiten festlegen. Wo sie das mach­ten, sei auch ihnen überlassen. Sie solle keinesfalls nach finanziellen Aspekten schauen, für unsere Tochter sei uns alles recht. Zum ersten Mal war Alys bei Frau Durand. Sie wisse nicht, ob sie das gut schaffe, aber Frau Durand werde ihr sicher helfen. Ganz begeistert war sie von ihrer Wohnung. Die sei zwar nur ganz klein gegenüber unserem Haus, aber viel, viel schöner. Sie fände es ganz toll, und wäre am liebsten den ganzen Tag da geblieben. Sie werde ihr Zimmer jetzt ganz anders gestalten. Hauptsächlich hatte es ihr wohl die Bibliothek an­getan. Warum wir so etwas nicht hätten, und das brauchten wir unbedingt. Mir fiel jetzt erst auf, dass wir uns um innenarchitektonische Aspekte nie Gedan­ken gemacht hatten. Wir hatten immer nur etwas gekauft, wenn es uns gefiel. Möglicherweise waren dadurch große Disharmonien entstanden. Ich hatte mich immer ganz wohl gefühlt, weil es ja mein Haus war, und mir als Bau gefiel, aber innenarchitektonisch war ich eigentlich ein unbeschriebenes Blatt. Viel­leicht sollten wir da mal etwas investieren, dass bis Daniel oder Ledoux kämen, es hier etwas anders aussähe. Zuerst wollte ich aber Frau Durands Wohnung sehen. Ich rief sie an, und wollte sie fragen. Alys war schon wieder bei ihr. Ich könne sie ja abholen, dann sähe ich ja ihre Wohnung. Frau Durand war Alyssi­as neuer Stern oder neue Göttin. Die Wohnung strahlte tatsächlich auch auf mich eine sehr angenehme warme, aber keinesfalls einschläfernde Atmosphäre aus. Ich konnte Alyssia gut verstehen. Alles schien miteinander zu harmonie­ren, nichts erzeugte irgendwelche Brüche. Mir gefiel es auch sehr gut hier. Ich sah und empfand, dass es schön war, aber wie ich selber so etwas komponie­ren könnte, dazu hatte ich keine Vorstellung. Ich würde gern dem Innenarchi­tekten mal beispielhaft zeigen können, was mir gefiel. Frau Durand und Alys wollten morgen Fotos machen. Frau Durand meinte, das Alyssia hochmotiviert und übereifrig sei. Sie schlinge alles in sich hinein, und sei gar nicht zu brem­sen. Am liebsten würde Alys sie jeden Tag den ganzen Nachmittag beschäfti­gen. Sie halte sie für sehr intelligent und auch willensstark. Sie sei sich ganz sicher, dass sie in Valence keine Probleme bekommen würde. Sie kenne die Schule zwar nicht, aber es sei vielleicht nicht schlecht, wenn sie kurz vor Alys­sias Start mal persönlich mit jemandem telefoniere. Ich glaube Frau Durand mochte Alyssia auch ganz gern. Sie benutzt nie ihren Namen, sonder sagte stets 'ma chère'.


Neuer Indoor Style


Ich hatte mit einigen Leuten gesprochen, und mich für eine Innenarchitektin entschieden. Beim Besuch von Frau Lenders sollte Alyssia auch anwesend sein. Nachdem sie sich alles angesehen hatte, meinte sie. „Frau Stein, können sie ein hartes Wort vertragen? Sie haben eine Reihe sehr schöner Stücke hier, aber das Arrangement ist eine Katastrophe.“ „Genau deswegen habe ich sie her gebeten Frau Lenders. Alle Kritik von ihnen ist im Vorhinein bestätigt. Las­sen sie uns jetzt überlegen, was wie zu ändern ist. Frau Durands Wohnung be­zeichnete sie als typisch dem Pariser Intellektuellen Milieu zuzurechnen. Sie finde das auch sehr schön, aber alles in dem Stil mache das große Haus lang­weilig. Alyssia bestand aber darauf, das zumindest ihre und Daniels Räume in diesem Stil einzurichten seien, und auf eine Bibliothek dürfe auch keinesfalls verzichtet werden. Zwei Wochen später war Frau Lenders mit einem Plan und fotorealistichen Bildern wieder da. Wir fanden das meiste super und planten nur einige kleine Änderungen. Der Kostenplan überraschte mich dann aller­dings doch. Meine Vorstellungen hatten bei der Hälfte gelegen, als ich mich dazu entschloss. Frau Lenders erklärte, warum die Kosten so hoch seien. Man könne allerdings auch an vielen Einzelstellen nach günstigeren Lö­sungen su­chen, was sich aber nachteilig auf den Gesamteindruck auswirke. Störend, und nicht zum Gesamtbild passend blieben dann noch die Bäder. Sie sei keine Spe­zialistin, habe aber entsprechende Kontakte. Wenn man die Sum­me runde, sei dafür aber etwas sehr Schönes zu gestalten. Noch mehr Geld. Bezahlen konnte ich es zwar schon, aber wollten wir dafür soviel Geld ausge­ben? Wofür denn sonst? Es war doch das Wichtigste, dass man sich zu Hause wohl fühlen konn­te. Ich hatte es ja an Alyssia erlebt, die lieber bei Frau Durand in der kleinen Wohnung war, als bei uns zu Hause. Also war es keine Frage. Normalerweise hätte ich so etwas nicht ohne Ralf entschieden, aber er war heute nicht da, und er versuchte sowieso immer möglichst wenig Geld auszu­geben, dass er dage­gen gewesen wäre, war sicher, aber bezahlt wurde es ja doch von meinem Geld. Wenn ich das haben wollte, musste ich mich jetzt entscheiden. Und das tat ich. Am Abend im Bett erläuterte ich Ralf meine Misse­tat. Zunächst zog er eine eher missgelaunte Mine, als ich dann aber zum Ende kam, zog er mich zu sich, und küsste mich. „Ruth, ich finde du hast das sehr gut gemacht.“ sagte er, „ich hätte uns mit meiner Knauserigkeit nur das Schöne verdorben. Tu das immer wieder in solchen Fällen. Du kannst die Be­deutung viel besser und si­cherer einschätzen als ich.“


Camille Durand


Alyssya verbrachte fast ihre gesamte freie Zeit bei Frau Durand. Ich musste mal mit ihr sprechen. Sie meinte Alys sei weniger ihre Schülerin als viel mehr ihre Freundin. Es sei wunderschön, sie bei sich zu haben. Sie sei der Traum von einer jungen heranwachsenden Frau. Sie würden sehr vieles gemeinsam machen, und es sei eine Freude mit ihr Gespräche zu allen möglichen Themen zu führen. Sie würden auch die Vorbereitungen fürs Lycée nicht vergessen, aber sie wisse gar nicht, wie sie das beziffern solle. Ich lud sie zum Abendes­sen ein, damit wir das in Ruhe besprechen könnten.

Am übernächsten Tag kamen schon die Handwerker, und machten das Haus für 6 Wochen zu einer Baustelle. Als ich das Gefühl hatte, dass unsere Möglich­keiten, in diesem Haus zu wohnen, immer geringer wurden, rief ich Frau Len­ders an, und wies sie darauf hin. Von da ab wurden wir vorher immer zu allem be­fragt. Dass wir an dem Abend, zu dem wir Frau Durand eingeladen hatten, gar nicht kochen konnten, war lange vorher klar, also mussten wir etwas be­stellen. Das große Esszimmer war aber noch uneingeschränkt nutzbar. Wir er­klärten Frau Durand, dass Alyssias Begeisterung über ihre Wohnung, der An­lass für diese Baustelle sei. „Mein Zimmer wird dann fast genauso, wie bei dir, und Da­niells Zimmer auch, aber hab' ich dir ja schon gesagt.“ klärte Alyssia Frau Du­rand auf. „Duzt du Frau Durand, Alyssia?“ fragte ich. Sie kräuselte ein wenig die Lippen, schaute Frau Durand an, die zuckte mit den Schultern, und Alys brachte ein wenig gequält hervor: „Meistens schon,“ und posaunte dann wieder freudig, „wisst ihr, wie Frau Durand mit Vornamen heißt? Camille, schö­ner Name nicht?“ Ich hatte ein etwas sonderbares Gefühl, nicht weil sie sich duz­ten, sondern weil sie es ja anscheinend verschweigen wollten, und es nur da­durch herausgekommen war, dass Alys sich verplappert hatte. Fast der gan­ze Abend bestand aus Laudationen der beiden über die jeweils andere, wir konn­ten nur Zwischenfragen stellen. Alyssia hatte Frau Durand Skype instal­liert, hauptsächlich mit der Begründung, dass sie sich dann auch noch sehen könn­ten, wenn sie in Frankreich sei, habe ihr aber mittlerweile ihren ganzen Freun­deskreis vorgestellt. Allen voran natürlich, mon amour Daniel, mit dem sie schon öfter gesprochen habe, und einmal habe er sogar seine Mutter ge­holt. Alyssia habe Freude in Frau Durands Leben gebracht, und spende ihr täg­lich neu Kraft. Sie habe gedacht eine Nachhilfeschülerin zu bekommen, aber einen Lebensquell erhalten. Eigentlich stehe sie in unserer Schuld. „Mich freut das sehr, so viele lobende Worte über meine junge Frau Tochter zu hören, aber ich glaube nicht, das Emotionales wie Freude und Glück finanziell fassbar sind, aber sie bringen ihr ja etwas bei, damit sie am Lycée klar kommt, und das müssen sie schon finanziell vergütet bekommen. Wenn es nicht genau festzu­halten ist, wie viel Zeit sie damit verbringen, mache ich mal einen Pauschalvor­schlag. Wenn wir von regelmäßig 5 Stunden pro Woche ausgehen, würde ihnen das reichen?“ fragte ich Frau Durand. Frau Durand wehrte entschieden ab, das sei viel zu viel. „Man, nimm das an, Camille. Du kannst es doch gebrauchen.“ trumpfte Alyssia auf, „Du verdienst viel weniger als Max, und machst die glei­che Arbeit. Und es tut keinem weh. Sei nicht so super bescheiden.“ „Wenn ihre Tochter das befielt, muss man das dann befolgen?“ schaute Frau Durand mich lächelnd mit großen Augen fragend an. Tscha, meinte ich abwägend, es sei im­mer schwer sich ihr zu widersetzen. Wenn man ihre strickten Befehle ablehne, schaffe sie es meist durch Freundlichkeit, doch noch ihre Ziele zu erreichen. Frau Durand meinte, dann könne sie ja auch gleich das Angebot akzeptieren, und bedankte sich überschwänglich. Als nächstes seien wir aber bei ihr zum Abendessen eingeladen. Alyssia werde ihr sicher beim Kochen helfen.

Die kuriose Geschichte vom Anfang beschäftigte mich immer noch. Warum kann man verschweigen wollen, dass man sich duzt. Doch nur um anderen nicht zu zeigen, wie eng die Beziehung ist. Wenn Alyssia immer die ganzen Nachmittage bei Frau Durand verbringt, warum sollen sie sich nicht irgend­wann duzen? Welchen Anschein vertuschen sie, wenn sie sich nicht duzen. Frau Durand lebt allein, und hat ja anscheinend auch keinen Freund. Anderer­seits, wenn mit Alyssia etwas in dieser Richtung liefe, hätte sie auch sicher schon mal über Nacht bleiben wollen. Als Alys in ihrem Zimmer verschwunden war, ging ich kurz darauf zu ihr rein. Ich setzte mich zu ihr aufs Bett. „Ich wollte dich mal was fragen, Alyssia, die Frau Durand, hat die eigentlich einen Freund?“ fragte ich. „Soweit ich weiß nicht.“ war Alys Antwort. „War die denn mal verheiratet?“ fragte ich weiter. „Weiß ich gar nicht, ich weiß nur, dass sie mal unglücklich verliebt war.“ antwortete Alys „aber mehr sag ich dir dazu nicht. Da musst du sie schon selber fragen. Aber was willst du überhaupt? Willst du mich über Camille ausfragen, und was willst du denn eigentlich wis­sen, Mami?“ Ich musste es jetzt einfach sagen: „Ich wollte wissen ob Frau Du­rand auch Frauen liebt, und ob sie dich liebt.“ Alyssias Gedanken schienen kurz in ihrem Kopf zu spielen, dann fragte sie: „Du meinst ob sie lesbisch ist, und wir beide ins Bett gehen.“ Sie lachte laut auf und wollte gar nicht wieder auf­hören. Eigentlich war damit ja alles geklärt. „Mami fiel sie mir um den Hals, lie­be süße Mami, wie kommst du denn auf so etwas. Und selbst wenn sich bei mir so etwas entwickeln sollte, dann hätte ich doch 1.000 Mal mit dir darüber ge­sprochen.“ bekräftigte sie ihre Position noch einmal. Ich erklärte ihr, was der An­lass für meine Vermutung gewesen sei, und sie klärte mich auf: „Camille mein­te, es könnte euch eventuell nicht gefallen, dass wir uns duzen. Ich sah das zwar nicht so, aber weil sie mit ihrer französischen Erfahrung es doch für bes­ser hielt, hab' ich gedacht, kann man ja machen, und hab mich gleich im ersten Satz, den ich gesagt habe, verplappert. Wenn ich Camille das er zähle, die lacht sich tot.“ „Bitte nicht, Alys, ich möchte nicht, dass Frau Durand er­fährt, was ich von ihr vermutet habe.“ bat ich sie. Nachdem wir uns geküsst hatten, und ich rausgehen wollte rief Alys mir nach: „Und wenn sie noch mal Antworten auf schwierige Fragen suchen, Frau Stein, können sie gern wieder meine Hilfe in Anspruch nehmen.“ Das löste natürlich ausgiebige Kitzel- und Balgeattacken aus mit einem anschließenden langen Gespräch von Frau zu Frau. Alyssia schi­en der Kontakt mit Frau Durand sehr gut zu tun. Wir hatten ja auch immer versucht ihr viel Anerkennung zukommen zu lassen, aber als Freun­din einer er­wachsenen Frau, einer Französischlehrerin am Gymnasium von ihr anerkannt und geliebt zu werden, das war natürlich nicht zu überbieten. Sie wurde wie eine junge Frau jenseits aller pubertären Anwandlungen behandelt, und sie selbst empfand sich, und verhielt sich auch so.


Neue Innenarchitektur


Nach 7 Wochen waren die letzten Möbel da, und wir um einiges ärmer. Das Haus war nicht nur nicht wiederzuerkennen, es wirkte fast wie ein Museum für Innenarchitektur. Man konnte immer wider durch die Räume gehen, und sich an den unterschiedlichen Atmosphären und Arrangements erfreuen. Es war oft so harmonisch, dass man sich kaum traute, etwas zu berühren. Auch die Bäder ge­fielen uns sehr, wahrscheinlich würde jetzt jeder doppelt so lange im Bad ver­weilen, weil's so schön war. Alyssia war ganz außer sich vor Freude und muss­te es sofort ihrer Camille zeigen. Die meinte, ihr Zimmer sähe aus, wie das Ar­beitsatelier einer Professorin an der Sorbonne. Mann wisse ja nie, sie habe ja bis jetzt noch die besten Chancen, dass sie so etwas mal schaffen kön­ne. Da­niel wurden auch die Räume per Laptop-Kamera gezeigt, und Pläne für die Zu­kunft ventiliert. Alyssia sei dann Professorin und Daniel Professor an der Sor­bonne, und am Wochenende würden sie nach Hause fliegen und sich ums Weingut kümmern.


Die Bibliothek


Die Bibliothek war schön, aber was ist eine Bibliothek ohne Bücher. Die Bücher aus dem alten großen Regal hatten nach viel gewirkt, in der Bibliothek wirkten sie verloren. Bücher aus allen Zimmern, die dort nicht aktuell oder regelmäßig gebraucht wurden, kamen in die Bibliothek. Alys wollte erst mal die Bücher von der Liste gekauft haben, die Frau Durand ihr aufgestellt hatte. Aber bei Einzel­käufen von Büchern, war natürlich das Geld und die Zeitdauer ein Problem für eine halbwegs ansehnliche Füllung. Wir hörten davon, dass man auch ganze, alte Bibliotheken aufkaufen konnte von Leuten die verstorben waren. Wir hat­ten nur unsere alten Schulkenntnisse, um den Wert von Büchern einschätzen zu können. Alys, die sich für die Einrichtung der Bibliothek verantwortlich fühl­te, hatte natürlich auch ihre Camille mit eingespannt. Als sie erfuhr, dass wir eventuell eine alte Bibliothek aufkaufen wollten, aber Probleme bei der Bewer­tung hätten, fiel ihr ein, dass sie einen Bibliothekar kenne, der jetzt zwar pen­sioniert sei, der das aber sicher gut könne. Herr Oberweser, der Bibliothekar, bestaunte unsere wunderbaren Möglichkeiten, und wir schauten uns Angebot für Angebot an. Die Bibliothek sollte ja möglichst umfassend und nicht eine Fachbibliothek mit einigen Büchern aus anderen Bereichen sein, so waren aber die meisten strukturiert. Plötzlich gab es ein Angebot, das Herr Oberweser für absolut optimal hielt. Das hatten die professionellen Aufkäufer natürlich auch erkannt. Und schraubten den Preis in die Höhe. Der Bibliothekar hielt die Bi­bliothek für einen Schatz und eine Zierde unseres Hauses, dass wir so etwas nochmal angeboten bekämen, hielte er für sehr unwahrscheinlich. Herr Ober­weser erklärte den Besitzern nochmal den Unterschied, dass die gesamte Bi­bliothek bei uns erhalten blieb, während sie von den Professionellen zerfleddert würde. Dann kannten sie auch noch das Büro meines Mannes, waren der An­sicht, dass sie bei Steins am besten aufgehoben sei, und wir bekamen sie für ein wenig mehr als das derzeitige Höchstgebot ohne Information der anderen Interessenten. Herr Oberweser war so begeistert, dass er Camille und Alyssa beim Einräumen half, und zu allem etwas erklären konnte. Ralf half manchmal auch noch mit, und mir gefiel es auch dabei zu sein, wenn ich Nachmittags aus dem Büro kam. Die Abendessen wurden zu Arbeitsessen der Bibliothekswissen­schaftler. Anschließend wurde Herr Oberweser nach Hause gebracht, und Frau Durand schlief öfter bei uns, weil sie mit Alyssia nach dem Abendbrot noch weiter arbeitete. Sie war für uns auch Camille geworden nach dem wundervol­len Abendessen bei ihr, das sie mit Alyssia zubereitet hatte. Alyssia konnte uns alles erklären, und wie es im Detail zubereitet worden war. Sie hatte vorher schon öfter davon geschwärmt, was Frau Durand für leckere Sachen hätte und zubereiten könne. Mittlerweile war Camille vom Status einer Freundin in den Stand allerallerbeste Freundin bei Alyssia aufgestiegen. Ich mochte Camille auch gern, und liebte es, mich bei einer Tasse Kaffee mit ihr über Persönliches zu unterhalten. Die Bibliothek sollte mit einem Essen, das wieder Camille und Alyssia allerdings bei uns zubereiten sollten, eingeweiht werden. Herr Oberwe­ser meinte, die Bücher seien zwar katalogisiert und in den Regalen, aber es gebe noch so vieles zu erläutern. Alyssia sei jetzt bald für drei Wochen an der Rhône, aber Ralf müsse sich da sowieso mal ein wenig tiefer einarbeiten. Alys­sia sei ja auch bald für ein halbes Jahr nicht da, und wenn Herr Oberweser In­teresse habe, sei seine Hilfe jederzeit hoch erwünscht. Jetzt hatten wir nicht nur schöne Bäder, sondern auch eine bewundernswerte Bibliothek, von der wir nur äußerst wenig Bücher kannten. Ich hatte seit Alyssias Geburt meinen Lite­raturkonsum immer weiter eingeschränkt, obwohl ich Zeit genug gehabt hät­te. Vielleicht fehlte der Anreiz und ein entsprechendes Ambiente, aber jetzt spürte ich wieder Lust, in der Bibliothek zu stöbern, und neu Welten zu entde­cken.


Alyssia in Tain l'Heremitage


Unsere Süße war mal eben cool alleine mit dem Zug nach Valence gefahren. Natürlich ist das für ein Mädchen in ihrem Alter möglich. Nur sie war noch nie weitere Strecken mit dem Zug gefahren, und managte das selbstverständlich wie ein alter erfahrener Hase. Von Valence hatten Ledoux sie abgeholt. Am ersten Abend hätten sie sich lange viel zu erzählen gehabt, und in der Nacht hätten die beiden wohl ihr Wiedersehen gefeiert, zumindest hätten sie am nächsten Morgen gar nicht aufstehen wollen, berichtete Madame Ledoux.

Wir bekamen immer wieder alles brennend heiß geskypt. Oft kam sie auch gar nicht dazu, weil sie viel zu beschäftigt war. Sie war tief beeindruckt, und wuss­te schon nach wenigen Tagen, dass sie später mit Sicherheit in Frankreich le­ben werde. Sie verstehe jetzt, warum sie Camille so gut leiden könne, in Frankreich seien die Frauen alle so. Was sie jetzt erlebe, habe mit dem Ur­laubs-Frankreich nichts zu tun. Es sei einfach wunderbar. Ledoux hatten wohl alle Verwandten, Freunde und Bekannte eingeladen oder besucht, um ihr vieles zu zeigen, und sie vorzuzeigen. Sie sei von allen geliebt und bewundert wor­den, und jeder habe ihr noch ein paar wichtige Tips für's Lycée, für's Leben in Frankreich, oder für spezielle Lebensangelegenheiten gegeben, und alle hätten ihre Hilfe angeboten, wenn sie mal Probleme bekommen sollte, und ihr das Versprechen abgenommen, sie während dieser Zeit zu besuchen. Alle seien im­mer so freundlich und nett, das könne man sich hier gar nicht vorstellen, und dann noch zu einer Ausländerin, zumal noch einer Deutschen. Camille müsse doch eigentlich in Deutschland immer traurig sein, und dabei sei sie immer so nett. Ich solle mich gut um sie kümmern, wenn sie nicht da sei. Ledoux hätten sie immer als ihre belle fille vorgestellt. Ihr sei das immer ein wenig peinlich gewesen, als schönes Mädchen vorgestellt zu werden. Als sie das Daniel er­zählt habe, sei sie aufgeklärt worden, dass es Schwiegertochter bedeute.

Als wir sie abholen kamen, konnten wir ihre Begeisterung gut verstehen. Es war wirklich eine völlig andere Welt, keine hektische Großstadt aber auch nicht abgeschiedene Idylle. Eine Welt die überschaubar war, und in der die Kontakte unter den Menschen enger und herzlicher waren. Große Faszination hatte auf sie die Weinherstellung im eigen Haus ausgeübt. Sie hatte sich alles bis ins kleinste Detail erklären lassen, und staunend gesagt, dass sie so etwas auch gerne machen würde. Worauf Ledoux gesagt hatten, wenn Daniel später mal etwas anderes machen wolle, dann könnte, sie das ja fortführen.


Gespräch mit Madame Ledoux


Madame Ledoux erzählte mir, als wir mal alleine waren, sie habe Daniel mal weinen gesehen, und als sie ihn gefragt habe, warum er weine, habe er ge­sagt, dass er Angst habe, Alyssia würde ihn einess Tages verlassen. Das sei mir zur Zeit unvorstellbar. Wie ich wüsste, sei alles wie immer und bisher. Alyssia habe auch weniger mit ihm geskypt, es sei ihm oft wie so eine Art Pflichterfüllung vorgekommen. Ich klärte Frau Ledoux auf, womit das zusam­men gehangen habe. Daniel sei noch gut bedacht worden. Mit anderen habe sie überhaupt nicht mehr geskypt. Sie habe uns davon überzeugt, das wir un­bedingt eine Bi­bliothek bräuchten. Und als wir sie gehabt hätten, sei es ihre Chefsache gewe­sen, sie einzurichten, obwohl sie vorher überhaupt keine Ah­nung davon gehabt hätte. Camille und sie hätten oft bis in die Nacht in der Bi­bliothek gesessen, und gearbeitet und diskutiert. Während dieser Zeit habe die übrige Welt für sie nicht mehr existiert. Madame Ledoux sagte auch noch, dass Daniel Alyssia für fitter und ihm überlegen halte, und sie eines Tages so je­manden wie ihn nicht mehr brauchen würde. „Oh,“reagierte ich erstaunt, „so eine Einstellung sollt man aber schnellstens ändern. So etwas fragt man sich doch in der Liebe gar nicht. Jeder bewundert den andern und weiß, dass er vom andern bewundert wird. Ich würde das eher als Minderwertigkeitsgefühl sehen, das an diesem Punkt evident wird. Da würde ich auf jeden Fall mal einen Psychologen fragen, bevor man das einfach wuchern lässt. Ich bin mir si­cher, Alyssia hat ihm gesagt, warum sie so wenig Zeit hat. Nur er hat es wahr­scheinlich gar nicht wahrnehmen wollen oder können, weil es sonst nicht in seine Vorstellung gepasst hätte.“ „Bewundern muss ich Alyssa allerdings auch. Diese Lebenslust, und Freude verbreitende junge Frau sagt manchmal so kluge Dinge, von denen man selber noch lernen kann, ich frage mich oft, wo sie das her hat, und wie sie als junges Mädchen so etwas verstehen kann.“ „Sie fragt sehr viel, bis sie eine für sie verständliche Erklärung gefunden hat, die sie be­friedigt. Und das vergisst sie dann nicht. Zu meiner Trennung und meiner neu­en Liebe z. B. da reicht es nicht, dass ich ihr das einmal 4 Stunden lang er­klärt, und ihre Fragen beantwortet habe, da kamen jeden Tag wieder neue Fra­gen, obwohl sie vom ersten Moment an nicht dagegen war. Sie will das nur für sich fassbar genau verstehen können. Wenn das abgeschlossen ist, gehört das zu ihrem Fundus, dann glaubt sie es, dann gehört das zu ihr, zudem, was sie dann auch in anderen Situationen wieder verwenden kann. Als sie noch kleiner war, hörte sich das oft altklug lustig an. Zum Beispiel mit 9 wollten wir nach dem Abendbrot noch gemeinsam etwas unternehmen. Sie lehnte das ab. Sie ginge jetzt in ihr Zimmer. Wir seien doch verliebt, und da bräuchten wir auch mal Zeit für uns alleine.“ „Mit neun Jahren, sagt sie das, ja ja, das kann ich mir gut vorstellen.“ Madame Ledoux dazu „Heute sagt sie Sätze, die man von einer 40 jährigen Frau erwarten würde, und es sind nicht Floskel, sondern sie kann es sehr gut begründen und diskutieren. Sie hat mir erklärt, was ein Mann tun muss, wenn er eine Frau glücklich machen will. Sehr gut übrigens, er­staunlich gut. Ich konnte nichts hinzufügen, eher etwas davon lernen. Sie ist eine Fee. Ich möchte sie immer um mich haben. Ich freue mich schon sehr auf ihre Zeit hier. Vieles muss sie ja von ihnen haben, sie müssen eine begnadete Mutter sein.“ „Danke, Madame Ledoux, Nichts habe ich getan. Ich habe sie nur vom ersten Tag an sehr geliebt, und tue es auch heute noch. Aber das gilt ja wohl für fast jede Mutter.“


Deutschlandtour mit Daniel und Alyssia


Wir waren immer hin und her gerissen von Ledoux Einladung, doch noch län­ger zu bleiben, und der Erkenntnis, dass es immer die gemeinsame Zeit der bei­den in Hamburg verkürze. Auf der Rückfahrt versuchte Daniel schon eifrig seine ersten Deutschkenntnisse anzubringen, wenn er erklärten wollte, woran wir ge­rade vorbei fuhren. Die beiden platzten immer wieder los vor Lachen, dass ich manchmal unwillkürlich mitlachen musste, obwohl ich gar nicht ver­standen hatte, worum es eigentlich ging. Plötzlich wurde Alyssia müde, legte ihren Kopf auf Daniels Schoß, und schlief ein. Kurz vor Freiburg wurde sie wach. Sie meinte es sei doch trist, immer nur über die Autobahn zu rasen. Daniel sei noch nie in Deutschland gewesen, wir kämen doch an so vielen Sachen vorbei, da könne man sich doch mal was ansehen. Freiburg, das gleich käme, habe sie auch noch nie gesehen, aber schon so viel Tolles davon gehört. Also fuhren wir nach Freiburg rein. Es war für uns alle der erste Besuch, und niemand hat es bereut. Im Gegenteil, in Freiburg im Café überlegten wir uns, was wir uns noch ansehen wollten. Heidelberg war natürlich Pflicht. Ralf kam auf die Idee, ob sie beide als Weinbauexperten, nicht vielleicht Lust hätten, sich eine Weinstraße anzusehen. Die beiden konnten sich nichts darunter vorstellen. Ralf erklärte und erläuterte, das die Badische nicht weit von hier entfernt sei, wir könnten aber auch etwas von der Deutschen Weinstraße besuchen. Ich fand, an der Mosel sei es viel schöner, und zudem sei der Fluss ja auch eine Metapher für unser couple d’amoureux. Für Alyssia stand Mosel auch sofort fest, und sie versuchte Daniel zu vermitteln, warum das unbedingt zu empfehlen sei. Aix la Chapelle und Cologne standen noch auf der Dringlichkeitsliste, und durften nicht gestrichen werden. Also die Mosel rauf nach Trier von dort nach Aachen, von Aachen nach Köln. So sollte unsere Deutschland-Rundreise aussehen. Wir wollten nicht bummeln, aber 2-3 Tage zusätzlich nahmen wir dafür in Kauf. Auch wenn uns die Zeit immer recht knapp vorkam, waren wir doch angetan von der Klugheit unserer Entscheidung. Alyssia kannte außer dem Kölner Dom von alledem ja auch noch nichts, und Daniel hat seiner Mutter am Telefon ver­mittelt, er habe jetzt alles von Deutschland gesehen. Wenn Alys nicht bei Frei­burg die Idee gehabt hätte, wären wir einfach mit einer Rast durchgerauscht nach Hamburg.


Daniel in Hamburg


Zu Hause bekamen wir die beiden, außer zu den Mahlzeiten, kaum zu sehen. Alyssia hatte vorher zwei Tage lang einen Plan mit unterschiedlichen Dringlich­keitsstufen entwickelt, was alles mit Daniel abzuarbeiten sei. Wir haben sie dann noch ein wenig moduliert, so das Daniel auch Berlin, Bremen und Kopen­hagen zu sehen bekam. An Partys, Fèten oder Einladungen hatte sie auch nicht gedacht. Camille hatte es ermöglicht, dass sie sich trotz Ferien die Schule an­schauen konnten. Anja fand, in so etwas Süßes würde sie sich heute noch ver­lieben können, und bei der Grillparty hatte er ständig eine Gruppe von jungen Damen um sich stehen. Elias wollte immer mit, aber das ging natürlich nicht. Am häufigsten wurde etwas zusammen mit Camille unternommen. Für Berlin hatte ich auf einem Familienausflug inklusive Camille bestanden, und nach Ko­penhagen musste auch wenigstens eine andere erwachsene Person sie beglei­ten.


Daniel verliebt sich in Ruth Stein


Nach einiger Zeit schien Daniel mehr Ruhe zu suchen. Mal wollte er lieber Ralf im Garten helfen, oder am Samstag bei mir bleiben. Alyssia störte es nicht. Sie schien froh zu sein, wenn sie Zeit hatte, sich der prinzipiell endlosen Aufgabe 'Bibliothek' widmen zu können. Ich mochte ihn. Er sah nicht nur nett aus, konnte gehaltvolle Gespräche führen, sondern liebte es auch charmante Ne­ckereien auszuprobieren. Z. B. kam er einmal grinsend mit einem Blatt Papier zu mir und fragte: „Frau Stein können sie mir sagen, ob das so richtig ist?“ Auf dem Blatt stand: „Frau Stein, sie sind eine sehr nette Frau. Es gefällt mir sehr gut bei ihnen.“ mit solchen oder ähnlichen Spielchen bot er immer wieder An­lässe zu kleinen Flirts, launigen Gesprächen und Spielchen.Häufigster Adressat seiner Späße war ich. Er schien meine Nähe zu mögen, und immer häufiger zu suchen. Es erinnerte mich fast ein wenig daran, wie die Beziehung zwischen Ralf und mir damals begonnen hatte. Daniels Komplimente wurden immer häu­figer und direkter. Alle positiven Eigenschaften einer Frau, und eine Reihe wei­terer lobender Anerkennungen hatte ich schon genossen, als ich empfand, dass Daniels Beziehung zu mir, heikle Formen annehmen könnte. Als ich mir mal das Bild der weiteren möglichen Entwicklung ausmalte, und mir vorstellte, wie ich mit diesem süßen Jungen im Bett liegen würde, stellte ich fest, wie mein Atmen tiefer und intensiver wurde. Es hatte mit Ralf und tiefer Liebe nichts zu tun. Ich konnte mir nur sehr gut vorstellen, wie es sich bei mir dahin entwi­ckeln könnte, dass ich Lust hätte, mit diesem jungen Mann zu schlafen. Was sich da in mir abspielte? Ich hatte keinerlei Erklärung dafür. Möglicherweise gibt es bei Frauen eine Lust auf Junges, Zärtliches, Frisches bei Männern, die lebenslang erhalten bleibt. Ich schien nicht davor gefeit, dass es zu einer sol­chen Entwicklung kommen könnte. Non! Fini! Das konnte und durfte es nicht geben. Ich musste mit Daniel reden. Als wir beide gemeinsam beim Kaffee sa­ßen meinte ich zu ihm: „Daniel, es scheint mir manchmal so, als ob du an­fingst, dich in mich zu verlieben.“ Der junge Mann bekam knallrote Wangen und schaute verlegen. Er stritt es nicht sofort vehement ab, sondern schwieg. Es war ihm also zumindest auch schon etwas in dieser Richtung bewusst ge­worden. „Daniel, ich möchte, dass du mir etwas dazu sagst.“ bat ich ihn. „Frau Stein, ich liebe sie.“ sagte er plötzlich. „Oh Daniel, was tust du? Dass ist nicht möglich, Daniel, das kann es nicht geben, und das darf nicht sein.“ verdeut­lichte ich ihm eindringlich, „Das musst du ganz schnell wieder vergessen, sonst gibt es ernsthafte Probleme für dich.“ „Frau Stein, ich kann das nicht verges­sen. Ich träume von ihnen. Ich träume, wie sie mich küssen und – na ja – wie wir Liebe machen. Einfach vergessen kann ich das nicht.“ reagierte Daniel. Ich machte ihm klar, dass so etwas nicht möglich sei. Alyssias Freundin sein, ihre Mutter lieben, das wollten wir beide nicht. Unter solchen Bedingungen könne er nicht bei uns wohnen. Er müsse seine Vorstellung ändern, wir könnten gute Freunde sein, und das sei ja auch nicht wenig. Wenn er seine Einstellung aber nicht ändern wolle, habe er gar nichts, dann sei alles zu Ende mit Alyssia und mit mir und mit seinem Aufenthalt hier, 'tout est fini entre nous', ob er das wolle. Das wollte er natürlich nicht, aber er wisse gar nicht, wie er es denn ver­gessen solle, dass er mich liebe. Es ergab sich daraus noch ein sehr langes Ge­spräch über Liebesfragen und ihn selber, und mir wurde deutlich, dass Daniels Selbstbewusstsein sehr schwach entwickelt zu sein schien, und er ein sehr starkes Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit hatte. In seiner Liebe zu mir, sah ich allerdings kein großes Problem mehr. Ich war der Überzeugung, dass auch für ihn diese Episode bald zu Ende sein werde. Andererseits fragte ich mich natürlich auch, was es für die zukünftige Beziehung zwischen ihm und Alyssia bedeuten würde, wenn er einfach so mit ihr im Bett liegen konnte, während er davon träumte mit ihrer Mutter zu vögeln. So wie ich Daniel jetzt kannte, hätte ich es für dringend gehalten, den Rat eines Psychologen einzuho­len. Ob ich mit Madame Ledoux, Daniels Mutter, darüber sprechen sollte, wenn sie ihn abholten?


Ledoux in Hamburg


Ledoux hatten vorgeschlagen, Alyssia doch direkt mitzunehmen. Die Schulen begännen in Frankreich zwar erst 3½ Wochen später, aber dann brauche sie nicht mit ihrem schweren Gepäck alleine zu fahren, und könne sich schon wie­der ein wenig einleben. Alys fand das o. k., also wurde es so gemacht. Als Le­doux ankamen, musste Alyssia ihnen zu erst, wie allen Besuchern sonst auch, die Bibliothek zeigen. Madame Ledoux, die selber Lehrerin gewesen war, konn­te es gar nicht fassen. „Fabuleux! Incroyable! Fantastique! Merveilleux!“ staun­te sie immer wieder, und wollte es gar nicht glauben, das Alyssia das alles ar­rangiert hatte. Aber bei Alyssias kompetenten Erklärungen blieb ihr nichts an­deres übrig. Als Alys ihr Zimmer zeigte, und scherzte, dass es so eingerich­tet sei, weil sie später mal Professorin an der Sorbonne werden wolle, bemerk­te Madame Ledoux, sie müsse es schon sein, so wunderbar eine Bibliothek ein­richten, könne nur eine Professorin von der Sorbonne.

Ledoux wollten nur drei Tage bleiben, es wurde dann aber doch knapp eine Woche. In weniger Zeit konnte man das Wichtigste auch gar nicht erledigen. Monsieur Ledoux und Ralf verbrachten einen halben Tag in unserem französi­schen Weinladen, mit der Folge, dass der Inhaber sein Sortiment ändern woll­te, unter anderem demnächst direkt von Ledoux beliefert wurde und Ralf über alle Weine bestens informiert war. Unser Weinverbrauch war nämlich rapide gestiegen, seit Alyssia in Frankreich war, gab es kein Essen ohne Wein und Käse mehr. Alys hatte argumentiert, dass in Frankreich nicht nur etwas ande­res gegessen werde als hier, sondern dass das Essen in Frankreich eine Tages­phase sei, die es bei uns gar nicht gebe. Sie könne sich gut vorstellen, dass die Franzosen deshalb so gesund seien, und viel älter würden. In Frankreich sei das Essen eine sehr bedeutsame Tageszeit, in der es das Wichtigste sei, dass man sich wohl fühle, unter anderem auch durch leckere Speisen, die man ge­nieße. Hier sei es nur wichtig, dass man den Bauch voll habe, und springe eventuell schon beim letzten Bissen vom Tisch wieder auf. Wenn man das aus französi­scher Sicht sehe, könnte man meinen, was wir machten, diene dazu, krank zu werden. Wir hatten nicht nur Alyssias Wünschen entsprochen, weil uns ihre Ar­gumente zusagten, sondern die veränderte Praxis überzeugte uns vollends, so das wir wegen des erhöhten Aufwands eine kompetente Küchen­hilfe einstellen wollten. Cynthia war ja – auch ohne Heiratsversprechen für Eli­as - schon län­ger nicht mehr bei uns, und somit stand die finanzielle Frage gar nicht zur De­batte.

Als Ledoux bei uns waren, wurden die Abendessen immer zu kleinen Festen, und zogen sich weit in den Abend hinein. Camille, die während der ganzen Zeit bei uns war, Madame Ledoux, Alyssia und ich bereiteten gemeinsam die Mahl­zeiten vor, was nicht nur für mich oft sehr lehrreich war, sondern immer auch eine freudige Veranstaltung eines verschworenen Damenclubs bei der sehr viel gelacht wurde. Am vorletzten Abend gab's noch eine Gartenparty, zu der alle nahen und fernen Bekannten mit einem Hauch von Kenntnissen der französi­schen Sprache eingeladen waren.

In einem ruhigen Moment habe ich mit Madame Ledoux auch noch das Pro­blem mit Daniel angesprochen. Es ginge mir überhaupt nicht um den Vorfall selber, der sei sehr schnell, wenn nicht schon jetzt passé, ich sähe die Proble­me bei Daniel, und würde aus meiner Sicht mal unbedingt mit einem Psycholo­gen darüber reden. Das sei für sie sehr ungewöhnlich, aber sie sehe auch, dass es für Daniel sehr wichtig und hilfreich sein könne, und wolle es auf jeden Fall machen.

Beim Abschied konnte ich meine Tränenflüsse in keiner Weise kontrollieren, als ob sich meine Sonne für den Rest des Lebens verabschieden würde. Ich konnte immer nur verlegen zwischendurch lächeln, und verdeutlichen, dass ich keine Macht darüber habe. Alle versuchten mich zu trösten, aber was sie mir sagten, wusste ich ja selber. Als sie sich für ein ganzes Jahr in die USA verabschiedete, ist mir das längst nicht so schwer gefallen. Vielleicht weil sie mittlerweile ein wenig älter und in kurzer Zeit sehr viel reifer geworden war, und Frankreich und das Lycée nichts intermezzohaftes mehr hatten, sondern ernste Phasen der Lebensgestaltung dieser jungen Frau, die meine Tochter war, sein würden. Die Zeit des Ausprobie­rens und Spielens war vorbei.


Alyssia wieder in Tain l'Heremitage und am Lycée


Camille hatte wenige Tage vor Schulbeginn in der Schule angerufen, und er­fahren, dass der Schulleiter Alyssia schon kannte, alles mit ihr geklärt habe, be­geistert sei von ihr, und sich auf ihren Schulbeginn freue. Daniel und Alys­sia waren wohl in den ersten Tagen schon nach Valence gefahren, und wollten sich auf eigene Faust die Schule ansehen. Der Hausmeister habe sie zum Schullei­ter gebracht, weil nur der noch in der Schule anwesend war. Der habe ihr dann persönlich die ganze Schule gezeigt und sich lange mit ihnen unter­halten. Da­von hatte sie uns nichts erzählt.

Die Arbeit am Lycée sei zwar ziemlich anstrengend, weil man sehr viel arbeiten müsse, aber längst nicht so schwer, wie sie befürchtet habe. Sie käme sich auch nicht vor, als ob sie weniger wüsste oder könnte, als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, eher das Gegenteil, und wenn sie Nachfragen habe, würden ihr die immer gern beantwortet. Zur Not könne sie ja immer noch Camille fragen, mit der sie jeden Abend skype. Zu viel mehr komme sie auch kaum noch bei der ganzen Arbeit. Daniel müsse immer genauso viel pauken, aber in ganz an­deren Gebieten, von denen sie überhaupt keine blasse Ahnung habe.

Bei Arbeiten und Tests gehörte sie von Anfang an zu den Besten, und hatte schnell Freundinnen und Freunde gefunden. Nach kurzer Zeit stand es für sie unverbrüchlich fest, dass sie in Frankreich französische Literatur studieren wer­de. Das würde sicher nicht leicht, da in Frankreich jeder Durchschnittsfranzose so belesen sei, wie hier ein Studienrat. Die Deutschen seien gegenüber den Franzosen ein Volk von Analphabeten. Schon ihre Mitschülerinnen und Mitschü­ler hätten viel mehr Lust daran, Fragen und Probleme zu erörtern und zu dis­kutieren. Sie empfinde das sehr angenehm und anregend. Sie hatte auch dann einen Mitschüler, mit dem sie sich besonders häufig und gern unterhielt, auch noch als sie schon lange wieder zurück war, aber zu etwas anderem hat es sich nicht entwickelt. Er war nur für's Reden und Diskutieren zuständig, fürs Schmusen und Bett blieb weiterhin Daniel ihr Freund.

Das halbe Jahr sei wie im Flug vergangen. Alle hätten sie gebeten doch noch länger zu bleiben, und sie hätte es auch am liebsten gemacht, aber sie wolle ihr deutsches Abitur haben. Sie hatte von allen die Adressangaben und ver­sprochen, sich aus Hamburg zu melden.

Lucille Ledoux, mit der ich mittlerweile häufiger telefoniere oder skype - wir duzen uns mittlerweile auch – ist beim Psychologen gewesen, Daniel ist dort gewesen, und sie nochmal zusammen mit ihrem Mann. Schwerpunkt sei es, dafür zu sorgen, dass Daniel mehr und mehr selbstverantwortlich Aufgabenbe­reiche übernehmen könne, und Anerkennung und Bestätigung erfahre. Sie hät­ten eingesehen, was nicht optimal für ihn gelaufen sei und würden das jetzt ändern. Mein Tipp sei eine hervorragende Hilfe gewesen.


Alyssia back at home


Alyssia kam zurück, belegte natürlich Französisch als Wahlfach und bekam Ca­mille als Lehrerin. Alle Bemühungen Camilles, das zu verhindern seien erfolglos geblieben. Alyssias größte Befürchtung war, dass es ihr nicht immer gelingen könne, sie Frau Durand zu nennen. Am meisten schien sich Camille zu freuen, dass Alyssia wieder zurück war. Bei der Begrüßung am Flughafen konnte sie ihre Umarmung gar nicht wieder lösen. Alyssia hielt die Arbeit in der deutschen Oberstufe für flau. Schon mal müsse man ein wenig mehr bringen, aber insge­samt hielt sie es eher für seicht. Sie meinte auch, dass die Schüler im Lycée eher als junge Erwachsene, die zu arbeiten hätten, angesehen worden seien, und nicht als etwas ältere flegelhafte Schüler wie hier. Auch die jungen Frauen seien in Frankreich ernsthafter gewesen, viele ihrer Mitschülerinnen kämen ihr dagegen jetzt, wie Tussis vor, mit denen man kein vernünftiges Gespräch füh­ren könne. In den nächsten Jahren hatten wir viel Besuch von jungen Damen und Herren aus Valence und Umgebung. Alyssia hatte alle eingeladen, und ir­gendwann schaffte es dann auch jede und jeder mal. Die Situation, dass ihre Freundin jetzt ihre Französisch-Lehrerin war, erregte natürlich bei allen Erstau­nen.


Camilles Probleme


Camille selbst erregte immer mein tiefstes Mitleid, aber wie konnte ich einer Frau, die so tief enttäuscht worden war, besser helfen, als meine Alys, die ihr wieder Lebensfreude und jugendliche Zuversicht vermittelte, die sie schätzte, liebte, anerkannte und bewunderte. Männer müssen Frauen gegenüber ein Schweinegen haben, dass einige manchmal zum Einsatz bringen, sowie bei Bianca als auch bei Camille. Sie war meiner Ansicht nach nicht nur eine hüb­sche, elegante feingliedrige Frau, sondern sie wirkte mit ihrem schwarzen Haar, ihrem leicht dunkleren südfranzösischen Teint, ihren strahlenden Zähnen und ihrer gesamten Mimik auf mich richtig edel. Auf Männer konnte sie sich nicht mehr einlassen, weil sie über zwölf Jahre von einem verheirateten Freund hingehalten und betrogen worden war. Im Nachhinein sei es ihr unerklärlich, wie sie das so lange habe mitmachen können, möglicherweise habe ihr Wunsch, dass es stimme, was er sage, sie das Unmöglichste glauben lassen. Sie habe sich 12 Jahre lang mit dem versprechen der Perspektive zufrieden ge­geben, obwohl es von Anfang an gelogen gewesen sei. Als sie nach 12 Jahren von anderer Seite sicher erfahren habe, dass er das nie vorgehabt habe, und auch nie tun werde, sei sie völlig psychisch zusammengebrochen. Unter ande­rem habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie habe alle Männer um­bringen können. Wenn sie französische Männerstimmen gehört habe, hätten sich ihr immer vor Wut und Angst Schweißperlen auf der Stirn gebildet. Und weil sie Lehrerin für deutsche Sprache gewesen sei, sei sie jetzt hier. Sie könne sich nicht vorstellen, je wieder ein vertrauensvolles Verhältnis zu einem Mann entwickeln zu können. Und selbst wenn sich so etwas entwickeln sollte, würde sie es wahrscheinlich durch ihre Psychopathie wieder zerstören.

Ich hatte viel und oft mit Camille darüber geredet, und ihr auch die Geschichte mit der Lesbisch-Vermutung erzählt, aber Wege zu einer Lösung hatten wir keine gefunden. Sie hatte schon grundsätzlich Interesse an Männern, aber jede Vorstellung einer Beziehung sei an die Angst gekoppelt, wieder so oder ähnlich betrogen zu werden, und lasse es ihr unmöglich erscheinen. Zu dem werde sie ja auch älter, sie habe das für den Rest ihres Lebens ad acta gelegt. „Camille, ich versuche zu verstehen, wie schlimm es für dich ist, ich kann aber deine Si­tuation nicht nachempfinden, weil ich es nicht erlebt habe. Nur eins weiß ich, eine Beschädigung, die mir so ein Schwein zugefügt hat, würde ich niemals einfach so akzeptieren. Bis an mein Lebensende nicht.“ erklärte ich ihr bei ei­nem Gespräch. „Schön und gut, ich unterstütze ja deine Meinung, aber was soll ich denn tun?“ reagierte Camille. „Ne Camille, du kämpfst nicht. 'Was soll ich denn tun?' heißt: 'Ich habe schon aufgegeben.'. Wenn du kämpfen würdest, überlegtest du Tag und Nacht, was du machen könntest. Wo steht denn, dass es für dich keine Hoffnung gibt? Trotzdem sagst du dir selber vor, dass es kei­ne mehr gibt. Alyssia hat dich spüren lassen, dass es doch Lust, Hoffnung und Freude geben kann. Daran hättest du vorher auch nie gedacht. Warum soll es für dich nicht auch wieder eine aufgehende Sonne für Beziehungen zu einem Mann geben? Was hast du bislang dafür getan? Nichts. Trotzdem weiß du, dass es nicht möglich sein wird. Mit so einer Einstellung kann es ja auch gar nicht anders werden.“ war Meine Antwort. „Meinst du, es wäre gut, wenn ich mal zu einem Psychiater ginge?“ fragte sie mich. Ich überlegte, was ich damals ge­macht hatte, als ich die 'Ralfentzugsdepressionen' gehabt hatte. „Warte mal Camille, ich habe eine Idee, mir ist gerade etwas eingefallen. Ich weiß aber noch nicht, ob das sicher ist. Es kann einige Tage dauern. Dann sage ich dir Bescheid. Vielleicht könnte das ein erster Schritt werden.“

Mir war eingefallen, dass Prof. Rütten mir gesagt hatte, ich könne ihn jeder Zeit fragen. Ich würde mir einen Termin geben lassen und ihn fragen, ob es Leute gäbe, die Camilles Problem lösen könnten, und ob er die kenne. Ich hat­te meine kuriose Frage, die ja mit mir gar nichts zu tun hatte, schön verpackt, und er ging darauf ein. Er kannte auch den Chef der Abteilung für derartige Angelegenheiten, rief ihn an, schilderte kurz das Problem und ließ sich gleich einen Termin für Camille für die nächste Woche geben. Ich konnte heute um 14:00 Uhr das Büro verlassen und hatte Camille noch in der Schule mittei­len lassen, dass ich direkt mit ihr sprechen müsse und vorbeikäme. Als ich ihr die Story berichtete, und Adresse und Termin gegeben hatte, fragte ich sie: „Na, was hältst du davon?“ Die wunderschöne Frau mit den charaktervollen Ge­sichtszügen schaute mich mit großen Augen an und erklärte: „Ich habe mich immer gefragt, wo ein Mädchen wie Alyssia das her haben kann, ich habe es immer nur vermutet, aber jetzt weiß ich es. Wenn das funktioniert, was ich stark annehme, dann habt ihr beide Ruth, du und Alyssia mir ein neues Leben geschenkt. Ich werde euch immer dankbar sein und euch keinen Tag verges­sen.“ antwortete Camille. „Camille, das mit dem dankbar sein, kannst du ruhig mal für einige Tage vergessen, das ist nicht so wichtig, mir kommt es darauf an, dass du wieder Freude hast und Glück genießen kannst, und dich nicht ge­bückt von dem dicken dunklen Klotz, der an deiner Seele hängt, durch die Tage bewegst. Die Trauer, die mich oft aus deinen Augen anschaut, ist zu groß. Sie wird dich zerfressen, wenn sie nicht getröstet wird. Es freut mich, wenn ich deine Augen lachen sehen kann.“ Camille war aufgestanden, umarm­te und küsste mich und wir lächelten uns an. Dann hatten wir noch Zeit, ein wenig zu albern, bevor Alyssia mit ihren Ansprüchen an Camille auftauchte.


Daniel in Hamburg und Ende der Liebe


Jetzt war Daniel auch da und besuchte mit Alyssia die Schule. Er hatte natür­lich einige Probleme beim Verständnis, da er ja erst vor kurzer Zeit angefangen hatte Deutsch zu lernen, aber er war ja in dem meisten Fächern mit Alyssia zu­sammen in der Klasse und da konnte sie ihm immer helfen. Daniel war der Schwarm aller jungen Damen, so dass die Jungen zum Teil eifersüchtig auf ihn wurden. Bei allen Partys war er selbstverständlich immer eingeladen und er fühlte sich trotz gewisser Schulprobleme ausgesprochen wohl.

Eines Nachts kam Alys von einer Fète zurück und eilte völlig aufgelöst und auf­geregt zu mir ans Bett. Daniel war verschwunden. Er habe mit einer anderen Frau rumgeknutscht, das passiere schon mal öfter, das störe sie nicht, aber plötzlich seien die beiden verschwunden gewesen, und nicht wieder aufge­taucht. Sie habe gewartet, bis die letzten Gäste gegangen wären, aber von Da­niel keine Spur. Ich ging mit zu ihr ins Bett. Sie wechselte immer zwischen Wut, Verständnislosigkeit und Weinen. Gegen halb sechs schlief sie dann vor Übermüdung ein.

Um halb elf am Samstagmorgen riefen die Eltern des Mädchens, bei dem Da­niel gewesen war an. Daniel traue sich gar nicht nach Hause, sie hätten ihm aber klar machen können, dass es keine andere Möglichkeit gebe, und nie­mand anders als er für sein Verhalten einstehen könne. Ihre Tochter sei mitt­lerweile auch schon völlig verstört und weine, weil sie sich tiefe Vorwürfe ma­che. Sie brächten Daniel gleich zu uns.

Daniel weinte, machte sich Vorwürfe und suchte nach Erklärungen für sein Ver­halten. Es täte ihm so leid, er würde am liebsten alles rückgängig machen und versprach, dass so etwas mit Sicherheit nie wieder passieren würde. Ralf und ich sprachen den ganzen Tag abwechselnd mit Daniel und Alyssia. Erst am Sonntag sahen sich die beiden dann noch ohne zu reden beim Mittagessen zum ersten mal. Anschließend redeten sie gemeinsam bis tief in die Nacht.

Wir versuchten Daniel deutlich zu machen, dass sein Verhalten nicht einfach durch Entschuldigen aus der Welt zu schaffen sei, und das Versprechen es nie wieder dazu kommen zu lassen, zwar jetzt sein Wunsch sei, aber mehr eben auch nicht. Er war immer bereit, sofort zu akzeptieren, obwohl ich der Ansicht war, dass seine Intention vordergründig die war, alles zu reparieren und er Vieles nicht richtig verstanden hatte.

Alyssia wollte immer wieder wissen, wie es denn dazu kommen könne, dass man sich so verhielte. Sich immer wieder versichern, wie sehr man sich liebe, und dann dann sich mit jemand anders liebend für eine Nacht zu verschwin­den. Sie war sich sicher, dass er so etwas früher nicht gekonnt und getan hät­te. Wie es sich denn zu so einer Einstellung entwickeln könne, was es denn sei, das sich verändert habe. Sie wolle auf Daniel nicht verzichten, aber sie habe die Vorstellung, das es ab heute ein Traum sei. Daniel sei ein entscheidender Teil ihres Lebens, ihrer Freude, ihres Glücks gewesen, und er setze das mal so eben locker aufs Spiel, wenn ihm der Schwanz jucke. Was das denn für eine Liebe sei, wenn ihm ihr Leben, ihre Freude und ihr Glück so wenig bedeuten könne.

Er sei anscheinend nicht der Daniel, den sie geliebt habe. Das sei ein Bild in ih­rem Kopf. Der tatsächliche Daniel sei ein anderer, den sie gar nicht mehr ken­ne und von dem sie nicht wisse, ob sie ihn wolle.

Wenn ein Kind immer ein Kuscheltier zum Einschlafen brauche, und man ihm sage es solle doch den neuen Teddy nehmen, weil der viel besser sei, dann be­deute der ihm nichts, dann sei der etwas Totes und fern wie ein Stein, und habe mit seinem Einschlafen nichts zu tun, so ähnlich sei das für sie. Ihren al­ten Freund gebe es nicht mehr, da könne sie nur noch in Erinnerungen von träumen, und ob sie den neuen werde lieben können, wisse sie nicht, dafür verstehe sie ihn zu wenig.

Wie es überhaupt werden würde, wisse sie nicht, aber einfach so wie früher werde es mit Sicherheit nicht mehr sein können, und ob sie das dann wolle, könne sie jetzt überhaupt nicht sagen. Und das blieb auch ihre Position. Sie ließ sich auf keine Freundlichkeiten und Annäherungsversuche von Daniel ein, und bestand darauf, dass es nur Liebe geben könne, wenn sie sich auf einer anderen Basis zwischen ihnen neu entwickeln würde. Für mich hatte es den Anschein, dass es dazu wohl eher nicht kommen würde, dazu schien mir Daniel zu wenig verstanden zu haben, worum es ging. Auch wenn er öfter weinend zu mir kam, und sich beklagte, dass er gar nicht wisse, was er tun solle und meinte, Alyssia wolle ihn sowieso nicht mehr, und ich ihm immer wieder zu er­klären versuchte, worum es ging. Daniel schien nach gar keinen neuen Ansatz­punkten zu suchen, und war immer enttäuscht, wenn seine alten Nettigkeiten bei Alyssia wirkungslos blieben.

Alyssia ließ sich in den ersten drei Tagen der neuen Woche krank melden, wechselte zwischen Arbeit in der Bibliothek, Gesprächen mit mir über Männer und die Liebe, und wehmütigen Berichten von schönen Erlebnissen mit Daniel, wobei ihr sehr häufig die Tränen kamen. Das sei jetzt für sie Geschichte, eine wunderschöne Erinnerung an Erlebnisse, die ihr sehr viel gegeben hätten und die sie niemals vergessen werde, aber sie sei der Ansicht das man viel Schwe­res ertragen könne, man dürfe nur nicht vergessen, dass man wisse, dass es wieder anders werden würde. Mir kam es vor, als ob diese junge Frau es schaf­fe, in fast drei Tagen ihr emotionales Chaos wieder in Ordnung zu bringen. Ich konnte Sie nur bewundern. Sie konnte nach wenigen Tagen wieder freundlich Daniel bei Schulproblemen helfen, woraus dieser natürlich sofort falsche Schlüsse zog, die sie aber klar und deutlich zurück wies. Die Mitschülerin, mit der Daniel geschlafen hatte, wollte immer wieder Alyssia erklären, wie es dazu gekommen sei, und sich bei ihr entschuldigen, aber Alyssia machte ihr gar kei­ne Vorwürfe, sondern erklärte ihr, dass dies ausschließlich ein Problem zwi­schen ihr und Daniel sei. Die Beziehung zwischen Daniel und Alyssia schien zwar immer freundlicher zu werden, sie konnten auch miteinander scherzen, aber mehr auch nicht. Er blieb ihr guter Freund, aber keinesfalls ihr Geliebter.

Als Daniel seiner Mutter darüber berichtete, wollte sie mich sprechen. Ich er­klärte ihr die näheren Details, und sie fing an zu weinen. Da merke man eben, dass er ein Mann sei, eine Frau würde das niemals tun, für ein so billiges Aben­teuer alles aufs Spiel setzen. Ich musste ihr versichern, dass das unsere Freundschaft aber keinesfalls berühren oder belasten dürfe. Sie habe mich un­abhängig von Daniel ins Herz geschlossen und wünsche sich auch, dass das so bliebe.

Als das halbe Jahr vorüber war, holten Ledoux Daniel, entgegen der Planung zurück zu fliegen, ab, und blieben für zwei Tage. Jetzt hatte Daniel, der Angst vor einem Ende der Beziehung zwischen ihm und Alyssia gehabt hatte, sie sel­ber verursacht. Er hätte nichts lieber gehabt, als wieder mit Alyssia zusammen zu sein, aber das zu initiieren war er nicht in der Lage. Auch Alyssia versicher­ten Ledoux, dass sie für sie mehr als Daniels Freundin sei, und dass sie auch weiterhin nicht nur ein gern gesehener Gast sei, sondern dass sie sich ihre Be­suche so oft wie möglich wünschten. Daniel und Alyssia skypten auch weiterhin öfter mit einander, aber es war ein netter Informationsaustausch unter Freun­den, und nicht das Feuer, dass sie sonst nicht einschlafen ließ, ohne hinrei­chend lange Kontakt gehabt zu haben.


Ralfs Institut


Ralf hatte mittlerweile die Planungen für sein Institut für Entwicklungs- und Er­ziehungsfragen, Prof. Dr. Ralf Lahrmann, konkretisiert. Er hatte schon Mitar­beiterInnen für verschiedene Bereiche gefunden und mit ihnen bei uns häufig die Struktur und Organisation beraten und diskutiert. Sie wollten nicht nur Ein­zelberatung sondern auch Seminare zu bestimmten Themen anbieten, und hatten sogar einen Kinder- und Jugendtherapeuten mit Kassenzulassung in ih­ren Reihen. Den Teil eines Gebäudes hatte er schon angemietet, es wurde ge­rade renoviert. Jetzt mussten sie sich nur noch um Bürokräfte und sonstiges Hilfspersonal und vor allem das Marketing kümmern. Ich konnte Ralf davon überzeugen, dass es unerlässlich sei, es von Profis machen zu lassen. Auch wenn ihm die Ausgaben jetzt dafür zu hoch erschienen, es würde sich hundert­fach bezahlt machen. Das Institut lief fast vom ersten Tag an recht gut, aber Ralf hatte jetzt sehr viel Arbeit. Er kam oft erst spät abends erschöpft zurück, weil er noch irgendwelche Vorträge gehalten hatte, oder zu Diskussionsveran­staltungen eingeladen worden war. Das Institut lief auch finanziell recht gut, und die Einnahmen stellten seine Einkünfte als ordentlicher Professor weit in den Schatten, nur in die Dimensionen unserer Sozietät konnten sie natürlich bei weitem nicht gelangen, da es sich dabei finanziell um ganz andere Größen­ordnungen handelte.


Meine Freundin Alyssia


Die meisten Abende verbrachte ich mit Alyssia. Sie schien auch meinen Kon­takt häufiger zu suchen. Unser Verhältnis zueinander hatte sich langsam ver­ändert. Sie kam mir viel reifer und erwachsener vor. Aus meiner jungen Toch­ter schien für mich eine junge Freundin geworden zu sein. Natürlich waren Be­ziehungen ein häufiges Thema, aber bei weitem nicht das wichtigste. Wir wa­ren der übereinstimmenden Auffassung, dass die meisten Probleme in Bezie­hungen dadurch verursacht würden, dass Männer keine Ahnung hätten, weil sie sich von klein auf zu wenig damit beschäftigten. Wir fanden es unverständ­lich, dass es kein Schulfach sei, obwohl es doch so tiefgreifende Bedeutung für das spätere Leben habe. Alyssia meinte, sie könne auch ohne Freund ganz gut leben. Sie würde sich das zwar wünschen, aber eine billige Ersatzlösung wolle sie nicht, da habe sie ja besser mit Daniel zusammen bleiben können. Dass es dazu noch einmal käme, glaube sie eher nicht. Er wolle und wolle das nicht verstehen und finge auch jetzt immer noch wieder mit Erinnerungen an schöne vergangene Erlebnisse an. „Aber was soll das? Er scheint nicht zu begreifen, dass das nichts damit zu tun hat, dass er mir versichert, wie sehr er mich liebt, und gleichzeitig mit einer anderen ins Bett steigt, auch wenn er's mir hundert mal erzählt. Und wodurch und wie sich da was bei ihm ändern könnte, dazu habe ich außer seinen wertlosen hochheiligen Versprechungen noch nichts von ihm gehört.“ erklärte Alys mir ihre Situation. Wir überlegten, ob wir uns nicht mal öfter schöne Abende unter Frauen machen sollten und wer daran teil neh­men könnte. Camille sowieso, ich schlug Anja vor, die sich bestimmt darüber freuen würde, wobei Alyssia Bedenken hatte, dass wir dann über die Arbeit re­den würden, weil sie Anja zu wenig kannte. Britta mochte sie zwar sehr gut lei­den, fand sie aber für ein verschworenes Frauenkränzchen eher nicht so pas­send. Also wir vier: Camille, Anja, Alyssia und Ruth. Zuerst würden wir mal ein gemeinsames Essen planen und dann sehen, was sich daraus entwickeln ließe. Unsere Gespräche zwischen Alys und mir fanden fast ausschließlich in der Bi­bliothek satt, sie vermittelte eine vertraute und warme Atmosphäre, die ich auch sehr zu schätzen gelernt hatte. Wenn Ralf kam, wusste er immer gleich, wo er uns finden konnte, und nicht selten wurde es dann noch ein langer Abend.


Ruth ist unzufrieden


Es kam mir vor, das mein Leben in den letzten Jahren bunter geworden war. Es hatte sich so vieles ereignet, das mich ergriffen und bewegt hatte. Vor allem gehörte dazu auch, was Alyssia für mich und uns verändert hatte, so dass ich mir eine Situation, wie damals, bei Ralfs Professur in Magdeburg gar nicht mehr vorstellen konnte. Ich freute mich zwar, wenn Ralf zu Hause war, aber diese Abhängigkeit war ein für alle mal Geschichte. Ich fühlte mich viel selb­ständiger und sicherer in der Gestaltung meines Lebens. Ich lebte nicht mehr nur von der Zuneigung und Liebe durch Ralf. Ich war mir auch sicher, ihn zu lieben und ich schlief auch gern mit ihm und es machte mir Spaß, aber die alte Gier und Unersättlichkeit gab es nicht mehr. Ich hatte Lust daran gefunden meine Wildheit zu entdecken und mich auszutoben. Sie war nicht mehr da, wo war sie geblieben, warum war sie verschwunden. Es hatte mich damals eksta­tisch und high gemacht. Das Gefühl gab es nicht mehr. Es war alles nett, ange­nehm und gemütlich geworden, das reichte mir. Ich erinnerte mich gern an die kurzen kitzeligen Situationen zu Beginn unseres Verliebtseins, die mich den ganzen Nachmittag überlegen ließen, was ich am nächsten Tag machen könn­te. Es war nichts mehr spannend und kitzelig. Es schien mir auch alles nicht zu fehlen. Ich war glücklich und zufrieden. Wurde ich alt, oder hatte ich mich bei meinen Aktivitäten daran gewöhnt, das es auch ohne ganz gut geht, oder hatte sich die Liebe zwischen mir und Ralf verändert? Derartige Gedanken beschäf­tigten mich immer öfter und es kam mir vor, als ob ich im Verlaufe der Zeit einen Teil meiner Lebenslust eingebüßt und es gar nicht bemerkt hätte. Ich sah es so, dass sich alles wieder in Richtung auf ein geordnetes zufriedenes Le­ben zu bewegte, zwar auf einer ganz anderen Ebene und wärmer und herzli­cher, aber das wollte ich trotzdem nicht. Ich hatte mehr gewollt. Ich hatte nie­mand anders und nur Ralf gewollt, weil er mich hatte erleben lassen, was es bedeuten kann, eine Frau glücklich zu machen. Dachte ich heute noch jemals daran? Es machte uns heute noch Spaß, miteinander zu ficken, aber waren wir sicher, dass es nicht auch irgendwann zum standardisierten Ritual werden wür­de. Ralf war mir aufgefallen, weil er witzig, natürlich und sensibel zu sein schi­en, nahm ich das heute überhaupt noch wahr. Natürlich mag ich ihn, habe Ver­trauen zu ihm und fühle mich wohl in seiner Nähe, aber entzündet das in mir eine Flamme? Was habe ich damals Torsten vorgeschwärmt, welch eine neue Lebensvorstellung er in mir bewirkt habe, natürlich hat sich Vieles verändert, aber ist uns davon noch irgendetwas bewusst?

Ich wollte das so nicht weiter laufen lassen. Ich hielt unser Leben für eine trü­gerische Idylle, die wir eifrig zu konservieren suchten. Glück ist kein Zustand den man einfrieren kann, man muss sich jeden Tag damit auseinandersetzen, endgültig erreicht wird er nie. Es ist ein Prozess, und in diesem Prozess waren wir meiner Ansicht nach aufs falsche Gleis geraten. Ich wollte mein Leben mehr spüren, als nur ruhig von ihm gestreichelt zu werden. Ich wollte nicht nur mich mit Frauen nett unterhalten können, ich wollte auch wieder Begehren und Verlangen nach einem Mann in mir spüren können. Ich wollte intensiver Leben, nur unser harmonischer Alltag schien zum Einschlafen hin zu tendieren. Ich musste etwas unternehmen, wenn es anders werden sollte.

„Herr Professor,“ sprach ich Ralf abends im Bett an, „deine Ruth ist unzufrie­den.“, und ich vergegenwärtigte ihm die aufregende Situation, wie wir uns da­mals kennen und lieben gelernt hatten und wie rastlos gierig wir auf einander gewesen waren, „all so etwas gibt es heute nicht mehr. Heute arbeiten wir flei­ßig, machen auch schöne und nette Sachen, aber unsere Beziehung wird im­mer langweiliger. Das will ich nicht. Ich will wieder leben mit dir, will dich mit Spannung erwarten, will mich auf dich freuen, will scharf auf dich sein. So reißt mich bald nichts mehr vom Hocker. Einfach dich nett finden, ist mir zu wenig.“ Ralf meinte auch, dass wir uns zu wenig darum gekümmert hätten. Wir seien happy gewesen, zusammen sein zu können, und hätten uns über all die Jahre keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Wir sollten doch mal am Wochen­ende länger darüber reden, und überlegen, was wir machen könnten. Als wir heute Nacht miteinander schliefen, hatte ich das Gefühl, dass es mich so inten­siv bewegte und so glücklich machte, wie seit langem nicht mehr.

Am Samstagnachmittag setzten wir uns in der Bibliothek zusammen und be­gannen uns erst wieder lustige Erinnerungen von damals zu erzählen. „Weißt du noch als …“ fing fast jeder Satz an, so dass wir uns bald in die damalige Si­tuation zurück versetzt fühlten. Wir begannen, uns danach zurück zu sehnen. Alyssia kam rein, und ich erklärte ihr, dass wir gern unter uns allein reden wür­den. Beim Rausgehen lächelte sie schelmisch und fragte: „Beziehungspro­bleme?“. Ralf und ich waren aber ziemlich ratlos, wie wir denn unser Situation ändern könnten. Mir fiel ein, dass ich mir nach dem Fortbildungswochenende gewünscht hätte, mit ihm allein Urlaub zu machen. Ich hätte es aber wieder vergessen, und wir hätten es nie gemacht. Ich könne mir das aber heute noch genauso schön vorstellen, und erläuterte ihm meine Vorstellung noch näher. Das sollte als erstes auf jeden Fall so gemacht werden. Dabei fiel uns auf, dass wir uns eigentlich sonst nie Gedanken gemacht hätten, was uns zusammen mit dem anderen Freude machen würde. Wir hatten einfach immer so die Tage ab­gearbeitet und versucht das Beste daraus zu machen. Wenn man sich lieben würde, sei es doch eigentlich das Nächstliegendste, dass man sich frage, wozu man mit der/dem Liebsten Lust habe. Das wollten wir in Zukunft keinesfalls weiterhin versäumen. Daraus ergäben sich dann auch bestimmt neue Aspekte. Auf jeden Fall wollten wir auch häufiger miteinander über unsere Beziehung re­den. Die alten Zustände konnten und wollten wir gar nicht zurück rufen, aber ich war zuversichtlich, dass sich auf einer neuen Ebene Spannendes und viel­leicht ja auch ein wenig Wildes entwickeln würde. Ich freute mich und meinte, wir müssten es heute Abend ein wenig feiern. Ralf machte unsere kostbarste Flasche Wein auf und wir erzählten den Kindern Episoden, aus unserer Liebes­geschichte. Sie lachten sich manchmal halb tot, besonders als Alyssia erfuhr, dass Ralf beim Elternsprechtag gefragt habe, was wir denn machen sollten, und wir uns die ganze Zeit nur geküsst hätten. All die schönen, lustigen und spannenden Sachen gäbe es heute nicht mehr. Das mache uns nicht nur trau­rig, sondern wir fänden das auch nicht gut für unsere Liebe. Heute Nachmittag hätten wir überlegt, was wir anders machen und verbessern könnten, und uns sei auch schon einiges eingefallen. Weil wir uns darüber sehr freuten, würden wir heute Abend ein wenig feiern. Alyssia stand auf, umarmte mich und hatte vor Rührung Tränen in den Augen. Später wollte sie von mir dann natürlich al­les noch viel detaillierter wissen. Ihr Hauptanliegen war es wohl zu verstehen, wie Liebe zwischen Mann und Frau langsam abnehmen könne. Elias wollte nur genauer wissen, was wir denn vor hätten.


Urlaub in den Cevennen


Unser Urlaub sollte in die Cevennen gehen. Abschließend wollten wir uns mit Alyssia in Montpellier treffen. Sie hatte nämlich währen ihrer Zeit am Lycée in Valence beschlossen, dass sie dort studieren werde, und wollte jetzt Stadt und Uni mit einer ehemaligen Mitschülerin, die dort aufgewachsen war erforschen.

Auf dem Rückweg wollten wir Ledoux besuchen. Der Urlaub war so eine um­werfend frische Erfahrung für mich, einmal nicht mehr Frau Anwältin, verstän­dige und sorgende Hausfrau und Mutter sein zu müssen, sondern völlig von al­lem frei mich zwischen den wilden Bergen zu bewegen, und in kleinen Landg­asthöfen und Hütten zu übernachten, dass ich mir vorkam, wie ein junges Mädchen, und mich auch wohl öfter so verhielt. Trotz anstrengender Touren, kam es mir vor, dass ich schon seit langem nicht mehr so viel gelacht hatte und diese 14 Tage zu den lebhaftesten und glücklichsten unseres Zusammen­seins gehörten. Dass wir so etwas Ähnliches im nächsten Jahr wiederholen würden, stand außer Zweifel fest.

Montpellier hatte ich nur kurz einmal für eine halbe Stunde gesehen, Alyssia und Julienne, die auch schon bei uns in Hamburg gewesen war und ebenfalls hier studieren wollte, zeigten uns einiges und Julienne stellte uns noch kurz ih­rer Tante vor, bei denen die beiden gewohnt hatten. Bei Ledoux wieder die üb­liche Bitte doch länger zubleiben, aber wir hatten unsere Tickets gebucht. Ich fühlte mich immer noch frisch und aufgeheitert, so dass Lucille meinte, die Ce­vennen müssten mir aber sehr gut getan haben, ich wirke wie in voller Blüte stehend. Sie war auch nicht der Ansicht, dass Daniel und Alyssia wieder zu­sammen kommen würden. Daniel träume zwar noch davon, aber er sehe es zunehmend realistischer. Alyssia könne ja sehr stark und cool sein, was für Da­niel zwar hart sei, aber sie als Frau finde Alyssias Verhalten bewundernswert.


Weiberrat


Unser Weiberrat war zustande gekommen und wir hatten uns schon mehrmals getroffen. Anja hatte noch nie über die Arbeit gesprochen, sonder von einem Mann erzählt, der sie interessieren würde, obwohl sie das ja eigentlich gar nicht mehr wolle. Die Entwicklung sei aber ganz am Anfang, und sie wisse überhaupt nicht, wie es sich entwickeln würde. Alyssia konnte in Beziehungs­fragen immer gute Ratschläge erteilen, dass wir oft viel zu lachen hatten. Ca­mille, die zunächst nur von ihrer Therapie erzählen konnte, und dass sie lan­ge dauern würde, berichtete davon, dass ein Arzt, der mit ihrer Therapie nichts zu tun habe, sie auf dem Flur angesprochen und sich daraus ein Gespräch entwi­ckelt habe, an dessen Ende er sie zum Essen eingeladen habe. Beim Essen habe sie ihm ihre Situation erklärt, und verdeutlicht, dass aus einem engeren Kontakt wohl nichts werden könne. Er habe das überhaupt nicht so gesehen und ihr geraten, doch keine voreiligen Entscheidungen zu treffen. Camille emp­fand ihn als sehr nett, witzig, charmant und sehr einfühlsam, aber sie könne sich gar nicht vorstellen, dass mehr daraus würde. „Camille, wenn ich dich re­den höre, kriege ich Wut.“ fiel ihr Alyssia, die natürlich schon längst über alles informiert war, ins Wort, „Rede dir doch nicht selber vorher alles kaputt. Du musst dich doch nicht Hals über Kopf hinein stürzen. Aber wie du erzählt hast, ist das doch 'ne optimale Chance. Er ist etwa in deinem Alter, geschieden, weil seine Frau ihn immer betrogen hat, hat keine Kinder, und du magst ihn gut lei­den. Was willst du denn mehr. Er weiß, was du für Probleme hast, und erklärt, dass er da keinen Hinderungsgrund drin sieht, dann lass es doch erst mal ruhig laufen. Für deine Ablehnung und Angst gibt es keinen realen Grund. Die einzi­ge Chance, das zu zerstören ist, dass du dir den Unsinn immer wieder selbst vorsagst.“ Alyssias strikte Belehrungen wirkten fast ein wenig peinlich, aber sie trafen den Kern. „Camille, du weißt ja, wie das mit den Anweisungen meiner Tochter ist.“ versuchte ich die Situation ein wenig scherzhaft zu entspannen, „Aber im Ernst, im Kern kann ich das auch nur unterstützen.“ Und Anja meinte auch, sie müsse sich ja nicht gleich verlieben und von rosigen Zeiten träumen, aber erst mal ruhig laufen lassen und abwarten, wie sich das entwickele, könne doch keinem schaden. Beziehungsfragen waren natürlich immer ein heißes Thema bei uns, aber bei weitem nicht nur. Weil Anja wollte, dass wir uns auch mal in ihrer kaum genutzten Wohnung träfen, wechselten wir die Orte, und trafen uns auch bei Camille.


Alys Abitur und Studienbeginn


Alys paukte jetzt ohne Ende fürs Abiturzeugnis. Einen Bericht über das Franzö­sische Lycée litteraire und ihren Einsatz hatte sie als besondere Lernleistung anerkannt bekommen. Zu Mathematik hatte sie zwar keinen besonderen Draht, aber nie die geringsten Probleme gehabt. Sie hatte sich aber vorsichts­halber beim Mathe-Lehrer noch mal erkundigt, ob sie irgend etwas tun könne, um die Bewertung für ein 1.0 keinesfalls zu gefährden. In allen anderen Fä­chern sah sie keine Probleme. Sie wollte unbedingt ein Abiturzeugnis haben, mit dem ihr alle Türen offen standen. Und tatsächlich erreichte sie nicht nur das beste Abiturzeugnis ihrer Schule, sondern von ganz Hamburg. In allen Zei­tungen war sie mit dem Schulsenator abgebildet und sie war die erste Schüle­rin ihrer Schule, die das erreicht hatte. Ein bisschen stolz auf mich selber machte es mich schon, dass die kleine Regierungsrätin Ruth Sender die am besten beurteilte Tochter von ganz Hamburg hatte,obwohl es ausschließlich al­lein Alyssia selber zu verdanken war, ich hatte zwar ihre Leistungen immer an­erkannt, sie aber nie zu guten schulischen Leistungen gedrängt oder ange­spornt, es war nie Thema gewesen. Alle Verwandten und Bekannten hatten es schon immer gewusst, dass aus der mal etwas werden würde und meine Mut­ter blieb zum ersten mal für eine ganze Woche bei uns. Ich wurde im Büro im­mer wieder auf Alyssia angesprochen und Vater Torsten schenkte ihr eine Weltreise für 2 Personen. Die wurde aufs nächste Jahr verschoben, da sie jetzt alles für Montpellier zu klären hatte. Sie wollte dann eine sechswöchige Rund­reise mit Camille machen, nachdem sie mich gefragt hatte, und ich ihr einen anderen gemeinsamen Urlaub von uns beiden zugesagt hatte. Juliennes Eltern und ich hatten den beiden ein kleines Häuschen im Dörfchen Combaillaux in der Nähe von Montpellier besorgt und Ralf hat ihnen mit einem Kleinwagen ge­holfen, damit sie nicht nur auf die unzureichenden öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen waren. Die Bedingungen hatte Alyssia schon seit ihrer Zeit am Ly­cée zu klären versucht, so dass jetzt alles für ihre Einschreibung an der Univer­sité Montpellier III (Université Paul-Valéry) geregelt war.

An den Tag ihrer Abreise mochte ich nicht denken, denn ich wusste, jetzt war es für immer. Sie würde in den Semesterferien kommen, wir würden uns ge­genseitig besuchen, aber selbstverständlich zusammen leben, würden wir nie wieder. Meine Sonne, die 19 Jahre für mich geschienen hatte, die das Zentrum meines Herzens und meines Lebens gewesen war, würde sich von mir trennen. Es war alles gut, es war ja alles wunderbar, nur ertragen konnte ich es nicht. Seit ihrer Geburt wusste ich, dass dieser Tag einst kommen würde, nur es hat bis heute nie eine Rolle gespielt. Wir haben jeden Tag gelebt, als ob er einer aus der unendlichen Ewigkeit unserer gemeinsamen Tage wäre. Es wird eine schwere Umstellung für mich bedeuten, sie nie mehr intensiv arbeitend in der Bibliothek zu treffen, und sie nie mehr ihre kleinen spöttisch Frechheiten nach dem Gute-Nacht-Kuss rufen zu hören. Nie mehr mit ihr Gespräche unter Frau­en führen und nie mehr ihrer Lust, mit mir zu balgen entsprechen zu können. Ich kann durch das Haus laufen, Alyssia werde ich nie mehr treffen. Ich kann sie nicht in die Arme schließen, um ihr meine Zuneigung zu zeigen, und wir werden uns nicht trösten können, wenn wir traurig sind. Das alles wird es nicht mehr geben. Wie ich das wohl verarbeiten sollte. Ich wollte mit Alyssia vorher noch mal darüber reden, nicht nur sich einfach heulend bei der Abfahrt verab­schieden. Dafür heulten wir abwechselnd oder gemeinsam in der Bibliothek als wir miteinander sprachen. Wir beschlossen, dass es wichtig sei, dass zwei star­ke Frauen immer eng miteinander verbündet bleiben müssten. Schon als ich ihr den Namen gegeben habe, hätte ich ihr ein Geschenk gemacht, das zeige, was ich für sie tun wolle und das habe ich auch immer weiter praktiziert. Ich habe ihr nicht nur meine Liebe gegeben, sondern auch ihr Selbstvertrauen und ihre Lust das Leben und die Welt zu entdecken, habe sie mir zu verdanken Sie empfinde sich in ihrer Person überwiegend als Teil von mir, und sei sehr stolz darauf. Sie wisse, dass wir sehr viel Kontakt haben würden, und wenn es mal am Anfang zu traurig werden sollte, könne sie ja auch mal an einem Wochen­ende rüber kommen, oder ich könne die Combaillaulenque besuchen kommen. Keine schlechte Idee eigentlich, dachte ich, ich könnte ja schon am Donners­tagabend fliegen und Sonntags zurückkommen. So hatten wir eigentlich zum Schluss sehr gute Laune, und bevor sie in ihren kleinen Citroën stieg haben wir uns zwar lange gedrückt und geküsst und lächelnd angeschaut, aber zu mehr als leicht wässrigen Augen ist es bei mir nicht gekommen.

In Combaillaux und Montpellier war alles wunderbar. Die Gegend, der Wein, der Käse, das Dorf, die Stadt und vor allem die Uni. Alyssia meinte, sie werde wahrscheinlich immer dort wohnen bleiben. Möglicherweise seien sie die einzi­gen Studentinnen im Dorf und es habe auch mit den ausufernden Wohnquar­tieren Montpelliers nichts zu tun, weil es mit öffentlichen Verkehrsmitteln im Grund kaum zu erreichen sei. Julienne bearbeite schon ihre Tante, die schon ihre Eltern zu dem Hauskauf überredet hatte, ob sie ihr nicht auch bei der An­schaffung eines kleinen Mobils behilflich sein könne, damit wir nicht immer to­tal voneinander abhängig seien. Ich solle sie dringend sobald wie möglich be­suchen kommen, und mich schon mal nach Flügen umsehen, in gut vier Stun­den sei ich ja bei ihnen, und wenn Ralf und ich wieder zu Zweit Urlaub machen wollten, müssten wir unbedingt ins Herault fahren, da gebe es bestimmt noch urigere Stellen als in den Cevennen.


Alyssias Abwesenheit


Ralf wollte mir helfen, das ich mit Alyssias Auszug klar käme, aber für ihn selbst sei es auch nicht einfach, damit klar zu kommen. Sie sei für ihn auch immer Teil unserer Liebe und Beziehung gewesen. Von ihr habe er den ersten Kuss in diesem Hause bekommen. Mit Wehmut denke er an das süße kleine Mädchen zurück, durch das wir uns kennengelernt hätten, und er habe miterle­ben können, wie sich aus ihr diese prächtige junge Frau entwickelt habe. Dass diese Zeit endgültig abgeschlossen sei, hinterlasse auch ihn ratlos.


Elias meinte, wenn ich traurig sei, dass Alys nicht mehr da sei, solle ich ihn doch einfach streicheln, das würde bestimmt auch helfen. Eigentlich keine schlechte Idee, mich mehr um Elias zu kümmern als bisher. In der Pubertät könnte ihm das sicher nicht schaden, ein vertrauensvolles Verhältnis zu einer verständigen Frau zu haben. Und Lust hätte ich darauf auch wohl. Ich würde mal öfter an ihn denken, in öfter einbeziehen, mir öfter etwas für ihn einfallen lassen. Und vertrauensvolle Gespräche am Abend, würden ihm auch sicher sehr gefallen. Bislang war das eigentlich Ralfs Domaine gewesen, aber wir wür­den uns ja nicht ins Gehege kommen, es wären für Elias ja nur zusätzliche An­gebote und Möglichkeiten, die ihm dann zur Verfügung stünden. Für ihn war Alyssia ja auch nicht mehr da. Auch wenn die gemeinsamen Aktivitäten in den letzten Jahren seltener geworden waren, sie war für ihn doch so etwas wie eine große verständnisvolle Schwester, die ansprechbar war, wenn er aus der Schu­le kam, mit der wir gemeinsam am Tisch saßen, und von der er sicher gern vieles aufgenommen hatte.


Ich selbst fühlte gar nicht mehr so große Ängste, dass mich Alyssias Abwesen­heit zermürben werde. Das Gespräch mit ihr hatte mir sehr gut getan, und Vertrauen geweckt. Die Möglichkeit, sie übers Wochenende sehen und mich mit ihr freuen zu können, hatte in mir die Hoffnung aufkeimen lassen, dass ich es schaffen könnte, ohne stets quälende Trauer, Alyssias Abwesenheit zu ak­zeptieren, und eher die positive Seite ihres neuen Lebensabschnitts in den Vor­dergrund zu stellen, als immer nur meinen Verlust zu bejammern. Ich ließ mir von einer Reiseagentur die Flugmöglichkeiten meinen Bedürfnissen entspre­chend zusammenstellen. Vor drei Wochen war nichts mehr möglich, von da ab aber jedes Wochenende. Wir vereinbarten in vier Wochen, da Alyssa in drei Wochen Freitags einen Termin hatte, den sie nicht streichen konnte, und das finde sie zu schade für die kurze Zeit. Die Vorstellung, dass wir uns in vier Wo­chen treffen würden, stimmte mich froh. Dass ich mal kurz am Wochenende nach Montpellier flog, wurde bald zur selbstverständlichen Einrichtung. Nicht weil ich es vor Schmerz über Alyssias Abwesenheit allein zu Hause nicht aus­hielt, sondern schon beim zweiten mal war es gleich Alyssia, die meinte, an diesem Wochenende müsse ich unbedingt kommen, wegen eines bestimmten Festes, einer bestimmten Ausstellung oder einer bestimmten Veranstaltung. Dass ich aus übergroßer Sehnsucht nach meiner Tochter runter flog, dazu kam es nie. Ich fühlte mich auch schon halb als Wochenend-Combaillaulenque und viele Leute im Dorf kannten mich schon als Mutter der deutschen Studentin. Die Wochenenden waren für mich auch immer eine Quelle der Kraft und Stär­kung meines Wohlbefindens. Es tat mir immer sehr gut, zwischendurch für ei­nige Tage dem großen verantwortungsvollen Leben in Hamburg zu entfliehen, und mit den beiden jungen Frauen in ihrem schnuckeligen Häuschen die einfa­chen Lebensverhältnisse zu genießen, in ihrem kleinen Gärtchen zu früh­stücken, mit Alyssia redend in der Sonne draußen zu liegen oder im Dörfchen kleine Einkäufe zu machen. Für die Idee, dass ich nur ein geduldeter Gast sein könnte, und die beiden eigentlich ihre Wochenenden lieber allein verbringen würden, gab es nicht den Anflug eines Hinweises. Im Gegenteil, es kam mir eher so vor, dass sie meine Besuche als Bereicherung empfanden, und Juli­enne mich auch schnell ins Herz geschlossen hatte. Wer mich vom Flughafen abholte, war schon bald völlig beliebig, und sie liebten es, mir ihre Freundinnen und Freunde vorzustellen, und gemeinsam mit mir und ihnen essen zu gehen. Unseren Käse, den früher immer Alyssia im Internet bestellt hatte, brachte ich jetzt in einer kleinen Kühlbox aus Montpellier mit, und fast noch eine größere Freude als ihn zu genießen war es, ihn in der unendlichen Vielfalt des Angebots auszuwählen, und sich beim Kauf beraten zu lassen. Dass Alyssia nicht mehr zu Hause war, wurde von mir nie als Mangel empfunden, sie hatte mir durch meine häufigen Besuche eher einen neuen Lebensbereich eröffnet, der sich auch auf mein Verhalten und mein Lebensgefühl zu Hause auswirkte. Ich hatte nicht nur eine dunklere Hautfarbe, sondern auch ein reicheres Innenleben er­halten. Es schien mir, dass es mich bereicherte, mich stärker, sicherer und großzügiger machte, und mich beschwingter durch die Mühen des Alltags gelei­tete. Beim dritten Flug hatte ich Camille mitgenommen, weil Alyssia mich ge­beten hatte, im allgemeinen war es mir aber lieber, allein zu reisen und mit den beiden Mademoiselles das Wochenende allein zu genießen. Zu dem musste ich schon ein wenig aufs Finanzielle achten, da die häufigen Hin- und Rückflüge sich ja doch schnell zu einem erheblichen Kostenfaktor summierten.


Leeres Haus


Zu Hause war es allerdings ein wenig still geworden. Das Haus mit den vielen und großen Räume war für uns drei nicht nur völlig überdimensioniert, es schi­en auch durch fehlende Betriebsamkeit an Atmosphäre zu verlieren, und manchmal zeichnete sich mir ein Bild, in dem ich es als hohles totes Schloss sah. Ich überlegte öfter, ob wir es nicht verkaufen und etwas Kleineres Ange­messeneres suchen sollten. Aber mit dem Gedanken, es anderen Leuten zu ge­ben, konnte ich mich auch nicht anfreunden, nicht nur dass Elias dann keinen Fußballplatz für sich und seine Freunde, zu dem er unseren Park umfunktio­niert hatte, gehabt hätte, in dem Haus steckte ja mein und unser ganzes Le­ben. Ich hatte es mir gewünscht, hier war Alyssia geboren und aufgewachsen, hier war meine große Liebe eingezogen und hatte alle Zeit mit mir verbracht, alles Bedeutende in meinem Leben hatte sich für mich in diesem Haus abge­spielt. Ein Gebäude kann man vielleicht einfach wechseln, aber dies war weni­ger ein Gebäude, es war meine Heimat. Als ich mit Alyssia mal darüber sprach, erklärte sie, zwar wohl ein wenig scherzhaft: „Wenn ihr das tut, brauchst du mich nie mehr besuchen zu kommen, und ich komm nie mehr nach Hause!“ und auch Julienne meinte, dass Haus sei doch ein Schatz für uns, den man in Geld gar nicht bemessen könne. Ob wir denn nicht Räume vermieten könnten, dann sei es doch nicht mehr so leer, und es gebe auch mehr Leben. Ich hielt es zwar für eine gute Idee, die man auch im Auge behalten sollte, obwohl das Haus so dafür gar nicht konstruiert war.


Unser Weiberrat, war natürlich auch zu einem Triumvirat geschrumpft und man spürte es deutlich, dass Alys Frische und Freude fehlten. Wir berieten zwar immer noch alles Wichtige und Unwichtige, es machte uns auch Spaß, aber das Lachen war weniger geworden. Als ich das Problem mit unserem Haus anschnitt, meinte Camille eher scherzhaft, sie suche eine neue Wohnung. Wir waren zwar über die positive Entwicklung ihrer Beziehung informiert, aber dass sie jetzt schon mit ihrem Christoph zusammenziehen wollte, überraschte uns doch nicht wenig. Sie empfänden ihre Wohnung zwar als schön, aber für stän­diges Zusammenleben, doch viel zu klein.


Camille und Christoph ziehen bei uns ein


Camille und Christoph bei uns im Haus, das wäre doch was. Ich konnte mir gar nicht so schnell vorstellen, wie das praktisch realisierbar sein könnte, und sag­te nichts weiter dazu. Als ich zu Hause ankam, musste ich direkt Ralf alles er­klären, und wir gingen noch sofort durchs Haus, um alle Möglichkeiten zu eru­ieren. Ein separater Eingang mit eigener Treppe, schien bei dem großen Entree und der breiten doppelten Treppe nicht realisierbar. Wir wollten auch keines­falls dafür das Haus insgesamt verschandeln, und die gesamte erste Etage für Camille wäre uns auch schwer gefallen. Für unser Schlafzimmer gab es dann keine andere Möglichkeit als ein Gästezimmer im Dachgeschoss. Unabhängig davon wäre es uns äußerst schwer gefallen es aufzugeben, wir mochten es sehr und es bedeutete uns viel. Elias konnte nach oben ziehen. Sein Zimmer war eigentlich als kleines Kinderzimmer neben dem Elternschlafzimmer ge­dacht, und die Funktion hatte es ja seit Alyssias Geburt auch immer gehabt, aber Elias hatte bestimmt nichts dagegen, in ein viel größeres Gästezimmer im Dachgeschoss zu wechseln. Also hätten für Camille und Christoph sechs unter­schiedlich große Räume plus Bad in der ersten Etage zu Verfügung gestanden. Die beiden Esszimmer im Parterre konnten wir ja aufteilen. Sie standen sowie­so meistens leer. Eine Küche konnte man ja leicht in einem der Räume in der ersten Etage einbauen, nur ging ihnen dadurch ein Raum verloren. Ich hätte es sowieso schöner gefunden, wenn wir unsere Küche im Parterre gemeinsam ge­nutzt hätten, denn dass wir dabei mehr Freude als Differenzen haben würden, war garantiert. Außerdem konnten sie ja dann auch noch von den Diensten un­serer Haushaltsgehilfin profitieren, und fürs Esszimmer brauchte man nicht al­les über die Treppe transportieren. Ich würde Camille unsere Überle­gungen morgen vortragen, und hören was sie davon hielte.


Ich überlegte, ihr das nicht einfach nur am Telefon mitzuteilen. Also rief ich am nächsten Morgen in der Schule an, und ließ ihr ausrichten, sie möge um 16:00 Uhr dringend zu Frau Stein kommen. Camille erschien mit ängstlichem Blick und wollte wissen, was passiert sei. Wir scherzten ein wenig, und dann stellte ich ihr vor was wir überlegt hatten. Sie hörte mit großen Augen zu, als ich ihr beim Rundgang alles erklärte. Zum Schluss umarmte sie mich und bekam wässrige Augen. „Wunderbar, Ruth, wunderbar! Dadurch würde für mich ein Traum in Erfüllung gehen, den ich bisher noch nie geträumt habe. In deinem Haus mit dir, und selbstverständlich kochen wir zusammen in der Küche. Ich kann es nicht fassen.“ freute sie sich, und sie sei sicher, das Christoph nicht nur einverstanden sein, sondern es auch toll finden werde. Anschließend unter­hielten wir uns noch ein wenig, und sprachen auch über Camilles Beziehung. Sie sei nicht nur zufrieden, sondern überaus glücklich. Sie hätte sich dieses Le­ben nicht vorstellen können, da sie es gar nicht kannte. Dass ihr so viel Glück hätte zu teil werden können, habe sie nur mir zu verdanken, sie selbst habe sich längst aufgegeben gehabt. „Nein Camille, das hast du nicht mir, sondern nur dir selbst zu verdanken. Du hast alles selber gemacht. Ich habe nur ge­sagt, dass ich es nicht hinnehmen würde, mir mein Leben von einem anderen zerstören zu lassen.“ reagierte ich.


Abends musste ich natürlich sofort mit Alys skypen, um ihr mitzuteilen, dass Camille und Christoph eventuell bei uns einziehen würden. Sie wusste es schon. Camille war schneller gewesen, sie hatte sie direkt nach dem Besuch angerufen. Alyssia konnte und wollte ihre überschwängliche Freude gar nicht verbergen. Das sei nach meiner Entscheidung für Ralf sicher die beste Idee in meinem ganzen Leben gewesen. Dann könne ich Camille erst mal richtig ken­nenlernen, und feststellen, was für eine außerordentlich wundervolle Frau sie sei. Nur es wäre ihr sehr lieb, wenn Elias ein anderes als das für Daniel einge­richtete Zimmer bekäme. Ihr sei sehr daran gelegen, das Freundinnen oder Freunde, die sie mal mitbrächte, dort wohnen könnten. Als Gästezimmer, könnten wir die Räume ja jederzeit nutzen, solange sie nicht anwesend sei.


Am nächsten Tag rief Camille an, und berichtete, dass sie Christoph von der Chance vorgeschwärmt habe, und er grundsätzlich mehr als einverstanden sei. Er wolle die Bedingungen natürlich selber sehen, bevor er zusagen könne, er wisse ja nicht einmal, wo wir wohnten. Sie wollten gleich heute Abend vorbei kommen. So lernte Christoph nicht nur sein neues Zuhause kennen, sondern wir auch Christoph. Ein sehr angenehmer, netter kluger Mann, der trotz seiner eher zurückhalten Art nicht verbergen konnte, dass er Camille nicht nur liebte, sondern sie fast vergötterte. Er habe so viele Jahre seines Lebens verschleu­dert, weil er nicht hätte wahrhaben wollen, dass das schöne Äußere einer Frau überhaupt nichts über ihren Charakter aussage. Es sei ihm ähnlich wie Camille ergangen, er habe den Aussagen und Zusagen seiner Gattin immer wieder Glauben geschenkt, weil er es sich gewünscht hätte, ihr vertrauen zu können. Seine Ehe sei von Anfang an falsch gewesen. Er habe es sehen können, aber es vorgezogen blind zu sein. Ideal sei für ihn die Vorstellung, Camille schon viel früher kennengelernt zu haben, und eine Familie mit Kindern von ihr ge­habt zu haben. Camille lächelte, strich ihm über's Haar und gab ihm einen Kuss: „Christoph hat mich schon gefragt, ob wir nicht heiraten sollten, Aber ich habe ihm gesagt, dass ich noch ein wenig Zeit brauche, und er hat es gut ver­standen. Vielleicht werden wir hier demnächst ein Hochzeitsfest machen, ja mon chéri?.“ Wir haben uns alles noch einmal genau angesehen, und Camille und Christoph haben die Aufteilung der Räume festgelegt. Die vier verbliebe­nen Gästezimmer, Alyssias, Daniels und noch zwei weitere Räume im Dachge­schoss sollten gemeinsam genutzt werden. Ich schlug vor, eventuell einen Raum im Parterre, der früher mal als Raucherraum gegolten habe, als Gäste­zimmer umzufunktionieren. Als Gesprächsraum in seiner heutigen Funktion sei er noch nie benutzt worden. Wir verzichten aber darauf. Als Gästezimmer stün­de er bestimmt die meiste Zeit leer. Vielleicht käme uns ja später mal eine zündende Idee, wie wir ihn nutzvoll verwenden könnten. Camille und Christoph sahen von sich aus keinen Grund, weshalb sie nicht schon zum nächsten Monat einziehen sollten. Ich schlug vor, wir sollten auch den Entschluss, dass sie hier einziehen würden schon mit einem kleinen Essen feiern, dann habe Christoph ja auch die Chance festzustellen, wie gut Camille auch in unserer Küche zau­berhafte Dinge zubereiten könne, so dass er auch für die Zukunft keine Angst zu haben brauche, darauf verzichten zu müssen, oder sogar Hunger zu leiden. Der schöne Abend bewirkte, dass wir uns noch mehr auf unsere Wohngemein­schaft freuten, und Ralf und Christoph, der mittlerweile nicht mehr an der Uni arbeitete, sondern eine Praxis übernommen hatte Möglichkeiten einer Zusam­menarbeit prüfen wollten.

Allein durch die Umzugsvorbereitungen kam schon wieder reges Leben ins Haus, und von hohl, leer und still war absolut nichts mehr zu spüren. Die Ein­zugsfeier wurde für das Wochenende nach dem Umzug geplant, weil Alyssia unbedingt daran teilnehmen wollte. Sie hatten die ganze Strecke abwechselnd mit Julienne in einem Zug mit dem kleinen Auto zurück gelegt, weil für Juli­enne der Flug zu teuer war. Als sie ankam, klingelte sie zuerst bei Camille, und rief in die neu installierte Sprechanlage: „Hallo Camille! Ich bin da.“. Es wurde eine lange Begrüßungsszene, denn Alyssia war ja auch zum ersten mal wieder zu Hause.


Leider ging das Wochenende viel zu schnell vorbei. In permanenter Hochstim­mung wird ein Tag zur Stunde, und man empfindet beim Abschied, als ob die Ankunft gerade erst erfolgt sei. Alyssia lud alle zu sich ein, aber bitte nur zu zweit, da mehr Leute in ihrem kleinen Häuschen nicht unterzubringen seien. Sie riet Camille doch bald mit einer Heirat einverstanden zu sein, wenn sie es sowieso wolle, wäre es doch nicht gut, es immer länger hinaus zu zögern. Einen Mann, der sie so anbete, wie Christoph gebe es doch nie wieder. Mir er­zählte sie noch, dass sie einen jungen Mann kennengelernt habe, den sie sehr nett finde, und er sie wohl auch, aber es sei noch alles völlig vage und offen. Er sei auch an der Paul-Valéry im gleichen Semester wie sie, sei aber einein­halb Jahre älter als sie, da er vorher an der Ecole des Baux Arts studiert habe. Au­ßer gemeinsamem Kaffee trinken und Reden spiele sich da nichts ab. Wenn ich das nächste mal komme, werde ich ihn sicher kennen lernen.


Camille und Christoph wohnen bei uns


Jetzt sah ich Camille jeden Tag. Wir aßen fast immer gemeinsam zu Abend, und die gemeinsame Essensvorbereitung mit Camille war immer das freudigste Erlebnis. Ich erlebte diese mir immer als feinfühlige elegante Dame erschei­nende Frau zum ersten mal bei ausgelassenen Albernheiten, und es dauerte nicht lange, bis wir beide zweifellos die allerbesten Freundinnen waren. Ich glaube es gab so gut wie nichts, über das wir nicht miteinander reden konnten und redeten. Auch das Sexualleben wurde eifrig untereinander besprochen. Ich vertrat auch die Ansicht, wenn sie ihren Christoph gern heiraten würde, worauf sie denn da noch warten wolle. Gegen unbegründete Angst könne man zwar nicht argumentieren, aber sie habe doch jetzt häufig die Erfahrung gemacht, dass sie am besten damit gefahren sei, wenn sie sich überwunden habe. Wenn sie anfangs ihrer Angst nachgegeben hätte, wäre es nie zu ihrer Beziehung mit Christoph gekommen. Es schien für Camille ein überlegenswerter Hinweis ge­wesen zu sein, denn am übernächsten Samstag eröffneten Camille und Chri­stoph uns beim Abendessen, dass sie beschlossen hätten, zu heiraten. Chri­stoph hätte von sich aus vorgeschlagen, dass sie den Namen Durand wählen sollten, da er froh sei, wenn er den Namen Heusken endlich los werden könne. Wann, wo und wie die Hochzeit stattfinden solle, darüber hätten sie sich noch keine Gedanken gemacht. Camille meinte, dass sie auf jeden Fall in den Se­mesterferien im Sommer stattfinden solle, damit Alyssia auch länger anwesend sein könne, und ich hielt es für selbstverständlich, dass die Feier hier im Haus stattfinden werde. Alyssia, die immer über alles auf dem Laufenden gehalten werden wollte, informierten wir abwechselnd, wir sprachen uns immer kurz ab, wer sie anrufen wollte.


Elias hatte sich bald an Christoph gehängt. Die beiden verstanden sich sehr gut, und es war zu spüren, dass Christoph großes Einfühlungsvermögen besaß, und der Umgang mit Elias ihm Freude bereitete. Er war nicht nur der überra­gende Ansprechpartner und Mitspieler für Fußballangelegenheiten – er hatte selbst in seiner Jugend in einem Verein gespielt - , sondern weckte durch seine alten Anatomie Atlanten, bei Elias auch ein starkes humanbiologisches Interes­se.


Montpellier Besuch mit Lucien und Ferienplanung


Bei meinem nächsten Besuch in Combaillaux, wollte Alyssia mir einen Eindruck von schönen, verführerischen Gegenden im Herault verschaffen. Unser regel­mäßiger Einkauf am Samstagmorgen in Montpellier sollte aber nicht darunter leiden. Sie hatte Lucien, mit dem sie sich sonst immer Samstagmorgens um 10 Uhr zu einem Kaffee traf, gesagt dass sie wegen des Besuchs ihrer Mutter ver­hindert sei, es sei denn, es störe ihn nicht, wenn ich auch anwesend sei. Kei­nesfalls, er würde sich freuen mich kennen zu lernen. Als wir im Café saßen kam Lucien. Nachdem wir uns vorgestellt, und er sich gesetzt hatte, meinte Alyssia, er sei ihr Freund, und während Luciens Minenspiel sich zu einem er­staunten Gesichtsausdruck verwandelte, fügte sie nach kurzer Pause hinzu, für einen guten Kaffee und nette Unterhaltung. Er konnte es gar nicht fassen, dass Alyssia nicht einen französischen Elternteil oder sonst welche französische Hil­fen von klein auf gehabt habe. Niemand, selbst gebildete Franzosen nicht, wür­de merken, dass sie keine Französin sei. Sie könne sich sowohl eloquent ge­wählt ausdrücken, als auch ordinär schimpfen. Als ich fragte, ob sie ihn denn schon mal beschimpft habe, antwortete er dass ihre Treffen immer sehr lustig seien, und sie sowohl ernste Fragen diskutierten, als auch amüsante Geschich­ten erzählten. Sie träfen sich auch schon mal in der Woche, aber Alyssia habe immer so selten Zeit. Sie sei meist beschäftigt wie eine Biene. Als Alyssia er­klärte, dass Lucien auch Deutsch könne, wehrte er ab, und meinte: „Lesen kann ich ein wenig, aber sprechen ein sehr wenig.“ In der Schule habe er Deutsch abgewählt und Spanisch genommen. Heute bereue er es. Er studiere zwar Spanisch, aber so starkes Interesse wie Alyssia es für Französisch habe, könne er nicht dafür entwickeln. Er riet mir doch auch nach Montpellier zu zie­hen. Er könne es nicht verstehen, wie man in Nordeuropa leben könne. Er sei einmal mitten im Sommer in Kopenhagen gewesen, und fast erfroren. Ich empfand Lucien als einen sehr hübschen jungen Mann. Ich konnte mir gut vor­stellen, das dieser intellektuell wirkende Student, dessen Gesicht immer zu ei­nem Lächeln bereit zu sein schien, allein vom Äußeren und vom Auftreten her, Alyssias Geschmack traf. Doch das war für sie sicherlich nicht ein entscheiden­des Kriterium für ihre Beziehung zu ihm. Ihre Unterhaltung untereinander konnte ich gar nicht verstehen. Mit meinem Schulfranzösisch konnte ich nur heraus hören, dass die Sprache in der sie sich unterhielten, französisch war. Als wir über unsere Pläne für Samstagnachmittag und Sonntag sprachen, meinte Lucien, für ihn sei die schönste Gegend Frankreichs die Auvergne, auch wenn dort so gut wie kein oder nur wenig genießbarer Wein wachse. Alles an­dere sei aber so bunt und vielfältig und unterschiedlich vom übrigen Frank­reich, dass man es sich nicht entgehen lassen dürfe, die Auvergne zu entde­cken. Lucien selbst kam aus Clermont-Ferrand am nördlichen Rand des Zen­tralmassivs und kannte sich natürlich dort aus, und auch Alyssia bestätigte, dass sie schon viel interessantes darüber gelesen habe, aber selbst noch nie dort gewesen sei. Beim Einkauf begleitete uns Lucien und konnte uns Details zu den Käsen aus der Auvergne erklären. Ich entschied mich für ein Stück Fourme d'Ambert und einen St. Nectaire, wobei Lucien auf den gravierenden Unterschied zwischen dem aus Käsereien und dem de fabricaton fermière verwies und uns zeigte, woran man einen guten Reifegrad erkennen könne, der sehr wesentlich für den Geschmack sei. Für den Fourme d'Ambert musste ich mir natürlich auch noch einige Flaschen Sauternes mitnehmen, da wir edelsüße Weine gar nicht zu Hause hatten.

Nachmittags wollten wir ins Vallée de l'Hérault bis weiter rauf nach Ganges, dort übernachten und auf einer östlicheren Route über St. Martin de Londres wieder zurück. Ich war fasziniert von den abwechselungsreichen Landschaften und den idyllischen Fußtälern mit halb verlassenen kleinen Orten. Ins Buège­stal fuhren wir bis nach Saint-Jean-de-Buèges rein. Ich stellte mir vor, in die­sem Dörfchen Urlaub zu machen, nicht am Strand, in irgendwelchen Chalets oder Hotels, das erschien mir alles eintönig gegenüber der dörflichen Idylle als Ausgangspunkt für verschiedenste Tagesunternehmungen in die Umgebung. Jeden Tag eine neue Forschungstour mit Essen in kleinen Landgasthäusern, Besuchen von Märkten in kleinen Städten und Wanderungen in teils unwegsa­mer rauer Natur. Ich ließ mir Adresse, Telefon- und Faxnummer einer kleinen Unterkunft geben. Jetzt musste ich nur noch Ralf und Elias überzeugen. Ich war aber zuversichtlich, dass mein Feuer stark genug war, um auch in Ihnen eine Flamme entzünden zu können. Wir hatten ja nur immer ein wenig schau­en können, unsere Tour war für die zwei halben Tage über verwinkelte kleine Straßen doch recht lang, aber mir gefiel alles sehr gut.


Bei unserer Fahrt war natürlich Lucien und Alyssias Perspektive ein bedeuten­des Thema. Alyssia mochte ihn sehr gut leiden, und sie wünsche sich auch eine intensivere Beziehung, aber sie wolle nichts voreilig initiieren. Sie meine schon, dass Lucien auch stark an einer intensiveren Beziehung interessiert sei. Er dränge sie immer, sich doch öfter zu treffen. Aber sie hielte es nicht für sinn­voll, Stunden oder Nachmittage gemeinsam abzuhängen. So würde seine Er­wartung und Freude auf den Samstagvormittag immer größer, und sein Inter­esse an ihr könne nur zunehmen. Sie wolle mehr, als dass er sie nett finde, und ihr Komplimente mache, und dass wolle sie nicht durch ihre eigene Unge­duld gefährden.


Ihre sechswöchige Weltreise mit Camille hielt sie für gefährdet. Es sei ja wohl schlecht möglich, dass sie die ganzen Sommerferien mit ihr statt mit Christoph verbringe. Aber wenn wir tatsächlich unsere Sommerferien in Saint-Jean ver­bringen würden, bliebe sie in der Zeit natürlich hier, dass wir dann mal einiges mit der ganzen Family machen könnten, fände sie natürlich super. Sie könne dann ja auch noch später reisen und Julienne fragen, ob sie nicht Lust habe. Es sei nur wichtig, dass Camille bald ihren Hochzeittermin festlege, den könne und wolle sie keinesfalls versäumen. Mit Lucien auf Weltreise zu gehen, wollte sie keinesfalls, dass sei ihr viel zu früh.


Bei der Rückkehr sprach ich noch am Sonntagabend mit Camille. Ich bat sie mich auch bei meinem Werben für einen Urlaub im Hérault zu unterstützen. Am Montag erklärten Camille und Christoph beim Abendessen, dass sie am ersten Samstag in den Ferien heiraten wollten, dann hätten sie genug Vorbe­reitungszeit und gute Möglichkeiten für eine Hochzeitsreise. Bei meinem an­schließenden Vorschlag für die Ferien, hatten die Jungs keine Chance gegen uns beiden Frauen. Während Elias zuerst noch mutmaßte, ich wolle das nur, um nahe bei Alyssia zu sein, konnten Camille und ich sie doch mit der Schilde­rung des Marktes in Ganges und seiner Geschichte, dem unvergleichlichen Na­turschauspiel des Cirque de Navacelles und meiner Erklärung über die rekreati­ve Kraft des rustikalen Lebens im Gegensatz zu unserem Alltagsleben oder Zeit vertrödeln an irgend einem Strand hinreichend überzeugen. Dass wir gleichzei­tig mit Camilles und Christophs Hochzeitsreise für drei Wochen nach Saint-Jean fuhren, war beschlossen.


Alyssia und Lucien in der Auvergne


Drei Wochen später teilte Alyssia mir mit, dass sie am Wochenende mit Lucien zu seinen Eltern fahre. Er habe sie ein wenig ausgetrickst. Er hätte ihr mitteilen wollen, das er am Wochenende nicht da sei, und ihr gemeinsamer Kaffee aus­fallen müsse. Eine andere Möglichkeit, die sie aber sicher ablehnen werde, doch noch zu ihren gemeinsamen Unterhaltungen zu kommen sei, er würde nicht allein mit dem Zug fahren, sondern sie würden zusammen im Auto fah­ren, und er könne ihr gleichzeitig noch die schönsten Gegenden in der Auver­gne zeigen. Es sei ihr sehr schwer gefallen, das einfach abzulehnen, und unter der Bedingung, dass sie als gute Freunde reisten, sei sie einverstanden gewe­sen. Hinterher berichtete sie, dass es ganz wundervoll gewesen sei. Lucien sei immer brav geblieben, und habe sie seinen Eltern auch nicht als seine Freun­din, sondern gut bekannte Kommilitonin vorgestellt, der er die Auvergne habe zeigen wollen. Sein Vater sei Rechtsanwalt und seine Mutter Lehrerin in Cler­mont-Ferrand, und sie seien ausgesprochen nette Leute, wie viele Franzosen. Das Massiv Central sei wirklich bezaubernd. Sie sei sich sicher, hier noch öfter hin zu kommen. Aber ein Wochenende oder selbst eine Woche seien viel zu kurz, um hier ein wenig mehr zu erleben. Sie seien übrigens an mehreren Bau­ernhöfen vorbeigekommen, an denen man St. Nectaire habe kaufen können. Sie hätte schon mal daran gedacht, Lucien eventuell zu Camilles Hochzeit mit­zubringen, was sie sich aber noch sehr reiflich überlegen müsse.


Planungen für Camilles Hochzeit


Camilles Hochzeitstag rückte immer näher, und die zunehmende Aufregung ließ erkennen, wie groß die Anzahl der Details war, die noch zu organisieren waren. Die standesamtliche Trauung war relativ unkompliziert aber die Feier am Abend bei uns, verlangte die vielfältigsten Entscheidungen in allen Berei­chen. Das Essen, die Getränke, die Musik die Tanzmöglichkeit, die Kleider, die Unter­bringung der Gäste etc.. Alyssia und Christophs jüngerer Bruder sollten Trau­zeugen sein. Alyssia flehte am Telefon, sie habe sich finanziell verkalku­liert. Beim Geschenk für Camille habe sie schon nicht nein sagen können, die Anfer­tigung des Abendkleids sei ebenfalls nicht billig gewesen, zu dem habe sie sich noch ein dezentes Kleid für die Trauung kaufen müssen und dann habe sie noch ein Collier für das Abendkleid gebraucht. Sie habe eins gefunden, dass ihr wundervoll gefiele, und gegen dass sie die anderen als unpassend empfinde, sie wolle es unbedingt, aber sie könne es nicht bezahlen. Selbstverständlich hätte ich ihr helfen können, aber wir hatten eine strikte Finanzregelung getrof­fen, die sie selbst auch so gewollt hatte und die für eine Studentin sehr groß­zügig war. Sie bat mich ihr das Geld zu leihen, da sie es schlecht ertragen kön­ne, dieses Collier gesehen zu haben, und zu Camilles Hochzeit ein anderes tra­gen zu müssen. Camilles Hochzeit sei ja ein außerordentliches Ereignis, das durch unsern Finanzplan nicht abgedeckt sei, und da sie schon so viele Sonder­ausgaben selber getragen habe, würde ich ihr das Collier zur Hochzeit schen­ken, zumal ich die Vorstellung, das ma chérie sich bei der Feier unwohl fühle, nicht ertragen könne. Lucien käme auch mit und habe sich extra einen neuen Anzug zugelegt, da er nichts Hochzeitsgemäßes besessen habe. Sie hätten schon Flüge gebucht, da die Hin- und Rückfahrt mit dem Autochen zu stressig wäre.


Hochzeitstag von Camille und Christoph


Camille sah zu ihrer Hochzeit noch bezaubernder aus als sonst. Ihr Lächeln, ihre charaktervollen Gesichtszüge und die Eleganz ihrer Bewegungen, machten sie für mich zur schönsten Frau der Welt, zumindest von denjenigen, die mir begegnet waren. Wie bei ihrer Wohnungseinrichtung, die wegen ihrer stimmi­gen Atmosphäre auf Alyssia damals ja sofort einen starken Eindruck gemacht hatte, schien sie auch bei ihrer Kleidung, ihrer Frisur und ihrem Schmuck im­mer genau die passendste Wahl zu treffen. Ich selbst kam mir zwar überhaupt nicht grob und rustikal vor, und hatte mich auch immer für relativ hübsch ge­halten, aber Camille schien eine angeborene Feinfühligkeit für Eleganz und Harmonie zu haben, die für mich immer unerreichbar bleiben würde. In Klei­dung und Aussehen genoss sie mein blindes Vertrauen, und was Camille nicht so passend fand, konnte für mich nicht angemessen sein. Die Hochzeit auf dem Standesamt verlief relativ unspektakulär gewöhnlich, aber bei der Feier wollte das Erstaunen kein Ende nehmen. Alyssia hatte sonst ihre dunkelbraunen fast schwarzen Haare immer runter hängend getragen, jetzt trug sie eine Lockenfri­sur, die sie sich morgens vom Friseur noch mal extra hatte auffrischen lassen. Mit ihrer Frisur, ihrem dunkleren Teint, ihrem wundervollen Abendkleid und ih­rem bezaubernden Schmuck, bot meine Tochter für mich ein Bild, das ich im­mer wieder mit den Augen verschlingen konnte, weil sie so für mich nie vor­stellbar gewesen war. Sie war eindeutig die junge Schönheitskönigin des Abends.

Eine noch größere Überraschung stellten allerdings ihre Geschenke dar. Sie schenkte Camille 6 Bücher 5 wahren eine Gesamtausgabe von Flauberts Wer­ken in der ersten Auflage von 1891. Camille hielt es für einen unermesslichen Schatz und konnte es gar nicht fassen, dass Alyssia so etwas hatte in einem Antiquariat finden können. Sie hielt die Bücher für eine Rarität, die man sich eigentlich nur noch in Bibliotheken ansehen könne, und dann noch ausgerech­net Flaubert ihr Lieblingsschriftsteller. Camille standen die Tränen in den Au­gen. Sie umarmte und küsste Alyssia immer wieder.


Alyssias Gedichtband


Die größte Überraschung aber sollte noch kommen. Ein kleines Büchlein mit Gedichten, von denen eines für eine Camille war, mit der handschriftlichen Widmung: „Meiner liebsten Freundin Camille zur Hochzeit mit Christoph. Ein Vorabdruck zum gemeinsamen oder einzelnen Lesen, Lieben und Träumen. In tiefster Liebe und Verbundenheit, deine Alyssia Stein. Das Büchlein trug den Titel „Petits poèmes d'amour et des rêves - Kleine Lieder von Liebe und Träu­men“ und die Autorin war Alyssia Stein. Ungläubiges Staunen: „Was ist das? Bist du das? Hast du das geschrieben?“, und bevor Alys erklärte, was es damit auf sich hatte, bekam ich auch so ein Buch mit der Widmung: „Meiner gelieb­ten Mamon, die mir alles, vor allem aber ihre Liebe gegeben hat. Ohne dich wären mir diese Worte nicht möglich gewesen. In großer Liebe und Verehrung, deine Alys“. Sie hatten für ein Lyrik-Seminar 2 Gedichte schreiben müssen Nach anfänglichen Problemen habe sie Spaß daran entwickelt. Vor allem habe es ihr Freude bereitet, eine deutsche Version dafür zu finden, die einem deut­schen Leser einen ähnlichen Eindruck vermittle, wie einem französischen Leser die Originalversion. Sie sei darauf gekommen, weil sie eine annähernd wörtli­che Übersetzung für grässlich gehalten habe. So seien die deutschen Fassun­gen fast eigenständige Gedichte mit dem gleichen Sujet, die ihrer Auffassung nach bei einem Deutschen den fast gleichen Eindruck erwecken würden, wie das Original. Eine Kommilitonin, die bei der Studentenzeitung mitarbeitete, hätte nicht nur ihre Gedichte sondern auch ihre Art der Übertragung für sehr interessant gehalten, und hätte einen Artikel darüber mit zwei Beispielen in der Studentenzeitung veröffentlicht. Kurz darauf habe sie jemand von einem klei­nen Verlag in Montpellier angesprochen, der die Gedichte auch sehr interessant gefunden hätte, und wissen wollen, wie viele solcher Gedichte sie denn ge­schrieben habe. Elf hätte sie gehabt, die habe er sich alle angesehen, sei be­geistert gewesen und hätte sie gerne veröffentlichen wollen. Elf seien natürlich zu wenig für eine Veröffentlichung gewesen. Der Verlag hätte sie sehr gerne veröffentlichen wollen, aber dazu habe sie noch einiges mehr verfassen müs­sen. Sie habe mehrere Monate fast in Trance gelebt, und ständig an drei Ge­dichten gearbeitet. Bei 39 sei ihr die Luft endgültig ausgegangen. Sie hätte mit dem Lektor und einem Deutschprofessor von der Uni noch mal alles durchge­sehen, und dann sei die Veröffentlichung gestartet worden. Die Vorabdrucke seien gerade fertig geworden, und sie habe nicht mehr als drei bekommen können. In einigen Wochen könne man es in Frankreich in den Buchläden kau­fen. „Nur ihr beide und ich haben jetzt schon eins in unseren Bibliotheken.“ schloss Alyssia ihre Erklärungen.

Alyssias poetisches Œvre blieb den ganzen Hochzeitsabend Gesprächsthema, nur sie selbst hatte gar keine Lust, länger davon zu reden. Sie wollte viel lieber mit Lucien tanzen. Lucien konnte hervorragend tanzen, während Alyssia nie tanzen gelernt hatte. Sie wollte sich alles auf der Hochzeitsfeier beibringen las­sen. Die beiden bogen sich dabei immer vor Lachen und bei einem Slow-Fox kam es dann zum ersten Kuss zwischen ihnen. Hinterher erzählte sie mir, dass es ihr sehr schwer gefallen sei, sich zurück zu halten. Sie habe kaum etwas von dem schönen Wein abbekommen, weil sie vermutet hätte, nur völlig nüch­tern der Versuchung widerstehen zu können. Wenn sie nichts an Lucien auszu­setzen habe, würde ich zwar nicht verstehen, warum sie sich ihren eigenen Be­dürfnissen immer noch widersetzen würde, aber in ihre Liebestaktik wolle ich mich natürlich nicht einmischen, erklärte ich. Zur Perspektive mit ihrem Buch meinte sie, überhaupt nichts sagen zu können. Alles sei völlig offen. Da der kleine Verlag ja nur ganz geringe Marketingmöglichkeiten habe, werde sicher­lich, wenn überhaupt, der Erfolg auch begrenzt bleiben. Dann sprachen wir noch über Näheres zum Urlaub in Saint-Jean und Alyssia musste Lucien noch zwei Tage lang Hamburg zeigen.


Urlaub im Hérault


Der Urlaub gestaltete sich immer abwechselnd als Unternehmungen mit und ohne Alyssia. Zum Markt in Ganges kam Lucien auch mit, und als wir zum Ba­den einen Tag ans Mittelmeer fuhren war er auch dabei. Seine Augen verfolg­ten dabei ständig Alys im Bikini. Ihre elegante Lockenfrisur war mittlerweile ein wenig verwüstet, so dass ihr Aussehen einen leicht wild-verwegenen Touch be­kommen hatte. Ich konnte gut verstehen, dass den jungen Herrn Renouard, so hieß Lucien mit Nachnamen, nach mehr verlangte als gemeinsamem Reden. Mittlerweile küssten sie sich auch häufiger, zwar relativ zurückhaltend aber doch eindeutig verliebt. Sie lachten auch viel und spielten wie Kinder im Was­ser und am Strand. Allem Anschein nach, hatte sie Camilles Hochzeitsfeier doch ein Stück näher zusammen gebracht.


Anschließend an unseren Urlaub stand für Alyssia der Sechs-Wochen-Worldtrip mit Julienne an. Sie hatten geplant: 2 Wochen Afrika, 2 Wochen Südamerika, 1 Woche China und 1 Woche Australien. Die Detailplanung hatte hauptsächlich Julienne übernommen, da Alyssia sich in den letzten Monaten im Dauerstress befunden habe. Allein die Geschenksuche für Camille habe zusammengerech­net bestimmt eine ganze Woche gedauert. Sie habe schon fast aufgeben wol­len, bis sie eben genau das Richtige gefunden habe, aber es sei ihr eigentlich unbezahlbar erschienen. Ein wenig habe sie den Preis beim Antiquar noch run­ter handeln können, und dann habe sie ja auch noch einen kleinen Vorschuss vom Verlag erhalten, und weil es ja nun nicht für irgendeinen guten Freund sondern für Camilles Start in ein neues Leben gewesen sei, habe sie es dann doch gemacht. Den Preis wollte sie nicht nennen, sie meinte nur, es sei das teuerste, was sie je in ihrem Leben gekauft habe.


Der Urlaub hatte allen sehr gut gefallen, und es stand fest, dass wir nie wieder einfach für ein paar Wochen an den Strand oder sonst wohin fahren würden, sondern immer nur so Abenteuerurlaub Ähnliches unternehmen wollten. Als Camille und Christoph bald darauf zurückkamen schwärmte Camille mir tage­lang von der Flaubert Ausgabe vor. Sie sei nicht nur ihr persönlich liebstes Werk unter ihren Büchern, sonder eindeutig auch das objektiv wertvollste. Sie vermutete, dass ich es bezahlt hätte, aber ich konnte ihr erklären, dass es ein­deutig nicht so gewesen sei, aber Alyssia mir den Preis auch nicht habe verra­ten wollen. Sie holte mehrfach einen der repräsentativen Bände mit graviertem Einband herunter, um mir zum Beispiel zu zeigen welche Passagen sie bei Ma­dame Bovary als junges Mädchen besonders beeindruckt hätten. Sie habe sich das Buch heimlich besorgen müssen, da ihre Eltern es ihr verboten hätten. Wenn sie davon und darüber sprach, bekam sie oft vor Rührung und Freude wässrige Augen. Sie wäre eigentlich sicher, dass nur dies ihr aller schönstes und liebstes Hochzeitsgeschenk sein könne, aber Alyssias Gedichtband mache sie völlig ratlos. Sie fände die französischen Gedichte hervorragend und wun­derschön, und sie habe ja nun doch einigen Sachverstand und sei nicht eine einfache Leserin. Es zeige nicht nur, dass sie tiefer in der französischen Spra­che lebe als die meisten Franzosen selbst, sondern auch dass sie ein hohes poetisches Potential habe. Dass Alyssia zu so etwas in der Lage sein könne, sei ihr bisher völlig verborgen geblieben. Die Art der Übertragung ins deutsche fand sie nicht nur äußerst originell, sondern auch sehr beeindruckend und gut gelungen. Es seien keine irgendwie gearteten Übersetzungen, sondern eigen­ständige deutsche Gedichte zu dem gleichen Thema oder mit dem gleichen In­halt. Das Bändchen sei so ungewöhnlich und gut, und dann in Frankreich von einer jungen deutschen Studentin, dass sie sich kaum vorstellen könne, dass es unbeachtet bliebe, auch wenn es nur in einem kleinen Verlag erscheine.


Erfolg von Alyssias Buch


Alys und Julienne informierten uns immer aus aller Welt. Sie hatten ein Blog eingerichtet in das sie immer ihre neuesten Erlebnisse samt Bildern eintrugen. Nach den Galapagos erfuhren wir von ihren neuesten Erlebnissen in Peking, und von Sydney aus ging's dann wieder über Marseille nach Hause. Wieder in Combaillaux erfolgte dann die Überraschung die alle Erlebnisse der Weltreise in den Schatten stellen sollte. Der Gedichtband war in Literatur Sendungen meh­rerer Rundfunkanstalten besprochen worden, und hatte Erwähnung in vielen Zeitungen gefunden. Er verkaufe sich so gut, dass der Verlag eine Auflage nach der anderen drucken lassen müsse, um der Nachfrage entsprechen zu können. Sie habe einen Stapel von Anfragen und Einladungen zu Interviews und Gesprächen, dass sie sie womöglich gar nicht alle bearbeiten, geschweige denn annehmen könne. Auch France TV habe sich schon beim Verlag gemeldet um die Möglichkeit einer Einladung zu einer Literatursendung, in der neue Bü­cher vorgestellt werden, zu prüfen. „Mami ich werde reich!“ rief Alyssia in den PC als sie mit mir mir skypte. Sie hätte jetzt schon so viel bekommen, dass sie Julienne erst mal ein vernünftiges Auto kaufen würden. Mit ihrer alten Mühle sei jede Fahrt ein Vabanquespiel gewesen. Dass sei das Dringendste. Die vie­len Interviewgesuche werde sie nicht wahrnehmen. Ihr primäres Ziel sei es, ihr Studium weiter erfolgreich durchführen und dabei normal leben zu können. Eine Einladung zu France TV werde sie wohl annehmen. Wenn das halbwegs erfolgreich sei, würde dass den Verkauf noch einmal potenzieren.


Das funktionierte auch. Sie hatte mir den Sendetermin genannt und wir sahen uns gemeinsam Alyssias Sendung im französischen Fernsehen an. Sie wirkte frisch offen und selbstsicher, als ob sie über langjährige TV Erfahrung verfügte. Sie wurde nicht nur von der Moderatorin mit Lob und Anerkennung überschüt­tet, sondern streichelte auch mit ihren Erzählungen, über die Entstehung ihrer Liebe zum Französischen und zur Französischen Sprache, die Seelen aller Fran­zosen tief. Auch ihre Erklärungen zur Entstehung der Gedichte und ihren Hin­tergründen wirkten sehr sympathisch. Sie lachte viel, wenn zum Beispiel die Moderatorin sagte, sie sei schon als Enkelin Baudelaires bezeichnet worden und sie immer drängen wollte, doch weitere Gedichte zu schreiben. Die Erklä­rung, das der erfolgreiche Abschluss des Studiums für sie oberste Priorität habe, verschaffte ihr sicher die Sympathien vieler Eltern. Sie wusste auch charmant und geschickt auf verfängliche Fragen zu reagieren, so dass sie allen als junge aufgeweckte sympathische Studentin mit ganz besonderen poeti­schen Potentialen erscheinen musste.


Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Gallimard fragte beim Verlag an, was sie für die Rechte an dem Buch verlangen würden, und sie wurden sich einig für zwei unterschiedliche Variationen, einmal mit Alyssias Rechten in bestehender Form oder Alyssias Rechte mit Gallimard neu aushandeln. Da Alyssia über­haupt keine Ahnung hatte, welche Form von Vertrag sie eingehen sollte, und was sie verlangen konnte, hatte sie sich vom Schriftstellerverband einen kom­petenten Rechtsanwalt in Montpellier nennen lassen. Sie musste feststellen, dass sie dem kleinen Verlag ungeheuer viel Geld geschenkt hatte, andererseits war das Risiko eines Flops von ihm natürlich auch viel schwerer zu verkraften. Sie wollte sich Gallimard gegenüber von diesem Rechtsanwalt vertreten lassen.

Gallimard startete dann noch einmal eine große Marketingkampagne, die auch dazu führte, das Arte einen Beitrag über sie in Metropolis plante. Alyssia lehnte aber alle Fahrten und Interviews außerhalb ab. Arte schien das nicht zu stören also wurde ihr kleines Häuschen in Combaillaux aufgenommen, Alyssia am Schreibtisch gezeigt und ein Interview im kleinen Garten geführt. Auch hier wirkte sie sehr freundlich, arbeitsam und intelligent. Die Folge davon war, das Gallimard die Rechte zu guten Bedingungen ins deutschsprachige Ausland ver­kaufen konnte, und Alyssia noch einmal einiges abbekam.


Alys neuer Reichtum


Alys überlegte, was sie mit dem Geld machen sollte. Nach Juliennes Auto sei das dringendste Problem, dass ihr Haus für Besuche oft sehr klein sei. Zwei kleine Gästezimmer für beide seien eben doch oft wenig, aber in ein anderes Haus ziehen, behage ihnen auch nicht. Es sei ihnen sehr ans Herz gewachsen, und wegen mehr Zimmern für andere Menschen ihr eigenes Haus verlassenen, schiene ihnen eigentlich auch ein wenig pervers. Sie hatten jetzt einen Archi­tekten beauftragt, der prüfen solle, ob ein Dachausbau möglich sei. Alles funk­tionierte und wurde durchgeführt, so dass sie jetzt zwei studioähnliche Arbeits­räume und ein großes modernes Bad über dem ersten Stock hatten, wo sonst nur ein unbenutzbarer flacher Dachboden gewesen war. Gleichzeitig war der Keller renoviert und vertieft worden, so dass man hier jetzt aufrecht laufen und wesentlich mehr unterbringen konnte. Dann hatten sie noch Alyssias C3 gegen einen Citroën Berlingo eingewechselt, damit sie auch mal etwas transportieren konnten, und in dem auch zu viert oder fünft bequem für alle Platz genug war. Der Rest des Geldes, immer noch der überwiegende Teil, wurde für eventuelle andere außergewöhnliche Bedürfnisse zurückgelegt.


Weitere Aktivitäten für Alyssias Buch


Ganz zur Seite legen konnte sie die Beschäftigung mit ihrem Büchlein aber doch nicht. Von Gallimard aus versuchte man sie immer wieder zu drängen, doch bestimmte Gesprächsgesuche nicht abzulehnen mit dem Hinweis auf die verkaufsfördernde Wirkung. Man wusste die positive Wirkung ihre Auftretens zu schätzen, einer Frau, die nicht als verträumtes Liebeslieder singendes Mäd­chen auftrat, sondern als aufgeweckte, selbstbewusste, äußerst kenntnisreiche und freundliche junge Studentin. Ihr Auftritt hatte immer positive Auswirkun­gen, denn sie wusste auch mit verfänglichen und teils aggressiven Fragen ge­schickt umzugehen und ihre Bescheidenheit im Hinblick auf ihre poeti­schen Ka­pazitäten, wurden meist als höfliches Understatement gewertet. Ihr Anwalt riet ihr Mitglied im Schriftstellerverband zu werden, obwohl sie gar nicht vor hatte, etwas Weiteres zu schreiben. Selbst wenn sie gewollt hätte, sei ihr völlig schleierhaft, was sie denn machen sollte. Ein weiteres ähnliches Büchlein hielt sie, abgesehen davon dass sie es sowieso nicht wollte, für völlig verfehlt. Alles Andere seien für sie völlig neue offene Welten. Offiziell erklärte sie immer auf das Drängen zu weiteren Werken, dass sie erst ihr Studium be­enden wolle, dann werde man sehen. Gallimard hatte ihr ein eigenes Block zu diesem Buch in französisch, deutsch und englisch angelegt und eine spezielle E-Mail Adresse eingerichtet. Sie konnte das ja nicht unbearbeitet und un­beantwortet lassen. Darüber hinaus, war es auch nicht uninteressant, weil oft die kuriosesten Mails auftauchten. Eine ehemalige Klassenkameradin fragte ganz erstaunt: „Sag mal Alys bis du das? Und wenn ja was machst du und wo steckst du? Melde dich doch mal. Ich kann's gar nicht fassen.“ Ihre kleine Schwester hatte das Buch in der Schule behandelt und die Lehrerin habe ge­sagt, dass die Autorin aus Ham­burg stamme. Von Franzosen sei ihr Buch so gut wie gar nicht kritisiert wor­den, in deutschen E-Mails hingegen schon recht häufig. Den Deutschen liege es anscheinend mehr zu nörgeln, als Freude dabei zu empfinden, lobende Worte auszusprechen. Wie gut, dass sie zu Hause diese Wesensart nie erfahren habe.


Entwicklung der Beziehung zu Lucien


Lucien bedränge sie oft. Er sei verliebt in sie, und sie in ihn, worauf sie denn dann noch länger warten sollten. Sie hätten oft über ihre Gedichte gesprochen und sie gemeinsam interpretiert und ihre unterschiedlichen Empfindungen dis­kutiert. Als sie dabei auch auf ihre Erfahrungen mit Daniel zu sprechen gekom­men seien, habe er gefragt, ob sie so ein Verhalten etwa auch von ihm be­fürchte, er sei doch kein Kind. In der Tat sehe sie es auch so, dass ihre Bezie­hung zu Daniel stark kindliche Züge getragen habe. Sie empfinde sich selbst heute, und auch ihre Beziehung zu Lucien als wesentlich reifer und tiefer. Trotzdem bleibe ihr die positive Zeit mit Daniel immer in freudiger Erinnerung. Darüber hinaus sei er nicht nur ihr erster Junge gewesen, sondern durch ihn sei ihr auch erst der Weg zur Liebe für Frankreich und die französische Sprache eröffnet worden. Vergessen werde sie das nie, auch wenn er heute möglicher­weise ein dämlicher Typ sei. Er studiere auch in Montpellier, sie habe ihn vor einiger Zeit auf der Straße getroffen. Er habe nur „Hallo, Alyssia!“ gesagt und sei einfach weiter gegangen, obwohl sie ihm noch zweimal nachgerufen habe. Es habe ihr weh getan, und sie sei richtig sauer auf ihn gewesen. Madame Ledoux, mit der sie wegen ihres Buches gesprochen habe, sei sehr traurig über ihn gewesen. Er melde sich nur sehr selten, berichte fast nur Formales und komme so gut wie gar nicht mehr nach Hause. Sie mache sich große Sorgen um ihn, wisse aber gar nicht, was sie tun könne, und wie sie an ihn ran kommen solle.


Selbst wenn Daniel sich in Hamburg auch damals so idiotisch verhalten habe, mit Juliennes Liebeserfahrungen möge sie nicht tauschen. Sie habe zum ersten mal fast betrunken nach einer Party mit einem Jungen unangenehm gefickt, den sie nicht gekannt habe und den sie nie wiedergesehen habe. Es bedeute ihr nicht viel. Mein Verhalten gegenüber Lucien sei für sie undenkbar. Wenn sie einen Freund habe, mit dem sie halbwegs klar komme, gehe sie auch mit ihm ins Bett, wenn sie Lust auf einen Mann habe. Wie lange die Beziehung halte, oder wie intensiv die gegenseitige Zuneigung oder gar Liebe sei, spiele für sie keine Rolle. Wie sie später mal leben wolle, und ob es für sie dann eine ent­scheidendere Rolle spielen werde, könne sie heute noch gar nicht sagen. Sie hielte Alyssias Einstellung für die Suche nach einem Ideal, wenn nicht nach der Verwirklichung eines Traumes, was ja bis jetzt bei ihr zu funktionieren scheine. Für sich selbst könne sie sich das aber überhaupt nicht realistisch vorstellen. Wenn es sich bei Alyssia weiterhin gut entwickele, sei das für sie vielleicht ein Vorbild für später. Aber jetzt sei es für sie selbst unvorstellbar, dass beide gern miteinander ins Bett gehen würden, man es aber trotzdem nicht mache.


Alyssia machte sich auch Gedanken darüber, wie sich ihr Leben wohl verän­dern könnte, wenn sie mit Lucien schlafe, jetzt käme er manchmal von der Uni mit zu ihnen. Sie bringe ihn anschließend nach Hause und arbeite abends. An Samstagen oder Sonntagen unternähmen sie auch öfter gemeinsam etwas, aber wenn sie miteinander schlafen würden, wären sie sicher viel öfter zusam­men und verbrächten viel mehr Zeit gemeinsam. Ihre Arbeit beeinträchtigen lassen, wolle sie dadurch aber auf keinen Fall. Es wäre prima wenn Lucien auch in Combaillaux wohne, dann könnten sie sich abends treffen, und gemeinsam die Nacht verbringen. Aber ohne Auto sei das nicht möglich. Sie versuchte es Lucien schmackhaft zu machen, nach Combaillaux zu ziehen. Für den Preis sei­nes Zimmers in Montpellier bekäme er hier eine ganze Wohnung, und sie könnten sich sehen und treffen, wann immer sie Lust dazu hätten, im Übrigen hänge ihr das ständige Hin- und Zurückbringen zum Halse raus. Ob er seine El­tern denn nicht bewegen könne, ein wenig Geld für ein kleines Auto locker zu machen. Lucien habe lange nachgedacht und gemeint, die einzige Chance be­stehe darin, dass sie noch einmal gemeinsam zu seinen Eltern führen. Dass er mit Alyssia jetzt befreundet sei, habe er ihnen schon gesagt.


Luciens Eltern waren ganz angetan davon, dass ihr Sohn eine so berühmte Freundin habe. Sie hatten sie auch im Fernsehen gesehen, und hätten sie her­vorragend gefunden. Warum sie denn bei ihrem ersten Besuch nichts davon gesagt hätten. Alyssia hätte erklärt, dass sich das alles erst später entwickelt habe, und dass sie immer noch sehr viel Arbeit mit dem Buch habe. Sie hätten dargestellt, wie entlastend es für ihre Freundschaft sei, wenn Lucien auch in Combaillaux wohnen könne, und dabei auf die Notwendigkeit eines Autos hin­gewiesen. Lucien habe zu seiner Mutter gesagt: „Mamon, du liebst mich doch, dann kannst du doch nicht wollen, dass die glückliche Liebe deines Sohnes an einem kleinen Auto zerbricht, und er deswegen für immer unglücklich sein wird. Ich liebe Alyssia über alle Maßen, aber der Zustand jetzt ist für uns beide unerträglich.“ Seine Mutter habe gelächelt, ihn an sich gedrückt und ihm über's Haar gestreichelt. Von ihr aus sei das kein Problem, aber sein Vater habe ziem­lich festgefügte Vorstellungen darüber, wie man als Student zu leben habe, man brauche als Student nicht herumzufahren, sondern habe zu studieren. Am besten werde sie selbst mal mit ihm reden, wir sollten ihm gegenüber gar nichts davon erwähnen. Was sie Luciens Vater abends im Bett erzählt hatte, wussten sie nicht, auf jeden Fall sei sie lächelnd in Siegerpose morgens in die Küche gekommen, und habe erklärt, dass er einverstanden sei. Später hätten sie gemeinsam darüber gesprochen, und Lucien habe erwähnt, dass so ein ge­brauchter Kleinwagen ja schon für wenig Geld zu haben sei. Das habe Mon­sieur Renouard abgelehnt, dann habe er eventuell nur Probleme mit dem Auto und würde vielleicht öfter nicht zur Uni kommen. Wenn er ein Auto gebrauche, solle es auch schon ein ordentliches sein. Alyssia berichtete von ihren positi­ven Erfahrungen mit dem Citroën C3, und so einen in einer unteren Preisklasse sollte er auch bekommen. Lucien sei überglücklich gewesen und habe seine El­tern umarmt und sich tausendfach bedankt.


Zurück in Combaillaux und Montpellier habe alles in die Wege geleitet werden können. Alyssias Hintergedanken habe Lucien natürlich nicht gekannt. Eine Wohnung war für Lucien in Combaillaux noch nicht gefunden, als er eines Nachmittags wieder mit zu ihnen gefahren sei. Als es später geworden sei habe Alyssia auch Wein getrunken und Lucien habe gefragt, ob Julienne ihn gleich nach Hause bringe. Alyssia habe gemeint, dass sie das wohl nicht machen wür­de, weil er und Alyssia heute Abend etwas zu feiern hätten. Dann habe sie ihm erklärt, dass sie genau heute vor einem Jahr ihren ersten gemeinsamen Kaffee getrunken hätten, und sie dafür gesorgt habe, dass sie sich wieder treffen wür­den, da müsse er hierbleiben und heute Nacht hier schlafen. Er habe aber nichts dabei, hätte er immer noch nicht verstanden. Er brauche nichts, habe Alyssia erklärt, er selber würde ihr voll ausreichen. Lucien habe gelächelt und sie erstaunt mit großen ungläubigen Augen angeschaut. Nach ausgiebigem lei­denschaftlichem Küssen hätten sie sich gegenseitig ausgezogen, und die ganze Nacht über immer wieder neu geliebt. Alyssia meinte sie würde es völlig anders als früher empfinden. Sie nehme sich als viel leidenschaftlicher war, es sei für sie viel erfüllender und sie habe große Lust, es immer zu wiederholen. Es sei ungeheuer anstrengend, aber unbeschreiblich schön gewesen. Sie freue sich riesig darauf, dass Lucien sehr bald bei ihnen wohnen werde.


Als Alyssia das erzählte, fielen mir meine ersten Nächte mit Ralf ein. Genauso hatte es sich für mich damals dargestellt. Für mich war es auch ein völlig neu­es Erlebnis, von dem ich nicht hatte genug bekommen können. Vielleicht ist die Grundlage für das Lustempfinden erblich und wird von der Mutter auf die Tochter übertragen, aber vielleicht geht es ja auch den meisten Frauen so ähn­lich, wenn sie in absolut glücklichen Situationen Ficken als neues Glücksgefühl entdecken. Camille war natürlich auch über alles informiert und freute sich für Alys. Sie habe die beiden auf der Hochzeitsfeier als ein traumhaftes Paar emp­funden. Lucien habe ihr auch sehr gut gefallen. Er habe auf sie einen freundli­chen, sensiblen, intelligenten und gebildeten Eindruck gemacht. Ihr sei es gut erklärlich, dass die beiden sich gut verstehen und gerne mögen würden. Sie könne sich kaum vorstellen, dass es zwischen den beiden so bald zu Problemen kommen könnte. Alys habe ihr zögerliches Verhalten damit begründet, dass er ihr zu wertvoll sei, um schnell mit ihm ins Bett zu kommen, und Lucien habe ja sehr viel auf sich genommen und ertragen, um Alyssia nicht zu verlieren. Bei­den sei ja auch, unabhängig vom Sex, sehr viel aneinander gelegen. Ich war der Ansicht, dass meine Besuche die beiden jetzt eher stören würden. Das sah Camille überhaupt nicht so. Jetzt würden sich sogar zwei freuen, wenn ich käme, denn Lucien habe sich ihr gegenüber bewundernd über Alyssias Mutter geäußert und er würde sich sicher genauso freuen, wenn ich käme. Wenn Luci­en mal einige Wochen in Combaillaux wohne, und sich eingelebt hätte, wollte ich das mal testen.


Neue Pläne für die Kanzlei


In der Kanzlei war es für mich allmählich ein wenig uninteressanter geworden. Ich erledigte zwar alles noch wie immer, aber die große Freude, die ich lange Zeit gehabt hatte, wenn ich morgens hinfuhr, wollte sich nicht mehr einstellen. Die Arbeit war mir zwar nicht unangenehm geworden, aber es gab keine neuen Entwicklungen mehr. Wir hatten die Kapazitätsgrenzen ausgeschöpft, eine Er­weiterung war hier nicht mehr möglich. Es ereignete sich nichts Neues mehr. Auch wenn fast jeder Rechtsfall anders geartete Probleme behandelte, schien die Arbeit auf Grund unserer mittlerweile schon jahrelangen Erfahrung langsam zur Routine zu werden, eine Institution, in der sich nichts mehr ereignete. Mir bereitete diese Entwicklung Missfallen. Ich beriet mich mit Anja darüber. Sie habe das zwar selbst bislang noch nicht so empfunden, stimmte aber meiner Einschätzung zu. Wir überlegten, ob es irgendwelche Auswege geben könne. Probleme, von denen wir immer wieder hörten bestanden darin, dass es bei Rechtsfällen im Ausland häufig zu Unsicherheiten und groben Benachteiligun­gen kam. Möglicherweise würde eine Rechtsberatung für Firmen, die im Aus­land zu bauen beabsichtigten, gern in Anspruch genommen. Eine Hilfe beim Eintreten von Rechtsfällen sei eventuell auch ganz nützlich. Wenn wir dann noch kompetente, vertrauensvolle Anwälte im Ausland vermitteln könnten, wäre das ein weiterer Vorteil. Wir hatten allerdings von der Gesamtlage nicht den Ansatz eines Überblicks, konnten nicht einschätzen, wie hoch der Bedarf wo war, und konnten auch nicht im entferntesten einschätzen, ob so eine Ein­richtung überhaupt gewinnbringend einzurichten und zu betreiben war. Wir hatten nur zufällig von eklatanten Einzelfällen gehört. Wir wussten noch nicht einmal ad hoc, wo wir uns denn gezielt informieren konnten. Das einzige was wir wussten war, dass es so gut wie kein Land gab, in dem deutsche Anwälte Mandanten direkt vor Gericht vertreten konnten, und das die Baurechtsord­nung und die Gerichtsbarkeit fast in jedem Land völlig anders geregelt waren. Wir mussten uns also, bevor wir uns irgendwo zu entschließen konnten, um­fangreiche Kenntnisse einholen. Wenn auch noch keine neue Perspektive, so doch zumindest eine Aufforderung, sich mit Neuem auseinander zu setzen, das sich eventuell zu einer Perspektive entwickeln könnte.


Ralf ist unzufrieden und organisiert sein Institut um


Abends im Bett erzählte ich Ralf davon. Er fragte, warum wir uns denn mit so riskanten Angelegenheiten beschäftigen würden. Ob uns die Kanzlei nicht rei­chen würde. Wir verdienten hervorragend, seien voll beschäftigt, was wir denn noch mehr wollten. Als ich ihm erklärte, wie wir darauf gekommen seien, meinte er: „Das ist doch Unfug. Kein Mensch lebt in einer permanenten Auf­bruchphase. Bei mir ist es doch genauso. Seit dem alles läuft, tun wir im Prin­zip doch immer die gleiche oder ähnliche Arbeit. Und ich bin froh, dass es so ist. Alles andere wäre eine überflüssige zusätzliche Belastung. Jedem Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer oder Apotheker geht es doch im Grunde nicht anders.“ „Ralf, liebst du mich eigentlich noch?“ fragte ich ihn. „Wie kommst du denn auf so etwas?“ äußerte er sein Erstaunen auf meine Frage. „Die Art, wie du mit mir sprichst, tut mir weh. Du legst keinen Wert darauf, mich verstehen zu können, sondern zensierst mich schroff, wie du es früher bei deinen Schülern nie getan hättest. Meinst du etwa, das würde mich dazu verleiten, mich auch weiterhin mit meinen Plänen und Vorstellungen vertrauensvoll an dich zu wenden, oder wäre es dir sowieso lieber, wenn ich meinen eigenen Streifen durchziehen wür­de, und dich damit nicht belästigte?“ erklärte ich ihm den Hintergrund meiner Frage. Ralf richtete sich im Bett auf, dachte kurz nach und schaute mich an. Er beugte sich zu mir runter und küsste mich. Dann meinte er, mit dem Kopf auf seinen linken Arm gestützt: „Das ist nicht in Ordnung, Ruth, überhaupt nicht in Ordnung. Ich weiß auch nicht, wie ich dazu komme. Wenn ich abends aus dem Institut komme, fühle ich mich immer total erschöpft. Ich möchte eigentlich nur noch Ruhe haben. Es kommt mir tagsüber gar nicht stressig vor, und es läuft eigentlich auch alles absolut reibungslos. Ich kann völlig zufrieden sein, aber glücklich bin ich nicht, eher das Gegenteil. Wenn ich abends nach Hause komme, habe ich meist eine graue, leicht reizbare Stimmung. Ich sehe deine Liebe und Schönheit gar nicht mehr. Ich habe vorrangig das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden. Und dann reagiere ich so unmöglich wie jetzt. Ich denke mir nichts dabei, es kommt einfach so raus, und hat wahrscheinlich seine Wur­zeln in der Unzufriedenheit mit mir selber.“ „Warum bist du denn abends so fertig, arbeitest du zu viel oder zu intensiv?“ fragte ich ihn. Ralf zog fragend die Schultern hoch: „Ich weiß es auch nicht. Zuviel Arbeit kann es nach meiner Einschätzung nicht sein. Es hat sonst häufig Phasen gegeben, in denen ich we­sentlich mehr gearbeitet habe, und ich fühlte mich gut und locker hinterher. Zum Beispiel die Woche in Magdeburg war total zugeladen mit Arbeit, und die Rückfahrt war stressig, aber ich war doch nie mies drauf, wenn ich hier ankam, im Gegenteil mir ging's doch gut und ich hab mich gefreut, dass ich wieder zu Hause war. Jetzt trägt alles so einen leicht grauen Schleier. Wenn ich an die Grundschulzeit zurück denke, das wahr eine wunderbare Atmosphäre. Die Klei­nen gaben einem so viel Liebe und Zuneigung zurück und auch die Kommuni­kation mit den Studenten hat mir selber viel gegeben. Und heute? Nichts von dem. 50 Prozent Verwaltung und Organisation und 50 Prozent Beratung in Pro­blemen. Es gibt mir nichts, außer dass ich mir selbst sage 'Du machst es gut, Ralf, du hältst den Laden prima am Laufen.'“ „Mein Liebster, das hört sich gar nicht gut an. Ich bin ratlos. Komm ganz nah zu mir. Ich will deine traurige Seele wärmen.“ forderte ich Ralf auf. Wir küssten und wir liebten uns, und lächelten uns an und uns kamen die Tränen. „Ralf, mein Liebster, wir werden uns etwas überlegen. Uns ist immer noch etwas eingefallen. So darfst du das nicht weiter laufen lassen, für dich selbst nicht und für mich erst recht nicht. Wo soll das denn hinführen, wenn du meine Schönheit nicht mehr siehst.“ meinte ich zu ihm wieder lächelnd. „Ruth, ich liebe dich immer noch wie am ersten Tag, auch wenn wir uns verändert haben und die Ausdrucksformen andere sind. Und wenn du mal vermuten solltest, dass das nicht so wäre, dann musst du mir helfen, dann bin ich einfach krank.“ erklärte Ralf. Es dauerte noch lange, bis wir in dieser Nacht zum Schlafen kamen.


Mir schien es so, dass Ralf immer das Feedback einer Kommunikation mit an­deren Menschen brauchte, und das genau gab es bei der Arbeit in seinem In­stitut überhaupt nicht. Ich war der Ansicht er brauche so etwas wie Diskussi­onsforen, Seminare oder Gesprächskreise und solle dafür, Aufgaben wie Orga­nisation und Verwaltung und auch Einzelfallberatung delegieren. Im Prinzip fand Ralf das auch nicht schlecht, man müsse nur prüfen, ob und wie sich das realisieren lasse. Nach einem Vierteljahr war alles geregelt. Für die Organisati­on und Verwaltung war eine junge Sozialpädagogin, die beim Jugendamt gear­beitet hatte und mit der Ralf sich prächtig verstand, eingestellt. Ein Arbeits­kreis Hamburger Pädagogen, war ins Leben gerufen worden, der staatlich be­zuschusst wurde, 14 tägig zu unterschiedlichen Themen veranstaltet wurde, und bei LehrerInn und ErzieherInnen großen Anklang fand. Die Einzelfallbera­tungen waren auf zwei pro Woche reduziert worden, da er sie in seinem Insti­tut nicht ganz abschaffen konnte. Die neuen Einnahmen deckten zwar die neu entstandenen Kosten nicht, aber dafür wurde mein Ralf nicht nur zufrieden, sondern wieder glücklich.


Elias Schüleraustausch


Für Elias sollte auch ein Schüleraustausch für ein Jahr geplant werden. Er woll­te auch lieber nach Frankreich als in die USA, obwohl er keine persönliche Be­ziehung, wie Alyssia damals hatte. Und auch im Französisch Unterricht in der Schule war er zwar nicht schlecht aber keineswegs besser als im Englischen. Was ihn bewegte, war womöglich ein Ensemble mehrerer Faktoren. Die positi­ven Erfolge für Alyssia spielten wahrscheinlich eine Rolle, die Freundschaft mit Camille und ihrem Mann Christoph, unser letzter Urlaub in Frankreich und auch sicher die Tatsache, dass Alyssia in Frankreich lebte. Wie viel sie ihm bedeute­te, und wie sehr er sie bewunderte, äußerte er nie direkt, aber man konnte es an indirekten Reaktionen spüren. Er hatte zum Beispiel in der in der Schule überall damit geprahlt, seine Schwester sei jetzt eine ganz berühmte Dichterin in Frankreich, die im Fernsehen auftrete und von der man überall Bücher kau­fen könne. Er bettelte auch öfter, doch mal mitfliegen zu dürfen, wenn ich am Wochenende Alys besuchte. Seine alte Kinderliebe war nicht gebrochen, auch wenn sie nur sehr wenig miteinander zu tun hatten. Elias erklärte, Französisch sei auch eine Weltsprache, die in sehr vielen Ländern auf der ganzen Welt ge­sprochen werde. Aber Christoph machte ihm auch klar, was er auch immer studiere, zum Beispiel Medizin, müsse er seine Arbeiten in Englisch schreiben können, sonst würde sie niemand lesen. Schul- oder Computerenglisch würden dazu nicht ausreichen. Dann wolle er nach Frankreich nach Amerika, aber zu­erst nach Frankreich. Vielleicht war das auch gar nicht so schlecht, dann brauchte er keinesfalls zum Lycée, was ja auch schwieriger war und ihn in der Oberstufe beeinträchtigt hätte. Alle wollten eruieren, welche Möglichkeiten es gab und welche am geeignetsten erschienen. An seiner Schule existierte die Möglichkeit eines Austausches mit einer Schule in Marseille, Hamburgs Partnerstadt, für gegenseitig 14 tägige Besuche, aber das war ja Spielerei. Marseille wäre prinzipiell aber nicht schlecht gewesen, dann hätte Alys ihn auch gut mal besuchen können. Camille hatte beim deutsch französischen Jugendwerk eine Annonce aufgegeben, von denen der Austausch auch noch finanziell unterstützt werden konnte. Als ich Lucille anrief, weil ich sie bitten wollte, doch wenigstens für eine Woche zu uns zu kommen, damit sie mal ein wenig Abstand gewinne und auf andere Gedanken komme, fand sie das eine prima Idee. Wir drei Frauen würden bestimmt viel Spaß miteinander bekommen. Nebenbei erwähnte ich, das Elias jetzt auch für ein Jahr nach Frankreich wolle. Lucille erklärte, dass er doch wohl selbstverständlich zu ihnen käme, es sei denn er wolle selbst etwas anderes. Sie könne das sicher zusagen, weil sie wisse, dass ihr Mann das auch bestimmt begrüßen werde. Mir war das ein wenig problematisch, weil Ledoux bestimmt nichts dafür annehmen würden, aber vielleicht würde es Camille und mir ja mit vereinten Kräften gelingen Lucille zu überzeugen. Ich fragte Elias, was er davon halten würde, und er war absolut begeistert. Als ich Lucille mitteilte, das Elias total begeistert sei, erklärte sie mir, dass er dann auch am besten im Notre Dame Institut das Collège besuchen würde. Das sei die gleiche Schule, die Alyssia besucht besucht habe, und da dürfte es dann ja wohl keine Probleme geben. Ihr Mann, der übrigens ganz begeistert sei, werde das sicher morgen oder übermorgen mit der Schule abklären. „Lucille, wir werden gar nicht so viel Wein bei euch bestellen können, dass wir das wieder gut machen könnten. Aber sag mir bitte, wann du kommst. Wir freuen uns über jeden Tag, den du länger bleiben kannst, aber weniger als eine Woche ist es nicht erlaubt.“ teilte ich ihr mit. Sie würde alles heute oder morgen abklären, und mich dann informieren. Sie freue sich schon darauf.

Als Lucille anrief, erklärte sie, dass mit der Schule alles geregelt sei. Man habe ihren Mann auf Alyssia angesprochen, und gemeint, das hätten damals schon alle festgestellt, dass sie nicht nur ein normales fleißiges Mädchen sei. Dass sie bei ihrem TV-Interview das Lycée so lobend erwähnt habe, hätte alle gefreut. Für ihren Besuch gebe es zwei Möglichkeiten. Entweder sie komme Anfang Au­gust und nehme Elias dann im Laufe des Monats mit, damit er sich vor Schul­beginn noch ein wenig einleben könne, oder sie komme jetzt in der nächsten Zeit. Ich fragte Camille, ob sie im August zu Hause sei, und Lucilles Besuch konnte auf Anfang August festgelegt werden.


Neue Situation für Alyssia


Ich informierte Alyssia, dass Elias für ein Jahr zu Ledoux gehen würde und in ihrer alten Schule das Collège besuchen werde. Sie fand es auch toll. Dann werde sie ihn mal in der Schule besuchen. Sie hätte immer schon mal daran gedacht, zur Schule zu fahren. Fast alle Lehrerinnen und Lehrer hätten ihr ganz liebe E-Mails zu ihrem Buch geschickt und sie eingeladen. Dann fragte sie mich, wann ich denn mal endlich wieder vorbei käme. Lucien habe auch schon mehrfach nach mir gefragt. Er habe jetzt seit 2½ Wochen eine kleine Wohnung in Combaillaux und sein Auto habe er auch schon. Es sei wunderbar. Meistens käme er Abends zu ihnen, dann kochten sie zusammen, hätten viel Spaß oder könnten auch stundenlang diskutieren, und dann gingen sie zusammen in die Falle. Sie müsse sich oft ein wenig kontrollieren, damit sie morgens auch halb­wegs ausgeschlafen sei. Ich sagte ihr, dass ich das sehr gut nachempfinden könne. Mir sei das nicht anders ergangen, als ich zuerst mit Ralf zusammen gewesen sei. Vielleicht hätte sie das von mir geerbt. „Ja, Mamon, das ist ganz furchtbar. Wenn ich mich nicht bremse, möchte ich immer bis zur Besinnungs­losigkeit. Lucien sagt ich sei ein wildes Tier.“ erklärte sie näher. „Genau so.“ kommentierte ich. Wie wir das denn geregelt bekommen hätten, wollte Alys wissen. Wir hätten uns ein Limit gesetzt, Maximum zwei mal. Und da hätten wir uns dann auch dran gewöhnt, und die anfängliche Sucht und das wilde Be­dürfnis hätten auch nachgelassen, erklärte ich ihr. Dann bestehe ja noch Hoff­nung für sie, meinte Alys scherzhaft. „Aber Mami,“ erklärte sie, „es ist nicht nur der Sex. Es ist für mich ein ganz neuer Lebensabschnitt angebrochen. Nicht mehr allein im Bett zu liegen, zu lesen, zu träumen und dann einzuschla­fen, sondern immer seinen Liebsten da zu haben, ihn streicheln, küssen, und mit ihm lachen zu können, von ihm liebkost und verwöhnt zu werden, und das jeden Abend. Das finde ich so fantastisch, nur zum Einschlafen bringt mich das zur Zeit noch nicht. Ich möchte, dieses Gefühl immer haben. Der Gedanke, dass ich es einmal nicht mehr so empfinden könnte, ist für mich zur Zeit un­vorstellbar, aber wahrscheinlich unrealistisch. Ich glaube, wir sollten mal wie­der dringend miteinander reden.“ Das könnten wir ja machen, wenn ich käme. Ich würde schauen, wann ich einen Flug bekäme und würde sie informieren. Dann fiel Alyssia ein, dass sie auch vorgehabt hätten, im August nach Ham­burg zu kommen. Ob das ungünstig für Lucille sei, wenn sie mit Lucien dann auch dort wäre. Ich meinte wir sollten es uns doch beide noch einmal überle­gen. Im Moment habe ich gar keine eindeutige Meinung dazu.


Südostasien Pläne


Die Pläne für unsere Auslandsberatung konnten wir zwar näher konkretisieren, schienen aber nicht erfolgversprechender. Firmen über das jeweilige Baurecht informieren zu können, war ein überflüssiges Angebot. Die entsprechenden Richtlinien kannte natürlich jede Investitionsberatungs- und Architekturfirma, die in der Lage war, derartige Bauvorhaben auszuführen. In Frage kamen sowieso nur China, Südostasien und allenfalls Brasilien. Die einzige Chance hätte darin bestanden, in den Ländern selbst ein Netz von Vertrauensanwälten anbieten zu können, das in der Lage war, in Problemfällen zu helfen. In China wurde zwar am meisten gebaut, die Bauordnung war aber keine Sammlung von Rechtsvorschriften, sondern eher eine Beschreibung des Systems, und die Entscheidung durch die Behörden nicht auf dem Rechtsweg anzufechten. Eine anwaltliche Beratung war hier neben den Kenntnissen der Planungsfirmen völ­lig überflüssig. Blieben allenfalls noch die sehr heterogenen und teilweise omi­nösen Bedingungen in den übrigen Südostasien Staaten. Wir mussten uns mit den Bedingungen und Möglichkeiten detaillierter beschäftigen. Ich fand den Ar­tikel eines Juristen über ein Verfahren gegen eine Deutsche in Indonesien. Er schien sich mit indonesischem Recht sehr gut auszukennen. Ich schickte ihm eine Mail, und bat ihn, sich doch bitte mal mit mir in Verbindung zu setzen. Er promovierte über die Entwicklung des Indonesisch Rechtssystems. In Thailand hatte er nach dem Abitur eine Art soziales Jahr verbracht, und seine Liebe zu Südostasien entwickelt. Zu Bau- und Architekturrecht habe er überhaupt kei­nen Bezug, aber es dürfe nicht schwierig sein, das für die südostasiatischen Länder zu erkunden. Ich bot ihm an, dass doch als unser Beschäftigter zu tun, da für uns der Zugang sehr mühsam sei. Wir trafen uns, um die Details abzu­klären. Ein sehr netter, lebendiger und sensibler junger Mann, den ich für den Beruf eines Juristen für viel zu schade hielt. Ich stellte mir vor, wie sich der arme junge Mann als Student vom Repetitor hatte quälen lassen müssen, und wie er eventuell in einer Behörde langsam verbogen und verformt würde. Er erinnerte mich an Pitt, den Referendar in der Baubehörde, nur dass er keine traurigen Züge aufwies, sondern ausgesprochen lebhaft wirkte. Meine Freude, mich mit ihm zu unterhalten, trug wahrscheinlich auch dazu bei, dass es ein sehr anregendes Gespräch wurde, und Herr Kühne, sein Name, Interesse und Lust für die Aufgabe und die Zusammenarbeit mit uns entwickelte. Wir hatten uns auf Anhieb prächtig verstanden, und ich bot ihm auch an, für seine Arbeit ein Büro bei uns zu benutzen. Wir könnten uns dann bei Fragen zu Baurechts­angelegenheiten immer direkt austauschen, er könne unser System benutzen und von hier aus seine Telefonate und Recherchen durchführen. Er wollte es sich noch überlegen. Ich mochte ihn, hätte ihn gern in meiner Nähe gehabt und würde sein frisches natürliches Lächeln gern öfter sehen. Als ich nach Hau­se fuhr, freute ich mich über den Tag in der Kanzlei. Es schien mir nicht nur, dass wir unserer neuen Perspektive, ein greifbares Stück näher gerückt waren, es freute mich auch mit Andreas Kühne zusammenzuarbeiten. Seine Persön­lichkeit zeichnete in mir das Bild einer Knospe, die einen kommenden Frühling ankündigte.


Besuch mit Roussillon-Tour


Drei Wochen später war ich in Montpellier. Lucien fiel mir auch um den Hals und küsste mich überschwänglich. Ich war völlig überrascht, von ihm so inten­siv begrüßt zu werden. Es kam wir vor, als ob er plötzlich, dadurch dass er auch in Combaillaux wohnte und mit Alyssia schlief, sich ähnlich wie vielleicht meinen Schwiegersohn verhielt. „Lucien,“ sagte ich zu ihm, „du verwirrst mich. Jetzt weiß ich gar nicht, wer sich mehr über meinen Besuch freut, Alyssia oder du.“ Er erklärte mir freudig, dass er jetzt auch in Combaillaux wohne und alles weitere, was ich schon wusste. Bei Alys überlegten wir, wie wir das Wochenen­de verbringen, könnten. Die eine Möglichkeit sei wie üblich mit Einkaufen in Montpellier, die andere, die Alys vorschlug, war eine Tour das Roussillon runter über Béziers, Narbonne, Perpignan, Colliure bis Banyules-sur Mer nahe der spanischen Grenze. Es gebe dabei eine unendliche Vielzahl an Sehenswürdig­keiten, malerischen Orten und schönen Landschaften, dass wir in zwei Tagen nur sehr selektiv vorgehen könnten, aber es würde sie auch sehr interessieren, da sie selbst bislang nur wenig gesehen hätte. Sie kenne sich besser in Richtung Westen, Camargue und Marseille aus. In Banyules könne ich den süßesten Wein kaufen, den ich je in meinem Leben getrunken hätte. Er schmecke, wie Likör aber ganz hervorragend. Lucien fand die Tour durch das alte katalanische Frankreich auch spannend. Er lerne gerade katalanisch und habe dazu ein Seminar belegt, und da ich mich auch frisch und unternehmungslustig und nicht müde und ruhebedürftig fühlte, wurde es so vereinbart. Wir wollten am Morgen früh los, also nicht mehr viel Wein und bald ins Bett. Die beiden wirkten morgens beim Aufstehen ganz frisch und nicht wie nach einer exzessiven Nacht. Ich fragte Alyssia, ob sie sich gut kontrolliert habe. Sie lächelte mich an, umarmte und küsste mich, und flüsterte mir ein „Ja Mami“ ins Ohr. Mit einem langgezogenen „Ah“ atmete sie aus, „es ist jede Nacht wieder wunderschön. Ich möchte, dass ich es in meinem Leben nie anders empfinden werde. Darüber müsste man mal Gedichte schreiben, aber das wird dann sicher ordinär.“ Wir lächelten uns an, wie zwei wissende Frauen, die sich untereinander mehr als nur verstehen. Nur zu unserem geplanten Gespräch ist es an diesem Wochenende gar nicht gekommen. Es wurde eine wunderschöne, anregende und sehr interessante Tour, obwohl es fast unerträglich heiß war. Wir kamen wie geplant am ersten Tag bis Perpignan und übernachteten dort. Am folgenden Tag widmeten wir uns Perpignan, Colliure und Banyules so ausführlich, dass wir beinahe nicht rechtzeitig genug für meinen Flieger zurück gekommen wären. Lucien bedankte sich für meinen Besuch und riet mir, nicht so lange zu warten bis zum nächsten mal. Ich erklärte ihm, dass ich frühestens Ende September wiederkommen werde, da sie ja im August zu uns kämen, und wir vorher Besuch hätten. Die beiden wollten jetzt Mitte August kommen, da Alyssia und ich meinten, dass ihrer beider Anwesenheit Lucille doch wohl leicht traurig stimmen könne. Sie wollte dann, wenn Elias am Collège sei, Ledoux alleine besuchen.


Elias Vorbereitung auf den Austausch


Elias hatte Camille gefragt, ob sie ihm nicht auch ein wenig helfen könne, da­mit er in Frankreich keine Probleme bekomme. Sie informierte ihn über Fächer im Collège, und welche Anforderungen ihn erwarten würden. Sie meinte, er müsse noch an seiner französischen Kommunikation arbeiten. Deshalb spra­chen sie während ihrer Treffen auch nur französisch, und wenn Camille Elias im Haus traf oder beim Essen redete sie auch immer französisch mit ihm. Sie ver­suchte ihm zu vermitteln, das es unerlässlich sei, französisch zu denken, und nicht deutsche Denkweise ins Französische zu übertragen. Camille meinte, dass er Fortschritte gemacht habe, und durchaus zurecht kommen werde.

Zurecht kommen, das würde Elias auch reichen. Es war ganz anders als bei Alyssia. Dieser eigenständige Drang, Zusammenhänge und Sachverhalte für sich zufriedenstellend völlig geklärt haben zu wollen, war bei ihm nicht vorhan­den. Wenn Camille sagte, er würde es schon schaffen, dann reichte ihm das, dann brauchte er sich nicht weiter anzustrengen. Alyssia war es unwichtig, was andere sagten, solange sie nicht für sich selbst die Überzeugung gewonnen hatte, dass etwas für sie befriedigend geklärt sei. Sich mit Versicherungen oder Beschwichtigungen anderer zufrieden zu geben, solange sie noch selbst offene Fragen oder Klärungsbedarf hatte, war für sie undenkbar. Das war schon so, seitdem sie als kleines Kind anfing, Fragen zu stellen. Ich war oft überrascht und freute mich, wenn sie plötzlich mit einer Frage zu einer Angelegenheit kam, die ich schon vor Tagen für geklärt gehalten hatte. Anscheinend hatte sie es die ganze Zeit verarbeitet und war dabei doch noch auf eine ungeklärte Tatsache gestoßen. So eroberte sie sich nicht nur die Welt, in dem sie immer Neues dazu kennen lernte, sondern es entwickelte sich auch eine kleine starke Persönlichkeit, der es wichtig war, dass für sie selbst immer alles stimmig blieb. Sie war immer sehr einsichtig und hörte gut zu, aber sie zu etwas zu überreden, dass sie nicht selber wollte, war bei ihr nie möglich, gleichgültig, von wem es versucht wurde. Ich war davon begeistert, und ein wenig neidisch, dass ich als Kind nicht hatte selber so sein können. Von anderen bekam ich oft viel Kritik zum Umgang mit meiner Tochter zu hören. Schon als Baby hatte man mir vorgeworfen, sie zu einer Klette zu entwickeln, die ohne die Mama nicht lebensfähig sein werde. Ich liebte es, Alyssia immer dicht bei mir am Körper zu haben, und sie liebte es auch. Ich redete immer mit ihr, nicht Baby-Talk, sonder sprach über alles Mögliche, erklärte ihr, was in der Politik gerade passierte oder wer wie welches Fußballspiel gemacht hatte. Ihre großen Kulleraugen schauten mich dabei unentwegt an, und verfolgten alles ganz genau, als ob sie mich verstehen würde. Manchmal schien sie mitdiskutieren zu wollen, öffnete den Mund und gab ein paar „Öh, öhs“ von sich, und wenn ich selber lachen musste über den Unsinn, den ich gerade erzählt hatte, fing Alyssia auch an zu lächeln. Wenn sie mal missmutig zu werden schien, brauchte ich sie mir nur auf den Bauch zu legen, und ihr etwas zu erzählen. Ich dachte zwar nicht, dass sie irgendetwas von dem, was ich erzählte, verstehen könne, aber bei Sprachstil, Rhythmus und Melodie schien sie durchaus Differenzierungen vornehmen zu können. Wenn ich ihr zum Beispiel erklärte, dass jetzt langsam die Zeit zum Schlafen käme, ihr Geschichten davon erzählte, wer auf der Welt jetzt schon alles schlafe und träume, fing Alyssia an zu gähnen. Wahrscheinlich erzählte ich so etwas unbeabsichtigt in einem schläfrigen Tonfall, der bei ihr derartige Reaktionen auslöste. Jetzt sollte diese kleine Klette auf einmal zu selbständig und eigenmächtig sein. Mir kam es immer vor, als ob sich die allgemeinen Vorstellungen zum Umgang mit Kindern primär in den Klischeevorstellungen vergangener Zeiten bewegten, obwohl sich die Menschen selbst für modern und aufgeschlossen hielten.

Warum Elias nicht so eine eigenständige Persönlichkeit hatte und es stärker bevorzugte, sich an anderen zu orientieren, war auch für Ralf ein Rätsel. Britta und er hätten ihn sicher immer auch sehr liebevoll behandelt. Vielleicht sei es der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. Jungen seien vielleicht eben viel kantiger und holziger und nicht so sensibel wie Mädchen. Im Übrigen seien Frauen ja sowieso viel frecher als Männer, wofür ich ja ein beredtes Beispiel sei. Ralf wusste, wie er Diskussionen beenden konnte, aber jetzt wollte ich nicht. In gewisser Weise tat Elias mir ein wenig leid. Er war ein hübscher, net­ter und freundlicher Junge, und von zu geringer Sensibilität konnte bei ihm si­cher keine Rede sein, nur er schien es sich zu verbieten, dies öffentlich er­kenntlich werden zu lassen. Es wurde ihm nicht nur in der Schule vorgelebt, wie Jungen zu sein hatten, auch die Erwachsenen sprachen ihn ja immer auf Angelegenheiten an, die sie vermeintlich für Jungen als interessant erachteten. Wie sensibel, feinfühlig und empfindlich er war, bekam ich zu spüren, wenn ich ihn Abends ins Bett brachte, bzw. jetzt ihm Gute Nacht wünschte. Dann kuschelte er sich auch heute noch an mich, und erzählte und fragte, wozu er sich öffentlich nicht getraut hätte. Jetzt standen natürlich für ihn auch Beziehungsfragen im Vordergrund. Mädchen fände er alle blöd, außer Alyssia, Cynthia, Britta und mich natürlich. Alyssia und Cynthia, die seien liebevoll zu ihm gewesen. Das könne er sich zum Beispiel von keinem Mädchen in seiner Klasse vorstellen, die seien dagegen alle Tussis. Er würde später bestimmt mal eine viel ältere Frau heiraten. Ich konnte ihn beruhigen. Früher hatte er mir mal erklärt, dass er mich auch gerne Mutti nennen würde. Nach ausführlichem Gespräch darüber, hatte ich ihm erzählt, wie sehr ich mich gefreut hatte, als ich Ralf zum ersten mal meinen Namen sagen hörte, und wenn ich von ihm mich heute Ruth nennen höre, erinnere mich das oft daran. Seit dem blinzelten wir uns öfter zu, wenn er meinen Namen sagte. Den Bedarf nach Mutti schien die neue Bedeutung meines Namens für ihn völlig ausgelöscht zu haben.

Unsere Beziehung war sehr vertrauensvoll und intim, aber ich konnte ihm ja nicht einfach sagen, dass es besser für ihn sei, wenn er mal ein wenig selbst­bewusster werde, und selbständiger seine eigenen Interessen suche und ver­folge. Aber wo konnten seine eigenen Interessen zu finden sein. Außer mit Christophs Anatomie Atlanten beschäftige er sich nur mit sogenannten jungen­typischen Angelegenheiten. Ralf meinte, wenn ich ihn für so sensibel halte, könne es doch nicht falsch sein, ihm etwas Kreatives oder Musisches näher zu bringen. Eine hervorragende Idee. Ich hatte mich immer dafür verurteilt, das ich es bei Alyssia völlig versäumt hatte, und jetzt war es bei Elias schon wieder passiert. Da wollten wir etwas tun. Auch wenn er jetzt eine tolle Idee gehabt habe, erklärte ich Ralf, sei seine vorherige Bemerkung über Frauen im Allge­meinen und mich im Besonderen nicht gesühnt. Auch seine vorgetäuschte Mü­digkeit konnte ihn nicht der Strafe entziehen. Wenn sich in Gesprächen ein sinnvolle Perspektive aufgezeigt hatte, fühlte ich mich befreit, und es stimmte mich lustvoll. Dann brauchte ich diesen Mann, als ob ich mit ihm den Höhe­punkt feiern wollte.


Lucille in Hamburg


Als Lucille in Hamburg ankam, war der Himmel verhangen, und es regnete per­manent. Ein kühler Nordwest-Wind verstärkte den Eindruck, dass es sich eher um die ersten November- als Augusttage handeln würde. Lucille wollte wissen, ob denn bald auch Schnee fiele, sie habe gar nicht gewusst, dass sie in Winter­urlaub fahre. Wir beruhigten sie, und meinten, wer in Hamburg nicht von der Sonne in seinem Herzen leben könne, habe hier keine Überlebenschance. Die schien im Haus bei uns drei Weibern fast ständig. Jede kam immer wieder auf neue verrückte Ideen, die vielfach auch umgesetzt wurden. Ralf und Christoph sahen sich zu Statisten degradiert, die uns nur zuschauen oder sich von uns einbeziehen lassen konnten. Lucille saß einmal im Sessel, hatte ein Buch auf dem Schoß liegen, und schaute in die Ferne. Dabei liefen ihr langsam Tränen aus den Augen, die sie auf der Wange immer gleich mit der Hand verwischte. Sie wusste nicht warum. Sie sei glücklich und traurig zugleich. So frei, unbe­schwert und glücklich habe sie sich seit ihrer Jugend nicht mehr gefühlt. Am liebsten würde sie hier bleiben, oder wir beide sollten zu ihr ziehen. Jetzt lach­te sie wieder. Nicht dass sie ihren Henri nicht mehr liebe, es sei nach wie vor nahezu perfekt für sie, nur mit Freundinnen, Verwandten oder Bekannten ent­stünden solche Situationen nie. Da bleibe sie immer die Madame Ledoux, die einen guten Eindruck machen müsse. Nicht dass sie auch lachen und Freude haben könne, aber die kleine ausgelassene, alberne Lucille, dürfe es nicht ge­ben. Sie fühle sich seitdem sie hier sei so frei von irgendwelchen Zwängen und Ansprüchen, und habe wohl noch nie in ihrem Leben so viel gelacht. Wir drei seien die richtigen Hexen, die öfter zusammentreffen müssten, und zwar um Glück und Freude zu verbreiten.

Sie war jetzt seit über einer Woche bei uns, aber das Wort Daniel hatte Lucille noch nicht erwähnt. Wollte sie uns nicht die Freude verderben, oder störte es sie selber, sich jetzt damit beschäftigen zu müssen. Als es mal ein wenig erns­ter war, und wir beide allein in der Küche saßen, sprach ich es von mir aus an. Ich vermutete, es würde sie traurig machen und ihr leicht Tränen in die Augen treiben, aber sie redete ganz gefasst darüber. Sie und mehrere Verwandte hät­ten alles versucht. Daniel erkläre nur, es sei alles in Ordnung, sie brauchten sich keine Sorgen zu machen. Als sie ihm mal verdeutlicht habe, dass für ihn vielleicht nach außen alles korrekt erscheine, er aber im Grunde mit seiner Mutter nicht mehr rede, habe er sie wissen lassen, dass sie akzeptieren müsse, dass er erwachsen sei, und ein eigenständiges Leben führe und nicht mehr mit Mamon alles besprechen müsse. Das sei nicht mehr ihr Daniel. Wenn er zu­rückkomme würde sie zwar jederzeit die Arme ausbreiten, aber so, wie er sich jetzt verhalte, existiere er für sie nicht mehr. Ob er komme oder nicht, sei ihr ziemlich egal, solange er sich nicht anders benehme. Sie bedauere es manch­mal, nicht mehr Kinder bekommen zu haben, dann würde es vielleicht nicht so schmerzen, ein Kind zu verlieren, als wenn es das einzige sei. Aber sie sei sich gar nicht sicher, ob der Verlust eines Kindes für die Frau nicht immer gleich schlimm sei, egal ob es das einzige oder eins von vieren sei.

Sie habe sich viel aufgeregt und oft geweint. Henri sei ihr eine große Hilfe ge­wesen, aber jetzt habe sie es abgeschlossen. Sie habe sich entscheiden müs­sen, ob und wie sie weiterleben wolle. Das Problem ein Leben lang jammernd mit sich herumzutragen, sei schließlich keine Lösung und mache es für sie selbst nur noch unerträglicher.

Ich bewunderte Lucille. Sie machte auf mich einen starken Eindruck. Sie schien es sich nicht nur einzureden, sondern ehrlich zu leben. Ein wenig machte sie mir aber auch Angst. Ich war mir sicher, dass ich das nicht könnte, es aus ra­tionalen Erwägungen einfach abzuhaken. Es würde mich ein Leben lang be­schäftigen und nicht in Ruhe lassen. Ich glaube die Formulierung: „Alle Mög­lichkeiten versucht“ könnte es für mich nicht geben. Vielleicht würde ich für uneinsichtig gehalten, aber das wurde ich in Bezug auf meine Tochter schon öfter, und hat mich nie im Geringsten gestört.

Unser Gespräch schien Lucille keineswegs die Stimmung verdorben zu haben. Sie machte den Eindruck, ganz froh zu sein, es mal gesagt zu haben. Mich selbst schien es nachdenklicher zu stimmen als sie.

Ich hatte mit Lucille auch lange über Elias gesprochen. Sie meinte, vielleicht würde er sich ja auch wie Alyssia für den Weinbau interessieren, andererseits genieße die Schule einen hervorragenden Ruf, besonders auch im künstlerisch kreativen und musischen Bereich. Sie wollten mal versuchen, ob es dort nicht Ansatzpunkte für ihn gebe, zumal seine Mutter ja auch selber Kunstlehrerin sei. Wir drei Frauen wollten uns das nächste mal bei Ledoux treffen. Wegen Camille waren wir ja auf die Ferien angewiesen. Weihnachten schien uns un­passend und Ostern viel zu lang hin, also avisierten wir gleich die Herbstferien. Beim Abschied gab es keine Tränen. Stolz stieg Elias mit Madame Ledoux in den Zug. Er schien sich sehr zu freuen und würde ja auch sicher von Lucille umhegt und umpflegt werden. Für die Frauen-Crew war es ja auch kein trauri­ger Abschied, wir freuten uns eher schon auf unser baldiges Widersehen.


Elias in Frankreich


Elias war begeistert von der Fahrt nach Valence. Auch wenn sie sehr lang ge­dauert habe, sei es mit Madme Ledoux sehr unterhaltsam gewesen. Sie sei sehr lustig, und er habe fast alles verstanden. Er freue sich jetzt noch viel mehr als vorher. Auch wenn er hoffe, dass es sehr schön werde, solle ich ihn nicht vergessen und immer an ihn denken. Das sei doch selbstverständlich, versicherte ich ihm, aber es verwunderte mich schon ein wenig, wie er auf sol­che Gedanken kam.


Anruf aus Montpellier


In drei Tagen wollten Alyssia und Lucien kommen. Julienne rief mich an: „Vien vite, Madame Stein!“, dann war Lucien am Telefon: „Kommen sie schnell, sehr schnell Frau Stein! Alyssia ist ein Unfall.“. Ich machte ihm klar, er solle es lie­ber ruhig auf Französisch erklären. Alyssia hatte bei der Rückfahrt von Mont­pellier einen schweren Unfall gehabt. Sie habe eine schwere Kopfverletzung und sei sofort in der Universitätsklinik operiert worden. Ob sie überleben wer­de, wisse man nicht. Kommen sie sofort Frau Stein. Wir holen sie am Flugha­fen ab, erklärte Lucien mit einer Stimme, die sich anhörte, als ob er selbst ver­unglückt sei. Ich ließ mir kurz Luciens und Juliennes Nummer geben, und tele­fonierte mit dem Reisebüro. „Ich brauche jetzt sofort einen Flug nach Montpel­lier.“ gab ich die Anweisung. „Das geht nicht“ war die Antwort von der Gegen­seite. „Doch,“ war meine Reaktion, „das muss gehen und zwar jetzt sofort auf der Stelle, egal wie und wie teuer. Finden sie was, sonst kauf ich mir ein Flug­zeug.“ „Moment mal,“ wurde ich aufgefordert zu warten. Dann kam der Chef persönlich: „Selbstverständlich können sie heute noch fliegen, Frau Stein. Sie müssten sich allerdings ein wenig beeilen. 16:55 Uhr geht der letzte Air France Flieger, dann währen sie um 22:45 Uhr in Montpellier, Business natürlich. An­sonsten gibt es natürlich jederzeit Privatjets, das dürfte etwa bei 5.000 € lie­gen.“ Ich würde in spätetens 5 Minuten zurück rufen. Ich informierte kurz die anderen. Viel erzählen konnte ich ja auch nicht. Ich wusste ja nur, dass es nicht klar war, ob sie überleben würde. Camille fragte, ob sie mitkommen sol­le. Warum eigentlich nicht, fragte ich mich. Dann hatte ich wenigstens jeman­den mit dem ich reden konnte. Sollten wir dann nicht lieber einen Privatjet nehmen, der Business-Flug würde mich ja auch 3.500 € kosten, wir brauchten nicht zu hetzen, und wären viel früher und nicht erst fast in der Nacht in Mont­pellier. O. K. Ich bestellte einen Flieger für 17:00. Wir brauchten ja am Flugha­fen nicht zu warten, wir würden in Ruhe das Notwendigste einpacken, und Ralf könnte uns hinbringen. Ich war in dem ganzen Stress noch gar nicht dazu ge­kommen, mir zu vergegenwärtigten, was eigentlich passiert war. Es wurde mir erst deutlich, als Camille mir Mitgefühl zeigend über den Rücken strich. Ich hatte bislang gar kein Gefühl gehabt, außer möglichst schnell nach Montpellier kommen zu müssen. Ich war auch geschockt, was sollte ich denn fühlen? Es sollte meine Alyssia von einem zum anderen Moment nicht mehr geben. Das konnte nicht sein, da konnte ich mich nicht mit beschäftigen. Wenn ich daran dachte, was passiert war, fühlte ich mich einfach nur hilflos und orientierungs­los. Im Auto zum Flughafen wiederholte ich noch mal, was ich wusste, aber es war ja nichts, außer dass Alyssia wegen eines Autounfalls mit Kopfverletzung zwischen Leben und Tod schwebte. Beim Abschied am Flugzeug standen Ralf die Tränen in den Augen, ich selbst, die sonst bei jeder Kleinigkeit losheulte, konnte gar nicht weinen. Ich fragte den Piloten, wann und wo genau wir an­kommen würden, und teilte es Lucien mit. Er saß mit Julienne in Combaillaux zusammen. Sie wollten uns beide abholen. Alyssia sei mit Luciens Wagen ge­fahren, aber das könnten wir ja alles später besprechen. Im Jet sagte kaum je­mand etwas. Die Stewardess kam sich völlig überflüssig vor, weil wir nur ruhig allein gelassen werden wollten. Camille weinte manchmal still vor sich hin, aber mir kam keine Träne. Ich starrte nur konsterniert in die Gegend.


Ankunft in Montpellier


Zwischen 20 und 21 Uhr kamen wir in Montpellier an. Lucien und Julienne er­klärten uns, wie der Unfall sich ereignet hatte. Ein Mercedesfahrer hatte in ei­ner völlig unübersichtlichen Kurve einen Lastwagen überholt und war mit Alys­sia dabei, ohne dass jemand noch bremsen konnte, frontal zusammengesto­ßen. Der Mercedes sei zwar auch Schrott, aber dem Fahrer sei außer einem Schreck nichts passiert. Alyssia habe sonst auch keine nennenswerten Verlet­zungen, außer diesem Metallstück, dass sich ihr von schräg hinten durch die Schädeldecke gebohrt habe.

An der Klinik wollte man uns natürlich abwimmeln. Aber ich war schließlich nicht hergekommen, um mal erst ruhig schlafen zu gehen. Ich wollte wissen, ob meine Tochter noch lebte, und ich ginge nicht eher, bis ich mit einem Arzt gesprochen hätte. Der Mann an der Pforte telefonierte und schickte uns dann zu einer Station, wo wir einen Arzt treffen würden. Der erklärte, er sei heute Nachmittag dabei gewesen. Es sei eine sehr schwierige Operation gewesen, sie hätten ihr Möglichstes getan und seien ja anscheinend auch erfolgreich gewe­sen. Aber bei derartigen Operationen wisse man nie sicher, ob nicht in den nächsten Tagen doch noch Blutungen aufträten oder sich Gerinnsel bildeten, die alle Mühen zunichte machten. Und wenn sie durchkäme, was wäre dann, wollte ich wissen. „Ich will ihnen nichts vormachen Madame, aber mit Beein­trächtigungen werden sie sicher rechnen müssen. Es sind ja ganze Teile ihres Gehirns definitiv zerstört worden.“ antwortete er. Mit welchen Beeinträchtigun­gen eventuell zu rechnen sei, könne man überhaupt nicht prognostizieren, aber die Verletzungen seien schon sehr massiv gewesen. „Ich will sie sehen! Wo ist sie?“ „Entschuldigen sie Madame, aber das geht wirklich nicht. Sie ist natürlich auf der Intensivstation, und da können wir jetzt nicht hin“ meinte er. Ich gab mich nicht zufrieden: „Wissen sie wer meine Tochter ist?“ er nickte „ich habe mich vor einem Monat von ihrem strahlenden Gesicht verabschiedet, und ich möchte sie noch einmal sehen, bevor sie morgen früh vielleicht tot ist.“ Jetzt kamen mir die Tränen, ungewollt aber vielleicht ganz günstig. Der Arzt verzog das Gesicht. „Alle vier oder nur die Mutter?“ fragte er noch. Ich erklärte ihm, das wir alle vier Alyssias engste Freunde seien. Er telefonierte kurz, dann gingen wir rauf. Die Ärztin erklärte, dass bei Alyssia alles ganz stabil sei, und keine Irritationen aufgetreten seien. Wir konnten sie durch eine Scheibe betrachten. Sie lag voller Schnüre zwar aber wie friedlich schlummernd in ihrem Bett. Ihr Kopf trug zwar einen großen Verband. Aber ihr Gesicht war völlig unverändert. Es machte keinen gequälten Eindruck, sie schien eher ein wenig zu lächeln. Zu ihr ins Zimmer konnte ich aber nicht mehr. Das war dann doch zu viel. Vielleicht morgen oder übermorgen tagsüber mal kurz. Jetzt hatte ich sie zumindest gesehen und wusste, wo sie war.

Die große Traurigkeit wollte sich bei mir aber immer noch nicht einstellen. Ich hatte eher eine ungeheure Wut auf Menschen, die so etwas taten, mal eben zum schnelleren Fortkommen die Tötung eines anderen Menschen in Kauf neh­men. Man sollte solche Menschen nicht nach dem Straßenverkehrsrecht behan­deln, sondern sie wegen Totschlags verurteilen. Jeder weiß, dass es so kom­men kann. Was denken solche Leute eigentlich? Ich habe immer Glück, bei mir passiert das schon nicht, oder meinen sie der Straßenverkehr sei sowieso ein Spiel auf Leben und Tod, da müsse man mit so etwas eben immer rechnen. Ich wusste nicht was ich dem Mann antun würde, wenn er jetzt hier wäre. Einfach mal so meine Alyssia totzufahren, das war für mich unfassbar. Das hätte er wahrscheinlich nie gewollt oder getan, aber er hat schließlich etwas getan, bei dem er wusste, dass er es billigend in Kauf nehmen würde.

In Combaillaux angekommen, legte sich meine Wut ein wenig. Ich wollte wis­sen, ob die Strecke nach Montpellier denn besonders gefährlich sei. Eigentlich nicht, meinte Lucien. Sie sei zwar recht kurvenreich, aber da gäbe es eine Menge viel schwierigerer Strecken. Die Vorstellung, möglicherweise die nächs­ten 15 Kilometer hinter einem Laster her zockeln zu müssen, erhöhe wahr­scheinlich die Risikobereitschaft der Fahrer, aber wie der Fahrer das in so einer engen Kurve habe machen können, sei ihm auch völlig unverständlich. Wahr­scheinlich denken die Leute, wenn in den letzten 10 Minuten kein Gegenver­kehr vorhanden war, wird in den nächsten 30 Sekunden auch sicher keiner kommen.

Julienne erklärte, dass sie es alleine gar nicht aushalten könne. Die Polizei habe sie hier aufgesucht, weil es Alyssias Adresse gewesen sei, sie habe sofort Lucien informiert und dann hätten sie beide mich angerufen. Sie sei auch für sich froh, das wir beide so schnell gekommen seien. Allein in dem Haus zu sein und daran zu denken, dass Alyssia vielleicht im Sterben liege, sei ihr unerträg­lich. Lucien wollte auch nicht allein in seiner Wohnung sein. Er könne das ta­tenlose Abwarten nicht ertragen. Er könne nichts machen, nichts lesen, es zwinge sich ihm immer wieder der Gedanke auf, wie es Alyssia wohl ginge und was werden würde. Er sei froh, mit anderen Menschen zusammen sein zu kön­nen, und mit ihnen zu reden.

Camille lobte mich noch für mein Vorgehen in der Klinik. Ohne mich hätten wir Alyssia in der Klinik mit Sicherheit nicht zu sehen bekommen. Ich wollte am nächsten Morgen mal allein zur Klinik fahren.


Erste Berührung mit Alyssia


Nach dem Frühstück fuhr ich schon sehr rechtzeitig los. Auf der Intensivstation wollte man mich sofort wieder vor die Tür weisen. Ich erklärte kurz, worum es gehe und man mir gestern Abend versichert habe, ich dürfe heute tagsüber zu Alyssia ins Zimmer. Die Schwester und der Arzt schauten sich zweifelnd an. „Aber Madame, was wollen sie denn dort. Ihre Tochter wird sie nicht hören, sie wird sie nicht sehen, sie wird gar nicht bemerken, dass sie da sind. Sie befin­det sich in tiefster Bewusstlosigkeit.“ versuchte mir der Arzt zu erklären. „Ich möchte meine Tochter wenigstens noch einmal lebendig berührt haben, noch einmal ihre Hand gehalten haben, bevor sie morgen vielleicht tot und kalt ist.“ reagierte ich und mir kamen wieder die Tränen. Wahrscheinlich kam ich durch meine theatralischen Formulierungen leichter zum Weinen, als durch die tat­sächliche Situation, in der sich Alyssia befand. Der Arzt wollte mich belehren, dass ich das so nicht sehen dürfe, mit jedem weiteren Tag potenziere sich die Hoffnung, dass sie es schaffen werde. Das sie es bis jetzt geschafft habe, sei schon ein ganz großer Schritt. Am kritischten seien die ersten Stunden nach der Operationen, aber wenn sie jetzt auch schon die ganze Nacht überstanden habe, berechtige das zu sehr guten Hoffnungen. Dann öffnete er mir die Tür und meinte noch. „Aber ganz kurz und sehr zurückhaltend.“ Es war für mich richtig erhebend, meine Alyssia wieder berühren zu können, und selbst zu spü­ren: „Sie lebt wirklich noch. Ihre Hände sind ganz warm.“ Ich streichelte ihr Gesicht, betastete ihre Lippen, ihre Augenbrauen, ihre Nase. Sie war es wirk­lich, und ich musste sie einfach wieder hier zurück lassen.

Ich fragte den Arzt, wie denn das Finanzielle zu regeln sei. Sie müssten die Rechnungen nämlich an mich privat schicken und wo ich denn einen Termin beim Chef bekommen könne. Er erklärte mir alles, und als ich ins Büro vom Chef kam, war er gerade selbst anwesend. Als er mitbekam worum es ging, meinte er, ich könne ja nicht so lange warten, bis ich einen Termin bekomme, es sei ja dringend. Wenn es mir möglich wäre, solle ich doch am besten Mor­gen schon vor der Visite kommen. Wenn es ginge schon um 7:30 Uhr, dann hätten wir eine ganze Stunde Zeit. „So lernt man auch mal die Mutter kennen.“ meinte er zum Abschied. Als ich ihn mit großen fragenden Augen anschaute, fügte er hinzu „Na von unserer süßen Poetin. C'est formidable, très formidable, Madame.“. Mittlerweile hatte es sich wohl nicht nur im Krankenhaus herum ge­sprochen, wer Alyssia war, es stand heute in allen Zeitungen und gestern Abend war sogar in den Nachrichten kurz erwähnt worden, dass die Ärzte um ihr Überleben kämpften. Ma chèr, ganz Frankreich nahm Anteil an ihrem Schicksal, nur sie selbst bekam nichts davon mit. Trotzdem war ich mir sicher, dass sie es schaffen würde. Einen Grund gab es dafür nicht. Allein das Gefühl, Alyssia angefasst zu haben, sie berührt und gestreichelt zu haben, bereitete mir ein kleines Hochgefühl, und auch der Professor, der von Zweifeln nichts hatte erkennen lassen und nicht zuletzt der Stationsarzt, der von der sich po­tenzierenden Hoffnung gesprochen hatte, verstärkten meine Sicherheit, das sie überleben werde. Ich fuhr richtig gut gelaunt zurück nach Combaillaux, und berichtete den anderen. Sie wollten mir erzählen, dass es in der Zeitung stün­de, aber ich wusste ja schon aus dem Krankenhaus, dass es überall in den Zei­tungen stehe, und dass es sogar in den Fernsehnachrichten erwähnt worden sei. Als ich stolz verkündete, ich sei sicher, dass Alyssia es schaffen werde, lä­chelten Julienne und Lucien, während Camille ihr Gesicht zu einem eher skepti­schen Lächeln verzog. Sie meinte, ob es nicht riskant sei, sich zu früh zu freu­en. Ich erklärte ihnen, dass man mir gesagt habe, ich könne mich nicht nur über jeden überlebten Tag freuen, sondern sich die Hoffnungen mit jedem Tag potenziere. Ich wolle mich jetzt freuen, dass sie mit jedem Tag einem immer größeren Schritt vorwärts tue, das gebe mir eine Perspektive, die ich mir auch nicht nehmen lassen wolle. Camille sollte mich morgen zum Professor beglei­ten, damit ich auch alles richtig mitbekäme. Mittags rief Lucille an. Ihr Mann Henri hatte es gestern bruchstückhaft im Fernsehen mit bekommen, aber heu­te stünde es ja in der Zeitung, ob ich reden könne und ihr Näheres erklären wolle. Natürlich konnte ich. Ich spürte keine Trauer, obwohl Alyssias Situation eindeutig sehr traurig war. Ich fühlte mich eigentlich eher gefordert für sie zu kämpfen, auch wenn ich tatsächlich gar nichts tun konnte. Vielleicht wollte ich nur stark und an ihrer Seite sein. Ich konnte mir meine emotionale Situation nicht rational erklären. Lucille weinte die ganze Zeit am Telefon und sagte nur immer wieder: „Ah, vous femme pitoyable!“ Ich meinte, sie solle lieber alle Geister beschwören, oder sonst etwas tun, damit Alyssia die erste Woche über­stehe, dann sei sie voraussichtlich aus der schlimmsten Gefahr heraus. Ich er­klärte ihr, dass ich sie selbstverständlich weiter informieren werde. Später er­klärte Lucille mir verschämt, sie sei wirklich in die Kirche gegangen, und habe Kerzen für Alyssia angezündet, obwohl sie sonst noch nie in der Kirche war. Sie habe es nicht ertragen, nichts tun zu können. Elias hatten sie noch nichts ge­sagt, ob sie warten sollten, bis es Alyssia besser ginge. Ich war der Ansicht, sie sollten ihm nichts verheimlichen, sie sollten ihn auch lieber auffordern für Alys­sia die Daumen zu drücken.

Die anderen drei wollten auch mit zu Alyssia ins Zimmer. Ich hielt das für ein bisschen schwierig, aber vielleicht ließe sich ja morgen über den Professor et­was erreichen.


Besuch beim Professor


Der Professor erklärte, dass er eigentlich ganz zuversichtlich sei. Da sie die ersten Stunden und die Nacht gut überstanden habe, könne ihnen kein Fehler unterlaufen sein. Das sei die wichtigste Voraussetzung. Sicher, dass durch die veränderten Strukturen im Gehirn nicht an anderen Stellen eine Blutung auf­treten könne, sei man natürlich nie. Es sei tatsächlich so, dass sich mit jedem überstandenen Tag, die Wahrscheinlichkeit drastisch verringere, so dass man nach einer Woche so gut wie sicher sein könne. Ich wollte wissen, was für blei­bende Beeinträchtigungen Alyssia zu erwarten habe und welche Areale denn betroffen seien. „Madame,“ erklärte der Professor ernst „ich kann gut nachvoll­ziehen, dass sie das sehr interessiert, nur bei der Operation geht es uns dar­um, das Leben ihrer Tochter zu retten, und dabei sind zwei Dinge wichtig, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen, Geschwindigkeit und sehr exakte Ar­beit. Wenn wir untersucht hätten, was genau in welcher Weise geschädigt sei, würde ihre Tochter heute nicht mehr leben, ja sie hätte nicht einmal die Opera­tion überstanden. Ich kann ihnen aber einerseits Hoffnungen machen, die zen­tralen Körperfunktionen, wie Herz, Kreislauf und Atmung funktionieren ohne jede Beeinträchtigung. Auch ihre Motorik dürfte nicht betroffen sein. Bei der Sprache ist eine Störung allerdings wohl sicher zu erwarten. Der Metallstab ist genau am Brocka-Zentrum eingedrungen und hat es meiner Ansicht nach so gut wie vollständig zerstört. Bei vielen Funktionen ist man sich nicht ganz sicher, in wie weit sie nicht auch von anderen Bereichen übernommen werden können. Sie wird jedenfalls in Zukunft nicht völlig abwesend sein, ihre Großhirnrinde ist ja kaum betroffen.“ „Sie wird also aus dem Koma wieder aufwachen?“ fragte ich nach. Das wolle er doch stark hoffen, obwohl man da allerdings auch nie ganz sicher sein könne. Dazu wisse man viel zu wenig darüber, was den komatösen Zustand letztendlich verursache und was sich dabei genau im Gehirn abspiele. Nur nach seinen Erfahrungen müsse sie eigentlich im Laufe der nächsten Wochen, wenn sich alles wieder eingespielt habe, auch früher oder später wieder aufwachen. Er hoffe er habe uns alles sehr realistisch dargestellt, und nichts beschönigt. Er sei sehr, sehr zuversichtlich, nur eine Garantie könne er eben noch nicht geben. Ein bisschen stolz auf ihre Arbeit seien sie aber jetzt schon, denn bei ihrer Verletzung und der hohen Infektionsmöglichkeit, sei es sehr fraglich gewesen, ob sie überhaupt eine Überlebenschance haben werde. Für sie sei es eher ein Versuch gewesen, etwas fast unmöglich Scheinendes, doch schaffen zu können. Wir dankten dem Professor intensiv. Beinahe hätte ich es vergessen, ich wollte ihn ja noch auf den Zugang zur Intensivstation ansprechen. Er wollte wissen, wer das denn alles sei. Ich erklärte ihm nur ihre beste Freundin aus Deutschland, und wies auf Camille, ihre beste Freundin aus Frankreich, mit der sie zusammen lebe und ihr Verlobter, sagte ich einfach. Er schaute leicht und war einverstanden. Es sei nur wichtig, dass er die Kollegen auch informiere, die bewachten nämlich ihre Schützlinge sehr streng. Er lächelte und machte uns nebenbei noch Komplimente. Im Rausgehen wollte ich noch so kurz mal wissen, wie lange Alyssia denn wohl voraussichtlich im Krankenhaus bleiben müsse. „Madame,“ reagierte er leicht empört mit einem Lächeln, „über so etwas spreche ich jetzt nicht mit ihnen.“

Das Gespräch hatte mich weiter aufgebaut, auch wenn ich wusste, dass Alyssia mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr würde sprechen können, und auch sonst wohl noch diverse Macken davon trüge. Dass sie überleben würde, galt für mich jetzt fast als Fakt. Sie würde sich bewegen und herumlaufen können und nicht ständig bettlägerig sein. Das war doch schon sehr positiv. Und wenn Herz, Kreislauf und Atmung funktionierten, würde es mit den anderen automa­tischen Regularien sicher auch klappen.

Camille weinte immer auf der Rückfahrt. Ich meinte zu ihr, ich hätte viel Positi­ves gehört, und würde mich eher freuen. „Wie kannst du dich freuen, wenn du erfährst, sie wird nicht mehr sprechen können und wahrscheinlich vieles ande­re mehr?“ fragte Lucille „Sie wird zerstört sein. Deine Alyssia, wie noch vor ei­nigen Tagen, wird es nicht mehr geben, wie kannst du dich da freuen. Sie wä­ren heute in Hamburg angekommen. Ich hatte mich sehr auf die beiden ge­freut. Das wird sich nie mehr ereignen. Die Sonne, die unendlich viel Geld aus­gegeben hat, um mir eine Freude zur Hochzeit zu machen, sie wird nicht mehr scheinen. Ich könnte unendlich Vieles weiter aufzählen. Das meiste wird man ja erst erfahren, wenn sie wieder aufwacht. Das wird nichts Positives sein. Man wird die Liste fortschreiben können, was alles nicht mehr ist, und ich vermute sie wird sehr lang werden. Mich stimmt das endlos traurig, deine Freude kann ich nicht verstehen.“

Ich musste lange überlegen, bevor ich darauf antworten konnte. Natürlich hat­te sie recht, aber es schien mich gar nicht so sehr zu stören oder zu vereinnah­men. Bei mir stand ganz unbeabsichtigt das Positive im Vordergrund. Jeder Funke Hoffnung mehr, dass sie überleben würde, schien mir das Wichtigste. Ob ich immer so optimistisch empfand und dachte? Ich glaubte nicht. Ich meinte, es sei eher meine Beziehung zu Alyssia. Ich wollte zunächst mal mein Baby lebend haben, alles andere, was sie noch können würde, kam positiv hin­zu. Natürlich wäre es schön, wenn sie noch sprechen könnte. Unsere Bezie­hung hatte sich ja zum sehr großen Teil über Reden und Gespräche aufgebaut. Aber wenn sie es nicht mehr könnte, würde ich es eben akzeptieren müssen. Ich sah es nicht aus der Perspektive, was vom Zustand vor einigen Tagen alles nicht mehr sein würde. Ich sah es aus der anderen Richtung, dass sie mit großem Glück überhaupt noch lebte. Alles Weitere schien mir als eine Zugabe, über die ich mich freute. Worüber sollte ich denn klagen, solange sie noch lebte, wenn ihr Tod die wahrscheinlichere Alternative gewesen war.

Überrascht hatte mich vor allem Camilles direkter Tonfall. Sonst sprach sie im­mer sehr ausgeglichen, diplomatisch, jetzt hatte sie mich fast beschimpft. So hatte sie noch nie mit mir geredet. Aus ihrer eigenen Perspektive hätte sie si­cher die Contenance verloren. Sie musste schon sehr erregt sein. Entweder aus Trauer über Alyssia, oder über meine Bemerkung, oder über beides zu­sammen. Ich wollte lieber mit ihr in Ruhe zu Hause darüber reden.

In Combaillaux konnten wir den anderen alles ganz in Ruhe berichten. Mir kam es so vor, dass Julienne und Lucien die Nachrichten mehr erfreut als deprimie­rend aufnahmen. Lucien meinte den Namen des Profs schon mal gehört zu ha­ben. Wenn er richtig läge, genieße er als Neurochirurg in Frankreich ziemliches Ansehen. Er müsse aber mal einen Mediziner fragen. Wenn das nicht in der Nähe von Montpellier, sondern in der Auvergne passiert wäre, würde Alyssia mit Sicherheit nicht mehr leben, meinte Lucien. Am meisten freuten sich die beiden aber darüber, dass sie zu Alys ins Zimmer durften. „Jetzt noch, oder morgen?“ fragte Lucien. Wir wollten morgen früh gemeinsam hin fahren. Ich glaubte, Lucien wäre am liebsten sofort losgebraust. Er schien am meisten dar­unter zu leiden, dass Alyssia nicht mehr anwesend war. Er lief meistens nervös umher, schaute mal ins Internet und und versuchte sich über das Gehirn und die Funktion der Regionen zu informieren. Julienne saß oft einfach mit ent­täuschtem Gesichtsausdruck am Tisch, rauchte und starrte dabei stupide in die Gegend. Außer den Momenten, in denen es etwas zu berichten gab, und in de­nen das Essen zubereitet wurde, herrschte eine ziemlich trostlose Stimmung. Alle schienen zu warten, aber worauf wusste niemand. Ich sprach das beim Abendessen an, und meinte wir würden mit der trübseligen Stimmung nieman­dem helfen, am allerwenigsten Alyssia. Julienne bemerkte dazu: „Aber ich kann nicht etwas Lustiges machen und mich freuen. Es beschäftigt mich immer zu. Jetzt grüble ich zwar nicht mehr darüber, ob Alys morgen noch leben wird, aber wenn sie nicht mehr sprechen kann, und selbst sonst alles in Ordnung sein sollte, was ja eher unwahrscheinlich ist, wird sie nicht weiter französische Sprache studieren können. Wir werden uns voraussichtlich trennen. Ich kann damit nicht umgehen. Von einem Mann kann ich mich trennen, aber von Alys­sia nicht. Sie war für mich wie eine liebevolle Schwester, was ich sonst nie er­fahren habe. Ich wüsste nicht, wer mir auf der Welt mehr bedeuten sollte, als Alyssia. Der Gedanke macht mich krank.“ und sie begann zu weinen. Camille hatte auch schon wieder ganz wässrige Augen und Lucien hatte auch aufgehört zu essen und blickte mit sehr ernstem Gesicht in die Runde. „Ich weiß gar nicht was ich denken soll.“ begann Lucien, „Ich fühle mich völlig hohl und leer. Auch wenn wir jetzt viel sicherer sein können, dass sie überleben wird. Wenn sie nicht mehr sprechen kann, das würde mich, glaube ich, gar nicht stören, obwohl wir ein ganzes Jahr lang fast nur miteinander geredet haben und unsere Beziehung sich darüber entwickelt hat. Aber jetzt ist es anders, ich würde sie gar nicht mehr hergeben wollen, egal wie. Es sei denn sie würde mich gar nicht mehr kennen und mich zurückweisen. Als Unbekannter erneut eine Beziehung mit ihr beginnen, das könnte und wollte ich nicht. Aber wir wissen ja nichts Genaues, außer dass sie voraussichtlich nicht mehr wird sprechen können, und eben einiges mehr, aber davon wissen wir überhaupt nichts. Für mich ist fast alles offen und ungewiss und in gewisser Weise beängstigend.“

Ich konnte das alles gut nachempfinden und verstehen, nur sie sprachen von sich selbst und betrauerten ihre möglichen eigenen Verluste und Ängste. Das war ja auch durchaus legitim und angemessen. Aber meine Perspektive konnte und sollte das nicht sein. Wem sollte es denn helfen, wenn ich mich selbst be­weinte, dass mein Glückskind und Stern, nicht mehr so sein würde, wie sie es noch vor einer Woche war. Ich brauchte mir solche Gedanken nicht extra zu verbieten, sie kamen gar nicht in mir auf. Allerdings wusste man natürlich überhaupt nicht, wie sich die zusätzlichen Beeinträchtigungen ausgestalten würden. Da hatte Lucien schon recht. Andererseits gab es ja eine unendliche Vielzahl an Möglichkeiten, und davon einige vielleicht besonders grausame durchzuspielen, hielt ich nicht nur für müßig, sondern für Panikmache, die je­der Grundlage entbehrte.


Gemeinsamer Besuch in der Klinik


An der Intensivstation wollte uns die Krankenschwester erst wieder nicht rein lassen. Als wir uns ein wenig aufregten, ließ sie uns warten. Die Ärztin, die wir schon von Dienstagabend kannten, entschuldigte sich. Es sei wohl nicht an das gesamte Personal weiter gegeben worden. Selbstverständlich konnten wir jetzt reinkommen. Zu Alyssia ins Zimmer durfte allerdings jeweils nur einer. Wer sollte zuerst? Ich meinte der Verlobte, der noch gar nichts von seinem Glück wusste. Lucien lächelte. Er blieb gar nicht lange. Streichelte sie überall kurz und gab ihr einen Kuss auf die Lippen. Als er herauskam meint er nur mit feuchten Augen: „Sie schläft. Sie ist schön.“. Ich bestimmte einfach Camille für den nächsten Zugang, sie sei die älteste Freundin. Camille hielt nur ihre Hand und streichelte ihren Unterarm sehr lange. Julienne gab ihr einen Kuss auf jede Wange, berührte ihre Schultern kurz und kam sofort wieder heraus gerannt. Sie weinte schon beim Herauskommen und schluchzte laut im Gang. Als wir sie trösten wollten, wehrte sie ab: „Nein, nein, es ist alles o. k.. Eigentlich freue ich mich. Ich kann einfach nicht anders.“, und versuchte, sich die Tränenflüsse aus dem Gesicht zu wischen. „Meine Liebe, wie sie so selig leicht lächelnd da liegt. Ich weiß, ich werde dich lieben, meine Teure. Komm schnell zurück in die Welt, wir warten alle auf dich.“ dachte ich als ich bei Alyssia im Zimmer war, und hätte am liebsten ihre Hand haltend gewartet, bis sie die Augen aufmach­te. Ich wollte die Ärztin noch fragen, wann sie denn wohl damit rechne. Ich hatte den Professor gar nicht gefragt, was er unter 'in den nächsten Wochen' genau verstehen würde. Die Ärztin meinte, dass es eine sehr schwierige Pro­gnose sei. Am wahrscheinlichsten sei es in der nächsten oder übernächsten Woche. Danach fange es an immer problematischer zu werden. Je länger das Koma dauere, umso geringer werde die Wahrscheinlichkeit, wieder aufzuwa­chen. Wie sie es in Alyssias Bericht gelesen habe, könnten wir gute Hoffnungen haben.

Der Besuch in der Klinik hatte bei allen die Stimmung gehoben. Sogar Julienne konnte wieder lachen. Ich glaube nicht, dass die Worte der Ärztin das bewirkt hatten. Es erfreut einen einfach, zu der geliebten Freundin wieder Hautkontakt gehabt zu haben. Es erinnerte mich an meine Situation mit Ralf im Landgast­haus. Wie kindliche Freude wir daran hatten, uns gegenseitig berühren zu kön­nen. Die Hand des anderen und sein Gesicht zu betasten. Wir machen das auch heute noch im Bett sehr oft. Es vermittelt einfach ein schönes zartes Lie­besempfinden.

Die gute Stimmung hielt auch weiter an. Wir fuhren jetzt allerdings getrennt, allein oder zu zweit. Die Übrigen unternahmen dann etwas Anderes. Beim ge­meinsamen Abendessen hatten wir uns immer viel zu erzählen, und ein wenig feierten wir jeden weiteren Tag, den Alyssia überstanden hatte. Am Samstag trafen wir uns im Café, in dem Lucien und Alyssia sich immer getroffen hatten. Wir konnten das ohne große Wehmutsatacken. Julienne und Lucien waren vor­her in der Klinik gewesen und Camille und ich wollten hinter her zu Alyssia. Es war ja jetzt schon der fünfte Tag. Noch zwei Tage und Alys hatte die Woche überstand. Von der Intensivstation wurde jeden Tag vermittelt, es sei alles völ­lig komplikationslos verlaufen. Wenn bis Montagabend alles glatt verlief, woll­ten wir ein wenig feiern.

Ich fuhr noch am Montagabend relativ spät zur Klinik. Keine Probleme. Der Stationsarzt meinte, jetzt habe sie es wohl ziemlich sicher geschafft. Dass sich jetzt noch etwas Unvorhergesehenes ereigne, sei sehr, sehr unwahrscheinlich. „Madame Stein, ihre Tochter lebt. Freuen sie sich?“ sah mich der Stationsarzt strahlend an. Ich fiel ihm einfach um den Hals und gab ihm auf jede Wange einen Kuss. Mit Tränen in den Augen sagte ich: „Entschuldigung Monsieur, ich musste einfach meine Freude zum Ausdruck bringen. Das war für sie und alle ihre Kolleginnen und Kollegen, die das vollbracht haben. Ich bin ihnen unend­lich dankbar. Geben sie ihnen das doch bitte weiter.“ Er meinte, die Kollegen würden sich ja selber freuen, wenn ihnen so etwas gelinge. Bei Alyssia sei man wegen der gravierenden Verletzungen und der starken Blutungen sehr skep­tisch gewesen, ob sie die erst Nacht überstehen werde, aber sie hätten eben hervorragende Arbeit geleistet.

Ich fuhr beschwingt nach Combaillaux zurück, jedes mal durch diese Kurve, in der es passiert war. Automatisch nahm ich immer das Gas zurück auf meist völlig unbefahrener Strecke.

Zu Hause musste ich alles berichten, vor allem auch von dem hohen Risiko. Am ersten Abend hatte man uns das gar nicht vermittelt, wie problematisch die Nacht noch sein könnte. Ich stellte mir vor, als ich am Morgen in die Klinik gekommen war, um Alyssia berühren zu können, sei sie tot gewesen. Jetzt hatte sie es endgültig geschafft. Die Freude war umso größer. Wir umarmten uns, küssten uns und stießen gemeinsam an. Dann musste ich unbedingt noch telefonieren und es allen weiter erzählen. Der restliche Abend gehörte uns Vie­ren. Camille, Julienne und Lucien hatten während meiner Zeit in Montpellier ein wunderbares Abendessen gezaubert, für das wir zwei Stunden und einige Fla­schen Wein brauchten, um es zu vertilgen. Ich empfand es, wie einen großen Etappensieg, der Mut macht für den nächsten, wie die Basis, auf der sich alles Weitere entwickeln konnte. Ich fühlte mich befreit und wohlig. Jetzt lebte sie tatsächlich, meine, unsere Alyssia.


Alyssia mach die Augen auf!


In den folgenden Tagen geschah nichts. Es bestand zwar kein Lebensrisiko mehr, aber jetzt konnten wir es nicht ertragen, dass jeder Tag wie der vorheri­ge war. Nichts geschah, immer das gleiche Bild. Wir rechneten jeden Tag da­mit, dass der Besucher aus der Klinik anrief, und verkündete: „Alyssia ist wach geworden!“ Aber nie rief jemand an. Alle kamen ohne Erfolgsmeldung zurück. Es war zermürbend. Eine ganze Woche hatten wir jetzt schon gewartet. In der Klinik mahnte man uns immer zu ein wenig mehr Geduld.

Am Dienstagmorgen um 7:30 Uhr klingelte mein Telefon. Aus der Klinik rief man mich an: „Madame Stein, ihre Tochter ist aus dem Koma erwacht, aber es gibt Probleme. Kommen sie schnell.“ Welche Probleme es denn seien, wollte ich wissen. Das sähen wir dort, es sei wichtiger, dass ich schnell komme. Ich posaunte noch schnell durchs Haus, dass Alyssia wachgeworden sei, und ich schon ganz schnell vorfahren müsse. Ich war noch gar nicht angezogen, huschte schnell in die Klamotten vom Vortag, und wuselte mein Haar ein wenig zurecht. „Keine Hektik auf der Straße,“ betete ich mir ausdrücklich vor. Um 8 Uhr war ich dann schon an der Klinik.

Wo ist das Problem stürmte ich lächelnd auf die Intensivstation. Die Ärztin ging mit mir in Alyssias Zimmer. „Ihre Tochter,“ präsentierte sie mir die im Chirur­giehemdchen auf der Bettkante sitzende Alys, „sie will aufstehen. Nichts und niemand kann sie dazu bewegen, sich wieder hinzulegen. Vielleicht haben sie ja eine Chance.“ Ich musste sie mir erst mal richtig anschauen. Sie lächelte und saß einfach da. Ich stellte mich vor sie und sah sie an. Ihre Augen wurden groß und rund. Das Lächeln verschwand für einen Moment. Sie fixierte mein Gesicht. Das Lächeln kam wieder und vergrößerte sich. Sie zog ihre Lippen im­mer breiter zu einem freudestrahlenden Lachen. Sie hatte mich also erkannt und freute sich. Ich hielt ihr meine Hand hin und sagte zu ihr: „Hallo Alyssia“. Sie hob auch ihre Hand und befühlte mit ihren Fingern und ihrer Hand meine, immer und immer wieder. Dann reckte sie ihre Hand zu meinem Gesicht und wollte es befühlen. Ich beugte mich zu ihr runter. Sie befühlte alles immer wie­der ganz genau. Wenn sie mein Gesicht abtastete, schaute sie meistens sehr ernst aber zwischendurch strahlte sie immer wieder, als wenn sie sagen wollte: „Ja die Falte kenn ich genau.“ Plötzlich schien es genug zu sein und sie ließ ihre Hand wieder aufs Bett fallen. Ich nahm eine ihrer Hände und legte sie in meine Hand. Während ich das tat schaute sie ganz interessiert, was da denn jetzt wohl vor sich gehe, und als ihre Hand in meiner lag, strahlte sie mich wie­der an. Ich hielt ihr meine andere Hand hin. Fragend schaute sie mich mit großen Augen an. Ich nickte eifrig, zögernd hob sie ihre Hand, legte sie in mei­ne und strahlte mehr als je zuvor, als ob sie stolz sei, etwas großartig gemacht zu haben.

Die Ärztin hatte die ganze Zeit im Hintergrund gestanden und zugeschaut. „Großartig Frau Stein, wirklich großartig,“ meinte sie, „so etwas können wir hier nicht. Sind sie Pädagogin?“ „Nein, Rechtsanwältin“ klärte ich sie auf. „Frau Stein wir wissen gar nicht, was wir machen sollen. Alyssia will sich von nie­mandem berühren lassen, nur berühren lässt sie schon nicht zu. Normal lächelt sie immer, wenn sie jemand berührt, wird die Mine zunächst ernst, dann ärger­lich und zum Schluss richtig griesgrämig. Wenn die Belästigung dann immer noch nicht aufhört entzieht sie sich. Wenn sie jemand austrickst und schnell mit einem Schwung in Liegeposition bringt, dauert es keinen Augenblick, schwupps, sitzt sie wieder. Ein Gutes zeigt es ja, dass sie zumindest motorisch keinerlei Beeinträchtigungen hat. Vielleicht können sie sie ja dazu bewegen, sich hinzulegen, sie muss unbedingt wenigstens noch eine Woche flach liegen. Alles andere wäre höchst riskant.“

Ich wollte es versuchen, aber ich musste mich erst noch mehr mit ihr beschäf­tigen. Ich setzte mich neben sie aufs Bett. Einen Moment lang schaute sie ganz verdutzt, dann strahlte sie mich wieder an. Ihre Finger wanderten wieder zu meinem Gesicht. Ich wollte mal ihr Gesicht fühlen. Zunächst wieder ein leicht erstaunter Eindruck, dann entspannte sich ihr Gesicht. Sie lächelte nicht, schaute auch nicht ernst sondern entspannt zufrieden, als ob sie das Streicheln genießen würde und tatsächlich legte sie auch ihren Kopf zurück, damit ich sie auch am Hals streicheln konnte. „Ah meine kleine Frau, eine Genießerin bist du jedenfalls geblieben,“ bemerkte ich. Mein Gesicht war jetzt völlig uninteressant geworden. Ich erzählte ihr dabei Geschichten mit Namen, die sie eigentlich, gut kennen müsste, aber keinerlei Reaktion. Ich schloss meine Gesichtsstrei­cheleinlage mit einem Kitzel am freien Ohrläppchen ab. Sie zog die Lippen zu einem ganz breiten Grinsen und kniff dabei die Augen zu, als wenn sie sagen wollte: „Huch, ist das kitzelig.“

Dann gab ich ihr einen Kuss auf die Wange. Immer wieder zu Beginn dieser fragende Gesichtsausdruck, als ob sie sich fragte: „Was geschieht denn jetzt wohl?“, doch ich schien immer etwas sie Erfreuendes zu machen. Sie drehte ihren Kopf zu mir und strahlte mich wieder an. Ich hielt ihr meine Wange hin, und forderte sie durch Gesten auf, mir jetzt einen Kuss zu geben. Sie schien verstanden zu haben, was ich meinte. Anscheinend dachte sie jetzt lange nach. Dann nahm sie beide Hände, dreht meinen Kopf zu sich, und Küsste mich auf den Mund. Sie hörte gar nicht wieder auf, mich anzustrahlen. Hatte sie so lan­ge nachgedacht und sich erinnert, dass Küssen auf den Mund viel besser sei. Sie hatte nicht nachgemacht, was ich ihr vorgemacht hatte, sondern eigen­ständig aus ihrer Erinnerung etwas Ähnliches gemacht. Toll meine Süße. Sie schien also ihr Gedächtnis nicht ganz verloren zu haben, aber die Namen von Julienne, Camille und Lucien schienen ihr nichts zu bedeuten. Ich stand auf und wollte es mal versuchen, sie zu umarmen. Bis jetzt hatten wir ja nur ein­zelne Körperpartien berührt, gestreichelt und uns geküsst. Ich stellte mich wie­der vor sie, breitete meine Arme aus und schlang sie um ihren Hals. Zunächst wieder dies erwartungsvolle Staunen und dann strahlten sich unsere Gesichter ganz nah voreinander an. Ich lege meine Wange an ihre. Sie schien es zu ge­nießen. Plötzlich sprang sie aus dem Bett, stand vor mir, schlang ihre Arme um meinen Oberkörper und drückte mich ganz fest an sich. Alyssia wollte mich gar nicht wieder loslassen. Abwechselnd streichelten wir unsere Wangen aneinan­der und lachten uns zwischendurch immer wieder an. Sie schien ein altes schö­nes Spiel wieder entdeckt zu haben und neu zu genießen.

Sie war aus ihrem Bett aufgestanden, das hatte sie glücklicherweise vorher noch nicht gemacht. Als ich meine Arme von ihrem Hals löste und ihre behut­sam zurückzunehmen versuchte, sprang sie auch sofort wieder aufs Bett. Das Bett schien sie schon als ihren persönlichen Sicherheitsbereich zu betrachten, den sie von sich aus nicht verlassen wollte. Aber warum musste sie sitzen, und konnte nicht liegen. Wenn sie saß konnte sie alles sehen und mitbekommen, was in ihrer Umgebung passierte, wenn sie lag, konnte sie fast nur die Decke anstarren, denn im Liegen konnte sie wegen des Verbands auch ihren Kopf kaum bewegen. Sie konnte sich schon als ziemlich ohnmächtig, gegenüber dem, was auf sie zukam, empfinden. Aber das konnte man ja nicht ändern. Ich wollte es einfach mal mit einem Beispiel versuchen. Ich legte mich auf der an­deren Seite in ihr Bett, und tatsächlich Alyssia legte sich auch hin und strahlte. Ich stützte meinen Kopf auf den Arm, sonst konnten wir uns ja nicht ansehen. Ich erzählte ihr, wie wichtig es sei, dass sie liegen bleibe, und wie froh ich sei, dass sie jetzt wieder bei uns sei, wir alle um sie gebangt hätten, und das dürfe sie doch jetzt nicht gefährden. Sie schaute mich die ganze Zeit mit großen Au­gen an. Sie schien wohl zu merken, dass ich ihr etwas sagen wollte, aber ver­stehen konnte sie mich sicher nicht. Ihre Mimik veränderte sich häufig. Mal machte sie ein nachdenkliches Gesicht, mal lachte sie mich wieder an, aber es kam mir vor, wie ich als kleines Baby mit ihr gesprochen hatte. Sie schien auf den unterschiedlichen Klang zu reagieren. Als ich aufstand, saß sie auch sofort wieder. Als ich ihr mit ernstem Gesicht, energischem Tonfall und dabei kopf­schüttelnd erklärte, das sei nicht richtig, sie müsse unbedingt liegen bleiben, machte sie zwar ein leicht weinerlich erscheinendes Gesicht, reagierte aber sonst nicht. Es tat mir schon leid, sie so angesprochen zu haben und gab ihr einen Kuss auf jede Wange. Sie strahlte wieder.

Sie schien ihren Eigensinn, den andere früher als Sturheit oder Ungehorsam bezeichnet hatten, behalten zu haben. Mir hatte das nie Probleme bereitet, und ich hatte es ja auch gar nicht so gesehen. Sie war ja Argumenten zugänglich und machte es, wenn sie die Angelegenheit verstanden hatte, und für sich ak­zeptieren konnte. Ich habe das eher bewundert und wahr stolz, dass sie sich so verhielt. Nur jetzt hatten Argumente ja keine Bedeutung und durch Liebe und Zuwendung hatte sie sich nie täuschen lassen. Selbst ihre allerliebste Omi hatte nur Erfolg, wenn sie es ihr für sie hinreichend erklärte. Vielleicht war die­ser Zusammenhang sehr stark mit dem Emotionalen verbunden, und ihr Emp­finden schien ja gut zu funktionieren. Sie schien nur einige Erfahrungen ver­gessen zu haben. Manche aber auch nicht, denn sie hatte mich ja eigenständig auf den Mund geküsst, mich von sich aus umarmt, und dafür das Bett verlas­sen.

Ich wollte hinaus gehen, und mit der Ärztin sprechen. Als ich zur Tür ging, schaute sie mir nach und machte ein ganz böses Gesicht. Sie war wohl sehr är­gerlich, dass ich sie verlassen wollte. Ich kam zurück, sprach mit ihr und ver­suchte es soweit wie möglich durch Gesten zu unterstützen. Gesten schien sie ja recht gut interpretieren zu können. Sie machte auch kein verärgertes Ge­sicht mehr als ich jetzt ging und noch im Herausgehen durch Gesten verdeut­lichte, dass ich gleich wieder herein käme. Ich erklärte der Ärztin, dass ich mich auch hilflos fühle. Sie lege sich nur hin, wenn ich neben ihr liege. „Aber sie muss liegen, wenigstens noch eine Woche. Alles andere wäre lebensgefährlich. Sie befindet sich ja auch noch auf der Intensivstation, und muss hier diese Woche noch unbedingt bleiben. Auch wenn sie jetzt bei Bewusstsein ist, ist noch nichts verheilt und ihr fehlt noch sehr viel Gehirnflüssigkeit. Es ist nicht nur hoch riskant, wenn sie jetzt nicht liegen bleibt, es wird den Heilungsprozess auch mit Sicherheit ungünstig beeinflussen.“ erklärte die Ärztin. Ich sah das zwar ein, aber fühlte mich auch völlig ratlos. Ich konnte da nicht mehr weiter grübeln, mir fiel erst mal nichts ein. „Was meinen sie, vielleicht ist es ja hilfreich, wenn ich sie Alyssia als meine Freundin vorstelle?“ fragte ich die Ärztin. Sie war einverstanden, und wir gingen zu Alyssia. Als wir reinkamen war ihr Blick immer noch auf die Tür gerichtet. Alyssia hatte es anscheinend verstanden, dass ich wieder zurückkommen wolle, und wartete jetzt darauf. Wir stellten uns vor sie, ich legte einen Arm auf Madame Merciers Schulter und erklärte Alys, dass sie meine Freundin sei. Wir umarmten und küssten uns und ich streichelte Madame Merciers Wangen. Dann redete die Ärztin mit ihr und Alyssia hörte ihr mit großen Augen zu. Was bedeutete es wohl für sie? Plötzlich verzog sie ihr Gesicht zu einem breiten Strahlen. Madame Mercier schien akzeptiert. Als sie ihr aber die Hand hinhielt, erfolgte keine Reaktion. Auch mein Beispiel veranlasste sie zu nichts. Als ich ihre Hand nehmen und sie sanft in Madame Merciers legen wollte, wurde ihre Mine ärgerlich und sie riss ihre Hand entschieden zurück. Freundlichkeit oder Zuneigung bedeutete also nicht gleich, dass man sie auch berühren durfte.

Plötzlich fasste Alyssia sich zwischen die Beine und machte ein krauses be­denkliches Gesicht. Sie hatte zwar eine Windel um, aber merkte jetzt wohl, dass sie zur Toilette musste, und sie dazu etwas anderes tun musste. Ich schlug vor, mit ihr zur Toilette zu gehen. Das lehnte die Ärztin als unmöglich ab. „Wollen sie Alyssia hier dazu erziehen, in Windeln zu machen, obwohl sie noch weiß, dass sie zur Toilette gehen muss. Das können sie mir doch nicht leichtfertig so antun.“ reagierte ich verärgert. Mit einem Seufzer entfernte die Ärztin die Schnüre. Sie durfte ganz nah an Alyssia heran kommen, nur ihre Haut durfte sie nicht berühren, dann zog sie mit einem Ruck weg. Ich nahm sie an die Hand und wir gingen zur Toilette. Sie lief völlig normal, keine irgendwie gearteten Koordinationsstörungen zu erkennen. Wunderbar! Ich nahm ihr die Windel ab und sie setzte sich sofort auf die Toilette, als ob es das Selbstver­ständlichste auf der Welt sei. Als sie fertig war, wollte sie aufstehen und ge­hen. Dass man sich den Po abwischen muss, war wohl anderswo gespeichert gewesen. Ich forderte sie auf sich wieder hinzusetzen, wischte ihr den Po, und zeigte ihr das beschmierte Toilettenpapier. Jetzt forderte ich sie auf das Glei­che zu tun. Sie zeigte mir das Toilettenpapier. Beim vierten mal blieb es sau­ber. Ich bedeutete ihr, jetzt sei es o. k., jetzt könne sie aufstehen. Sie strahlte wieder, als ob sie ein großes Werk vollbracht hätte. Wir umarmten und küssten uns. Am Waschbecken musste ich sie noch zum Händewaschen anhalten. Wie man das machte, musste sie auch wieder lernen. „Das ist sehr schön, Madame Stein,“ meinte die Ärztin als sie die Kabel und Schnüre wieder anschloss, „aber wie sollen wir das denn hier machen. Zumal sie sich von niemandem anfassen lässt.“ „Sie wird ihnen nachlaufen. Alles andere wird sie selber regeln. Und in ihr Bett will sie ja schon. Sie wird ja nicht weglaufen wollen. Oder ist ihnen die andere Quälerei, bei einer Frau, die sich nicht anfassen lassen will, die Windeln zu wechseln lieber?“ fragte ich. Madame Mercier schaute mich an. Sie hatte Tränen in den Augen. „Madame Stein,“ sagte sie, „meine Tochter liest in der Schule gerade die Gedichte von Alyssia. Sie sind wunderschön. Mir kommen manchmal die Tränen. Es war mir selber eine große Freude, dass sie mir zugehört hat, und mich angelacht hat. Ich werde alles in meinen Kräften Stehende tun, damit sie so gesund wie möglich die Klinik wieder verlassen kann, und dass sie sich hier so wohl fühlt, wie es nur eben geht. Glauben sie mir, dass ist mein ganz persönliches Interesse an ihrer Tochter und als Mutter, die nachzuempfinden versucht, was es für sie bedeutet.“ Sie umarmte mich und meinte noch: „Vergessen sie nie, dass sie ganz großes Glück gehabt haben. Alle hier haben es für eher unwahrscheinlich gehalten, dass sie durchkommt, aber sie hat es ja geschafft.“ Ich bedankte mich bei ihr, und erklärte ihr, dass ihr Verlobter – Lucien war jetzt immer der Verlobte – und ihre beiden Freundinnen gleich kommen würden, um auch ihre geöffneten Augen zu sehen. Vielleicht fiele uns dann ja etwas ein.


Camille, Julienne und Lucien bei Alyssia


Als die drei kamen erzählte ich ihnen auf dem Flur kurz, was ich erfahren und erlebt hatte. Camille, Julienne und Lucien schmunzelten manchmal über die kuriosen Situationen. Ich versuchte sie zu warnen, dass es nicht sicher sei, dass sie jeden wiedererkennen würde. Ihr verbliebenes Gedächtnis sie höchst unterschiedlich strukturiert. Heute sollte Camille als erste mit mir reingehen. „Hallo Alyssia, ich bin's, Camille deine Freundin.“ sprach Camille sie an. Wieder die gleiche Musterung mit großen Augen, und anschließend die strahlende Erin­nerung. Dies mal reckte sie den Kopf dabei vor, legte ihn leicht zurück und zog einmal tief Luft durch die Nase. Das konnten wir nicht interpretieren. Camilles Parfum jetzt konnte es nicht sein, ob sie verdeutlichen wollte, dass sie sich an frühere schöne Düfte erinnerte oder ob es angenehme Essensdüfte waren, an etwas mit Geruch schien sie sich jedenfalls bei Camille zu erinnern. „Bonjour Alyssia“ sagte Camille, als sie ihr die Hand hinhielt. Das ließ sie zwar wieder la­chen, als ob sie es verstanden hätte, aber einen Griff nach Camilles Hand blieb aus, und auch als Camille vorsichtig versuchte, mit den Fingern ihre Hand zu berühren, zog sie sie sofort weg. Das stimmte ein wenig traurig. Selbst von ih­rer besten Freundin, die sie ja eindeutig erkannt hatte, ließ sie sich nicht be­rühren. Na, meinte Camille, wenn das eben so sei, solle man es einfach akzep­tieren, und nicht nach unserem Verständnis zu interpretieren und deuten ver­suchen, das sei unangemessen und falsch, und führe zu unsinnigen Schlussfol­gerungen. Wie so etwas durch eine Gehirnverletzung entstehen könne, sich nicht mehr berühren lassen wollen, außer von der Mamon und von der gerne, sei allerdings schon sehr kurios. Sie wolle die anderen nicht so lange warten lassen, und schickte Julienne herein.

Julienne ging ein wenig runter und schaute ihr direkt ins Gesicht. „Na, alte Hexe, bist ja doch wieder wach geworden.“ sprach sie sie lächelnd an. Als Alys­sia Julienne anstrahlte, reckte sie wieder ihren Kopf vor und kniff die Augen leicht zusammen, als ob sie ihr auch etwas Schelmisches mitteilen wolle. Als Julienne aber mit ihrer Nase auf Alyssias vorgestreckte Nase zu kam, zog sie sich wie erschreckt zurück. Julienne erschrak selber. „Ich habe doch nichts ge­macht.“ meinte sie zu mir entschuldigend. „Ja das ist für uns nicht einfach.“ er­klärte ich Julienne, „Auch wenn sie jemanden mag, oder eindeutig wiederer­kennt, so wie dich gerade, heißt das noch lange nicht, dass man sie auch be­rühren darf. Das wird dem armen Lucien wahrscheinlich nicht anders ergehen. Du kannst ihr ja mal deine Hand hinhalten, aber ich befürchte, es wird zweck­los sein.“ Und so war es auch. Julienne schien leicht pikiert und wollte raus.

Auch Lucien wurde mit großen Augen gemustert. Alyssia sprang sofort aus dem Bett und breitete ihre Arme weit aus, wie ich es vorhin bei ihr gemacht hatte. Sie blieb aber einfach so mit ausgebreiteten Armen vorm Bett stehen. Als Lucien näher kam, schlang sie sie um seinen Hals, drückte abwechselnd die eine und die andere Wange an seine und küsste ihn zwischendurch immer wie­der auf den Mund. Lucien war absolut glücklich und ihm standen vor Rührung die Tränen in den Augen. Er hatte befürchtet, das Alyssia ihn eventuell nicht wiedererkenne. Er hatte sie ja als letzter kennengelernt. Ich war auch ver­blüfft. Sie hatte wohl die Erinnerung an die Menschen nicht verloren, schien sie nach umständlicher Prüfung wieder zu erkennen, und ordnete auch jedem eine spezifische mimische Besonderheit zu, aber warum sie auf Lucien direkt selber zuging, und ihn sofort umarmte und küsste, schien wohl spezielle Gründe zu haben, die nicht allein im allgemeinen Gedächtnis verankert waren. Alyssia wollte anscheinend immer so verbleiben. Sie befingerte Luciens Gesicht und immer wieder seine feuchten Augen. Die schienen sie wohl stark zu erstaunen. „Komm, wir setzen uns aufs Bett.“ schlug ihr Lucien vor. Als ob sie ihn verstan­den hätte, ließ sie Lucien los und setzte sich mit ihm aufs Bett. Sie hat­te die Hände unter ihre Oberschenkel gesteckt, bewegte ihren Oberkörper leicht und lachte die ganze Zeit, als ob sie deutlich machen wolle, dass sie un­endlich glücklich sei. Lucien erzählte ihr alles Mögliche. Sie schien aber gar nicht zuhören zu wollen, sondern strahlte ihn nur unentwegt an. Ich meinte, Lucien solle es doch mal versuchen, ob er sie nicht zum Hinlegen bewegen könne. Mit ihm legte sie sich natürlich auch sofort hin. Lucien versuchte sa chérie auch eindringlich unter häufigen zwischenzeitlichen Küssen zu erklären, dass und warum sie liegen bleiben müsse. Sein Vortrag und vor allem seine Küsse schienen Alyssia sehr zu gefallen, aber als er wieder aufstehen wollte, hob sie auch sofort ihren Oberkörper an. Lucien stoppte, und sagte ihr mit ernster Mine nein, nein, das sei nicht korrekt, sie müsse sich wieder hinlegen. Alyssia lächelte zwar nicht mehr, sie schaut ihn nur mit großen Augen an und legte sich wieder hin. Lucien kniete sich aufs Bett, lobte sie und streichelte ihr Gesicht. Als Lucien aufstand und zu anderen Seite des Bettes gehen wollte, richtete sie ihren Oberkörper wieder auf. Sofort wies Lucien sie an: „Non, non, wieder hinlegen.“, was sie auch brav befolgte. Sie lag zwar, aber allein im Bett zu liegen, schien ihr nicht besonders zu behagen. Lucien setzte sich aufs Bett, und während er sie streichelte, erzählte er ihr immer wieder, dass sie sich un­bedingt hinlegen müsse, und jedes mal wenn er erwähnte, dass es prima sei, wie sie jetzt liege, gab es einen Kuss. Sie schien zu merken, dass er sich im­mer wiederholte und hatte ihre Freude daran. Ob sie etwas, und was sie ver­stand, konnte man nicht genau abschätzen, jedenfalls wenn die Stelle mit dem Lob für's Liegen kam, hielt sie ihm schon ihren Kussmund entgegen. Lucien streichelte sie nochmal und stand wieder auf. Alyssia blieb liegen. Geschafft? Vielleicht. Die anderen kamen rein, und meinten, das könne ja noch ewig dau­ern, mit den Liebesspielereien, sie würden jetzt ganz gern nach Hause fahren und in Montpellier noch etwas einkaufen. Alyssia wollte sich wieder aufrichten. Sofort kam Luciens: „Non, non, wieder hinlegen.“, was auch sofort befolgt wurde, wofür sie allerdings diesmal einen Kuss erwartete. Den bekam sie zwar, aber Lucien meinte: „Du musst auch ohne Kuss liegen bleiben, du Filou.“ und kniff ihr ein wenig in die Nasenspitze. Sie schaute Lucien nicht freudig und auch nicht ernst, aber mit ganz breit gezogenen Lippen an, als wenn sie sagen wollte: „Wart's ab, das bekommst du wieder.“. Julienne, die auf dem Flur geweint hatte, war noch immer ganz erbost: „Wir dürfen sie noch nicht mal berühren, und dem alten Bock fällt sie sofort um den Hals, und befolgt sogar seine Befehle, ich kann's nicht fassen.“

Die beiden verabschiedeten sich, indem sie sich leicht zu ihr beugten und mit der Hand winkten. Wir standen neben Alyssias Bett streichelten sie abwech­selnd, und unterhielten uns. „Was für ein Tag,“ meinte ich zu Lucien. „Alyssia aus dem Koma zurück, und immer freundlich und zufrieden lächelnd. Eine starre Maske ist das ja nicht. Sie kann ja auch ganz andere Gefühle zeigen. Und du alter Verlobter hast ja ein ganz besondere Glück. Was empfindest du eigentlich Lucien? Sie hat dich ja nicht nur wiedererkannt, du scheinst ja ihr absoluter Favorit zu sein.“ „Ganz richtig kann ich das noch gar nicht fassen.“ reagierte Lucien, „ich weiß nur, dass ich total glücklich bin.“ Während wir uns noch weiter unterhielten, gähnte Alys mehrmals und war nach wenigen Minu­ten eingeschlafen. Die Ärztin kam schon rein. Im Büro waren Veränderungen festgestellt worden und sie wollte nachschauen. Wir erklärten ihr, dass sie mehrfach gegähnt habe und eingeschlafen sei. Ob sie denn gelegen habe, frag­te sie ganz erstaunt. Ja schon längere Zeit und ich verwies auf den Künstler. Sie reagiere auf „Non, non, recouchez toi!“ ob sie es richtig verstehe, wüssten wir nicht, aber jedenfalls wisse sie, was sie dann zu tun habe, zumindest bei Monsieur Renouard. Wenn es irgendein Problem gebe, solle sie doch bei mir anrufen, ich käme jederzeit. Mit dem selbständigen Gang zur Toilette, es sei mir ganz, ganz wichtig, wenn sie das beibehalten könnten. Wir umarmten uns und fuhren nach Hause.

Julienne hatte sich mittlerweile auch wieder beruhigt. Aber wir rätselten schon, womit das ungewöhnliche Verhalten gegenüber Lucien zu erklären sei. Wir ver­muteten die Ursache in den Bettgeschichten, denn emotional schien sie ja noch ziemlich fit zu sein, obwohl sie das fast ja auch alles wieder neu lernen musste. Sie lernte ja schnell und was sie einmal gesehen hatte, konnte sie auch sofort auf sich übertragen anwenden. Ich musste unbedingt die anderen informieren, und am Abend gab's natürlich eine kleine Feier zu dem, worauf wir so unend­lich lange hatten warten müssen.


Mittwochmorgen angeschnallt


Als ich Mittwochmorgen wieder gegen 8 Uhr zu Alyssia ins Zimmer kam, lag sie angeschnallt mit missmutig verzerrter Mine in ihrem Bett. Ich ging gar nicht zu ihr, sondern stürmte sofort ins Arztzimmer. „Monsieur kommen sie sofort!“ be­fahl ich ihm. „Was hat das zu bedeuten? Was soll das? Machen sie das sofort weg!“ herrschte ich ihn ärgerlich an. „Madame,“ jammerte er fast weinerlich, „was sollen wir denn machen. Wir tun das ja auch nicht gern, aber sie lässt nichts mit sich geschehen, lässt sich von niemandem berühren und wir müssen Untersuchungen machen.“ „Warum ging das gestern und heute nicht?“ ich sprach nur in barschem Tonfall zu ihm. Ich war auch überaus entsetzt, „Monsieur, ich bin ihnen unendlich dankbar, dass sie meiner Tochter das Leben gerettet haben, große Teile ihres Gehirns sind zerstört. Das ertrag' ich gern, aber wenn sie ihr jetzt die Seele zerstören, das kann und werde ich nicht ertragen wollen. Schnallen sie sie sofort los, und tun sie das nie, nie mehr wieder, hören sie. Wenn ich das noch einmal erleben muss, werde ich sie sofort hier herausholen und nach Hamburg fliegen lassen. Schauen sie sich das Gesicht doch einmal an.Bedeutet ihnen das denn nichts? Wissen sie denn nicht, das sie Normalerweise ständig lächelt?“ Er hatte schon während ich redete telefoniert. Eine Krankenschwester kam rein, und schnallte sie los. Alyssia sprang sofort auf und fiel mir freudestrahlend um den Hals, als ob sie erkannt hätte, dass ich es bewirkt hatte. „Sehen sie Madame, das geht nicht.“ meinte der Arzt. „Ich werde sie doch wohl noch für die von ihnen zugefügten Qualen trösten dürfen, ja Monsieur!“ schrie ich ihn zornig an. Alyssia hatte auch ganz angstvolle Augen bekommen, obwohl sie schon zu merken schien, dass es nicht ihr galt. Ich bat sie, sich kurz aufs Bett zu setzen, ich müsse noch mit dem Arzt reden. „Monsieur, ich hatte ihnen gesagt, dass sie mich jederzeit anrufen können, wenn es Probleme gibt. Warum tun sie es nicht? Ich will gar keine Entschuldigung von ihnen hören. Ich erwarte einfach, dass ich mich in Zukunft darauf verlassen kann, dass sie es tun werden. Ich war so glücklich und dankbar und meinte, mich auf sie verlassen zu können, aber heute machen sie mir Angst. Und übrigens die Windeln möchte ich auch keinesfalls mehr sehen. Sie weiß, wann sie zur Toilette gehen muss und wird ihnen folgen. Auf der Toilette macht sie alles selbständig. Ich möchte nicht, dass das hier zerstört wird. Und noch etwas, ich möchte dringend mit dem Herrn Professor sprechen. Besorgen sie mir sofort einen Termin.“ instruierte ich den Arzt und fügte nochmal warnend mit erhobenem Zeigefinger hinzu, „Sie haben mich verstand? So etwas, wie heute morgen, nie wieder!“ Monsieur le Docteur schien geschrumpft zu sein. Als er das Zimmer verlassen wollte, wies ich ihn noch an: „Nehmen sie das mit, das wird hier niemals mehr gebraucht!“ und zeigte auf die Bettfesseln, die die Schwester auf einem Stuhl platziert hatte, „und das hier auch,“ wobei ich ihm die Windel reichte, die ich Alyssia gerade abgenommen hatte.

Ich schwang mich erst mal zu Alys aufs Bett, atmete tief aus und ließ sie dabei ein erlöstes „Geschafft“ vernehmen. Wir strahlten uns wieder an, und waren glücklich. So schien die Welt für Alyssia in Ordnung. Glücklich auf der Bettkan­te sitzen, mit Mami Händchen halten, und sich zwischendurch manchmal an­strahlen, was wollte man da mehr. Ich wollte etwas machen. Ich wusste nicht was sie verstand, aber sie konnte ja Gehörtes wiedererkennen. Besser viel­leicht auf Französisch als auf Deutsch. Ich zeigte mehrfach abwechselnd auf meine und ihre Brust und sagt dabei unsere Namen, Alyssia und Mamon. Dann forderte ich sie auf zu zeigen, sie machte eine leicht ratlose Mine. Eventuell meinte sie, dass sie sprechen solle. Als ich aber die Namen sagte, schien alles klar. Sie machte es immer richtig. Ich wurde immer schneller. Als es zu schnell wurde, legte sie den Kopf zurück, grinste, kniff dabei die Augen zu, und zog tief Luft durch die Nase. Dann drehte sie ihren Kopf zu mir, streckte ihn leicht vor und lachte mich so schelmisch an, wie gestern bei Julienne. Allem Anschein nach hatte es ihr gefallen. Ich wollte ihr einen Kuss geben. Sie drehte sofort ihren Kopf und hielt mir ihre Kusslippen hin. Geküsst wurde jetzt nur noch auf den Mund, das hatte sich wahrscheinlich einfach als besser erwiesen, warum sollte man sich da noch mit so etwas wie Wangenküssen abgeben. Ich musste auch mal daran denken, sie wieder zum Liegen zu bringen, doch Alys deutete an, zur Toilette zu müssen, die Windel war ja auch ganz unbeschmutzt. Ich deutete Alyssia an, dass ich kurz den Arzt holen müsse. Es war nur eine Krankenschwester da, die mir erklärte, dass sie das nicht dürfe. Ich erklärte ihr, dass man das gestern gedurft hätte, die Ärztin habe es sogar selber gemacht. Sie telefonierte mit dem Arzt und ging mit. Alyssia schien den Weg zu kennen. Sie nahm auch selbständig Toilettenpapier, und hielt es mir wieder hin. Ich schüttelte den Kopf, und verdeutlichte ihr, dass sie selber schauen müsse, wobei ich ihr die Hand vors eigene Gesicht drehte. Sie nahm nochmal Toilettenpapier und hielt es sich jetzt selber vors Gesicht. Sie schaute mich an, stand auf und fiel mir um den Hals. Sie schien sich immer riesig zu freuen, wenn sie etwas Neues dazu gelernt, und es richtig gemacht hatte. Selbstverständlich wusch sie sich die Hände, als hätte sie noch nie etwas anderes beabsichtigt gehabt. Wunderbar, wie schnell sie lernte und auch nicht wieder vergaß. Die Schwester hatte im Zimmer gewartet und schloss sie wieder an.

Ich versuchte Alys zu erklären, dass es besser sei, wenn sie sich wieder hinle­ge. Sie schien mit zu bekommen, wovon ich redete. Es schien ihr nicht sonder­lich zu behagen. Sitzen hielt sie wohl für eindeutig besser. Als ich ihr ver­sprach, sie bekomme auch einen Kuss, lachte sie wieder. Als ich versuchte ihre Beine anzuheben, und sie langsam in Liegeposition zu bringen, ließ sie es sich gefallen, und machte den Rest selbständig. Als sie lag, strahlte sie, und hielt schon ihren Kussmund hin. Einmal versuchte sie sich noch wieder aufzurichten, reagierte aber prompt auf mein: „Non, non, recouchez toi!“.

Ich wollte noch zu Hause anrufen, sie sollten etwas zum Anziehen mitbringen, Slips und Nachthemdchen, oder wenn sie so etwas nicht besitze, große T-S­hirts oder Oberhemden. Sie waren gerade im Aufbruch, und wollten noch et­was zusammen suchen.


Ankunft von Camille, Julienne und Lucien am Mittwoch


Sie hatten noch Probleme mit der Wäsche gehabt. An Höschen, die sie im Krankenhaus anziehen konnte, hatten sie nur weiße Baumwollslips auf einem gesonderten Platz gefunden, Nachthemden oder Schlafanzüge natürlich über­haupt nicht, und die T-Shirts waren alle gleich groß. Lucien hatte mal zwei Oberhemden von sich mitgebracht, aber die waren auch nicht besonders groß und weit. Als die drei reinkamen, saß sie natürlich sofort wieder. Sie bewegte ihre Schultern abwechselnd vor und zurück, schaute von einem zum andern und zeigte stärkstes Lachen. Sie schien sich unendlich zu freuen, dass alle schon wieder da waren. Jetzt brauchte auch nicht mehr jeder gemustert zu werden. Wenn sie jemanden einmal wiedererkannt hatte, schien er neu gespei­chert, und sofort zugänglich zu sein.

Entsprechend unserem Spiel heute morgen erklärte ich ihr, wie sie hießen. Zu­nächst Lucien. Als sie an der Reihe war zu zeigen, stieß sie Lucien heftig mit ihrem Finger auf die Brust, und schien diebische Freude daran zu haben, dass sie ihn erschreckt hatte. „Die alte Gaunerin,“ meinte Lucien erstaunt, „das hat sie anscheinend nicht verlernt, ihre Freude daran, mich zu ärgern.“ Bei Camille und Julienne klappte es auch, aber ihre Fingerspitze berührte sie nicht. Es funktionierte auch entfernt mit allen gleichzeitig. Wenn gefragt wurde, wer Alyssia sei, tippte sie auf sich selber und machte dabei ein ganz wichtiges stolzes Gesicht.

Ein Höschen wollte sie nicht anziehen. Ob sie erkannte, wann sie sie getragen hatte, und dass sie jetzt unpassend waren. Die T-Shirts und Luciens Hemden waren als Nachthemdersatz auch unbrauchbar. Wir wollten ihr gleich etwas an­deres kaufen. Julienne bot sich an, schon sofort zu fahren. Ich berichtete den anderen, was ich heute morgen erlebt hatte. „Ah, meine arme chérie.“ wieder­holte Lucien ständig, während er ihr dabei den Arm streichelte. Plötzlich wollte sich Alyssia hinlegen. Sie schaute Lucien an, und reckte ihm ihren Kussmund hin. Wir schauten uns verdutzt an. Anscheinend war Küssen mit Lucien im Lie­gen am besten, oder sie meinte, dass es seine Küsse nur im Liegen gäbe. Ca­mille erklärte, dass sie unbedingt wieder zurück müsse. Die Schule habe schon wieder begonnen, und Christoph habe erklärt, dass sie in Frankreich krank ge­worden sei, und selbst ein Attest für sie ausgestellt. Mir hatte Anja erklärt, ich solle nicht an die Kanzlei denken, und bleiben solange es erforderlich sei, mei­ne Arbeit würden sie schon mit erledigen.

Die von Julienne mitgebrachten Sachen schienen Alyssia sehr zu amüsieren. Sie schien zu wissen, dass sie für sie sein sollten. Alles wurde genau ange­schaut und untersucht. Ein Höschen schien ihr am besten zu gefallen. Sie woll­te es selbst anziehen und machte es auch ganz selbstverständlich. Mit den T-Shirts schien sie nichts zu tun haben zu wollen, möglicherweise hatte sie sofort erkannt, dass sie ihr viel zu groß sein würden. Das einzige Nachthemd, das Ju­lienne halbwegs erträglich erschienen war, bestand aus dunklem Satin, war re­lativ lang, und ließ sich vorne öffnen. Der Stoff schien Alys zu gefallen. Sie be­fühlte ihn immer wieder, aber wofür das Stück gut war, schien ihr rätselhaft. Julienne zog es sich über, befühlte dabei das Nachthemd und verdeutlichte, dass es für Alyssia sei. Sie lachte fortwährend. Als eine Schwester reinkam, bat ich sie, kurz die Verbindungen zu lösen, damit wir ihr das Negligé anziehen könnten. Sie ließ sich das Chrurgiekittelchen abnehmen und das Nachthemd anziehen. Sie streichelte abwechselnd an dem Stoff runter und schaute uns fragend zwischendurch an. Wir bestätigten sie immer wieder, dass wir es und sie ganz toll fänden, und von Lucien gab's noch einen Kuss dazu. Dann war es akzeptiert. Sie strahlte und lupfte mit dem neuen Negligé wieder auf ihre Bett­kante.


Alyssia isst


Inzwischen war es Mittag geworden, und das Essen wurde gebracht. Die Schwester meinte, normalerweise würden sie zum Essen das Bett anliften, und ihr dann helfen, aber das meiste wolle sie alleine machen, und könne es ja auch ganz gut, nur das Messer ignoriere sie prinzipiell. Da sie jetzt schon mal sitze, könne sie ja auch gleich im Sitzen essen. Und tatsächlich sie machte al­les selbstverständlich wie immer, nur das Schnitzel spießte sie mit der Gabel auf, und biss davon ab. Zwischendurch strahlte sie uns immer mal kurz zufrie­den an, und aß weiter. Sie ließe sich auch füttern, meinte die Schwester, das sei kein Problem, nur an der Haut berühren dürfe man sie nicht, dann schaue sie sie erbost an, und brauche einige Zeit, bis sie sich wieder beruhigt habe. Als ob man sie mit feurigen Tentakeln berührt hätte.

Ich fragte die Schwester, ob sie denn alles essen dürfe, und wir ihr auch mal etwas mitbringen könnten. Ja selbstverständlich, meinte die Schwester, ihre Verdauung und ihr Stoffwechselprozess seien ja in keiner Weise beeinträchtigt. Sie bekomme ja hier auch das normale Essen, und keine irgendwie gesonderte Bedingungen, nur dass man ihr helfe, da sie ja halb liege.

Dazu mussten wir sie jetzt in ihrer neuen Bekleidung wieder bewegen. Lucien war dafür zu ständig. Bei ihm ging's ja am einfachsten. Sie legte sich auch so­fort hin. Nach dem Essen und in unserer Umgebung viel es möglicherweise be­sonders leicht. Wir redeten noch ein wenig, und kurz darauf war Alyssia einge­schlafen. Heute war es sicher ein ganz besonders anstrengender Vormittag ge­wesen.

Wir überlegten, was Alyssia denn besonders gern gegessen habe. Uns fiel nichts ein. Sie hatte Vorlieben für Speisen beim Essen, für Käse und Weine, aber zu Süßigkeiten, Snacks und Pralinees, die man mitbringen konnte, hatte sie keinen Bezug. „Doch!“ meinte Camille plötzlich, „Ich hatte mal Nougat de Montelimar. Den hat sie mir völlig weggefuttert, und wollte genau wissen, was das war und wo der herkam.“ „Stimmt.“ bestätigte Julienne, „den mochte sie sehr gern, und hatte auch öfter welchen zu Haus.“ Also wussten wir ja schon mal etwas. Käse konnten wir ihr ja auch mal mitbringen. Im Krankenhaus gab es zwar auch Käse, aber immer nur 'Babybel' oder 'La vache qui rit', den sie zwar verputzte, der aber sicher nicht ihrem früheren 'goût raffiné' entsprach. Nur hier hatte sie vieles geliebt, und zwar hauptsächlich abhängig vom Wein, aber Cantal und Saint-Nectaire hätten sie immer zu Haus haben müssen, und meistens auch einen Pont-l’Évêque oder Pave d`Affinois für den l'Hermitage Wein, wusste Julienne.

Wir wollten noch einkaufen, und Camille hatte für den Nachmittag noch einen Platz im Flieger kommen. Sie wollte den Flug natürlich unbedingt selbst bezah­len, aber ich blieb hart.


Donnerstag neue Überraschung


Am Donnerstag war ich schon um 7:30 Uhr in der Klinik. Ich glaubte zwar nicht, dass sich die Vorfälle von gestern wiederholen würden, aber ich war mir ja jetzt nicht mehr sicher. Alys frühstückte gerade im Sitzen. Sie machten das jetzt immer so, da sie sich ja hinterher wieder brav hinlege, erklärte die Schwester. Ich sagte ihr, dass wir gestern auf die Idee gekommen seien, ihr Käse mitzubringen, weil sie daran immer sehr interessiert gewesen sei. „Ja, versuchen sie doch mal,“ meinte die Schwester. Alyssia machte große Augen, als ich ihr den ganzen Saint-Nectaire auf den Teller legte. Sie nahm ihn in die Hand, roch daran und lächelte mich an. Sie legte den Käse wieder hin, und sto­cherte mit der Gabel darin herum. „Nein, dazu musst du schon das Messer nehmen,“ erklärte ich, und gab es ihr in die Hand. Wie selbstverständlich, schnitt sie sich ein Stückchen heraus, und steckte es in den Mund. Sie ließ es sich im Mund zergehen, und strahlte dabei abwechselnd die Schwester und mich an. Sie aß also nicht nur aus Hunger, sondern schien auch ihr Geschmackssensorium unbeschadet behalten zu haben. Alys wollte sich ein weiteres Stück Käse abschneiden. Ich stoppte sie, und zeigte ihr die anderen Käse, die ich mitgebracht hatte. Sie untersuchte und beroch sie ausführlich, dann streckte sie mir anschließend wieder ihr strahlendes Gesicht mit den halb zugekniffenen Augen entgegen. Es schien wohl der Ausdruck für eine besondere Art von Freude zu sein. Sie musste sie natürlich alle probieren, und hätte wohl permanent weiter gegessen, wenn ich ihr nicht die Montelimars gezeigt hätte. Wir hatten den Nougat in die Dose gelegt, von der Julienne wusste, dass sie ihn darin immer aufbewahrte. Sie schien sie sofort wiederzuerkennen, aber bevor Alys sie öffnete, schaute sie mich mit großen Augen fragend an, als ob sie gar nicht fassen könne, wo ich so etwas her habe. Dann wurde natürlich trotz Käse gleich eins probiert und sie strahlte. Sie nahm ein weiteres raus und hielt es mir hin, und auch die Schwester bekam eins. Die Schwester meinte, sie freue sich ja so über den Käse, sie könnten ihn gut in einem Kühlschrank aufbewahren, und ihr zum Essen etwas davon geben. Der tägliche 'Vache qui rit' oder 'Babybel' müsse ja eine Qual für sie sein. Ich hatte das Empfinden, heute auf einer anderen Station zu sein. Wir bewegten Alyssia, sich wieder hinzulegen, was sie auch brav tat, aber ihre Nougatdose wollte sie nicht abgeben. Als wenn sie sagen wollte, das ist meine, hielt sie sie fest an ihre Brust gepresst.

Die Ärztin hatte heute wieder Dienst. Sie entschuldigte sich für die Vorfälle von gestern. Sie könne ihren Kollegen nicht verstehen. Sie habe ihn in der Bespre­chung beschimpft. Er habe die soziale Sensibilität eines Ochsen. Der Professor habe angeordnet, dafür zu sorgen, das so etwas nicht mehr vorkomme, und ich keinen Grund zu klagen habe. Alyssia habe ja so unendliches Glück. Sie habe nicht nur überlebt, sondern sei in vielem so fit, so gut gelaunt und so ausgeglichen. Es sei für sie ein zweites Wunder. Ich müsse dem Himmel oder sonst wem dankbar sein, Ärzte könnten so etwas nicht bewirken. Ihre Tochter habe geweint, als sie ihr von Alyssia erzählt habe, aber sie freue sich jedes mal, wenn sie zu ihr ins Zimmer gehe.

Ich setzte mich zu Alyssia und erzählte ihr alles Mögliche. Wenn ich einen Na­men der drei anderen, die sie besucht hatten, erwähnte, machte sie große Au­gen, als ob sie fragen wollte, „Wo ist die oder der?“ Wenn ich dann sagt: „Luci­en wird kommen, oder Julienne wird kommen.“ strahlte sie, als ob sie mich verstanden hätte. Möglicherweise hatte sie ja die Wörter 'venir' oder 'viendrait' für sich schon neu aufgefasst, ohne dass man es ihr extra erklärt hatte und verband etwas damit. Das wäre natürlich ganz toll, wenn sie aus Sprachzusam­menhängen einfach etwas behielte und es weiter nutzen könnte. Das musste ich doch irgendwie testen. Ich fragte sie: „Alyssia musst du mal zur Toilette?“. Tatsächlich, sie sprang auf und fasste sich zwischen die Beine. Sie hatte es verstanden, obwohl ich ihr das Wort nie ausdrücklich erklärt hatte, sondern es nur im allgemeinen Gespräch in diesem Zusammenhang häufiger vorgekommen war. „Alyssia, ich liebe dich. Du bist toll meine Süße, wie im­mer.“ Ich erklärte ihr, dass ich schnell Frau Mercier holen müsse und „Je revi­endrai tout de suite.“ Sie schien es zu verstehen, keinerlei ängstliche oder pro­testierende Reaktion, als ich raus ging. Überglücklich berichtete ich Frau Mer­cier davon, dass sie selbständig neu verstehen lerne. Ich dämliche Kuh hatte gestern versucht ihr zu erklären, dass wir Namen hätten, und gemeint sie ihr einzupauken zu müssen. Sie hatte sie bestimmt schon längst mitbekommen und gewusst, wer gemeint war. Als ich sie auf dem Flur fragte, ob sie es mal 'tout seul' probieren wolle, griff sie sofort nach meiner Hand. Sie hatte es also auch verstanden. „Was verstehst du nur schon wieder alles, meine Liebe, ich bin begeistert.“ Als sie 'Liebe' hörte machte sie einen Kussmund. Wir standen auf dem Flur, umarmten und küssten uns. Mir kamen vor Freude und Rührung die Tränen. Sie war gar nicht mehr die kleine verwirrte Frau, die nichts verstand, wie sie am Dienstag aus dem Koma gekommen war. Sie hatte in den zwei Tagen schon eigenständig vieles neu verstehen gelernt, einfach so aus den Sprachzusammenhängen. Ich konnte es gar nicht fassen. Ich musste es Frau Mercier noch mal mitteilen, als sie sie wieder anschloss. „Alyssia scheint allem, was sie hört, von sich aus neu Bedeutungen zuzuordnen. Sie wird vieles verstehen, wenn es nicht abstrakt oder für sie unsichtbar ist. Mir ist es nur zufällig aufgefallen, weil sie etwas zu verstehen schien, das ihr nie jemand erklärt hatte. Ich bin fasziniert.“ „Wieder eine neue Facette des Wunders. Frau Stein, sie und Alyssia scheinen jeden Tag neu beschenkt zu werden. Ich werde den Kolleginnen mitteilen, dass sie viel mit ihr sprechen sollen, und dass sie schon viel mehr versteht, als wir annehmen. Ich freue mich für sie und Alyssia.“ erklärte Frau Mercier.

Ich war so happy und rief Lucien an. Nachdem ich ihm kurz erklärt hatte, worum es sich handelte, forderte ich ihn auf, selbst mit Alyssia zu sprechen. Ich gab ihr das Telefon und hielt es ihr ans Ohr. Ihre großen Augen wurden gar nicht wieder normal. Das Handy hielt sie ans Ohr gepresst und bewegte sich nicht. Was Lucien ihr wohl erzählte? Ich wollte mal wieder mit ihm sprechen, aber Alys gab das Telefon nicht ab. Plötzlich nahm sie es vom Ohr, schaute es sich an, hielt es wieder ans Ohr, schaute es sich wieder an, und gab es mir zu­rück. Ich rief Lucien wieder an, er habe ja nie eine Reaktion gehört. Er habe sie aufgefordert, es mir zu geben, aber das sei ja anscheinend nicht erfolgt. Ich erklärte ihm, dass Alys total fasziniert gewesen sei, und auch jetzt schon wie­der den Arm ausstrecke. Wir könnten das mit dem Abgeben noch mal versu­chen, verstehen würde sie es bestimmt. Ich erklärte Alys, das sie mir das Tele­fon geben müsse, wenn Lucien es sage. Sie bekäme es zurück. Sonst mache Lucien 'fini'. Jetzt gab es keine großen Augen mehr. Anscheinend war es schon ganz selbstverständlich. Alyssia strahlte nur fortwährend. Tatsächlich hielt sie mir plötzlich das Handy hin. Ich berichtete Lucien, dass sie sich die ganze Zeit unentwegt freue und fragte, ob Julienne auch in der Nähe sei. Er wollte zu ihr gehen. Ich gab Alyssia das Handy zurück. Sie strahlte. Plötzlich wurden ihre Augen wieder ganz groß. Jetzt war offensichtlich Julienne ans Telefon gegan­gen. Was Julienne ihr wohle erzählte. Sie schien etwas zu verstehen, denn sie verzog ihr Gesicht wieder zu dem Grinsen mit halb zugekniffenen Augen. Plötz­lich hielt sie mir das Telefon wieder hin. Freude schien ihr das nicht zu machen, aber sie schien begriffen zu haben, dass sie dem folgen müsse. Ich erklärte Ju­lienne, was sich hier abgespielt habe, sie verstehe wahrscheinlich bereits vie­les. Von dem, was sie ihr gerade erzählt habe, hätte sie auch bestimmt einiges verstanden. Alyssia fände es ganz toll, sie zu hören, sie habe mir das Telefon nur ungern abgegeben. Julienne wollte ihr noch etwas erzählen. Alyssia mach­te immer unterschiedliche Gesichter und schlängelte mir ihrem Oberkörper. Sie schien sich mächtig zu freuen. Dann bekam ich das Handy zurück. Julienne meinte, sie wisse gar nicht mehr, was sie erzählen solle. Es sei ja auch schwie­rig, wenn man keinerlei Reaktion zu spüren bekomme. Ich meinte, sie solle sich doch verabschieden und ihr mitteilen, das sie gleich kämen. Das würde sie auf jeden Fall verstehen.

Alys war nicht enttäuscht oder erstaunt, das Julienne nicht mehr da war. Sie schien es verstanden zu haben und gab mir gut gelaunt das Handy zurück. Später wollte ich Camille noch anrufen. Das musste ich ihr doch unbedingt be­richten.

Als Lucien und Julienne kamen, hatten sie noch weiteren Käse, ihr i-Phon und ihre Kamera mitgebracht. Alys freute sich mächtig und musste Lucien wieder umarmend küssend begrüßen. Für Julienne war das immer ein wenig deprimie­rend. Ich versuchte sie zu trösten. Es sei nur die Berührung, am Telefon habe sie sich über sie genauso gefreut, wenn nicht sogar noch mehr. Alyssia hatte jetzt seit fast 8:15 Uhr nicht mehr gelegen, und jetzt war es schon 11:30 Uhr. Das war zwar eigentlich überhaupt nicht richtig, aber heute war ja auch ein be­sonderer Tag. Vorm Essen noch mal Käse probieren? Warum nicht. Die gleiche Reaktion, wie heute morgen. Sie schien sie alle zu erkennen. Für drei Sorten schien sie Julienne verantwortlich zu machen, während für den Fourme d’Am­bert Lucien angelacht wurde. Sie konnte jetzt die ganze Station mit Käse ver­sorgen.

Bei dem i-Phon war ich skeptisch. Wenn sie selber anrufen könne, würde sie das wahrscheinlich ständig versuchen, und man höre ja nichts als Angerufener. Wir wollten es ihr nur mal hier demonstrieren, wie das funktionierte. Julienne rief sie an. Sie hielt sich das i-Phon auch ans Ohr, aber machte ein Gesicht, als wenn sie sagen wollte: „Was soll denn der Quatsch. Das weiß ich doch längst. Jetzt ist sie doch hier. Warum sollen wir denn telefonieren?“. Wir lachten über unsere eigene Schusseligkeit. Lucien wollte noch Fotos machen. Jeder sollte einmal mit Alyssia in ihrem tief dunkelblau glänzenden Negligé abgelichtet werden. Lucien wollte sie bis morgen mit anderen abgezogen haben.

Beim Mittagessen hatte sie statt 'Vache qui rit' jetzt eine kleine Käseplatte. Die Schwester erklärte, was sich im Einzelnen auf dem Teller befinde. Alys hörte aufmerksam zu. Als die Schwester schloss: „… und das ist ein wenig von dem Käse, den deine Mamon dir heute morgen mitgebracht hat.“ strahlte sie mich an. Die Schwester wünschte ihr guten Appetit, und Alyssia begann zu essen. Sie hatte alles verputzt, auch den ganzen Käse. Vom langsamen genussvollen Essen in Frankreich, schien sie nicht viel behalten zu haben. Sie machte einen Gesichtsausdruck, als ob sie richtig erschöpft sei vom Essen. Alys zeigte, dass sie zur Toilette müsse. Ich rief die Schwester, die gerade den Raum verlassen hatte zurück, und empfahl Alys, doch mal mit Julienne zur Toilette zu gehen. Sie zeigte auf Lucien. „Nein, nein,“ erklärte ich „zur Toilette geht man nur mit einer Frau, nicht mit einem Mann.“ Sie schien es kapiert zu haben, stand auf und ging zur Tür. Dort drehte sie sich um, schaute Julienne an, als ob sie sa­gen wollte: „Nun komm schon endlich.“ Julienne berichtete sie mache alles selbständig einwandfrei. Zwischendurch habe sie sie immer mal angelacht. Nachdem die Schwester sie wieder angeschlossen hatte, legte Alys sich sofort hin, und schlief ein.

Das war ja ein Morgen. Ich war mir nicht sicher, ob es nicht besser sei, sie heute Nachmittag ganz in Ruhe zu lassen. Andererseits schien Alyssia ja auch immer viel zu lernen, wenn man sich mit ihr unterhielt, und die Freude, mit Camille zu telefonieren, wollte ich ihr auch nicht vorenthalten. Aber ich brauch­te jetzt selber erst mal eine kleine Pause. Dann rief ich Camille an und berich­tete überglücklich, was ich heute morgen erlebt hatte. Sie würde sehr vieles von dem, was seit Dienstag gesagt worden sei, verstehen und es sei ihr neues Faible, sich von anderen am Telefon etwas erzählen zu lassen. Alyssia würde sich bestimmt sehr freuen, wenn Camille mit ihr sprechen würde. Sie müsse sie nur zwischendurch mal auffordern, mir das Telefon zu geben. Alys lag im Bett als ich am Spätnachmittag reinkam, und blieb auch liegen. Anscheinend hatte sie begriffen, dass sie liegen bleiben sollte, und auch keine Angst mehr vor unerwünschten Zudringlichkeiten aus unübersichtlichen Winkeln haben musste. Ich setzte mich zu ihr aufs Bett, und erklärte ihr, ich hätte überlegt, ob sie nicht mal Lust hätte mit Camille zu telefonieren. Ihre Mimik verriet mir, dass sie mich verstanden hatte. Ich holte mein Handy raus, und wählte Camil­les Nummer. Alyssia verfolgte alles gespannt mit großen Augen. Als ich sagte: „Ich geb' dir jetzt mal Alyssia.“ strecke sie mir ihre Hand entgegen. Als sie Ca­milles Stimme hörte wiegt sie ihren Kopf mit dem strahlenden Gesicht vor Freude hin und her. Dann verschwand auf einmal das Lachen und sie schien aufmerksam zuzuhören, was Camille ihr sagte. Dann lachte sie wieder und gab mir das Handy. „Camille, was hast du ihr erzählt, sie hat dir sehr angeregt zu­gehört, als ob sie alles verstehen würde.“ Sie habe versucht etwas zu wieder­holen, was bei ihr gesagt worden sei, z. B. das sie sie zuletzt in ihrem wunder­hübschen Negligé gesehen habe, das sie eine sehr schöne Frau sei, und dass sie gehört hätte, ihre Mamon habe ihr heute morgen Käse mitgebracht etc.. „Erzähl ihr noch ein wenig. Sie freut sich riesig. Und wenn du dich verabschie­dest, und sagst, dass du bald wieder mit ihr telefonierst, wird sie dich verste­hen, und es wird gut sein. Danke Camille“ sagte ich ins Handy und reichte es wieder Alyssia. Die hörte wieder grinsend zu, strahlte noch einmal und reichte mir das Telefon zurück. Sie schien genau verstanden zu haben, was Camille ihr gesagt hatte. Wenn ich sie fragte, ob Camille dieses oder jenes gesagt habe, grinste sie immer, wenn es zutraf, wenn nicht machte sie ein ratloses Gesicht.

„Alyssia deine Mamon liebt dich über alle Maßen. Du musst ganz schnell wieder gesund werden. Ich kann es gar nicht erwarten, dass du wieder nach Hause kommen kannst. Vielleicht erkennst du ja noch vieles wieder, wie deine Nou­gatdose, die hast du ja auch sofort erkannt.“ da hatte ich etwas gesagt. Nou­gatdose, wo war die. Aufgeregt suchten ihre Augen. Als ich sie ihr auf dem Nachtisch zeigte, war die Welt wieder in Ordnung. „Wir werden immer franzö­sisch mit dir sprechen müssen,“ redete ich weiter mit ihr, „damit wir dich nicht verwirren. Dann hat die deutsche Madame Ruth Stein plötzlich eine französi­sche Tochter, Mademoiselle Alyssia Stein“ Sie schaute mich fragend mit großen Augen an. „Ja, ja, so ist das,“ ich machte es nochmal wie gestern, „du bist Mademoiselle Alyssia Stein und ich bin Madame Ruth Stein, deine Mamon.“ Beim zweiten mal schien sie es internalisiert zu haben, wer Madame und Made­moiselle waren. Sie strahlte. Wie schnell sie es verstanden hatte, bislang hat­ten alle immer nur einen Namen, außer Madame Stein, das hatte sie sicher schon öfter gehört. Sollte ich ihr das von den anderen auch erklären? Wäre das zu viel und würde es sie verwirren, oder würde es ihr die Struktur noch besser verdeutlichen. Ich wollte es einfach mal versuchen. Ich sagte ihr die vollständi­gen Namen vor: „Mademoiselle Julienne Carriere“ Alys stutzte, als ob sie in ih­rem Kopf etwas suche. Hatte sie das schon mal gehört, kam ihr das irgendwie bekannt vor? Ich bestätigte nochmal: „Ja so heißt deine Freundin, Mademoi­selle Julienne Carriere.“ Es war in Ordnung. Sie strahlte. Genauso verlief es bei Camille. Als ich „Monsieur Lucien Renouard“ sagte zögerte sie nicht sondern machte sofort ihr Katzengesicht. Was war das? Brauchte sie bei Lucien gar nicht nachzudenken. War ihr Renourd geläufig, und Monsieur? Ja, das hatte sie hier ja schon häufig und intensiv gehört, und es wohl selbstverständlich den Männern zugeordnet.

Alys hielt ihre Hand ans Ohr und zeigte auf meine Tasche. Die Erwähnung von Lucien hatte wohl in ihr den Wunsch geweckt, ihn am Telefon zu hören. Ich konnte es ja versuchen, vielleicht machte Lucien es nochmal. Selbstverständ­lich, er fragte, ob er noch vorbei kommen sollte. „Natürlich, wenn du möchtest, Alys wird sich riesig freuen. Sag es ihr zum Schluss beim Telefonieren. Sie wird es verstehen.“ antwortete ich ihm. Alys schien es richtig zu genießen, Lucien zuzuhören. Ihre Augen hatte sie halb geschlossen und abwechselnd bewegte sie ihre Schultern, während sie seiner Stimme lauschte. Als sie mir das Telefon reichte, hatte sie einen sinnlich verklärten Gesichtsausdruck, als ob sie gerade ein großes Erlebnis gehabt habe. Was in ihr wohl vorging? Was Lucien wohl für sie bedeutete. Als er reinkam sprang sie natürlich sofort aus dem Bett. Bei Lu­cien war das eben so. Da konnte man nicht auch mal ruhig liegen bleiben, wie bei der Mamon. Lucien musste stehend umarmt, und intensiv geküsst werden, jedes mal, als ob sie ihn seit langer Zeit wieder zum ersten mal sehe. Was soll­te das nur in Zukunft werden. Lucien würde ja so nicht mit ihr weiter leben wollen, können und sollen. Es stimmte mich ein wenig traurig, wenn ich sie jetzt so glücklich sah. Aber was sollte ich mir jetzt schwere Gedanken machen, für die Zukunft war ja sowieso alles noch offen. Sie lag ja noch auf der Inten­sivstation. Morgen früh hatte ich ein Gespräch mit dem Professor. Da würde ich vielleicht Weiteres erfahren. Lucien erklärte Alyssia, er würde sie gern im Liegen küssen, dann sei es am schönsten. Sofort legte sie sich hin und erwar­tete ihren küssenden Lover. Nach einer kurzen Kusssession kam auch schon das Abendessen. Das schien Alys noch wichtiger als Küssen zu sein. Wieder bekam sie alles erklärt. Ich meinte, sie solle nicht so schnell essen, sondern langsam genießen, und gestikulierte es ihr vor. Sie nahm den ersten Bissen in den Mund, schaute mich fragend an und bewegte ganz langsam ihren Unter­kiefer. Ja, lobte ich, das sei korrekt. Es schien sie total zu amüsieren. Sie warf lachend ihren Kopf zurück. Beim zweiten Bissen wieder das gleiche, nur strahl­te sie jetzt einfach so. Beim dritten Bissen schaute sie nur nochmal kurz zu mir auf, und lachte auch nicht mehr anschließend, kaute aber ständig weiter langsam. Als ich sagte: „Mademoiselle Alyssia Stein, sie sind eine wunderbare Frau.“ schaute sie nochmal auf und lachte, als ob sie sich für das Kompliment bedanken wolle. Ich überlegte, ob wir uns schon jetzt verabschieden sollten, oder ob ich vielleicht anschließend mit ihr nochmal zur Toilette gehen sollte. Wir warteten. So dauerte das Essen natürlich wesentlich länger, aber es schien ihr selber auch zu gefallen. Beim Käse, meinte die Schwester, würde sie sich jetzt nicht mehr auskennen, es seien zu viele. Das wisse Alyssia selber schon, welchen Käse sie gerade äße. Wir wollten es der Schwester mal demonstrieren. „Schmeckt der Fourme d'Ambert gut?“ fragte ich Alys, als sie gerade an einem Stückchen Saint-Nectaire kaute. Sie schaute mich entgeistert an, als ob sie sa­gen wollte: „Was soll das denn heißen?“ und nahm das Fourme d'Ambert Stückchen demonstrativ hoch. „Incroyable, absolument incroyable!“ meinte die Schwester nur. Als ich die Schwester fragte, ob ich eventuell noch mal mit Alys zur Toilette gehen solle, hatte sie es schon mitbekommen und legte die Hand auf ihre Venus. Ich fragte die Schwester, ob sie vielleicht mal mit ihr gehen wolle. Sie brauche nichts zu tun, Alys mache alles selbstständig. Ich erklärte es Alys. Dann die gleiche Reaktion wie bei Julienne, allein bis zur Tür, und dann der Blick zur Schwester: „Komm schon. Wo bleibst du denn?“ „Excellent, merveilleux,“ meinte die Schwester bewundernd. „Und reden sie sie mit Mademoiselle Stein an,“ gab ich der Schwester noch einen guten Tip, „sie wird es verstehen.“ Die Schwester würde bestimmt verbreiten, was sie erlebt hatte. Es würde Alyssia sicher gut tun, wenn man in ihr nicht primär die defizitär Kranke sähe, sondern positive Aspekte bewundert würden. Für Alys gab's noch Gute-Nacht-Küsse und das Versprechen, morgen wieder zu kommen. Alles war in Ordnung.


Freitag Neues vom Professor


„Entschuldigen sie, Madame Stein, das hätte nicht passieren dürfen.“ empfing mich der Professor. Deswegen hatte ich zwar den Termin, aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht mehr reden. Wenn Alys es auch sicher nicht vergessen hatte, aber sie hatte es ja offensichtlich ohne Schaden verkraftet. Sie war ja allen gegenüber zutraulicher als je zu vor. Ich wollte vom Professor wissen, was werden würde. Am Mittwoch würden sie Untersuchungen beabsichtigen. Sie würden versuchen alles so schnell wie möglich hintereinander zu machen, und Alyssia dazu in einen leichten Dämmerschlaf versetzen, sprich eine ganz oberflächliche Narkose. Sie brauche ja nicht tief betäubt zu sein, sondern nur zu schlafen, damit sie zum Beispiel auf die Schienen von den PET und MRT Ge­räten gelegt werden könne und dort auch liegen bleibe. Anschließend wisse man dann auch mehr über ihr Gehirn. Wenn grundsätzlich strukturell alles in Ordnung sei, könne sie dann auf eine normale Station, auf der man dann die Rehabilitationsmaßnahmen anbahne. Sie beabsichtigten am Mittwoch auch, ih­ren Verband zu wechseln, und wenn alles so sei, wie sie erwarteten, bekäme sie nur noch einen großen Pflasterverband. Das hörte sich ja prinzipiell ganz positiv an. Ich wollte nur noch wissen, wie ich denn von den Untersuchungser­gebnissen erfahre, und was er sich denn unter Rehabilitation vorstelle. Die Un­tersuchungsergebnisse müsse er oder ein Kollege mir erläutern, sonst könne ich da nichts mit anfangen. Bei den Reha-Maßnahmen sei er allerdings auch noch ziemlich ratlos. Was man machen könne, wenn Alyssia nichts verstehe, und sich Fremden gegenüber abweisend verhalte, dazu habe er auch keine Vorstellung. Wie viel sie mittlerweile verstehe und wie schnell sie lerne, wollte ich ihm gar nicht verraten. „Wozu muss sie denn dann unbedingt im Kranken­haus bleiben, wenn man doch nichts tun kann?“ fragte ich den Professor. Der machte ein fragendes Gesicht, als ob er überlegen würde: „Ja warum eigent­lich?“, dann meinte er: „Sie ist noch nicht gesund. Die Wunden sind zwar zuge­wachsen, aber noch nicht endgültig verheilt. Das dauert länger als drei Wo­chen. Sie braucht viel Ruhe und Schonung.“ „Und was tun sie sonst noch dar­an? Und warum kann das nicht in Hamburg geschehen?“ wollte ich wissen. Er schien ganz perplex zu sein. „Wissen sie was,“ schlug ich ihm vor, „ich telefo­niere mit der Neurochirurgie in der Uni-Hamburg und sie schicken eine Kopie von Alyssias Akte dort hin. Und wenn am Mittwoch alles in Ordnung ist, bringe ich sie nach Hamburg.“ Der Professor schaute skeptisch. „Wie wollen sie ihre Tochter denn nach Hamburg bekommen? Sie kann auf keinen Fall mit üblichen Verkehrsmitteln reisen.“ wandte der Professor noch ein, aber grundsätzlich schien er es ja schon akzeptiert zu haben. „Selbstverständlich nicht, sie wird mit einem Krankentransport vom Automobilclub geflogen.“ behauptete ich einfach. Der Professor überlegte. „Madame Stein,“ sagte er dann, „ich mag sie und ihre Tochter natürlich besonders. Ich tue etwas ganz Ungewöhnliches, weil ich mir sicher bin, dass sie verantwortungsvoll handeln werden. Wenn Mittwoch alles unbedenklich ist, werde ich ihnen Donnerstagmorgen um diese Zeit die Untersuchungsergebnisse erläutern, und ihnen grünes Licht geben. Entspricht das so ihren Vorstellungen?“ Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen. Ich lobte ihn und bedankte mich bei ihm, so überschwänglich ich konnte. Den ersten Teil ihres Lebens habe meine Tochter mir zu verdanken, aber den zweiten ihm. Ich würde das nie vergessen können, und meine Tochter würde mich immer an ihn erinnern. Er sei ein wirklicher Held. Der Professor lächelte leicht verlegen, und erinnerte bei der Verabschiedung nochmal: „Also Mittwoch Untersuchung und Donnerstag um die gleiche Urzeit.“

Ich konnte es noch gar nicht realisieren. In weniger als einer Woche würde Alyssia zu Hause sein. Dass sich bei den Untersuchungen auch etwas Negatives herausstellen könnte, ließ ich einfach nicht zu. Sechs Tage müsste sie noch hier bleiben und am siebten ging es nach Hause. Ich kam vor Freude auf so al­berne Gedanken, dass sie in der Zeit ja gar nicht den ganzen Käse aufessen könnte. Aber was geschah dann eigentlich mit Julienne und vor allem Lucien. Sie hatten die ganze Zeit nur mit Alyssia verbracht. Um sie gebangt, auf ihr Wachwerden gewartet, ihre Fortschritte gefeiert, und ich würde sie ihnen ein­fach wegnehmen. Was konnte ich da nur tun? Ich musste mir etwas einfallen lassen. Aber ich musste ja auch alles andere organisieren, mit der Uni Ham­burg und vor allem mit dem ADAC, wobei ich mir gar nicht sicher war, ob das überhaupt funktionieren würde.

Aber jetzt musste ich erstmal zu Alyssia und es ihr selber erzählen. Obwohl sie wahrscheinlich nichts von dem verstand, strahlte sie immer. Bestimmt weil ich so freudig erzählte, musste es bestimmt etwas besonders Lustiges oder Schö­nes sein. Ich wusste gar nicht wo ich mit meiner Freude bleiben sollte. Ich musste mir etwas für Lucien überlegen. Er würde sicher bald kommen. Ich würde Lucien und Julienne bitten, ob sie nicht auch erst mal mit nach Hamburg kommen könnten, es seien ja noch Semesterferien, und eine abrupte Trennung bei gleichzeitigem Leben in einer für sie völlig neuen Umgebung, könnte für Alyssia doch sehr schwer werden. Außerdem könnten sie ja auch eine ganze Menge Sachen zum Anziehen mitbringen, sonst müsste ich in Hamburg alles neu kaufen. Stimmte ja alles, fände ich selber auch sehr gut. Als Lucien kam berichtete ich ihm, was ich heute morgen erfahren hatte und wie ich mir das Weitere vorstelle. Kurzes Nachdenken und er war einverstanden. Als wir mit­tags nach Hause kamen, und ich es Julienne erzählte, war die ganz enttäuscht. „Warum bleibt sie nicht bei uns?“ fragte Julienne, „sie ist doch ganz fit, und hier ist doch ihr Zuhause und nicht mehr in Hamburg. Sie wird sich hier mit Si­cherheit wohl fühlen.“ Ich konnte Julienns Argumente nicht einfach verwerfen. „Im Moment hast du sicherlich Recht, ich versteh dich auch sehr gut, und finde deine Aufopferungsbereitschaft für Alyssia wunderbar. Aber während des Se­mesters, wie willst du es denn da machen. Du wirst sie ja nicht allein lassen können. Auch wenn sie nicht vorsätzlich etwas anstellt, niemand weiß, was sie wirklich durchblickt, und auf welche Ideen sie vielleicht kommen wird. Hier bleiben kann sie nur, wenn du dein Studium aufgibst, und das ist sicher das letzte, was Alyssia gewollt hätte.“ Julienne war nachdenklich geworden und fing an zu weinen. „Ich bin einfach total abhängig von Alys, so viel Liebe und Verständnis, wie von ihr, habe ich noch nie von jemandem erhalten. Ich will nicht ohne sie leben, und so wie sie jetzt ist, wär's total o. k. für mich, auch wenn sie mich nicht mehr anfasst, stört mich nicht. Dass sie nicht mehr sprechen kann und das meiste vergessen hat, ändert meiner Ansicht nach nichts daran, dass sie im Grunde die alte Hexe, die ich so liebe, geblieben ist. Ich hatte mich gefreut, dass sie uns erhalten geblieben ist, und jetzt soll sie nach Hamburg.“ Ich sollte besser nicht mehr argumentieren. Julienne war einfach ganz tief traurig. Man konnte sie nur zu trösten versuchen.

Beim Abendbrot wirkte Julienne schon wieder gefasster. Ich meinte, ich fände es ziemlich blöd, wir würden uns schon so lange kennen, seit drei Wochen sei­en wir wie eine Familie, wir hätten uns alle gegenseitig viel zu verdanken, ich könne es nicht mehr hören, ihre Madame Stein zu sein. Sie sollten mich doch Ruth nennen. Das würde mich sehr freuen. Die beiden hatten zuerst ganz ge­spannt gelauscht, jetzt lächelten sie. Lucien meinte scherzhaft: „Sehr geehrte Madame Stein, so einfach, wie sie sich das vorstellen, kann man das nicht rea­lisieren. Dazu benötigt man einen sehr guten Wein und eine kräftige Umar­mung.“ Warum er den guten Wein, denn noch nicht geholt habe. So wie er rede, habe er ihn wahrscheinlich schon selber getrunken. Schnell in den Keller und neuen holen, solle er. Julienne lachte wieder. Dann wurde die Zeremonie vollzogen.

Lucien ging bald ins Bett und ich unterhielt mich noch mit Julienne. Sie meinte, bei mir würde sie sich auch sehr wohl fühlen, ich sei auch so offen, freundlich und Vertrauen erweckend. Sie könne sich gut vorstellen, warum Alys so sei. Sie habe sicher eine sehr schöne Kindheit gehabt. Und dann erzählte sie von sich, wie grau und trübe alles immer gewesen. Ihre Mutter werde sie sicher ge­liebt haben, aber woran sie das merken sollte, wisse sie bis heute nicht. Sie habe von sich selbst auch immer ein Bild gehabt, dass mit ihr nicht viel los sei, und sie eher zum Schrott der Gesellschaft gehöre. Alyssia habe das alles nicht interessiert, sie habe ihr das ehrliche Gefühl vermittelt, dass sie sie für eine tolle Frau halte, sie möge, und gern mit ihr zusammen sei. Sie sei wie eine le­bende Sonne für sie gewesen, die ihre Nähe und ihr Vertrauen gesucht habe. Die Zeit mit Alyssia sei für sie im Nachhinein betrachtet Glück pur gewesen. Sie sehe ein, das es richtig sei, was ich gesagt habe. Sie solle lieber sehen, wie sie möglichst viel aus ihren tollen Erfahrungen für sich retten könne, anstatt der Zeit nachzutrauern. Aber das könne sie jetzt rational so einfach sagen, wenn sie daran denke, wie sie abends allein am Tisch sitze, kämen ihr schon jetzt wieder die Tränen hoch.

Ich erzählte ihr von meinen Ängsten bei Alyssias Auszug, und was wir getan hätten, damit in uns keine Verlustschmerzen aufkämen. Dass Alyssia die star­ke Frau Julienne nicht verlieren wolle, sei doch klar, auch wenn sie es nicht sa­gen könne. „Aber wie soll ich das denn machen? Wie soll ich das denn bezah­len?“ klagte Julienne. „Hör auf Julienne, so nicht. Du wolltest doch möglichst viel retten. So hätte Alyssia nie gedacht. Sich jammernd die Verhinderungs­gründe vorbeten, macht trübsinnig und krank. Wenn ihr beide euch öfter sehen wollt, lass uns nach Möglichkeiten suchen. Ich stelle mir sowieso vor, dass sie sobald wie möglich euer Haus wiedersehen soll. Ich denke auch wie du, dass hier ihr eigentliches Zuhause war. Und in den Semesterferien könnte sie ja auch mal allein hier bleiben, wenn du wolltest. Abgesehen davon könnte ich ja auch mal etwas bezahlen, wenn's ganz dringlich ist. Es ist ja auch genauso für Alyssia, und allein reisen, wird sie jawohl nicht können.“ zeigte ich ihr einige Möglichkeiten auf. „Es ist für mich sehr ungewohnt dich, Ruth zu nennen, aber ich tue es gern. Mir vorzustellen, dass du nicht nur die relativ entfernte Madame Stein, sondern meine Freundin Ruth wärst, fände ich unbegreiflich toll.“ meinte Julienne. „Das ist doch so, meine liebe Julienne, oder nicht?“ reagierte ich. Jetzt strahlte Julienne, fiel mir um den Hals und wollte gar nicht aufhören mir abwechselnd eine Wange nach der anderen zu küssen. „Ich verstehe nicht, wie es so tolle Menschen wie dich und Alyssia geben kann, und mir noch nie einer begegnet ist. Wahrscheinlich seid ihr die einzigen, und ich habe mal ausnahmsweise das Glück gehabt, euch kennen zu lernen.“ sinnierte Julienne. „Denk nicht so einen Blödsinn und rede nicht so etwas, Julienne.“ entgegnete ich darauf, „Ich bin eine ganz normale Frau mit allen Macken und Alyssia ist manchmal ein bisschen nervig, nur mich hat das nie gestört, sondern eher gefreut.“ Wir redeten weiter bis tief in die Nacht, und meinten eigentlich noch unendlich viel besprechen zu müssen. Ich glaubte, Julienne habe unser Gespräch sehr gut getan und sie brauche mich, aber es war auch hilfreich für uns beide. Unsere Beziehung würde ab jetzt wesentlich enger und vertrauensvoller sein. Wir würden das schon geregelt bekommen mit Alyssia, da sei sie sich eigentlich ganz sicher, hatte sie noch zum Schluss gemeint.


Freitag Fotoprüfung


Das Organisatorische musste jetzt erst geklärt werden. Mit der Neurochirurgie in Hamburg wollte Ralf heute alles so weit wie möglich klären, aber beim ADAC war noch alles offen. Wie ich es mir gedacht hatte. Ich wurde zunächst mal von einem Vorzimmer oder Sachbearbeiter zum nächsten verbunden. Man er­zählte mir, was alles vorgelegt werden müsste, und was ich eigentlich hätte tun müssen. Auf jeden Fall wäre das bis Donnerstag alles gar nicht realisierbar gewesen. Ich wollte mit dem Direktor sprechen. Ob das der Chef war, weiß ich nicht, eventuell ein Subalterner. Den Polizeibericht könne ich ja besorgen und am Donnerstag mitbringen. Ich hätte um das Leben meiner Tochter gebangt, und eine Mutter, die nicht weiß, ob ihr Kind morgen noch leben wird oder nicht, denkt Gott weiß nicht daran, ob sie gegenüber dem ADAC alles richtig gemacht habe. Ich fing wieder an zu weinen, und ließ es am Telefon deutlich verneh­men. Hinterher musste ich lachen. Wieder hatte ich mich mit meinen eigenen theatralischen Schilderungen selbst ins Weinen geredet. Er wolle prüfen, was möglich sei, mehr könne er jetzt nicht versprechen. Das war mir zu wenig. Ich rief Ralf an. Er sollte herausfinden, wer der Chef vom ADAC in Hamburg sei. Nach einiger Zeit rief Ralf zurück und meinte, das sei alles ganz kompliziert, in Hamburg sitze nur ein ehrenamtliches Mitglied im Verwaltungsrat, und der meine, das würde die Geschäftsführung in völliger Eigenregie entscheiden. Die würden sich seine Einmischung strickt verbeten. Er habe einen ganz guten Draht zum Präsidenten, aber ob der sich mit Einzelfällen abgeben würde, sei höchst fraglich. Die einzige Chance sei eben der für Luftrettung und Flugdienste zuständige Herr Weßling in der Geschäftsführung. Den wollte ich heute kurz vor Mittag anrufen. Um nicht die Chance auszulassen, dass der Hamburger Vertreter doch noch erfolgreich aktiv geworden sein sollte. So war es dann auch. Herr Weßling meinte, ich schiene ja hervorragende Beziehungen zu haben. „Herr Weßling, das interessiert mich jetzt überhaupt nicht. Ich bin nur in meiner ausweglosen Situation von Sachbearbeitern mit unerfüllbaren Bedingungen konfrontiert worden, die teilweise in der Vergangenheit lagen.“ erklärte ich ihm und schilderte ihm kurz die Situation von Alyssia. Er würde mir gerne helfen und sich auch in Zweifelsfällen für mich entscheiden, aber sich völlig über die rechtlichen Voraussetzungen hinwegsetzen, könne er auch nicht. Das Wenigste sei, dass eine Bescheinigung irgendeines Arztes vorliege, dass der Krankentransport unbedingt erforderlich sei. „Herr Weßling nicht irgendein Arzt, der Chef der Neurochirurgie in Montpellier hat das schon so angeordnet, ohne ihn würde meine Tochter nicht mehr leben, sonst hätte ich mich gar nicht an sie gewandt. Ich werde das alles auch schriftlich besorgen, und am Donnerstag mitbringen. Nur vorher schicken kann ich das nicht mehr. Und wenn das alles nicht reichen sollte, bezahle ich es auch selber, das sei kein Problem.“ erklärte ich ihm und erzählte von der Firma meines Mannes, die auch mit dem ADAC zusammenarbeite. Dann wurden noch die Details abgeklärt und ich verwies darauf, das bei solchen Fällen wie meiner Tochter natürlich immer aktuell Ereignisse auftreten könnten, die jeden Transport unmöglich machten. Dann solle ich doch am Donnerstagmorgen anrufen, wenn alles o. k. sei. Ein Flugzeug würde bereitstehen, sofort starten können, und sei in circa 3 Stunden am Aéroport Méditerranée. Er gab mir noch die entsprechende Nummer der Flugbereitschaft, und ich bedankte mich bei ihm. Jetzt war ja alles geregelt. Ich war total happy.

Vorher war ich schon sehr glücklich gewesen. Mit Alyssia gab es jeden Tag neue Überraschungen. Als ich zu ihr reinkam, saß sie auf ihrer Bettkante und Julienne und Lucien auf Stühlen davor. Sie waren ganz in Fotos vertieft. „Sie erkennt fast alles wieder.“ verkündete Julienne stolz, „Und zum Klo ist sie mit mir auch schon gewesen.“ Ma très chère Julienne, ich glaube sie war seit heute Nacht für mich eine andere geworden. Ich hatte sie eigentlich immer schon ge­mocht, aber jetzt war es intensiver. Ich fühlte mich in gewisser Weise verant­wortlich für sie. Ich wollte sie beschützen. Vor was? Ich wusste es auch nicht. Ich wusste nur, dass ich mich freuen würde, wenn sie glücklich wäre. Alyssia sah sich tatsächlich alle Fotos sehr genau an, allerdings nur die mit Menschen, die sie eigentlich gut kennen musste. Völlig fremde Gesichter schienen sofort als solche identifiziert, und für unbeachtlich gehalten zu werden. Sie interes­sierte sich für ein Foto von ihrem Haus, wenn Julienne oder sie selbst davor standen, aber ohne Personen schien sie selbst ihr Haus nicht zu interessieren, geschweige denn andere Gebäude und Landschaften. Alys schaute nur einmal kurz zu mir auf, und lachte, als ob sie sagen wollte: „Schau mal, was wir für schöne Sachen machen. Sie war total vertieft in die Bilder. Es schien sie enorm zu interessieren. Bei Freundinnen oder Freunden, die sie kannte, kam jedes mal erst dieser lange Ausgrabungsprozess, und dann das freundliche Strahlen, wenn es ihr gegenwärtig war. Auch Madame Ledoux und Daniel habe sie er­kannt. Bei Daniel habe sie allerdings nicht gelächelt, sondern sie beide ganz ernst fragend angeschaut. Sie kannte also nicht nur die Gesichter, sondern hatte auch zu den Personen noch eine Vorstellung. Ob sie für anderes als Personen keine Erinnerung mehr hatte, oder ob sie auf den zweidimensionalen Fotos nichts erkennen konnte, wussten wir auch nicht. Wir würden es ja später sehen, wenn sie aus dem Krankenhaus käme, ob sie sich dann noch an etwas erinnern würde.

Die Uni-Klinik in Hamburg-Eppendorf brauche unbedingt Unterlagen. Teilte Ralf mir mit. Sie könnten zwar ein Bett frei halten, aber wenn sie gar keine Unterla­gen hätten, seien sie ja völlig hilflos. Ralf gab mir die Adresse und den Namen des Professors. Der habe sich alles notiert und sei informiert. Erst mal in ein Bett der Neurochirurgie in Eppendorf? Was sollte das denn, wenn Alyssia o. k. war? Nein, keinesfalls, das wollte ich nicht. Ich würde am Freitagmorgen mit ihr in die Klinik fahren und ihm die Unterlagen geben. Ich versuchte es einfach mal selber und wurde auch durchgestellt. Nachdem er erfahren hatte, dass ich die Frau des Architekten Stein war, ließ sich alles ermöglichen. Diese verrück­ten Hornochsen! Worum ging es eigentlich, um Reputation oder um meine Tochter. Auch wenn offiziell alles demokratisch geregelt ist, scheinen vielen Menschen emotional Bananenrepublikverhältnisse näher zu liegen. Sie sollen an meine Tochter denken, wenn sie sich ins Zeug legen, und nicht an den Ar­chitekturimpressario, dem fehlt nichts, dem geht’s gut. Der wird noch nicht einmal etwas von ihrer Hilfsbereitschaft erfahren. Ich teilte Ralf noch die Ent­wicklung mit, und das wir am Donnerstag wahrscheinlich wischen 15 und 16 Uhr am Flughafen Fuhlsbüttel abgeholt werden müssten. „Nein, du oder besser Camille, ganz normales Auto, möglichst groß.“ erklärte ich dem verdutzten Ralf noch, der meinte einen Krankenwagen bestellen zu müssen. Jetzt war am Frei­tagmittag schon alles für Donnerstag geklärt.

In Combaillaux überlegten wir, ob Julienne und Lucien nicht schon vorfahren sollten. Am Mittwoch sei Alys sowie nicht ansprechbar und wenn sie schon in Hamburg wären, wenn Alyssia ankäme, das wäre doch toll. Dann würde sie sich bestimmt zu Hause fühlen, auch wenn sie das Gebäude nicht wiedererken­ne. Sie wollten Dienstag alles zusammenpacken und Mittwochmorgen ganz früh losfahren. „Und wenn sich am Donnerstag herausstellt, dass doch nicht al­les in Ordnung ist?“ erkundigt sich Lucien. „Und wenn, und wenn, und wenn? Lucien. Ich kann das nicht hören.“ erklärte ich barsch, „Ich kann mir millionen­fach schlimme Sachen überlegen, und mich davor fürchten. Das will ich nicht. Ich will mich über das freuen können, was ist und was positiv hinzukommt, und das kann ich nicht, wenn ich immer Angst vor möglicherweise bösen Ent­wicklungen habe. Was wir tun, wenn etwas eintrifft, das wir nicht erwartet ha­ben, werden wir dann sehen. Es wird uns schon etwas einfallen.“ „Einverstan­den, Mamon.“ meinte Lucien leicht scherzhaft. Ich entschuldigte mich für mei­ne Philippika, und sogar Julien meinte: „Ja, Lucien, du kannst einem die ganze Laune verderben. Freu' dich lieber auf unseren Trip. Ich möchte nicht neben ei­nem trüben Zweifler sitzend nach Hamburg fahren.“ Ma chère Julienne, sie überraschte mich aufs Neue. War sie es doch, die sonst immer als erste Ängste und Befürchtungen geäußert hatte. Sollte das Gespräch einer Nacht sie völlig verändert haben? Wohl kaum, ich nahm an, dass sie sich einfach wieder sicher fühlte, und dieses angstvolle Zukunftsbild, das sie immer begleitet hatte, nicht mehr vorhanden war, so ähnlich wie bei mir damals bei der Trennung von Alyssia.


Samstag bis Mittwoch


Die 4 Tage bis Mittwoch gingen im Flug vorüber. Alyssia war zum Liebling der Station geworden. Alle wollten mit ihr reden, ihre großen fragenden Augen se­hen, ihr freundliches Lachen erleben, und am liebsten ihr schelmisches Grinsen mit den halb geschlossenen Augen erzeugen. Die Schwestern berichteten mir immer stolz, welche tollen Sachen sie mit ihr erlebt hatten, und Madame Mer­cier meinte, dass sie bestimmt alle traurig sein würden, wenn der Sonnen­schein Alyssia nicht mehr bei ihnen wäre. „Aber soll ich sie deswegen hier las­sen?“ meinte ich lachend, „Madame Mercier, ich bin ihnen persönlich überaus dankbar, über ihre ärztlichen Funktionen hinaus, sind sie mir als Frau sehr nahe. Ich würde ihnen persönlich aus Hamburg gerne schreiben. Wollen sie mir nicht ihre Adresse geben.“ Sie zögerte keinen Moment, sondern schien sich zu freuen, und wollte auch meine Adresse haben.

Der Mittwoch war der längste Tag. Julienne und Lucien waren schon um 5 Uhr früh mit vollgepacktem Wagen losgebraust. Ich saß allein in Combaillaux und wartete. Um spätestens 16 Uhr sei bei Alyssia alles abgeschlossen. Ich spielte den morgigen Tag noch einmal durch, rief vorsichtshalber noch mal bei der Flugrettung an, und ging durchs Haus, ob alles zum Verlassen bereit sei. Ich fuhr noch mal nach Montpellier rein. Vielleicht verging dort ja die Zeit schnel­ler. Ah, wir hatten ja für Alyssia gar nicht den richtigen Käse. Aber jetzt hier einkaufen und in einer kleinen Tasche im Krankenflieger mitschleppen, das ging auch nicht. Ich rief Ralf an, welche Käsesorten er unbedingt besorgen müsse. Vier unverzichtbar, und vier wenn möglich, vielleicht würde Camille ihm ja helfen.

Als ich endlich zu Alys reinkam, lag sie friedlich in ihrem Bett. Keine Kabel, kei­ne Schläuche mehr, und auch kein großer Kopfverband mehr. Nur an der lin­ken Seite ein großes Pflaster vom Nacken bis zur Schläfe. Fast alle Haare au­ßerhalb des Pflasters waren unversehrt vorhanden. Ich dachte immer, man würde bei Schädeloperationen aus hygienischen Gründen kahl geschoren, aber vielleicht hatte man ja bei solchen Notfällen keine Zeit dafür. Meine Hübsche lag einfach so süß lächelnd im Bett. „Steh auf, meine Liebe, und gib deiner Ma­mon einen Kuss!“ forderte ich sie auf. Lächelnd bewegte sie sich langsam auf, als wenn sie dächte: „Na schön, wenn's sein muss.“ Aber vielleicht wahr sie ja auch noch ein wenig benommen durch die Narkose, daran hatte ich gar nicht gedacht. Wir umarmten uns, küssten uns, und schauten uns sehr lange in die Augen. Ich streichelte ihr durchs Haar. Alyssia machte einen ausgesprochen ruhigen Eindruck und legte sich auch nach der Begrüßung sofort wieder hin. Ich wollte mit jemandem sprechen. Jetzt hätte mir Frau Mercier gut gefallen, nur die hatte heute leider keinen Dienst. Der Arzt wusste gar nichts Detaillier­tes, dazu müsse man die Bilder sehen. Man habe ihnen nur mitgeteilt, dass al­les in Ordnung sei, sie nicht mehr überwacht werden brauche und morgen früh nach Hamburg geflogen würde. Das war ja mehr als ich erwartet hatte. Ich rief sofort noch mal die Flugbereitschaft an, und teilte ihnen mit, dass jetzt schon alles klar sei. Wir vereinbarten 10 Uhr Méditerranée. Dann organisierte ich auch noch sofort einen Krankentransport von der Klinik aus um 10 Uhr am Aéroporte. Ralf musste ich auch noch informieren, dass wir früher kämen. Dann konnte ich mich wieder meiner verträumten 'Geliebten' widmen, die ja leider noch gar nicht wusste, was ihr bevor stand. Hamburg, zu Haus, Fliegen, das sagte ihr ja nichts. Ich erzählte ihr von Lucien und Julienne, die schon gefahren seien, und die wir morgen wiedersehen würden, und dass Camille schon Käse gekauft habe, und vieles mehr. Zwischendurch wollte sie immer mal ein Küsschen haben. Streicheln und Küssen gefielen ihr so gut, warum durften das nur Mamon und Lucien. Vielleicht würde ich ja in Hamburg mehr dazu erfahren. Dass Alyssia je wieder würde sprechen können, hielt ich nach meinem Laienverständnis für ausgeschlossen. Sie wusste ja noch nicht einmal, irgendwelche Laute zu produzieren. Zu ihren Stimmbändern schien kein irgendwie gearteter Kontakt mehr zu bestehen. Was sie wohl empfand, wenn sie andere sprechen hörte und es selbst nicht konnte. Es schien sie nicht zu stören. Sie war immer gut gelaunt. Warum sollte es mich da stören? Ein Gedanke, das mir ihr Sprechen fehlen würde war mir auch noch nie gekommen. Natürlich konnte ich rational Vergleiche anstellen zwischen früher und jetzt, aber wozu? Emotional empfand ich gar nicht so, emotional freute ich mich mit Alyssia, und das war auch gut so.

Abends konnte ich überhaupt nicht einschlafen. Das kannte ich eigentlich gar nicht, aber es stand ja auch so ein événement exceptionnel bevor. Ich wollte immer das Bild sehen: Alyssia am frühen Nachmittag vor unserem Haus in Hamburg. Ob sie innen wohl etwas wiedererkennen würde, ihr Zimmer, die Bi­bliothek? Wie sie wohl auf Ralf und Christoph reagierte. Alles schrecklich span­nend. Mögliche Probleme beim Krankentransport und Flieger würden wir schon geregelt bekommen. Darüber machte ich mir keine Sorgen.


Komm nach Haus meine Liebe


Am Donnerstag war ich schon um 7 Uhr in Kliniknähe, um einen Parklatz für Julienns Auto zu finden, wo es unentgeltlich länger stehen bleiben konnte. Als ich den Professor traf, erklärte er mir, dass ich grundsätzlich sehr zufrieden sein könne. „Sie kann also heute nach Hamburg fliegen?“ unterbrach ich ihn, und wollte nochmal die Bestätigung hören. „Ja, ja, selbstverständlich,“ reagier­te er leicht gereizt, als ob es darum gar nicht ginge. Mir ging es aber fast aus­schließlich darum. Alles andere würde ich mir sowieso lieber in Hamburg erklä­ren lassen. Ich hörte aber noch brav zu. Jetzt fing er auch noch an mir erklä­ren zu wollen, mit welchen üblen Spätfolgen bei Gehirnverletzungen grund­sätzlich immer zu rechnen sei. Das wollte ich aber überhaupt nicht hören. Ich bat ihn mir doch etwas für die Kollegen in Hamburg mit auf den Weg zu ge­ben. Ich bekäme ja die Akte mit, aber die Ergebnisse von Gestern wären noch nicht verschriftlicht. Mit dem Versprechen, sie zurückzuschicken bekam ich schließlich in einem großen Umschlag auch die Bilder mit. Ich lobte in noch einmal überschwänglich, und stürmte rauf zu Alyssia. Dass sie sich anziehen sollte, schien sie zu erstaunen. Nach dem sie alle Sachen inspiziert hatte, ging ich nochmal mit ihr zur Toilette, und dann wurde angezogen. Alles schien o. k. nur die Söckchen in Turnschuhen schienen ihr nicht zu gefallen und wurden verweigert. Mit ihren langen dunklen Haaren, der Lederjacke und den Jeans sah sie richtig kess aus, meine süße Biene. Man wollte mir unbedingt den rest­lichen Käse mitgeben. Den brauche Alyssia doch, der bedeute ihr doch so viel, den könne ich doch nicht einfach zurück lassen. Alles wurde gut verpackt in eine zusätzliche Tragetasche gegeben, und ich musste ihn mitnehmen. Frau Mercier kam mit zum Krankenwagen für den Fall, dass es Probleme geben sollte. Es war schnell geklärt, dass Alyssia nicht auf der Liege angeschnallt wurde, sondern ich mit mir hinten saß, und der Arzt vorne. Ich glaube nicht, dass so etwas ohne Madame Mercier so problemlos möglich gewesen wäre. Als wir uns verabschiedeten, kamen ihr die Tränen. Alyssia schaute zwar immer fragend, aber sie machte dann doch alles problemlos mit. Ich zeigte ihr, wie ich den Gurt befestigte, reichte ihr dann ihren, und sie machte es auch. Wenn ich das machte schien das o. k. zu sein. Genauso im Flugzeug. Sie musste zwar vorher alles genau inspizieren, machte aber immer, was ich von ihr erwartete, obwohl alles völlig ungewohnt für sie war, und sie überhaupt nicht wusste, was es zu bedeuten hatte. Sie hatte einen ganz komfortablen Krankensitz, aber vorm Hinsetzen musste er auch erst unter die Lupe genommen werden. Was konnte sie denn wohl Schreckliches vermuten, wovor hatte sie denn Angst. Alles Neue, Ungewohnte schien prinzipiell verdächtig, und konnte erst nach klärender Inspektion genutzt werden. Der Arzt war völlig verblüfft, dass eine so schwer Verletzte nach so kurzer Zeit ganz normal herumlaufen könne. Ich sprach immer abwechselnd mit dem Arzt und mit Alyssia. Wir hätten mit ihr bislang nur französisch gesprochen und da verstehe sie schon wieder sehr viel. Sie greife neue Wörter und ihre Bedeutung aus Gesprächen auf, und verstehe sie dann. Sie weiß z. B. auch, dass sie Mademoiselle Alyssia Stein ist, und als ich das sagte strahlte sie natürlich wieder. „Et je suis Monsieur Christian Decker.“ erklärte ihr der Arzt.

„Monsieur Christian Decker.“ wiederholte er, und Alys strahlte ihn an. „Sie hat's verstanden.“ meinte ich, „Wenn sie so ein lachendes Gesicht macht, be­deutet das, dass ihr etwas klar ist, verdeutlicht aber zugleich auch ein Zeichen von Sympatie, heiß also auch ich mag dich, du bist o.k.“ „Oh merci, Madmoi­selle Stein.“ sagte der Arzt zu ihr. Alys strahle ihn wieder an. Ich erklärte Alys­sia er sei das selbe, wie Madame Mercier, er sei auch Arzt. Sie schaute zu ihm rüber und strahlte wieder. Sie scheint sie ja wirklich zu verstehen Frau Stein. Sonst hätte sie ja nicht mich angeschaut. Monsieur Decker sah sich auch die Krankenakte an, und meinte, schade dass sein Französisch so mangelhaft sei, aber so wie er es einschätze, müssten die Kollegen in Montpellier ziemliche Künstler sein. Bei den genannten Verletzungen ginge er davon aus, dass ein Mensch keine Überlebenschance habe. Das sie das überhaupt versucht hätten, zeuge davon, dass sie sich viel zutrauen würden. Dann versuchte Monsieur De­cker mal wieder etwas aus seiner Französisch-Schatzkiste hervorzuzaubern. Alys hörte ihm gut zu, aber wenn sie lächelte, hatte sie dabei auch manchmal die Augenbrauen hoch gezogen, und es wirkte eher, als ob sie sagen wollte:“So ein Blödsinn. Das soll ich glauben?“ Das Interesse von dem freundli­chen Herrn Decker sorgte mit dafür, dass die Zeit für alle sehr rasch verging. Alyssia schien auch genau zuzuhören, wenn wir deutsch sprachen. Wahr­scheinlich konnte sie gar nicht differenzieren und es waren für sie alles Wörter einer Sprache, nur dass sie die deutschen eben noch nie gehört hatte.

In Fuhlsbüttel winkte Ralf uns vom Terminal zu, man hatte ihn nicht reinlassen wollen, nur Krankenwagen dürften zu den Flugzeugen. Herr Decker fragte noch, ob er etwas unternehmen solle. Ich winkte ab, das würde dann viel län­ger dauern, als wenn wir gingen. Wir umarmten uns zum Abschied mit der ge­genseitigen Erklärung, dass es sehr interessant und angenehm gewesen sei.

Ralf, den Alyssia zuerst sah, wurde wie üblich gemustert und dann wiederer­kennend angestrahlt. Als ich Ralf erklärte, was es bedeute, hatte Alys Camille gesehen. Sie rannte auf sie zu, blieb kurz vor ihr stehen, beugte sich vor und wiegte sich hin und her. Sie lief wieder uns entgegen, zerrte mich am Ärmel zu Camille, als wenn sie mir zeigen wollte, wen sie entdeckt hatte, und fiel mir um den Hals und küsste mich. Entweder wollte sie einfach ihre überschwängliche Freude verdeutlichen, oder sie war der Ansicht, ich hätte das große Glück, Ca­mille wider zu sehen, ermöglicht, wie damals bei den Fesseln im Krankenhaus. Aber jetzt musste ich auch erst mal Camille umarmen, ich freute mich ja auch, sie wiederzusehen. Aber vor allem Ralf, und das tat ich auch einen Moment ganz heftig, wobei kurz alles um mich herum verschwunden war. Wir schauten uns an und mir kamen die Tränen. Dann erklärte ich Alys, das Ralf mon ami, mon Lucien sei, der mich immer küssen müsse. „Küss mich mal, Ralf!“ forderte ich ihn auf und streckte ihm meinen Kussmund entgegen. Ralf lachte und frag­te, was das denn für ein Spiel sei. Ich klärte ihn auf, das Mademoiselle mittler­weile schon eine ganze Menge wieder verstehe, aber nur französisch, und Luci­en ihr absoluter Favorit sei, und es bei mir das gleiche mit dir sei. „Oder stimmt das etwa nicht?“ meinte ich noch ironisch. „Ralf ich weiß im Moment vor Freude gar nicht, wo ich hin soll. Ich freue mich unmäßig, dass es mit Alys­sia alles so gut und reibungslos funktioniert hat, aber nicht viel weniger freue ich mich, selber wieder zu Hause zu sein. Ich könnte tanzen, platzen, dich ver­hauen, ich weiß nicht was.“ versuchte ich meine Stimmung zu beschreiben. „Komm, lass uns nach Hause fahren. Ich kann es kaum erwarten.“ trieb ich ein wenig. Das Auto war natürlich wieder neu. Ich setzte mich rein und schnallte mich an, Alyssia tat es auch. Unterwegs erzählte ich Alys immer wieder, dass wir jetzt in Hamburg seien, und wer alles in Hamburg wohne, und dass hier unser Haus mit unserem Bett sei, das wir in Hamburg schlafen und Käse es­sen. Und schon waren wir zu Hause eher die unendliche Geschichte von Ham­burg zu Ende war.

Ralf hupte, aber Julienne und Lucien warteten schon vor dem Haus. Das war zu viel. Alyssia schaute und schaute. Auch wenn sie über Lucien und Julienne er­staunt war, schien ihr doch auch das Haus etwas zu bedeuten. Jetzt viel sie mir erst um den Hals und drückte und küsste mich so heftig, wie nie zuvor. Es schien doch deutlich, dass sie der Ansicht war, ich hätte dies ermöglicht. Dann rannte sie zu Lucien und wollte ihn gar nicht wieder los lassen. Als Lucien meinte, sie müsse auch Julienne begrüßen, drehte sie ihren Kopf zu Julienne und strahlte sie an. „Nein, nein,“ meinte Lucien, „du musst schon selber zu Ju­lienne hingehen.“ Sie ließ sofort Lucien los und ging zu Julienne. Sie bekam wieder das schelmische Grinsen, Julienne erzählte, sie seien auch mit einem Auto hierher nach Hamburg gekommen und hätten, dies mitgebracht und das mitgebracht, und Alyssia stand leicht gebückt vor ihr und lauschte. Jetzt schien alles andere unbedeutend zu sein. „Lass uns doch rein gehen.“ schlug ich vor, „wir können ja sonst den ganzen Nachmittag vorm Haus erzählen.“ Als wir ins Haus rein kamen, wieder großes Staunen und und Schauen bei Alyssia, ein kurzes Strahlen, dann griff sie nach Luciens Hand und rannte mit ihm die Trep­pe rauf. „Lass die beiden laufen, es wird ihnen schon gefallen. Lucien wird es uns bestimmt gleich erzählen.“ fand ich. Ich könnte erst mal gut einen Kaffee gebrauchen, erklärte ich. „Wahrscheinlich, schleppt sie ihn sofort ins Bett, die rollige Ziege.“ meinte Julienne. Ich schaute sie fragend an. „Na ja, da sag ich lieber nichts zu.“ ergänzte Julienne. Es schien sie doch immer noch ein wenig zu ärgern, wenn sie zu spüren bekam, dass Lucien für Alys eine so herausragende Bedeutung hatte. Ich meinte, es sei nicht gut, wenn Alyssia renne. Es freue mich zwar, dass sie es könne, aber für ihren Kopf sei das sicher eher ungünstig. Wir hatten jetzt Unmengen Käse. Ich musste den mitgebrachten erst mal in den Kühlschrank legen, bevor er völlig zerlief. Zu Hause am Küchentisch einen Kaffee trinken, ich wusste gar nicht, wie glücklich einen das machen konnte. Wir hatten alle so vieles zu erzählen. Plötzlich tauchten die beiden händchenhaltend wieder auf. „Süß seht ihr beide aus, sehr süß Lucien und Alyssia“ erklärte ich noch mal für Alys, und sie strahlte. „Sie hat mir das ganze Haus gezeigt, jedes Zimmer,“ meinte Lucien, „aber sie wollte es wohl hauptsächlich selber wissen. Sie ist sofort direkt erst zu ihrem Zimmer gerannt. Da hat sie ihre Kleidung gesehen, und wollte gar nicht aufhören, sie zu untersuchen. Ich glaube sie erkennt auch außer Gesichtern vieles wieder, aber beim ersten mal muss sie immer stark überlegen.“

Alys und ich hatten seit dem Frühstückt nichts gegessen. Camille hatte heute morgen noch schnell Baguettes geholt. „Oh ja, Baguette, Café au lait und Ei, dann war für Alyssia alles in Ordnung.“ meinte Julienne. „Dann machen wir das doch so. Hätte ich auch wohl Lust drauf.“ erklärte ich, denn ein Hungergefühl hatte ich eigentlich nicht. Dafür war ich noch viel zu aufgeregt. „Sie soll eigent­lich keinen Kaffee trinken. Aber einmal gibt’s heute eine Ausnahme. Für mor­gen brauchten wir dann entkoffeinierten.“ erläuterte ich noch. Frau Richter, unsere Küchenhilfe, wollte sofort noch welchen holen. Ich fand es besser, so lange zu warten. Alyssia musste sich ja anschließend auch noch hinlegen. Sie hatte mittags immer geschlafen, brauchte viel Ruhe, und dann dieser schreck­lich aufregende Tag heute. Also bereiteten wir schon alles Übrige vor. Alys schaute sich alles genau inspizierend an. Ich verteilte zwei Schalen, gab ihr die übrigen Bols, sie verteilte sie und strahlte mich an. Ich musste sie umarmen, meine neue Haushaltsgehilfin. Sie hatte immer noch ihre Lederjacke an. Als ich ihr andeutete, sie auszuziehen, schien ihr das nicht zu behagen. Ich wusste, dass sie ihre Lederjacke liebte, deshalb hatte ich sie auch für heute, fürs erste Anziehen, ausgesucht. Ich zeigte ihr, dass niemand im Haus eine Jacke an habe, und ging mit ihr zur Garderobe. Dort wurde sie auch brav ausgezogen, und ich nach vollbrachter Tat angelächelt. Als wir alle bei Café au lait, Baguette und Ei zusammen am Tisch saßen, schien sie außer sich vor Freude. Sie strahl­te jeden königlich an und fiel Lucien, neben dem sie natürlich sitzen musste, um den Hals. Camille standen die Tränen in den Augen und Christoph meinte: „Mein Gott, ist das rührend! Wie sie sich freuen kann, dass alle ihre Freunde um sie versammelt sind. Warum können wir das eigentlich nicht? Wahrschein­lich haben wir ganz vergessen, dass es eigentlich das Wichtigste für uns sein sollte.“ Jetzt wurde aber gegessen, und jedes Ei beschmierte, in Kaffee einge­tauchte Baguettestückchen wurde bei strahlendem Gesicht in den Mund ge­führt. Nicht nur nette Menschen um sich, sondern auch noch ein fürstliches Mal, das Glück schien perfekt. Alle hatten ihre Freude daran. Ihr beim Essen zuzusehen, und Camille meinte: „Es ist ungeheuerlich, da ist diese junge Frau so krank, ist fünf Minuten zu Hause, und schafft es alle glücklich zu machen. Ich habe ja immer gesagt, dass es ihr Wesen ist, Freude zu verbreiten, der man sich nicht entziehen kann, und davon scheint nichts verloren gegangen zu sein. Es ist wunderbar.“ Und ihr kamen wieder die Tränen. Mir viel ein doch an­schließend die Käseplatte zu holen. Das würde Alys bestimmt gefallen. Wieder enormes Staunen, alles bis auf die Klinikstücke wurde genau untersucht und berochen, und dann ein Stückchen Lou Pitchou Blu ausgewählt. „Wo habt ihr den denn her?“ fragte ich erstaunt, und Ralf wies auf Camille, die lächelte. Wahrscheinlich hatte Alys diesen Käse am längsten vermisst.

Anschließend wollte ich mich mit Alyssia ein wenig hinlegen, ich sei heute Abend sonst zu nichts zu gebrauchen, und dachte dabei: 'Heute Nacht. Ich wollte es genießen können, und nicht gleich erschöpft müde werden.'. Alys und ich gingen zu meinem Schlafzimmer für mich ein Nachthemd holen. Anschlie­ßend gingen wir zu ihr, und ich zeigte ihr, wie ich mein Negligé anzog und mich in ihr Bett legte. Ganz schnell zog sie sich auch aus, schlüpfte zu mir ins Bett und freute sich riesig. Nur ihr Negligé war auf dem Stuhl liegen geblieben. Wahrscheinlich gehörte es für sie hier nicht hin und sie erinnerte sich, dass sie in ihrem Bett immer nackt geschlafen hatte. Ich bezweifelte, ob das sinnvoll sei. Sie würde ja, wenn sie aufwachte dann möglicherweise auch einfach nackt durchs Haus laufen. So etwas wie Scham schien sie ja nicht mehr zu kennen. Ich wusste auch nicht, wie man ihr so etwas vermitteln sollte. Sie hielt sich aber immer an Gewohnheiten. Ob es da nicht besser wäre, wenn sie auch zu Hause im Bett etwas anzöge. Ja sie sollte das Negligé anziehen, wozu sie sich auch, ein wenig widerwillig zwar, überreden ließ. Und dann strahlte sie doch wieder mit Negligé im Bett. Ich erinnerte mich wieder an die Babyzeit, wie ich sie damals in den Schlaf geredet hatte und erzählte ihr jetzt auch wer alles schlafen würde. Frau Mercier würde schlafen, Schwester Adrienne würde schla­fen, Monsieur Decker würde schlafen etc., und tatsächlich fing sie an zu gäh­nen und schlief ein. Unglaublich, ich sollte mich vielleicht demnächst mehr an ihre Kleinkindzeit erinnern. Möglicherweise war da vieles erhalten geblieben, worauf sich wieder aufbauen ließe. Plötzlich wurde ich mit einem Kuss ge­weckt. Ich hatte geschlafen, und die aufgewachte Alyssia wollte ihrer schlafen­den Mamon einen Kuss geben. Da strahlten wir uns beide an, befühlten unsere Gesichter und küssten uns immer wieder. Wir standen auf zogen uns wieder an, und gingen runter. Alles wie völlig routiniert. Am Nachmittag ließ ich mir noch von Julienne ihre üblichen Speisepläne erläutern. Wir wollten versuchen hier auch möglichst viel davon umzusetzen. Wir saßen in der Bibliothek und Alyssia hörte andächtig zu. Vielleicht nahm sie ja all die Wörter auf, und wuss­te, wenn es die entsprechenden Gerichte gab, gleich etwas damit anzufangen. Baguette, Café au lait, Käse und Wein, seien unverzichtbare Grundnahrungs­mittel, die immer vorhanden sein müssten. Mit Wein war es ja nun erst mal vorbei. Für uns war das auch nicht leicht. Wir würden ja in Alyssias Anwesen­heit keinen Wein trinken können, und es ihr verbieten, wie sollten wir ihr dass denn erklären. Dass sie vorsichtig mit ihrem Verband sein solle, hatte ich ihr wohl verständlich klar gemacht, aber keinen Wein in den Mund nehmen wegen ihres Verbandes, das wäre abstrus gewesen, das hätte sie für sich nicht akzep­tiert. Gab es nicht wie bei Bier auch alkoholfreien Wein? Das wusste Julienne auch nicht, aber es gab sie, jede Menge. Ralf sollte sofort herum telefonieren, ob in Hamburg irgendein marchand de vin so etwas vorrätig habe und wenn ja sofort holen, von jedem eine Flasche, außer Rosé und lieber französischen als deutschen. Ich konnte mir kaum vorstellen, das man in Frankreich ungenieß­bare 'vins desalcoolisés' verkaufen konnte, bei deutschen war ich mir da nicht so sicher.

In der Bibliothek schien Alyssia sich sehr wohl zu fühlen, aber die Bücher inter­essierten sie überhaupt nicht. Vielleicht war es wie beim Sprechen, wenn sie merkte, dass sie etwas nicht können würde, war es für sie uninteressant. An den Raum erinnerte sie sich gewiss, wie an alle anderen Räume auch, und von ihren intensiven Aktivitäten hier, sollte ihr nichts mehr gegenwärtig sein? Mög­licherweise wusste sie gar nicht was das war, was sie hier gemacht hatte, konnte mit dem Bild, lesend in Bücher schauen, nichts verbinden, und es war für sie klar, dass es sich um eine für sie unzugängliche Welt handelte, mit der sie sich nicht weiter beschäftigte.

Ralf war erfolgreich gewesen und zum Abendbrot gab es für alle Wein. Zu erst wieder die stolze Freude über die versammelte Runde mit einem Kuss für Luci­en, dann die Weinprobe. Es kam wie erwartet. Sie probierte den Merlot von Weinkönig, der meiner Ansicht nach recht passabel schmeckte, aber Mademoi­selle wägte ab, kräuselte ihre Stirn und schob das Glas weg. Nicht genießbar! Ein Rotwein aus dem Elsass 'Cote de Vincent' bekam ein Strahlen. Akzeptiert! Ralf hatte auch noch Weißweine mitgebracht, aber die trank sie nur, wenn vin rouge absolut nicht mit dem Essen harmonieren wollte. Unsere Mademoiselle hatte ihre französische Küche und das französische Essen wieder, und dazu noch alle Freunde um sich herum versammelt. Konnte es eine schönere, glück­lichere Welt geben? Niemals. Beim Essen schaute sie immer wieder zwischen­durch lachend auf, und manchmal hielt sie auch Lucien ihren Kussmund hin. Christoph beklagte sich bei Camille, das sie das nie für ihn mache, und Camille meinte: „Kein Problem,“ und wartete auf einen Kuss von Christoph. Wenn er sich auch so über ihre Kochkünste gefreut hätte, wäre sie vielleicht schon eher darauf gekommen. „Ich bin einfach begeistert, dass Alyssia wieder zu Hause ist. Du hattest damals schon recht, Ruth. Ich konnte dich nicht verstehen, und sah immer nur, was sie verloren hatte. Heute sehe und erlebe ich es genauso wie du. Vielleicht liegt es einfach daran, dass eine Mutter eher in der Lage ist, so positiv zu empfinden und sich zu freuen.“ Wir blieben noch lange am Tisch sitzen. Alyssia stand zwischendurch auf, und schleppte Lucien in die Bibliothek. Sie wollte anscheinend nur mit ihm gemütlich allein sein, sich von ihm etwas erzählen lassen, und ab und zu geküsst werden.

Es war mittlerweile 10 Uhr geworden. Alyssia gähnte, und ich brachte sie ins Bett. Sie zog auch sofort ihr Nachthemd an, aber dass ich mich nicht auch zu ihr ins Bett legte, schien ihr überhaupt nicht zu gefallen. Sie wollte mich aus­ziehen und machte eine ganz ärgerliche Mine, wenn ich nein sagte. Ich musste ihr irgendwie mehr erklären. Wir gingen gemeinsam zu meinem Schlafzimmer, und ich legte mein Nachthemd auf mein Bett, wobei ich ihr immer wieder in verschiedenen Versionen erklärte, dass dies mein Bett sei und ich hier schlafen würde, in meinem Raum und sie in ihrem. Als ich das Empfinden hatte, sie habe es verstanden, gingen wir wieder zurück. Alyssia legte sich ins Bett, ließ sich noch einige Gute-Nacht-Küsse geben und lachte. Alles verstanden und ak­zeptiert, hervorragend.


Je reviens mon amour


Im Bett mussten wir uns erst noch erzählen, wie es für uns die lange Zeit ohne einander gewesen sei. Ich sei nicht nur ohne Depressionen geblieben, ich hätte gar kein Bedürfnis verspürt. Ich hätte zwar oft an Ralf gedacht tagsüber, aber es komme mir vor, als ob ich die ganze Zeit völlig asexuell gewesen sei. Am Flughafen heute, da habe ich ihn allerdings beim ersten Kuss am liebsten gleich ausgezogen. „Ralf pass auf, dass ich mich nicht total vergesse. Ich will morgen ausgeschlafen in der Klinik sein. Alyssia konnte sich auch immer kon­trollieren, wenn's erforderlich war“ erklärte ich. Das verstand Ralf nicht, und ich erzählte ihm, das wir beide sexuell wohl viel Ähnlichkeiten miteinander hät­ten. Es wurde auch nicht spät, aber ich fühlte mich himmlisch beglückt. Ein wunderschöner Tag.


Vorstellung in der Klinik und erste Einkäufe


„Was ist das, sie fahren mit ihrer Tochter einfach so herum.“ empfing mich der Professor. Er habe mal kurz mit Montpellier telefoniert, damit er eine minimale Vorstellung davon hätte, was auf ihn zukäme. Sie hätten für Alyssia ein Bett reserviert. Ich klärte ihn über alle Bedingungen auf, und und erläuterte ihm, wie meine Tochter sich jetzt entwickle, und dass und warum ein Aufenthalt in einem deutschen Krankenhaus für sie jetzt eine ungeheure Belastung sei und immense Rückschritte bewirken würde. Ich hatte den Eindruck, es sei schon akzeptiert, aber Herr Professor wollte sich erst mal die Unterlagen ansehen. Er nickte dabei öfter anerkennend, und nach eingehendem Studium meinte er: „Tolle Leute da in Montpellier“ und zu Alyssia gewandt, „Mademoiselle Stein, sie haben außergewöhnlich großes Glück gehabt, dass sie heute hier bei mir sitzen können.“ und Alys strahlte ihn an. Ich erklärte ihm, dass sie wahrschein­lich alles verstanden habe, und wie sich das bei ihr neu entwickle. Ich bekam die Röntgenbilder an der Leuchttafel detailliert erläutert mit den einzelnen Funktionszusammenhängen der Regionen, die zerstört bzw. unterbrochen wa­ren. Es wurde ein sehr langes Gespräch, und der Professor meinte, sie könnten sehr vieles tun, nur müsse das eben auf Alyssias Besonderheiten abgestimmt sein. Er wolle das mal mit den Reha-Leuten besprechen, nur müsse sie wieder deutsch lernen, sonst könne sie ja niemanden verstehen. Ich erläuterte ihm meine Bedenken, aber da kannte er sich auch nicht aus, die Sprachfachleute jedoch mit Sicherheit. Ich sagte ihm noch, dass die Universität Montpellier die Aufnahmen unbedingt zurück haben wolle. Er konnte es gut verstehen, und meinte, dass man sie kopieren könne, denn das sei eigentlich das wichtigste für die weitere Planung. Wir vereinbarten einen Termin zum gleichen Zeitpunkt in einer Woche, und ich solle Mademoiselle doch wieder mitbringen, vielleicht könne man dann ja schon etwas ausprobieren, ohne Berührung, versteht sich, meinte er scherzhaft, und versuchte es Alys noch einmal auf Französisch zu er­klären, und sie lachte ihn an. Herrn Professor schien es auch zu gefallen, von ihr verständnisvoll angelacht zu werden. Mit der Ermahnung zu viel Ruhe und Schonung, und Vermeidung von Hektik und heftigen Bewegungen wurden wir wieder nach Hause entlassen. Wunderbar, ich sah eine Perspektive. Noch ein Grund mich zu freuen, dass ich wieder in Hamburg war.

Die anderen hatten mit dem Frühstück gewartet. Ralf war extra noch zu Hause geblieben und Camille brauchte Freitags erst später zur Schule. Nur Christoph hatte nicht länger warten können. Das war auch wohl nicht so schlimm. Ralf und Christoph erhielten sowieso nicht so viel Beachtung. Alyssias Favoriten wa­ren eindeutig die Vier aus der Klinik-Peergroup. Julienne und Lucien hatten ih­ren Spaß beim Baguettes kaufen gehabt. Es war immer sehr umständlich. Man musste fast bis in die Innenstadt fahren und bekam sehr schlecht einen Park­platz. Vielleicht würde Alys ja auch akzeptieren, was in den üblichen Bäckerei­en als Baguette verkauft wurde. Lucien habe seine Deutschkenntnisse anbrin­gen wollen, sei aber kläglich gescheitert. Als er gesagt habe: „6 französisch Brot, bitte.“ habe ihn die Verkäuferin fragend angelächelt. Als er es auf Franzö­sisch gesagt habe, sei alles klar gewesen.

Julienne und Lucien schienen sich auch ganz wohl zu fühlen. Während Lucien häufig zu Bibliotheksgesprächen herangezogen wurde, unterhielt sich Julienne gerne mit mir. Ich wollte doch noch wissen, was es mit der 'rolligen Ziege' auf sich gehabt habe. „Na ja,“ meinte Julienne, „Alyssia hat wohl einen stark aus­geprägten Sexualtrieb, zumindest abends. Dass gerade sie es so lange ausge­halten hat, nicht mit Lucien zu schlafen, habe ich gar nicht verstehen können. Sie hätte es bestimmt lange vorher sehr, sehr gern gehabt. Sie konnte eben beides sein, absolut emotional und gleichzeitig total cool und hart mit sich sel­ber. Das war vielleicht die tolle Mischung, die sie ausmachte. Sie hat immer von der tiefen Liebe gesprochen, die sie brauche. Ich glaube ihr das auch, aber Lucien, so einen intelligenten, netten, klugen Mann, hat sie völlig abhängig von sich gemacht. Der weiß doch gar nicht mehr, dass die anderen außer Alyssia auch Frauen sind. Das man mit jemand anders ficken kann, außer mit Alyssia, ist doch für den überhaupt nicht mehr vorstellbar. Wie der mal mit der Vorstel­lung klar kommen soll, Alyssia gibt es nicht mehr für ihn, ist mir ein Rätsel. Er äußert des vielleicht nicht so leicht, aber ich glaube, dass er wesentlich emp­findlicher ist als ich. Ehrlich gesagt, hier ist es ja jetzt sehr schön, aber wie es wird, na ja.“ „Ma chère Julie, wir haben doch etwas besprochen. Wir werden ja jetzt sowieso öfter telefonieren oder skypen, und wenn Unannehmlichkeiten auftreten, werden wir's uns sagen und Lösungen finden. Denk so, und nicht ich weiß nicht. Wir beide zusammen werden immer wissen.“ verdeutlichte ich ihr noch mal. Julienne umarmte mich, und meinte: „Ja ich glaube, es fällt mir schwer, wahr haben zu können, wie gut es mir jetzt eigentlich geht. Aber ich verspreche dir, Ruth, ich werde besser. Bin ich eigentlich schon geworden. Zu wissen, dass ich in dir eine Freundin habe, tut mir ständig gut.“

Nach dem Mittagsschlaf wollten wir am Hafen spazieren gehen und mit Alyssia weitere Negligées kaufen. Am Hafen kein Blick für irgendetwas. Nur wir drei waren interessant. Wir zeigten ihr, wie man mit seinem Liebsten auch anders als Händchen haltend spazieren gehen kann. Alles wurde ausprobiert, aber den Arm um die Taille des anderen legen, schien ihr am besten zu gefallen. Lucien gab ihr einen Klaps auf den Po. Ihre Mimik wechselte von erschrocken über la­chen zu Lucien ernst anschauen. Kurz darauf machte Alyssia es bei ihm. Als er erschreckt auffuhr, lachte sie und legte ihren Kopf dabei in den Nacken. „Ich sag es ja,“ meinte Lucien „dass es ihr Spaß macht mich zu ärgern, hat sie nicht vergessen.“ Das erste Geschäft war ein totaler Reinfall. Schicke französische Dessous, aber Nachthemden wie zu meiner Jugend. Der zweite Laden war bes­ser. Das billigere war meist sehr erotisches Flatterzeug, und wurde überhaupt nicht in Betracht gezogen. Seide und Satin in dunklen Farben das schien ihr zu gefallen. Sie schien schon noch ein Faible für erotisches zu haben, aber elegant musste es sein. Ein burgunderfarbenes Seidenneglgée mit schwarzem Spitzen­besatz war der absolute Favorit. Sie wollte es nicht wieder hergeben. Aber 189 € für ein Nachthemd, da wahr eigentlich das Limit weit überschritten, aber meiner Süßen, konnte ich ihr das verwehren, wenn sie es so gern mochte. Ich tröstete mich damit, dass ja auch noch ein passender Morgenmantel dazu gehörte. Jetzt brauchten wir noch ein weiteres, aber jetzt nicht mehr in dieser Preisklasse. Alys griff sofort zu einem langen smaragdgrünen aus Satin, besetzt mit schwarzen Spitzen an den Rändern und teils darüber hinaus. Der Rücken war allerdings in Teilen fast bis auf den Po frei. Ich versuchte ihr zu zeigen, dass sie ja nichts außer zwei Trägerchen am Rücken habe. Sie hörte zwar zu und lachte, aber ihre Entscheidung blieb. Sie hatte vorher ja außer in der Kindheit nie Nachthemden besessen. Aber genauso war das ja auch bei ihren Dessous, erotisch, aber nicht ordinär, sondern Elegance und Glamour waren wichtig. Diese Einstellung schien sich voll erhalten zu haben. Wieder zu Hause wurde alles anprobiert und vorgefürt. „Oh je, oh je,“ bemerkte Camille bei der Modenschau, „wen soll Alyssia denn damit verführen?“

Zum Abend hatte ich Anja eingeladen. Sie solle doch schon zum Essen kom­men. Es wäre ja auch interessant, ob Alys sie wiedererkennen würde. Sie hät­ten sich ja nur an einigen Abenden gesehen. Selbstverständlich wurde sie, wie bei allen anderen üblich, erkannt. Personen mit denen sie auch nur kurz zu tun gehabt hatte, waren ihr also auch verfügbar. Anja sprach sie an. Ich klärte sie auf, dass Mademoiselle nur französisch verstehe. Alles neu gelernt, alte Begrif­fe seien überhaupt nicht mehr vorhanden oder verfügbar. „Mein Gott, was tun, ich spreche nicht gut französisch“ meinte Anja auf Französisch. „Sie hat dich höchstwahrscheinlich verstanden.“ erklärte ich, „Wenn sie so strahlt bedeutet das immer: „D'accord mit Sympathie“. Anja freute sich auch, und meinte zu Alys gewandt: „Merveilleux, ma belle Alyssia.“ Ich nahm eine Flasche Wein und unsere Gläser mit, und ging mit Anja in die Bibliothek. Alys kam auch mit. Dass sie kein Glas hatte und keinen Wein bekommen sollte gefiel ihr absolut nicht. Sie holte sich selbst ein Glas, aber ich musste ja auch ihren Wein holen. Wir wollten überlegen, wie es mit der Kanzlei weiter laufen solle. So lange Lu­cien und Julienne noch da wahren, konnte ich ja mal vorbei kommen, aber sonst war außer Frau Richter ja niemand zu Hause, und einer aus der Peer­group musste es schon sein. Anja meinte, ob wir nicht einen Raum herrichten könnten, in dem sie nach ihren Interessen etwas machen könne zum Beispiel: Musik hören. Musik! Musik! Musik! wie konnte ich nur schon wieder nicht daran gedacht haben. Von selbst schien mir der Gedanke daran nicht verfügbar. „Ja aber Anja, das ist ja eine unendlich lange Zeit, und dann allein in einem Raum, das halte ich für unmöglich. Im Moment hat sie nur die Vorlieben, sich etwas erzählen lassen, direkt oder am Telefon, essen und Wein trinken, und heute Nachmittag horrend teure Sachen kaufen. Anja musste lachen und wollte Nä­heres wissen. So redeten wir den ganzen Abend anstatt über die Kanzlei über Alyssia. Die fing zwischendurch mal an zu gähnen, und ich fragte Julienne, ob sie nicht mal versuchen wolle, Alys ins Bett zu bringen. Alles verlief ohne Pro­bleme, sie habe nur unbedingt ihr rotes Seidennachthemd anziehen wollen, habe sich darin vor Freude gewiegt und immer wieder den Stoff befühlt. Juli­enne habe ihr 'Au clair de la lune' vorgesungen und dabei Lubin und brune durch Lucien und Alys ersetzt. Alys habe sie während dessen mit ganz großen Augen angesehen, und sich anschließend riesig gefreut. Sie habe vor Freude immer ihre erhobenen Hände gedreht, das habe sie noch nie gesehen. Beim Herausgehen habe sie den Schlusssatz wiederholt 'Mais je sais qu'la porte sur eux se ferma.', und Alys sei friedlich lächelnd liegen geblieben. Camille sollte morgen sofort mit den beiden alle möglichen in Frage kommenden CDs bestellen, vielleicht auch französische Kinderlieder.


Bon week-end


Am Samstag wurden nach dem Frühstück zunächst mal in der Bibliothek CDs ausgesucht, damit sie am Montag noch ankamen. Camille hatte einige von sich mit herunter gebracht und erinnerte sich, das Alys sich früher sehr für Jacques Brel interessiert habe. Also wurde 'Quand on n’a que l’amour' aufgelegt. Ob Alyssia es wiedererkennen konnte? Sie hatte doch sonst keine Erinnerung an sprachliche Begriffe mehr. Konnte sie Musik wiedererkennen? Sie kroch förm­lich in die Lautsprecher hinein. Hatte sie bei 'Au clair de la lune' gestern Abend eventuell auch etwas wiedererkannt, deshalb so gestaunt und sich riesig ge­freut. Einfaches Interesse für die Musik allein, reichte als Erklärung für ihr Ver­halten nicht aus. Wir fanden eine wunderschöne Ballettszene von Maurice Béjart zu 'Quand on n’a que l’amour' bei You Tube. Die Bewegungen des Paa­res hätten sie bestimmt interessiert, aber der Bildschirm ließ sie völlig unbe­rührt. Alys schaute gar nicht hin, als ob sich dort nichts ereigne. Julienne und Lucien sollten es nachtanzen. Jetzt hatte nicht nur Alys ihre helle Freude, son­der wir mussten alle über die vorgeführten Ballettkünste ausgiebig lachen. Was da wohl bei Alys visueller Wahrnehmung vorging. Musste sie denn bei Gesich­tern nicht genauso aus der Zweidimensionalität übertragen können? Ich wollte unbedingt mehr darüber wissen. Ich hatte zwar erfahren, dass ihr Neokortex kaum beeinträchtigt wurde, aber ein Hippocampus beschädigt sei. Nur wieso konnte Alys dann alle neuen Eindrücke und Wörter dauerhaft abrufbar spei­chern. Für mich war sie ein großes Rätsel, Wahrnehmungs- und Gedächtnisfor­scher könnten mich der Lösung bestimmt ein Stück näher bringen, und mir ra­ten, wo man wie ansetzen könne. Dass man sie nicht berühren durfte schien ebenso wie ihre fehlende Sprache schon als selbstverständlich akzeptiert und fiel gar nicht mehr auf. Ich wollte aber doch mehr dazu erfahren, wie solche Phobien durch eine Gehirnläsion entstehen können, und was man in Alyssias Lage eventuell dagegen tun könne. Sie hatte ja keine allgemeine Aphephosmo­phobie, Gegenstände berühren war ja überhaupt kein Problem, und eine reine Agaraphobie war es auch nicht, denn sie ließ sich ja anfassen von Lucien und mir, und zwar sogar gerne. Vielleicht hatte es mit Phobie im herkömmlichen Sinne gar nichts zu tun, sondern hatte ganz andere Ursachen. Die bisherigen Mutmaßungen der Ärzte waren mir zu wenig. So etwas konnte sich ja auch je­der Laie mal ausdenken, und zeigte keinerlei Ansatzpunkte auf. Aber wir waren beim Musik-aussuchen. Mir fielen die französischen Yéyé-Sängerinnen ein. Eine hatte immer so verträumt, sinnlich gesungen, auch auf Deutsch. Mir viel der Name nicht mehr ein, ich erinnerte mich aber an 'L'amour s'en va'. Natürlich war das Françoise Hardy, wussten die anderen. France Gall, und Sylvie Vartan seien die gleiche Preislage meinten sie. Früher sei sie darauf nicht so abgefah­ren, aber man wisse ja nicht, wenn sie sich über 'Au clair de la lune' so gefreut habe, könne ihr so etwas Nettes ja jetzt auch gefallen. Wir Schussel hatten ihre eigenen CDs gar nicht mitgenommen, weil wir sie für nicht nutzbar hiel­ten, aber Julienne meinte, das für sie Wichtigste habe sie sowieso auf ihrem PC gespeichert. Waren wir stupid. Entscheidendes viel uns immer nur zufällig ein. Wie sie wohl auf Fotos von Personen auf dem PC reagierte. Das mussten wir jetzt sofort ausprobieren. Bei der Musik geschah das Gleiche, wie bei Jaques Brel auf dem CD-Player. Alys bewegte ganz aufgeregt ihre Finger über der Tastatur, als ob sie am PC etwas eingeben wolle, nur nicht wisse, was genau sie mit den Fingern machen müsste, da würde man bestimmt ansetzen können. Man stelle sich nur vor unsere Mademoiselle, weiß nichts mehr, spricht nicht mehr und arbeitet am PC. Dann müsste sie ja auch die Buchstaben unterscheiden können. Vielleicht könnte sie ja sogar wieder lesen lernen. Es stimmte mich überaus hoffnungsvoll, obwohl ich ja wusste, das Lesen und Verstehen ein wesentlich komplizierterer Prozess als Buchstaben wiedererkennen war. Wir warfen kurz einen Blick über die Musiktitel, damit wir davon nichts neu bestellten. Jetzt wollte ich aber doch mal die Fotos ausprobieren. Wir fingen mit denen an, die Lucien ausgedruckt hatte. Selbstverständlich alles klar. Nachforschungen in tieferen Zonen waren nicht mehr erforderlich. Ich zeigte Alys, worauf sie drücken musste, damit das nächste Bild käme. Alles verstanden, sie war jetzt Chefin der Bildregie. Besonders schienen sie die Fotos aus der Klinik zu interessieren, aber sie schaute auch fragend, als ob sie sagen wollte: „Wo ist denn dieses? Wo ist denn jenes?“ Ein mit 'Alys_E' betitelter Ordner enthielt wilde erotische Fotos von ihr. „Ja sie wollte das unbedingt“ entschuldigte sich Lucien leicht verlegen, „Sie hat gedroht sonst zum Fotografen zu gehen, wenn ich das nicht mache.“ „Kann ich mir gut vorstellen.“ meinte Julienne bestätigend. „Ist sie nicht schön?“ meinte Lucien noch zu den leicht verwegenen Aktfotos mit wild aufgeblasener Mähne in der rustikalen Umgebung ihres Häuschens. Ich meinte, das könnten sie beide sich ja öfter ansehen, und wollte Alys bewegen, etwas anderes anzuschauen. Mit tief bösem Blick wurde jeder Versuch von mir beantwortet. Wir mussten alle Fotos anschauen.

Uns kam die Idee, wenn sie die Menschen auf den Fotos erkannte, wisse sie ja vielleicht auch mit Skypen etwas anzufangen. Camille sollte raufgehen, wir würden sie anrufen. Alyssia war ganz außer sich, Camille auf dem Bildschirm zu sehen und sie sprechen zu hören. Sie lief sofort rauf zu Camille und wollte sie holen, wahrscheinlich um ihr zu zeigen, was man unten sähe. Camille woll­te ihr erst noch ihren Bildschirm zeigen, auf dem jetzt Lucien und Julien zu se­hen waren. Camille bat mich, herauf zu kommen, Alyssia wolle ihr zeigen, was man unten sehen könne. Das war zu viel, jetzt war nicht mehr Camille zu se­hen, sonder ihre Mamon, die sie gerade auf der Treppe gesehen hatte. Camille erklärte ihr hier zu warten. Sie ginge jetzt rauf zu ihrer Mamon, dann könne sie wieder Camille sehen. Sie wartete auch brav, und schien tief zu grübeln, als Camille mich ablöste. Dann strahlte sie plötzlich und räkelte sich vor Freude. Jetzt schien sie es verstanden zu haben. Sie deute Lucien an rauf zu gehen, und tatsächlich, es verlief so, wie sie es erwartet hatte. Lucien erschien auf dem Bildschirm. Dann sollte sich Julienne vor den Laptop setzen und sie selbst rannte nach oben. Ja Julienne war bei Camille zu sehen. Helle Begeisterung, dass es so war, wie sie vermutet hatte. Sie hatte es verstanden, das man beim Skypen Leute sah, die nicht anwesend waren, sondern anderswo am PC saßen. Toll, ich musste sie in die Arme schließen. Wenn ich das tat, erwartete sie das natürlich auch von Lucien. Dass wir jetzt aufhören wollten zu skypen, und wie­der in die Bibliothek gehen, schien ihr nicht so sehr zu behagen, aber nach Er­klärungen war sie einverstanden. Wenn sie skypen verstand konnten wir ja auch mal mit Elias und Lucille sprechen. Sie konnte sich von Freunden aus Montpellier ja etwas erzählen lassen, wenn die Lust dazu hätten. Alles wunderbar. Immer wieder neue Möglichkeiten taten sich auf. Mademoiselle sorgte jeden Tag für neue Überraschungen.

Nachmittags wurden ihre mitgebrachten Sachen eingeräumt. Wahnsinnig auf­regend schien das zu sein. Außer ein paar eleganten Sets besaß sie nur kleine Strings und Tangas. Ich konnte Juliennes Einschätzung immer besser nachvoll­ziehen. Sie schien Erotisches sehr gemocht zu haben. Na ja, pour quoi pas, war ja auch schön. Aber mehr als dass sie Streicheln und Küssen schön fand, hatte sie noch nicht erkennen lassen. Es schien so, als ob sie vergessen hätte, was es sonst noch gab. Sie entdeckte das Kleid von Camilles Hochzeit und schien es wieder zu erkennen. Es musste angezogen werden, inklusive Collier und Ohrgeschmeide. Nach einigen Drehungen vorm Spiegel, sollte es den an­deren vorgeführt werden. Sie rannte einfach raus zu den anderen und stellte sich jedem stolz strahlend vor. Sie wollte gar nicht wieder mit nach oben kom­men, um es auszuziehen. Wir erklärten ihr, es sei nur zum Tanzen. Lucien musste einmal mit ihr in sanften Bewegungen tanzen. Große Begeisterung, wenn sie nicht gerade küsste strahlte sie unentwegt. Woran es sie wohl erin­nerte. Lucien war selbst ganz wehmütig, hier hatten sie sich ja zum ersten mal geküsst, hier hatte eine neue Phase ihrer Beziehung begonnen. Ab hier war es für beide eindeutig, dass sie mehr als schöne Worte wollten. Ich wusste ja, welche Angst Alys gehabt hatte, sich nicht beherrschen zu können, aber das hatte sie Lucien bestimmt alles schon selber erzählt. Lucien ging mit rauf, und unter mehrfachen Erklärungen, das dieses Kleid nur zum Tanzen sei, zog sie es auch wieder aus. Alyssia hatte erkannt, dass sie in diesem Kleid sehr schön aussah. Sie schien also eindeutig, wie gestern bei den Negligés schon, ihr Ge­schmacksempfinden behalten zu haben. Ich sollte mir mal aufschreiben, was ich alles feststellte, damit ich später bei den Beratungen nichts vergaß, weil es für mich mittlerweile selbstverständlich geworden war.

Sie könnte ja mal etwas anderes anziehen. Seit Donnerstag trug sie die glei­chen Sachen. Kleider und Röcke gab es kaum. Ich kannte sie eigentlich auch nur in Hosen. Ein dicker Pullover mit offenem weiten Rollkragen wurde ausge­sucht. Nein, das sei nicht möglich, viel zu warm, es sei Sommer, sie müsse et­was Leichtes aussuchen. Ein Mini-Top mit Spaghettiträgern wurde ausgesucht. Einen BH, den sie darunter anziehen konnte fanden wir nicht. „Schatz, du bist unmöglich. Willst du nicht dies anziehen, oder das?“ bot ich ihr einige Sachen an. Strikte Ablehnung, sie hatte sich entschieden. Also o. k., morgen eventuell etwas anderes. „Oh Mademoiselle, geht’s auf die Rolle?“ bemerkte Ralf scherz­haft, als er sie sah, und Julienne meinte, sie habe sich gern so ein wenig auf­reizend gekleidet, aber das habe sie nur für sich selber so gemacht. Jemand anders so zu gefallen, habe sie überhaupt nicht interessiert, vielleicht allenfalls ihrem lieben Lucien, aber selbst das glaube sie nicht mal. Später erzählte mir Julienne mal, die beiden hätten sich immer mit Gesprächen gepuscht. Nichts Erotisches oder Anzügliches, die hätten sich über Philosophisches unterhalten können, und man habe gemerkt, wie sie immer schärfer aufeinander wurden. Total komisch sei das gewesen. Ihr sei das richtig pervers vorgekommen, wie kann man von einem Gespräch über Kant rollig werden. Sie habe sich das mit ihrer Tradition erklärt. Sie hätten sich ja ein ganzes Jahr lang nur unterhalten, und hätten dabei wahrscheinlich immer den Wunsch gehabt, miteinander zu fi­cken, und jetzt hätten sie's eben gedurft. Wie es in Lucien wohl aussähe, wie er Alyssia wohl wahrnehme, was er wohl empfinde, wenn sie sich küssten, ob er jetzt auch wohl sexuelle Gedanken bei Alys habe. Julienne meinte, dass so etwas für ihn zur Zeit wohl kein Thema sei. Er träume eher von vergangenen schönen Erlebnissen. Im Moment sei er wahrscheinlich nur daran interessiert in ihrer Nähe zu sein, von ihr gemocht zu werden, und alles für sie zu tun.

Ich hatte mich eigentlich darauf gefreut, mit Alyssia viel spazieren zu gehen, ihr alles Mögliche wieder zu zeigen und zu erklären, aber sie schien nichts zu interessieren. Sie freute sich immer, wenn wir wieder im Auto saßen, und nach Hause fuhren. Nur im Wald schien sie es schaurig schön zu finden. Sie um­schlang mich dann ganz fest an der Taille, drückte sich an mich und lachte. Zwischendurch wagte sie immer wieder einen kurzen Rundblick in die Umge­bung, krallte sich fest in meine Seite, und strahlte mich an, als ob sie uns für absolut mutig in dieser schaurigen Umgebung hielte, aber verstehen konnte ich es natürlich nicht. Die einzelnen Bäume konnten es nicht sein, so etwas kannte sie ja aus unserem Park. Es musste also die Atmosphäre sein, die sie als so prickelnd empfand.

Am Sonntagnachmittag rief Torsten an. Oh je das hatte ich ganz vergessen, und die Omi natürlich auch. Torsten hatte gehört Alyssia sei wieder zu Hause. Wo hört man so etwas denn, na egal. Ob er mal vorbei kommen und sie besu­chen könne. Ich schlug ihm vor, dass ich lieber zu ihm kommen würde, das sei für ihn selbst wahrscheinlich einfacher und für Alyssia eventuell ganz inter­essant. „Ist sie denn schon transportfähig?“ fragte er. „Hör mal mein Junge,“ antwortete ich scherzhaft, „transportfähig? Was soll dass den heißen. Sie könnte auch zu dir laufen, wenn's sein müsste.“ Ich klärte ihn auf, wie es Alys ging, und vor allem, dass sie schon wieder eine Menge Französisch verstehe und einiges mehr. Er freue sich und werde bis zu unserer Ankunft fleißig fran­zösisch üben, meinte er. Selbstverständlich bekam er die übliche Begrüßung, und Torsten freute sich auch. Alyssia schaute sich lange fragend im Raum um, aber ein bestätigendes Lächeln erfolgte nicht. Wenn sie jedoch nicht das Emp­finden gehabt hätte, dass es sie möglicherweise an irgendetwas erinnern könn­te, hätte sie sich gar nicht dafür interessiert. Torsten erzählte, wie ich ihn vor­her instruiert hatte, etwas vom Essen, von Käse, von Wein und Negligés und so weiter. „Sie hört dir zu, versteht dich und findet dich o. k.. Wenn sie etwas nicht verstanden hätte, würde sie dich fragend anschauen oder gar nicht rea­gieren. Sie hat sich das alles selber neu beigebracht. Wir haben es aufgege­ben, ihr alles einzeln erklären zu wollen, als wir schon in den ersten Tagen merkten, dass sie selbst aus Gesprächen viel mehr aufschnappt und für ihr Verständnis verwendet.“ erklärte ich Torsten.“Ist eben doch trotz allem eine kluge Frau geblieben, unser Töchterchen.“ meinte er anerkennend. Ich wollte ja nichts sagen. Was war denn an Alyssia außer ein paar Genen und ein paar Kröten unser Töchterchen, doch im Moment war mir das Schnuppe. „Sie ist kein Töchterchen, sie ist eine hübsche junge Frau geblieben, schau sie dir doch mal an.“ gab ich ihm zu verstehen. „Ja sehr, sehr,“ meinte er „es werden sich bestimmt viele junge Männer nach ihr umschauen.“ „Sag's ihr selber auf fran­zösisch. Sie wird es gern hören.“ forderte ich ihn auf. Torsten versuchte es ein wenig verlegen. Er radebrach etwas von schöner Frau, jungen Männern und verliebten Augen, und Alyssia strahlte ihn mit ihrem schelmischen Grinsen mit halb zugekniffenen Augen und leicht vorgestreckten Kopf an. Warum sie das jetzt wohl tat, ob sie sich tatsächlich über den Inhalt besonders freute, oder sie seinen leicht krampfhaften Versuch lustig fand? Torsten erklärte ich einfach, sie benutze eine Vielzahl von mimischen Variationen, und dies sei ein Zeichen, dass sie sich besonders freue. Torsten staunte immer wieder, dass sie so fit und so gut gelaunt sei, nach so kurzer Zeit. Er bat mich seine Hilfe in Anspruch zu nehmen, wo es nur ginge. Ich hätte gesagt, dass ich mit einem Privatjet runter geflogen sei, so etwas könne er doch wenigstens bezahlen, und in der Kanzlei habe ich doch auch gewiss hohe Ausfälle. Ich solle ihm doch etwas sagen oder irgendwelche Summen nennen, er wolle sich doch zumindest finanziell daran beteiligen. Ich dankte ihm, und machte ihm deutlich, dass ich an so etwas bislang noch überhaupt keine Gedanken verschwendet habe, ich aber auf sein Hilfsangebot zurückkommen werde. Mit dem Versprechen, uns bald wieder zu treffen, und der Erklärung von Torsten, dass er immer noch Liebe für mich empfinde, fuhren wir wieder nach Hause.


Semaines prochaines


Die Tage vergingen schnell. Omi Sylvia musste ich am Telefon klar machen, das sie aufhören solle zu weinen. Wir freuten uns alle sehr, und wenn sie sel­ber käme, würde sie sehen, das Heulen völlig fehl am Platze sei. Sie würde sich mit Sicherheit auch freuen, wenn sie käme. So kam's dann auch schon gleich an der Tür. Ich hatte Alys mitgenommen als es klingelte. Riesengroßes Staunen und dann das Lachen mit vorgebeugten Kopf. Sylvia steckte auch ih­ren Kopf vor und machte ihr ein ähnliches Gesicht. „Oh mein Schatz, du bist ja total fit. Am liebsten würde ich dich ja ganz fest drücken.“ und zu mir gewandt, „Ruth, meinst du nicht, dass sie sich von mir anfassen lässt?“ „Sylvia, wir kön­nen's ja nachher mal probieren, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du eine Chance haben wirst. Niemand durfte sie bisher berühren, ihre allerbesten Freunde nicht, außer mir und ihrem Liebsten. Sei nicht enttäuscht, das ist nor­mal. Hier fällt das gar nicht mehr auf. Ich bin mir so gut wie sicher, dass es auch bei dir nicht anders sein wird. Aber du sollst anscheinend die Treppe rauf kommen, sie will dir bestimmt etwas zeigen. Gib mir deinen Mantel. Omi Sylvia bekam das neue Nachthemd gezeigt und das Ballkleid, das Alys sofort wieder anziehen wollte. „Non, non, pas maintenant!“ erklärte ich. Vielleicht können wir ja heute Abend noch einmal tanzen. Dazu kannst du es dann anziehen. Mir fiel ein, dass wir Alyssias Ankunft noch gar nicht gefeiert hatten, das durften wir nicht mehr lange hinausschieben, sonst passte es ja nicht mehr. Aber jetzt musste ich Sylvia alles erklären, während sie sich dabei in der Bibliothek im Hintergrund Jaques Brel anhören musste. „Sylvia du wirst französisch lernen müssen, dann kannst du dich mit deiner Liebsten unterhalten. Sich von ande­ren etwas erzählen lassen, ist zur Zeit ihre liebste Beschäftigung, aber eben nur französisch.“ erklärte ich. „Wie könnt ihr Alys denn so etwas anziehen?“ fragte Sylvia und wies auf Alys Top, den sie auch heute wieder anziehen muss­te. „Wir ihr anziehen?“ reagierte ich entgeistert „Mademoiselle lässt sich nicht von uns anziehen und auch nicht ihre Sachen auswählen. Meinst du ich hätte es nicht versucht. Keine Chance.“ „Da ist sie ja doch noch die alte geblieben.“ meinte Sylvia. „Ja selbstverständlich ist sie die alte geblieben.“ergänzte ich er­klärend, „Nur das sie eben Vieles nicht mehr weiß. Wenn sie dich so freundlich anlächelt und sich freut, dass du da bist, ist das auch die alte, das hat ihr keiner in den Kopf operiert. Wenn sie dir stolz etwas vorführt, ist das auch die alte, die denkt, dass du Interesse an ihr hast und dich freust, wenn sie sich freut. So erleben wir sie hier, dass sie nicht spricht, und sich nicht berühren lässt fällt uns gar nicht mehr auf, und dass sie vieles vergessen hat, ist für alle Anreiz ihr Neues beizubringen. Das macht besondere Freude, da sie sehr schnell lernt und nichts zu vergessen scheint. Das Nachthemd zum Beispiel bedeutet ihr besonders viel. Sie hat es sich richtig erkämpft. Sie wollte es unbedingt haben, aber das Seidenhemdchen war so unverschämt teuer, das ich es nicht kaufen wollte. Sie bestand aber unbedingt darauf, und wollte es nicht wieder rausgeben.“ „Dann kannst du ihr das doch auch nicht abschlagen.“ meinte Sylvia, „Das muss doch für dich selbst die größte Freude sein, wenn du ihr eine Freude machen kannst. Hilft Torsten dir denn etwa nicht?“ „Doch er hat mir jede Hilfe angeboten, ich solle ihm sagen wie viel.“ meinte ich eine zufriedenstellende Antwort zu geben. Aber Sylvia war da anderer Ansicht. Was ich durchgemacht hätte sei doch sowieso mit Geld gar nicht zu bezahlen, und dass ich hohe Kosten gehabt hätte und haben würde, sei doch klar. Er könne von sich aus doch mal einfach etwas überweisen, sozusagen als Vorschuss. Da würde sie sicher für sorgen, wie ich sie kannte. „Aber Alyssia scheint's ja nicht nur gut zu gehen, sie scheint ja auch schon wieder recht selbstständig. Du hast Recht, ich wüsste nicht warum man weinen sollte, höchstens Freudentränen. Schade ist nur, dass sie mich nicht verstehen kann, aber ich kann doch kein französisch mehr lernen, dafür bin ich ja viel zu alt.“ meinte Sylvia. „Zu alt, das gibt’s doch nicht. Es wird deinem Gehirn gut tun. Alyssia muss auch alles völlig neu lernen, und es bringt ihr keiner bei. Sie lernt es selber, aus dem was sie hört. Wir haben hier drei Franzosen im Haus, die alle Alyssias derzeitigen Wortschatz so ziemlich kennen, mit denen könntest du ja schon mal anfangen. Das wäre doch was.“ schlug ich vor. Sylvia schien zu überlegen. Aufgeweicht war ihre eindeutige Ablehnung auf jeden Fall.

Sylvia war immer aufs Neue erstaunt und überrascht. Ihr etwas, auf den Teller geben, kleinschneiden, füttern, an so etwas hatte sie eher gedacht. Aber vor ihr saß die Königin der Tafel, die zwischendurch aufschaute, andere anlächelte, Wein trank und sich auf unserer größten Käseplatte sicher orientieren konnte. Früher war es auch immer gemütlich am Tisch gewesen, aber jetzt war es im­mer offen freudig, wenn man jetzt nicht gerade Alyssia ein paar Worte sagte, scherzte man mit dem Nachbarn, und Omi Sylvia fragte, ob das etwa jeden Abend so wäre, dann seien wir das glücklichste Haus, das sie je erlebt habe. Sie blieb auch noch einige Tage, obwohl sie es gar nicht vorgehabt hatte. Die anderen hatten ihr auch zugeredet, doch Französisch zu lernen, das sei ja ihre einzige Chance, mit Alyssia zu kommunizieren, sonst könnten sie sich nur an­schauen oder mal etwas zeigen. Also fing sie schon gleich an. Wenn Camille dabei war, ging's natürlich einfacher, aber Sylvia schien es viel mehr Spaß zu machen, mit den beiden Jungen, Lucien und Julienne, zu lernen. Alle schienen ihre Freude dabei zu haben, und hatten ständig etwas zu lachen. Die tollste Bestätigung für Sylvia aber war, dass Alyssia sie verstand, und sie freundlich anstrahlte, wenn sie zum Beispiel: „Gute Nacht meine Liebe.“ auf Französisch sagte. Sylvia hatte sich schon einen dicken Block voller Vokabeln und Rede­wendungen aufgeschrieben, als sie fuhr, und war bestimmt für einen Anfänger­kurs in Französisch völlig überqualifiziert.

Ich nahm Alyssia mal mit in die Kanzlei. Sie wahr zwar öfter hier gewesen,aber wir hatten uns nur manchmal hier getroffen, wenn wir gemeinsam in die Stadt wollten. Das Haus selbst ließ sie völlig unberührt. In meinem Büro aber intensi­ves Grübeln. Ich setzte mich in meinen Schreibtischsessel, jetzt hatte sie's und strahlte. Sie wollte darin sitzen, und strahlte. Warum hatte ich nicht einen Fo­toapparat dabei, da sie es doch so liebte, sich Bilder anzuschauen, und die Um­gebung, auf den Fotos, die sie sich anschaute, schien sie ja auch in gewisser weise wahrzunehmen. Es waren ja nicht ausschließlich die Gesichter. Bei den Klinikfotos schien sie ja eindeutig erkannt zu haben, dass hier noch etwas fehl­te. Wir mussten doch Fotoapparate genug im Haus haben, aber wo? Ich wollte Anja fragen. Anja hier zu treffen, war natürlich die totale Überraschung. Alys stellte sich gebeugt vor sie hin und strahlte, und jetzt sah ich sie auch ihre ge­spreizten Hände drehen, wovon Julienne berichtet hatte. Anja hatte selbst hatte einen Fotoapparat, und sie meinte zu Alys: „Das ist die größte Freude die ich heute hier erlebe, dass du mich besuchen kommst, meine Liebe.“ und zu mir, „Ich möchte ihr so gern einen Gefallen tun, womit kann man ihr denn eine Freude machen?“ „Mit Käse und Wein,“ scherzte ich, „Nein Nougat aus Monteli­mar ist das einzige, was ihr an Sweets gefällt, aber es muss schon original sein. Imitate, die man hier viel bekommt, werden abgelehnt.“ Anja schaute so­fort im Netz nach. „Ja genau der,“ zeigte ich auf den Bildschirm, „den mag sie auf jeden Fall sehr gern.“ Sofort wurden Unmengen bestellt. „Vielleicht mag ich ihn ja selber auch gern.“ beantwortete Anja lächelnd meinen erstaunten Blick. „Anja, Alys scheint dich ja sehr gern zu mögen, wir wollen übermorgen ihrer Rückkehr feiern. Dickes Essen und dann Ball mit Tanzen. Hättest du nicht Lust zu kommen. Alys würde sich bestimmt sehr freuen.“ und ich erklärte ihr die näheren Zusammenhänge. Natürlich würde sie in ihrer schönsten Abendrobe erscheinen, und lachte sich halb tot. Ich wollte noch wissen, was unsere Ost­asienabteilung denn machte. Ich hatte die Befürchtung, dass ohne mein Inter­esse wahrscheinlich alles eingeschlafen sei. „Nein, nein,“ meinte Anja, „er kommt voran. Toller Typ, der Andy, der macht das ganz alleine. Er will mir das oft detailliert erklären, aber ich kann das alles gar nicht aufnehmen. Ich stecke ja auch selbst bis über beide Ohren in der Arbeit. Er wird sich sicher freuen, wenn er dir etwas berichten kann. Er wollte übrigens ständig wissen, wie es Alyssia und dir ging.“ Also gingen wir auch noch zu Andreas Kühne. Andy? Fand Anja eventuell mehr als seine Arbeit gut an ihm? Nachempfinden hätte ich es sehr gut können. Freudestrahlend empfing mich Herr Kühne, und wollte gleich alles wissen. Ich erklärte ihm, dass wir uns zuerst mal vor meiner Toch­ter begrüßen müssten, und ich ihn als meinen Freund vorstellen würde, da sie sonst fremde Menschen ablehne. Ich erklärte Alys alles auf französisch natür­lich und strahlend war alles geklärt. Französisch versteht sie einiges, alles neu gelernt. „In der kurzen Zeit?“ staunte Herr Kühne, „Sie hat doch noch lange im Koma gelegen, habe ich gehört.“ „Ja, ja, sie hat sofort alles Mögliche aus Ge­sprächen aufgegriffen, und es nicht wieder vergessen. Wir bringen ihr nichts speziell bei. Sprechen sie zu ihr mal über … .“ und ich nannte ihm die Bereiche, aus denen sie sicher etwas verstand. Er stellte sich noch einmal vor, begrüßte sie und bat sie doch im Sessel am Schreibtisch gegenüber Platz zu nehmen. Was sie auch abwechselnd mich und Andy Kühne anstrahlend tat. Dann legte sie ihre Arme auf den Schreibtisch, beugte sich vor und fixierte Herrn Kühne, der ihr alles Mögliche und auch noch mit viel Mimik und Gestik und dazu noch ziemlich witzig erzählte. Als er dann noch meinte 'Monsieur Kühne' und 'Mademoiselle Stein', das sei doch blöd. Er wäre lieber nur 'Andy' für sie, und würde sie gern nur 'Alyssia' nennen, freute sie sich wieder diebisch. Er bekam ein Lachen mit halb zugekniffenen Augen und schon wieder dieses Händedrehen, das wir bis jetzt nur zweimal gesehen hatten. Alyssia scheint sie außergewöhnlich zu mögen, ihre Erzählungen haben ihr sichtbar ungeheure Freude bereitet. Sie werden ihr noch mehr erzählen müssen, zum Beispiel vom Tanzen und Ballkleid und Seidennegligés, da versteht sie auch einiges. Alys schien ihn wieder gut zu verstehen, und schaute zwischendurch manchmal zu mir, als ob sie fragen wollte: „Woher weiß der das alles?“ Oder vielleicht auch: „Ist der nicht klasse?“. Zumindest schien es ihr sehr zu gefallen und Andy war auf jeden Fall ihr Typ. Ich kam auf die Idee, ihn zu unserer Fète einzuladen. Eigentlich hatte er mit uns privat ja gar nichts zu tun, aber Alys würde es bestimmt freuen, und außerdem sprach er ja fließend Französisch, besser als ich mit meinen, mittlerweile zwar relativ gut ausgebauten, Schulkenntnissen. Er würde sich auch gut mit Lucien und Julienne unterhalten können. Ich klärte ihn auf und lud ihn ein. Monsieur Kühne zögerte ein wenig. Ich sagte ihm, dass Anja auch kommen würde, er für Alyssias Freunde und besonders für sie selbst eine große Bereicherung wäre, und er bestimmt noch weiter in ihrem Ansehen steigen würde, wenn er beim Fest dabei sei. Also kam er. Er meinte noch, ob wir uns nicht auch duzen sollten. Er duze sich mit fast allen hier, auch mit Anja, nur ich nenne ihn immer noch Herr Kühne, ob ich nicht auch schlicht Andy zu ihm sagen wolle. Ich, meine Frühlingsknospe Andy nennen und er mich Ruth? War das nicht ein wenig riskant für mich? Ach Quatsch. Niemals. Also d'accord, die Ruth bin ich dann für den Andy. Jetzt strahlten wir uns an, und ich fuhr mit Alys wieder nach Hause. Dass ich Andy, einen völlig Fremden, eingeladen hatte schien den anderen nicht so sehr zu behagen, wurde aber nach meinen Erklärungen akzeptiert. „Lucien, ich glaube du bekommst Konkurrenz.“ meinte ich scherzhaft, was der nur mit einem selbstsicher überheblichen Augenaufschlag quittierte.

Ralf wollte allerdings noch wissen, ob ich Andy eingeladen habe, weil ich ihn selber gern möge. „Wenn ich nicht dich, sondern Andy damals kennengelernt hätte, könnte ich mir durchaus vorstellen, Interesse an ihm gehabt zu haben. Aber da war er noch ein Schüler, und jetzt reicht mir ein frecher Mann völlig aus. Ich finde es zwar angenehm, dass er bei uns arbeitet, aber darüber hin­aus sollen sich mal die jüngeren Damen um ihn kümmern. Vielleicht bevorzugt er auch Männer. Ich weiß nichts von ihm, außer dass er nicht verheiratet ist. Ich will auch gar nichts Weiteres wissen, mein lieber Herr Gemahl. War das eine ausreichende Auskunft für sie?“ Schien es gewesen zu sein, denn es hatte die üblichen Folgen, die kleine Sticheleien immer bewirkten.

Die Feier zu Alyssias Rückkehr wurde wundervoll. Die Damen alle in Ballklei­dern. Alyssia stolz wie eine Königin, hörte gar nicht auf zu strahlen. Und es kam wie erwartet. Dass Andy bei uns auftauchte, schien der absolute Gag zu sein. Allen musste ihre Neuentdeckung vorgeführt werden, und Alys war nur mit Mühe davon abzubringen, ihn nach oben zu lotsen. Ob sie ihm auch wohl ihr Negligé zeigen wollte, denn das Kleid hatte sie ja schon an. Lucien wollte wissen, was er ihr denn erzählt habe, dass sie so begeistert sei. Julienne hatte sich extra mit Camille ein Kleid ausgeliehen und sich frisieren lassen. „Mon Dieu, Julienne,“ entfuhr es mir, „ich wusste gar nicht, dass du so schön sein kannst.“ Sie lächelte leicht verlegen, und ich meinte während wir uns umarmten: „Du musst dich anders zurecht machen. Das kann man doch im Alltag nicht einfach so verstecken. Das brauchst du doch für dich selber.“ Für mich stand fest, dass wir in den letzten Tagen, die sie noch hier waren, auf jeden Fall mit Julienne noch Klamotten kaufen würden. Die Herrn waren nicht ganz so 'comme il faut' gekleidet, aber das fiel auch weniger ins Gewicht. Wir hatten draußen gedeckt, und ich schärfte allen noch mal ein, Obacht zu geben, dass sich Alyssia nicht selbst anderen Wein einschenkte. Tanzen war das absolute Highlight. Durch die vielen Kussunterbrechungen und einer Pause nach jedem Tanz wurde es auch für Alyssia nicht zu anstrengend. Andy hatte seinen Fotoapparat mitgebracht, wir hatten natürlich wieder nicht daran gedacht. Andy tanzte auch mal mit jemand anders, aber am besten schien es ihm mit Julienne zu gefallen. Die beiden lachten und scherzten, schauten sich an und ließen durch ihre Mimik erkennen, dass es beiden sehr gut gefiel. Da hatte ich gar nicht dran gedacht. Das wäre doch was, wenn die beiden Gefallen aneinander finden würden. Aber ich wusste ja in dieser Beziehung von Andy nichts. Homophil schien er ja offenbar nicht zu sein, aber dann hatte so ein hübscher netter junger Mann doch bestimmt eine Freundin. Oder hätte er etwa Schwierigkeiten mit Frauen, aber er schien ja wohl charmant plaudern zu können. Alles Unsinn, ich wusste einfach nichts, fertig. Plötzlich waren die beiden verschwunden. „Oh nein, ma chère Julie, wirf dich doch nicht einfach so weg. Du wolltest doch von Alys so viel wie möglich behalten.“ ging es mir durch den Kopf. Aber das musste sie ja schließlich allein entscheiden. Ich konnte ihr ja nicht vorschreiben, mit wem sie wann ins Bett zu gehen hätte. Aber Alyssia war auch verschwunden. Keiner hatte es mitbekommen. Julienne und Andy saßen mit Alyssia in der Bibliothek und unterhielten sich. Sie hätten mal in Ruhe miteinander reden wollen und Alys sei ihnen gefolgt. Welche Erleichterung ich empfand, wusste keiner. Julienne hatte ihn als sehr nett empfunden und könnte sich auch wohl mehr vorstellen, aber wie das für ihn sei, wisse sie überhaupt nicht. Er scheine sie auch wohl zu mögen, aber er habe von seinen Schwierigkeiten erzählt, dass er immer nur oberflächliche Beziehungen gehabt habe, wenn er sich dann vorgestellt habe, mehr und dauerhaft mit dieser Frau zu tun zu haben, sei es zu Ende gewesen. Warum wisse er auch nicht. Ob er die Richtige noch nicht gefunden habe, oder ob es bei ihm ein psychisches Problem gebe. „Aber wenn er dir so etwas alles erzählt, obwohl ihr euch gerade erst kennengelernt habt, ist das doch ein tolles Zeichen.“ meinte ich. Sie hatten auch ihre Adressen ausgetauscht, und wollten sich schreiben.

Der Klamottenkauf wurde wieder zum absoluten Ereignis. Mademoiselle hatte zwar verstanden, dass es um Sachen für Julienne ging, aber sie wollte ent­scheiden. Bei manchen Teilen wurde ihr auch gefolgt, aber hauptsächlich wur­den Camilles Empfehlungen berücksichtigt. Auch Kosmetikartikel wurden nach Camilles Vorstellungen eingekauft. Unterwäsche interessiere sie nicht, meinte Julienne. So ein Stilbruch wurde aber nicht akzeptiert. Bei den Dessous schien es Mademoiselle Alyssia überhaupt nicht mehr zu interessieren, dass es um Ju­lienne ging. Selbstverständlich wurden sofort die exquisitesten Sets angesteu­ert. Alles erklären, half nichts, wenigstens eins musste sie bekommen. Juli­enne, die das gar nicht annehmen wollte, hatte ich erklärt, dass alles vom 'big spender' bezahlt würde, und der gar nicht wisse, wo er mit seinem ganzen Geld sonst hin solle. „Die Frisur steht dir absolut gut.“ meinte ich zu Julienne noch, „Das macht total viel aus. Ich an deiner Stelle würde daran keinesfalls sparen, wenn ich mich einmal so erlebt hätte.“ Bei der Modenschau am Abend wollte Alyssia natürlich auch ihr neues Set vorführen. Sollten wir sie das machen lassen? Nein lieber nicht, sonst würde sie uns später eventuell alle Höschen und BHs vorstellen wollen. Also Modenschau 'mais pas les dessous'.

Als Lucien und Julienne Abschied nahmen, verstand Alyssia es wohl nicht, dass sie jetzt für länger nicht mehr hier sein würden, obwohl Lucien sich zum Ba­guette holen noch nie so intensiv und weinend verabschiedet hatte. Sie hatten ja auch gesagt, dass sie wiederkommen würden, und dann war für sie eigent­lich immer alles o. k.. Richtig realisieren konnte ich es allerdings auch nicht. Seitdem ich wieder in Hamburg war, hatte ja für mich auch eine neue Zeit be­gonnen, und da gehörten Julienne, meine Liebe, und Lucien dazu. Nicht nur dass sie sich viel mit Alyssia beschäftigt hatten, wir hatten ja auch vorher schon die teils sehr schweren 3½ Wochen gemeinsam durchgestanden. Wenn sie jetzt einfach nicht mehr da waren, sie würden meinem Herzen fehlen. Zur Familie gehören war zu schal für das Bild, dass sich mir von ihnen zeichnete, sie hatten einen Platz ganz eng an meiner Seite.


Allein in Hamburg


Als wir in Hamburg ankamen, war es eine Überraschung. Lucien und Julienne auch in Hamburg. Es hatte sich aber so entwickelt, dass sie selbstverständlich hierher gehörten, und jetzt fehlten. Als sie noch hier waren, hatten alle unter­einander fast ausschließlich französisch gesprochen, jetzt sprachen vor allem Ralf und Christoph wieder nur deutsch, außer wenn sie sich direkt an Alyssia wandten. Man antwortete natürlich auch auf deutsch, so dass Alyssia insge­samt nur einen Bruchteil von dem zu hören bekam, den sie vorher immer ver­nommen hatte. Sie war gern in Camilles Nähe, auch wenn sie ihr sagte, dass sie jetzt zu arbeiten habe, und sich nicht mit ihr unterhalten könne. Alyssia setzte sich einfach in einen Sessel oder auf die Couch, und ihr schien's gut zu gehen. Bei mir war's natürlich auch immer in Ordnung. Sie half gern in der Kü­che, wobei sie nach kurzer Anweisung vieles völlig selbständig machen konnte. Natürlich bereitete sie den Café au lait selber zu, und sich dann mit mir am Tisch sitzend etwas erzählen zu lassen, schien purer Genuss. Wenn ich dabei Julienne oder Lucien erwähnte, wollte sie mich immer sofort in die Bücherei zerren, um mit ihnen zu skypen. Das taten wir sowieso fast jeden Tag, aber wenn sie die Namen hörte, sollte es bei den beiden immer sofort sein.

Die Bibliothek war eindeutig wieder ihr Lieblingsraum, nur jetzt nicht um sich mit den Büchern zu befassen, sondern hier wurde Musik gehört und geskypt, hier wurden Fotos angeschaut, und hier ließ man sich etwas erzählen. Am schönsten war es, wenn man dazu abends noch ein Gläschen Wein und ein Stückchen Käse hatte. Allmählich gefiel es allen gut, nach dem Abendbrot sich noch ein wenig bei Wein und Käse in der Bibliothek zu unterhalten. Ich erklärte den beiden Männern, wenn sie versuchten Französisch zu sprechen, würden sie sich doch nur selber helfen, und ihre Sprachfähigkeit verbessern und Alyssia würden sie einen großen Gefallen tun, die habe schon unter dem Entzug von Julienne und Lucien genug zu leiden. Wenn sie's machten würde es ihnen im­mer leichter fallen und selbstverständlicher werden. Ich habe doch auch nur meine minimalen Schulkenntnisse gehabt, und heute würde ich mal vielleicht ein Wort oder eine Redewendung nicht verstehen. Es wüchse ganz leicht und ganz schnell, und besonders bei Camilles professioneller Unterstützung. Les messieurs waren d'accord.

Ich hatte Madame Mercier angerufen und ihr von den vermissten Fotos in der Klinik erzählt. Sie wollte welche machen und per E-Mail schicken. Sie wollte aber auch wissen, wie es Alyssia denn ging, und was sie mache. Sie musste immer lachen, und als ich ihr sagte, dass ihre liebste Beschäftigung skypen sei, meinte sie das sollten wir doch mal probieren, ob Alys sie da wohl wiederer­kenne. Sie müsse dazu allerdings eben zu ihrer Tochter, da ginge das. Wir hol­ten das heiß geliebte Negligé zur Bibliothek, damit sie es Madame Mercier zei­gen könne. Alys schien nicht ganz zu begreifen, was sich jetzt entwickelte. Wahrscheinlich konnte man ihrer Vorstellung nach nur mit den bislang bekann­ten Leuten skypen. Als Madame Mercier auf dem Bildschirm erschien, machte sie riesengroße Augen, schaute mich an, als ob sie fragen wollte: „Wie geht das denn? Ist die das wirklich?“, und schien sich riesig zu freuen. Sie wäre am Liebsten in den Bildschirm hineingekrochen. Ich versuchte ihr zu erklären, das Madame Mercier so nur ihre Haare sehen könne. „Madame Mercier sieht, was auf dem kleinen Bild von dir ist, wenn du so machst oder so kann sie nichts se­hen. Ob sie es verstanden hatte, wahrscheinlich. Sie hielt sich immer in pas­sender Entfernung von der Kamera, und Madame Mercier schien auch der An­sicht, denn sie habe öfter kurz nach unten geschaut. Als sie auf das Negligé zu sprechen kam, forderte ich Alys auf, es doch Madame Mercier mal zu zeigen. Alyssia wollte sich sofort ausziehen und das Neglgé anziehen. Ich erklärte ihr, wie sie es Madame Mercier auch so zeigen könne, was auf dem kleinen Bild zu sehen sei könne Madame Mercier sehen. Und tatsächlich, während Madame Mercier das Prachtstück über alle Maßen lobte, schaute Alyssia angestrengt auf den kleinen Ausschnitt und bewegte das Negligé vor der Kamera. Madame Mercier war ganz überwältigt, und fragte, ob ihre Tochter, die die ganze Zeit hinter ihr stehe, auch mal mit Alys reden könne. Sie müsse sie als ihre Tochter und Freundin vorstellen und ihr einen Kuss geben, dann könnte es gehen. Und tatsächlich, Alys staunte zuerst und schaute genau zu und passte auf, was Ar­lette Mercier ihr zu sagen hatte. Als sie von ihrer Mamon sprach und sie auch ins Bild zog, schien Alys das schrecklich komisch zu finden, und als sie von den Montelimars erzählte, und dass sie sie auch so gerne esse, weil die ja auch so schrecklich lecker seien, wobei sie ein entsprechendes Gesicht machte, war Alys total begeistert und wiegte ihre Schultern. Arlette war schwer in Ordnung. Ich erklärte noch aus dem Hintergrund, dass sie sich verabschieden müssten und ihr zusagen bald wieder zu skypen, wenn sie aufhören wollten, dann sei für Alys alles in Ordnung. Das taten sie dann auch. Madame Mercier rief mich später noch an, um mit mir darüber zu sprechen. Sie war nicht nur verwundert darüber, wie viel sie schon wieder verstand, sie meinte es sei auch wichtig ih­rem Informationsbedürfnis immer neue Nahrung zu geben. Sie schiene ja förmlich danach zu hungern. Und da sie doch auch Zusammenhänge so leicht verstehe, wie bei der Kamera und dem kleinen Bild, könne man ihr doch gar nicht genug anbieten. Wir sollten Obacht geben, dass dieses Interesse aufrecht erhalten bliebe, und sie sich nicht dahin entwickle, das sie nur Bekanntes, Ver­trautes stoisch reproduziere. Dazu käme es bei schwer Hirnverletzten nicht sel­ten. Das wollten wir natürlich auf keinen Fall. Frau Mercier meinte noch, wenn sie sich für Musik interessiere, sollten wir ihr doch mal ihre Gedichte vorlesen oder rezitieren, das sei doch auch rhythmisch und melodisch und wahrschein­lich auch tief in ihr verwurzelt. Ihre Tochter habe sich übrigens riesig gefreut, und gefragt, ob sie sie nicht mal besuchen könnten. Ich erklärte ihr, dass wir sie lieber heute als morgen in Hamburg als unsere Gäste begrüßen würden. Ei­nige Tage später kam eine E-Mail mit Fotos von Frau Mercier in der Klinik und allen Schwestern der Station. Dazu Fotos von Madame Mercier zu Hause am PC und ihrer Tochter. Wunderbar, wir druckten sie aus, damit sie sich die Bilder wie die anderen jederzeit ansehen konnte. Ich rief an, um mich für die vielen Fotos zu bedanken. Warum wir denn nicht skypten, fragte Madame Mercier, sie empfinde das auch sehr angenehm, mich sehen zu können. Sonst habe sie das eher als eine Spielerei für junge Leute angesehen, aber seit sie mit mir und Alyssia gesprochen habe, gefalle es ihr selber sehr gut. O. k. also wurde am PC angerufen und ich rief noch Alyssia, die bei Camille war. Wir kamen kaum zu mehr, als uns zu begrüßen, da wurde ich zur Seite gedrängt. Das war doch ihre Madame Mercier, mit der musste sie doch persönlich sprechen. Ohne das irgendjemand etwas gesagt hatte, hielt sie ihr ein Foto von sich in die Kamera. Sie hatte also übertragen, dass man nicht nur Nachthemden, sondern so alles Mögliche anderen zeigen konnte. Nachdem Madame Mercier einiges dazu ge­sagt hatte, folgte das nächste Bild. So ging es weiter, bis alle Fotos durch wa­ren. Wenn sie das entsprechende gehört hatte, strahlte sie jedes mal. Zum Schluss schien sie etwas zu suchen. Sie schaute mich fragend an, Frau Mercier fragend an, irgendetwas schien sie zu vermissen. Ob es Arlette war, die jetzt zu Madame Mercier dazu gehörte. Sie wurde gerufen, und natürlich jetzt war das Glück wieder komplett. Arlette erzählte ihr dass sie in der Küche sei, und bei der Abendbrotzubereitung helfe, und was es bei ihnen heute Abend zu es­sen gebe. Dass sie von den leckeren Sachen vorher gerne etwas nasche und untermalte alles mit ausdrucksstarker Mimik. Alys starrte immer auf Arlette und wand sich zwischendurch vor Freude. Dann erklärte Arlette, dass sie jetzt wieder in die Küche müsse, verabschiedete sich und winkte mit einer Hand, und Alys machte es auch. Nie hatte sie selbst gewinkt, wenn Leute sich win­kend verabschiedeten, warum machte sie es plötzlich jetzt bei Arlette. Ich wollte auch noch kurz mit Madame Mercier sprechen. Nach einigen Erklärungen war Alys dann einverstanden. Ich sprach noch mit ihr über die mir rätselhaften Phänomene bei Alyssias visueller Wahrnehmung, und sie meinte auch, dass sie ohne die Fähigkeit Zweidimensionales in Dreidimensionales zu transferieren, nicht in der Lage wäre, Personen zu identifizieren. Sie könne ja auch die Umge­bung einordnen und habe ihr das Neglgé selber kontrollierend vorgeführt. Ich solle mich mal mit Wahrnehmungspsychologen, die Alyssias Läsionen beurtei­len könnten in Verbindung setzen. In Anwesenheit von Alyssia könnten wir jetzt wohl nicht mehr ohne Arlette skypen. Diese Begeisterung sei ganz außer­gewöhnlich, und dann gegenüber jemandem, den sie noch nie real gesehen habe. So etwas könne ich mir auch überhaupt nicht erklären. Möglicherweise verspüre sie die ihr entgegengebrachte Zuneigung. Das konnte Madame Mer­cier sich auch gut vorstellen. Ihre Tochter bewundere sie und möge sie sehr gern. Sie habe es schon überall ganz stolz verbreitet, dass sie mit Alyssia Stein ge­skypt habe. Wir verabschiedeten uns lächelnd mit den erforderlichen Floskeln, und wieder hatte sich ein herrliches Erlebnis ereignet.

So vergingen die Tage wie im Fluge. Alte Bekannte wiedertreffen, life oder sky­pend, war Allysias Lieblingsbeschäftigung. Britta und Maximilian, der sich jeden Tag in der Schule von Camille hatte berichten lassen, wollten wissen, was sie ihr denn mitbringen könnten. Ich teilte ihr mit in welchen Preislagen sich Alys­sias bevorzugte Gegenstände bewegten, sie könne es ja vielleicht mal mit ein, zwei Milchkaffeeschalen versuchen, aber elegant und wertvoll müssten sie schon sein, sonst hätten sie keine Chance beachtet zu werden. Britta und Maxe bekamen auch Lust daran, ihr minimales Französisch aufzufrischen und zu ver­tiefen, weil sie es auch für sich selbst als großen Gewinn betrachteten, und mit Alys nicht reden zu können, sei ja unerträglich. Alle mussten Skype installie­ren, damit sie Kontakt aufnehmen konnten. Selbst Omi Sylvia, die zwar einen PC hatte, aber nur ein Schreibprogramm benutzen und im Internet etwas nachschauen konnte, wurde zur intensiven Skype-Aktivistin, die ihrem chèrie immer ihre neuesten Französisch-Errungenschaften vortragen musste.

Mit Elias habe ich erst lange telefoniert, da Lucille mir erklärt hatte, dass er viel wegen Alyssia geweint habe. Ich machte ihm klar, wie und warum wir alle sehr glücklich seien und am meisten Alyssia selber, und dass sein Daumendrücken für Alys bestimmt geholfen habe, denn sie habe riesengroßes Glück gehabt. Ich hätte ihm unendlich viel zu erzählen, und würde ihn sehr vermissen, aber am wichtigsten sei es, das er zunächst mal Alys etwas erzähle. Dazu machte ich ihm die Bedingungen klar, und Elias konnte es gar nicht mehr abwarten, sie am PC zu sehen. Elias konnte sich selbst vor Freude am PC gar nicht mehr hal­ten, und wiederholte immer nur: „Hallo Alys, hallo Alys, oh nein, hallo Alys!“ „Du musst ihr etwas erzählen, sie will von dir etwas hören, und vergiss nicht, gleich Madame Ledoux mit vor die Kamera zu holen.“ sagte ich aus dem Hin­tergrund. Es war Begeisterung pur, und als Madame Ledoux dazu kam, war es nicht mehr zu fassen. Elias und Madame Ledoux gleichzeitig, was sich da wohl in ihrem Kopf ab spielte. Lucille schickte Elias, Henri holen, der würde sich auch bestimmt freuen. Nach der üblichen Musterung wurde er auch freudig be­grüßt und Lucille forderte ihn auf; Alys etwas zu erzählen. Dass er gerade vom Wein komme, und dass es sehr viel Wein in diesem Jahr gebe, und der wahr­scheinlich sehr lecker sei. Alys schien es zu verstehen, und quittierte es mehr­fach mit einem verständnisvollen Strahlen. Er meinte wir sollten doch öfter miteinander telefonieren und mitteilen, worüber man mit Alyssia sprechen kön­ne, Lucille oder Elias würden es dann notieren, und alle wüssten Bescheid. Es tue ihm richtig gut, Alys so lebendig wiedergesehen zu haben. Keine schlechte Idee, sollte ich für mich selber mal machen. Es wahr ja mittlerweile schon so viel, dass ich es auf Anhieb gar nicht mehr alles erzählen konnte. Ich fragte Lucille, ob sie es nicht ermöglichen könnten um Weihnachten oder meinetwe­gen auch gern an Weihnachten selbst zu uns zu kommen, das sei doch für alle wunderschön, und außerdem das Hexentreffen, ich habe es nicht vergessen. Ich sei ja schon wieder sehr gut drauf, meinte Lucille. „Lucille, du magst es mir nicht glauben,“ antwortete ich ihr, „ich war zwar oft sehr eingespannt, aber gut drauf war ich immer. Es gab immer nur jeden Tag eine neue positive Entwick­lung. Mademoiselle, die noch vor ein paar Wochen mehr tot als lebendig war, bereitet sich heute ihren Café au lait selber zu, um nur ein Beispiel zu nennen. Wie soll ich da nicht gut drauf sein, wenn Alyssia selber hier die reine Freude verbreitet. Alle hier sind gut drauf, und haben ihre Freude daran.“ Sie fände den Vorschlag mit Weihnachten gar nicht schlecht, ob uns das denn auch wirk­lich nicht stören würde. Ich versicherte ihr noch mal, dass das Gegenteil der Fall sei. So hatte sich die Liste der häufigen Skype-Kandidaten wieder erwei­tert. Immer wenn Alyssia nicht gerade mit etwas anderem beschäftigt war, fiel ihr ein dass sie skypen wolle. Wir hatten eine Fotoliste von allen, mit denen sie skypen konnte, und nach ihrer Auswahl entschied ich dann, ob es derzeit mög­lich sei. Wenn ich sie gelassen hätte, wäre sie sicher schnell dazu allein in der Lage gewesen. Dass sie auf das entsprechende Icon klicken musste, um star­ten zu können, hatte sie schon mitbekommen, ohne dass es ihr jemand ge­zeigt hatte. Bei Lucien, der sich sowieso jederzeit selbst freute, wenn er Alys sah, machte sie es auch völlig selbständig und konnte erkennen, wenn es zwecklos war, weil er den PC nicht an hatte. Deshalb striktes Gebot, skypen nur mit Mamon.

Die Tage waren ausgefüllt mit Alyssia. Alles drehte sich nur um sie und ihre Entwicklung. Im Moment war das auch toll, gut und richtig so. Aber auf die Dauer, wie sollte es da werden. Sie könnte ja einen herausgehobenen Platz bei mir haben. Das hatte sie ja immer gehabt, aber das übliche Leben musste auch beachtet werden. Ich wollte meine Arbeit in der Kanzlei eigentlich nicht aufgeben, zur Zeit war das aber ein unlösbares Problem. Aber nicht nur die Kanzlei, auch die anderen Bereiche außerhalb von Alyssia konnten nicht immer unberücksichtigt bleiben. Ich durfte diese Gesichtspunkte nicht aus dem Auge verlieren, und wollte sie auch mit den anderen besprechen. Auf jeden Fall wa­ren wir jetzt schon mal ein französisches Haus geworden. Die Herren hielten sich brav daran. Im Bett allerdings gefiel es uns dann doch besser auf deutsch, obwohl es wahrscheinlich französisch viel schöner geklungen hätte. Wir haben uns Alys Liebes- und Traumgedichte im Bett vorgelesen, und so eigentlich erst erfahren, wie schön sie wirklich sind.


Lucien und Julienne


Mit Lucien wurde so gut wie täglich geskypt. Um 17 Uhr war er immer spätes­tens zu Hause und schaltete den PC ein. Alys wollte zunächst immer den Bild­schirm streicheln und küssen, aber auch hier hatte sie schnell den Unterschied zwischen Kamera und ihrem Bildschirm verstanden. Lucien hatte oft Tränen in den Augen, und versicherte Alyssia ständig, er werde bald wiederkommen, und dann würden sie sich wieder richtig streicheln, umarmen und küssen können. Sie würde wieder ihr Ballkleid anziehen und sie würden wieder tanzen. Er wür­de sie ins Bett bringen und ihr ganz viele Küsse geben, sie würden in der Bi­bliothek sitzen, und er würde ihr viele schöne Sachen erzählen. Während Alys­sia sich jedes mal bei den gleichen Worten von Lucien immer wieder mächtig freute, hatte Lucien oft feuchte Augen und schien ihr seinen eigenen Traum zu erzählen, den er lieber heute als morgen realisiert hätte. Mitte Oktober rief mich Madame Renouard, Luciens Mutter an. Sie meinte, Lucien habe völlig den Bezug zur Realität verloren, und es sei mit ihm gar nicht mehr vernünftig zu reden. Er könne es nicht verstehen, warum er und Alyssia, denn nicht zusam­men sein könnten, wenn sie es doch beide wollten. Es sei ja alles schlimm ge­nug für Alyssia, aber dass ihnen jetzt auch noch ihre Liebe verboten würde, die ja zu ihrer beider übergroßen Freude erhalten geblieben sei, könne er nicht verstehen. Er mache kaum noch etwas an der Universität, könne sich nicht konzentrieren, und sei fast jedes Wochenende zu Hause, um ihr immer wieder von Alyssia vorzuschwärmen und zu erklären, dass er ohne sie nicht leben könne. Sie habe manchmal Angst, dass er sich etwas antun würde. Ich erklärte ihr, warum ich das in gewisser Weise nachvollziehen könne. Wir hätten gemeinsam um ihr Leben gebangt, gemeinsam gezweifelt und ausgeharrt, ob sie uns wohl wiedererkennen würde, und Lucien sei von Anfang an ihr absoluter Liebling gewesen. Alyssia sei selig, wenn sie sich umarmten und küssten, oder gemeinsam tanzten. Von ihm habe sie das erste neue Wort gelernt und überhaupt, dass Wörter etwas bedeuteten, und er sei eben bis heute außer ihrer Mutter der einzige, von dem sie sich berühren ließe und zwar gerne. „Aber wie soll das denn funktionieren?“ hob Madame Renouard an. „Mir brauchen sie es nicht zu erklären.“ unterbrach ich sie, „Ich hab es ihnen in Combaillaux ja selber erklärt, und sie haben es auch eingesehen. Ich hab Lucien und Alyssias Freundin mit nach Hamburg genommen, um ihnen den Abschied zu erleichtern. Aber das scheint sich emotional so tief eingegraben zu haben, dort hin, wo rationale Argumente keinen Zugang mehr haben. Es ist Lucien ja auch nichts verboten worden. Im Gegenteil, ich habe die beiden aufgefordert, so oft wie möglich zu kommen, und ihnen angeboten die Fahrtkosten zu tragen, da es ja für Alyssia sei, die selbst noch nicht reisen könne.“ „Aber was soll ich denn machen, Madame Stein, ich habe Angst um Lucien?“ fragte sie ratlos. „Ich frage mich, warum Lucien mir das selber noch nicht gesagt hat. Ich dachte wir seien gute Freunde. Wir telefonieren fast jeden Tag miteinander. Wenn er mir gesagt hätte, dass er nichts mehr tun könne, sich nicht mehr konzentrieren könne, hätte ich ihm gesagt, dass er ganz schnell nach Hamburg kommen solle. Wenn er sowieso nicht mehr arbeitet, was will er dann an der Uni. Vielleicht bekommt man es ja im Beisein von Alyssia wieder hin, die bestimmt nicht gewollt hätte, dass er aufhöre zu studieren.“ antwortete ich Madame Renouard. „Wollen sie nicht mal mit ihm sprechen?“ fragte sie, „Er ist hier.“ Lucien meinte, es sei ihm peinlich gewesen, er habe sich geschämt. Ich befahl ihm fast, sich sofort den nächsten Flieger von Clermont-Ferrand nach Fuhlsbüttel zu suchen, auch Business, ich würde bezahlen. Am nächsten Morgen kam er schon an. Natürlich fuhr ich mit Alyssia zum Flughafen. Als sie Lucien von weitem zu erkennen schien, schaute sie mich zunächst mit großen Augen an, als ob sie fragen wollte: „Ist das wirklich wahr, was ich sehe?“ Dann war's vorbei, beide rannten wie frisch verliebte Kinder aufeinander zu, und hätten wahrscheinlich nie mehr aufgehört sich zu umarmen, zu küssen, und ihre Gesichter zu befühlen, wenn ich sie nicht aufgefordert hätte, das doch lieber zu Hause oder im Auto fortzusetzen.


Mit Julienne telefonierte ich häufig. Sie skypte auch oft mit Alys, aber da blieb ich ja immer so gut wie außen vor. Ich wollte mich mit ma chère Julienne aber doch selbst unterhalten. In den ersten Tagen teilte sie mir schon mit, dass sie zusätzlich Deutsch belegt habe. Wie das, warum, sie konnte doch gar kein Deutsch. Sie hatte sich gedacht, dass es nicht schlecht sei deutsch zu lernen, damit sie später eventuell auch mal in Deutschland leben könne, und so einen Anfängerkurs, der ein halbes Jahr dauere mit zwei neuen Vokabeln jede Wo­che, finde sie zum Einschlafen. Jetzt habe sie zwei aufeinanderfolgende Inten­sivkurse belegt, bei denen man garantiere, sich nach einem halben Jahr pro­blemlos in Deutschland unterhalten zu können. Da sei ihr die Idee gekommen, warum sie es da nicht gleich als Studienfach belegen solle, dann könne sie ja auch in Deutschland schon studieren. Ob das denn nicht neben den anderen Studienbereichen eine Überforderung sei. Sie werde ohne Zweifel viel büffeln müssen, aber arbeiten könne sie an sich ganz gut. Zusätzlich würde es sie eher davon abhalten, auf irreführende Gedanken zu kommen. Wenn sie mal verzweifle, müsse ich sie mental unterstützen. Das erste Semester sei sicher am schwierigsten, da sie ja überhaupt keine Vorkenntnisse habe. Ob sie mich da mal öfter um Hilfe bitten dürfe? „Jeden Tag sieben mal, ma chère,“ antwortete ich ihr, „und Camille auch bestimmt, die ist ja französische Deutschlehrerin.“ Was dazu wohl der Hintergrund war. Wollte sie in Alyssias Nähe leben und arbeiten können, oder dachte sie dabei an Andy, der ihr vielleicht doch viel besser gefallen hatte, oder wollte sie eventuell näher bei mir, bei uns sein können, alles schien möglich, vielleicht kam auch alles zusammen und sagte ihr, wenn du eins von dem willst, musst du Deutsch lernen. In der folgenden Zeit rief Julienne tatsächlich oft mehrmals täglich an, weil sie etwas erklärt oder übersetzt haben wollte. Es gab natürlich auch immer ein nettes Wort oder ein Scherzchen.

Wir sprachen auch noch mal über ihr Outfit. Ich meinte, im Abendkleid sei mir aufgefallen, das ist die wirkliche, die wunderschöne Julienne. Ich meinte sie habe sonst in ihrem Äußeren immer so herb, schroff und spröde gewirkt. Viel­leicht hätte sie den Eindruck erwecken wollen, aber warum? „Du bist doch zum Glück eine sensible, einfühlsame, und feinsinnige junge Frau. Darauf kannst du doch stolz sein. Lass das doch erkennen. Das heißt doch überhaupt nicht, dass du nicht eine starke Frau bist. Dafür ist doch entscheidend, dass du weißt, was du willst und das harte Outfit und die grande Gueule sind meist nur ein Zei­chen dafür, dass du so tun willst, als ob du's wüsstest, aber in Wirklichkeit völ­lig unsicher bist. Du siehst so richtig exquisit, stilvoll und kultiviert aus. Das passt zu dir. Sei stolz drauf.“ versuchte ich meine Vorstellungen näher zu er­läutern. „Ja, ja, das stimmt schon.“ meinte Julienne, „die raue Schale das ist nicht mein ich. Am Tisch habe ich mich über Alyssias Traumprinzenliebe lustig gemacht, und hinterher im Bett habe ich geheult, dass ich so etwas niemals bekommen würde.“ „Bleib so, wie du jetzt bist Julienne, dann werden sich alle Traumprinzen dieser Welt um dich reißen.“ antwortete ich leicht scherzhaft. „Ich würde euch alle so gerne wieder sehen.“ fügte sie noch hinzu. Ich erklärte ihr, das das allein an ihr läge. Als sie im Oktober erfuhr, dass Lucien hier sei, wollte sie auch kommen, aber sie könne nur übers Wochenende. Selbstver­ständlich wieder Business.

Bei Juliennes Ankunft wieder das gleiche nur ohne Umarmung natürlich. Der Flughafen schien eine gute Adresse. Zu Hause wurde Lucien vor Julienne plat­ziert, als ob Alys zu Julienne sagen wollte: „Schau mal wer hier ist.“. Sie um­armten sich natürlich auch, nur statt vieler Küsse, bekam Lucien zu hören: „Du alter Bock, warum hast du dich so selten gemeldet?“ The hole Family war wie­der komplett, Alyssia ließ es deutlich erkennen. „Deutsch lernen, wieso bin ich nicht auf den Gedanken gekommen? Warum hast du mir nichts davon erzählt?“ fragte Lucien, als er davon erfuhr. „Du scheinst dich ja für mich überhaupt nicht mehr zu interessieren. Und mir immer dein herunterziehendes Gejammer anzuhören, dafür ruf ich dich nicht an.“ gab Julienne zur Antwort, die ich spä­ter über Luciens Situation informierte. Sie meinte, sie brauche noch Sachen für den Winter, Camille habe sie so gut beraten, darüber hinaus mache das Ein­kaufen mit Alys viel Spaß, aber diesmal bezahle sie selbst. Also wurden am Samstagmorgen Klamotten gekauft. Die chicsten Sachen, gehörten natürlich meist zu den teuersten. „Nein, das ist zu teuer. Das kann ich mir nicht leisten.“ erklärte Julienne, während Alyssia solche Skrupel überhaupt nicht kannte. Nur wenn ich ihr erklärte, sie habe so etwas schon zu Hause und brauche nicht noch ein zweites davon, war sie bereit das Teil wieder herauszurücken. „Ma chère, ich kann das nicht haben, dass du die Sachen, die dir am besten stehen, wieder weg hängst, weil sie dir zu teuer sind. Du hast mir so unendlich viel ge­geben, was ist dagegen schon ein bisschen Geld. Ich freue mich doch auch, dich als 'La belle de l'hiver' zu sehen. Lass es mich bezahlen.“ bat ich Julienne. Mademoiselle entdeckte immer neues für sich. Besonders die teuersten Leder­jacken hatten es ihr angetan. Nur mein striktes „Non fini!“ konnte sie von wei­teren Einkaufswünschen abhalten. Etwas brauchte sie ja schließlich auch für die kalten, stürmischen und nassen Hamburger Wintertage.

Wie es denn mit Andy stehe, ob sie den nicht besuchen wolle, fragte ich Juli­enne. Sie hatte mir erzählt, dass er ihr so sonderbare Briefe schreibe. Am An­fang seien sie wunderschön, richtig poetisch fast, und zum Ende würde er im­mer absolut nüchtern und kühl. Und immer nur die langweilige Grußformel „Je t'embrasse, Andy“, als wenn er seiner Tante schreibe. Sie könne überhaupt nicht einschätzen, welche Vorstellungen er habe. Sie freue sich immer sehr über seine Briefe, aber zum Schluss müsse sie immer weinen. Wenn er kein Interesse an ihr habe, würde er ihr doch nicht so oft schreiben, und so wun­derschöne Fotos mitschicken, die er selbst gemacht habe, aber warum dann immer dieser Schluss, der für sie so klinge wie, sie brauche sich überhaupt kei­ne Hoffnungen zu machen. Julienne hatte Andy nicht darüber informiert, dass sie an diesem Wochenende nach Hamburg komme, und sie wollte ihn auch nicht sehen, ihre blumigen Worte über Monsieur Kühne verdeutlichten aber schon, dass er ihr überhaupt nicht unbedeutend war. „Sag mal ehrlich,“ wollte ich von Julienne wissen, „magst du Andy, liebst du ihn?“ „Ja ich mag ihn schon irgendwie sehr gern, und finde ihn eigentlich auch ganz toll, aber soll ich ihm schreiben 'Andy, ich liebe dich', wenn sein letzter Brief mit der Frage endet, ob wir uns wohl jemals wiedersehen würden.“ antwortete Julienne leicht zornig und verzweifelt. Ich fand Juliennes Vorgehen auch richtig, sie solle auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als ob sie ihm nachliefe, warum er so sonderbare Briefe schrieb, blieb mir allerdings auch verschlossen.

Julienne erklärte noch, dass sie sich in den nächsten Tagen entscheiden müs­se, ob sie jetzt schon ein Auslandssemester in Deutschland mache, und dass Hamburg auch möglich sei. „Gibt es denn da eine Frage?“ wollte ich von ihr wissen, und sie nannte ein paar geringfügige Bedenken. „Julienne, das ist doch klar. Du wirst im Sommersemester bei uns sein. Mon Dieu, wie wunderschön. Camille meinte, es sei, doch schwer für sie, hier in einem der Gästezimmer die ganze Zeit zu wohnen und zu studieren. Sie würden zwei von ihren Räumen so gut wie gar nicht nutzen, dort könne Julienne doch wohnen, dann habe sie einen Arbeits- und Lebensraum und ein Schlafzimmer. Das könne sie doch gar nicht bezahlen, die Unterstützung für das Stipendium sei sehr geringfügig. „Ich spring dir gleich an die Gurgel, Julienne,“ schaute ich sie leicht böse an, „wenn du noch mehr so dämliche Argumente bringst, oder willst du es in Wirklichkeit gar nicht?“ „Ja und das Haus in Combaillaux, was wird damit?“ fragte sie. „Willst du etwa Alyssias Haus verkaufen?“ fragte ich leicht ironisch „Wenn es keiner mehr nutzt, ist es eben unser gemeinsames Ferienhaus. Ich kann es mir nicht vorstellen, nicht mehr an den Ort zurück zu können, wo wir gemeinsam um Alyssias Leben gebangt haben, wo ich sie so oft in ihren glücklichen Tagen besucht habe, wo sie so voll Freude gelebt hat. Julienne, dieses Haus können wir doch nicht einfach verlassen und Fremden geben, das würde dir doch auch weh tun, oder?“ Wir besprachen noch Details für's Sommersemester, und Camille schärfte ihr noch mal ein, sie jeder Zeit anzurufen, wenn es irgendein Problem gebe. Überlegungen für den nächsten Besuch führten dazu, dass Julienne auch Weihnachten kommen würde. Am Flughafen erlebte Alyssia jetzt zum ersten mal, dass hier nicht nur heiß geliebte Freunde ankamen, sondern auch verabschiedet wurden. Das PC-Winken, die gespreizte Hand hin und her bewegen wie bei Arlette, gab es auch für Julienne. Anscheinend reizten sie flatternde Hände nicht zur Nachahmung.

Lucien schien es bei uns prächtig zu gehen. Dass er verzweifelt, traurig, un­konzentriert sein könne, war nicht vorstellbar. Aber wie sollte es weiter gehen. Er konnte doch nicht einfach hier wohnen, mit Alyssia schmusen und ein wenig im Haushalt helfen, und dabei langsam älter werden. Alyssia zog mittlerweile zum Mittagsschlaf nicht mehr extra ein Nachthemd an und stand auch selb­ständig auf, wenn sie wach wurde. Zu Anfang hatte sie auf der Bettkante sit­zend gewartet, bis sie abgeholt wurde. Aber zum Schlafen hin begleitet wer­den, war für sie immer noch unverzichtbar. Ein paar nette Worte, ein Lied und gegebenenfalls ein paar Küsse waren für's Einschlafen zwingend erforderlich. Alys war vom Mittagsschlaf schon wieder herunter gekommen und zu Camille gegangen. Ich wollte nachschauen, wo Lucien steckte. Er war mit Alyssia sel­ber eingeschlafen und wurde wach, als ich das Zimmer betrat. Ich legte mich zu ihm aufs Bett. „Sag mal Lucien,“ fragte ich ihn, „warum nennt Julienne dich eigentlich immer 'alter Bock?“ „Das sagt sie ja nicht immer, nur ganz selten.“ erwiderte Lucien „so ein wenig spaßige Stichelei, aber ich glaube auch, dass sie immer so etwas ähnliches wie eifersüchtig war. Alyssia war ja dann für sie nicht mehr da, wenn wir zusammen ins Bett gingen, und weil Alys ja keine Schuld treffen konnte, war ich der Bock, der mit ihr ficken wollte, obwohl es in Wirklichkeit eher umgekehrt war.“ Ob er jetzt viel daran denke, wollte ich von ihm wissen. Ganz selten, so gut wie nie. Er denke immer an jetzt, wie sie sich über ihn freue, ihn lieb habe und anstrahle, ihm zuhöre und von ihm geküsst werden wolle, das sei natürlich seine Alyssia von früher, es störe ihn auch gar nicht, dass sie sich nicht unterhalten könnten, obwohl es ihnen früher sehr viel bedeutet habe, und sie es sehr gern getan hätten. Er könne meine Position von damals in Combaillaux jetzt nicht nur gut nachvollziehen, sondern empfinde absolut genauso, und könne sich etwas anderes gar nicht mehr vorstellen. Die­se Alyssia sei es, die er so vermisse, wenn er nicht hier sei. Sie möge ihn und liebe ihn und wolle ihn gern spüren, und das sei nicht möglich. Es zwinge sich ihm ständig auf, und stimme ihn ungeheuer traurig, dass es nie möglich sei. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass es bei mir im Kopf schon nicht mehr ganz richtig zugeht. Einerseits freue ich mich riesig, wenn ich sie beim Skypen auf dem PC sehe, aber hinterher bin ich oft umso trauriger, dass sie dann nicht real bei mir ist. Manchmal umarme ich tatsächlich hinterher den PC und küsse den Bildschirm. Ich habe schon mal daran gedacht zum Psychiater zu gehen, aber soll ich mir von einem Arzt meine Liebe zu Alyssia weg therapieren las­sen? Selbst wenn's ginge, wollte ich das doch gar nicht.“ so erläuterte Lucien weiter sein großes Problem. Ich erzählte Lucien von meiner Situation als Ralf in Magdeburg war. „Du Ruth?“ fragte er ungläubig, „Ich dachte dir könnte so etwas gar nicht passieren.“ „Für jeden Menschen kann es etwas geben, dass ihn seelisch aus dem Gleichgewicht bringt.“ meinte ich dazu, und mir wurde zunehmend selber klarer, dass Lucien nicht einfach durch gutes Zureden zum fleißigen Studieren in Montpellier zu bewegen sein würde. Ich hatte nichts derartiges gesagt, aber Lucien meinte: „Ruth, ich glaube du bist die einzige, die meine Situation verstehen kann.“ Wir schauten uns an, und umarmten uns. Ich musste dabei an Alyssia denken, wie sie früher ihren Lucien umarmt, und sich dabei erotisch angeregt gefühlt hatte. Ich streichelte ihm übers Haar und meinte: „Lucien, ich werde dir helfen, wie und wo es nur geht. Du bist für mich so etwas Ähnliches, wie ein Teil von Alyssia, aber ich weiß überhaupt nicht, wie und wodurch ich es tun könnte. Einfach nur hier sein, und Alyssia lieben, dass ist auch keine Hilfe oder Lösung. Du selbst bist ja auch noch mehr, als der Lucien, der Alyssia liebt. Der Lucien, der Kunst und Philosophie und die französische Literatur liebt, ist ja nicht ausgelöscht, auch wenn ihm das momentan nicht viel bedeutet. Ich mag diesen Lucien auch sehr, und er ist immer mit dabei in meinem Bild, wenn ich sehe, wie dieser hier“ wobei ich ihn leicht lächelnd rüttelte, „und meine Tochter sich liebend umarmen. Ich fände es äußerst schade, wenn du versuchen solltest, ihn zu missachten, und Alyssia wahrscheinlich erst recht. Sie hat zu diesem Lucien ja erst ihre Liebe entwickelt.“ erläuterte ich selber eigentlich ratlos. Es schien ihn zu bewegen. „Ich will das ja auch nicht. Ich bin ja zu Semesterbeginn wieder nach Hause gefahren, weil ich selbstverständlich weiter studieren wollte. Ich habe mir ja nicht gesagt 'Ach Studium, interessiert mich nicht, ich träume lieber von Alyssia.' Ruth, es ist wie eine Sucht in mir, von der ich mich nicht lösen kann, über die ich keine Macht habe. Ich kann mir nicht vornehmen: tagsüber studiere ich, abends träume ich von Alyssia, es kommt einfach, ist ständig da, wann es will, und scheint immer schlimmere Formen anzunehmen. Wenn ich mir selber aufzeige, wie absurd ich mich verhalte, hat das überhaupt keinen Einfluss darauf.“ verdeutlichte er noch näher, „Wenn ich hier bin, ist es so, als ob es das alles nie gegeben hätte. Ich kann auch allein sein, und etwas lesen, wenn sie zum Beispiel bei Camille ist oder dir in der Küche hilft. Ich hänge nicht immer an ihren Fersen. Meistens ist sie es, die mich zu irgendetwas veranlasst. Wenn ihr einkaufen oder sonst wie unterwegs seid, warte ich nicht sehnsuchtsvoll auf ihre Rückkehr. Es ist einfach alles ganz normal.“

Sollte ich ihn auch mal zu meinem Professor Rütten schicken? Ich war skep­tisch, und dann nur französisch und spanisch verstehen können, was konnte das bringen. Klar war für mich nur, dass er so nicht einfach wieder nach Mont­pellier fahren konnte, und dass er etwas tun musste, um nicht intellektuell zu verkommen, aber was. „Lucien, dass du gern hier bleiben kannst, ist ja über­haupt keine Frage. Das hätte dir ja selbstverständlich immer offen gestanden, aber hast du dir denn schon mal irgendwelche Gedanken gemacht, wie es wei­ter gehen, könnte?“ fragte ich ihn. „Auf jeden Fall werde ich jetzt auch ganz schnell Deutsch lernen. Nur ich kann dazu nicht nach Montpellier fahren, und ein halbes Jahr auf Alyssia warten, das funktioniert nicht. Da weiß ich im Vor­aus, das so etwas nicht läuft. Einige Wochen, wenn's hoch kommt, werde ich vielleicht von der Perspektive leben können, aber spätestens dann wird sich die gleiche Situation wieder entwickeln, da bin ich mir absolut sicher. Ich bin nicht so stark, dass ich das verkraften könnte.“ antwortete er. „Lucien, jetzt fang auch noch an, so etwas zu reden, dass es daran liege, das du nicht stark genug seist, mach dir schön viele Selbstvorwürfe, und sieh dich selber als totalen Schwächling. Wie kommst du nur auf so etwas, du warst immer selbstsicher, und hattest es angenehmer Weise nie nötig, das zu demonstrieren. Ich bewundere dich. Die allermeisten Menschen hätten bei Alyssia gedacht, was soll ich mit so einer denn anfangen, und hätten sich möglichst bald zurück gezogen. Dass du es nicht tun würdest, war mir selbstverständlich. Ein anderer Gedanke ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Das ist für mich ein Zeichen von absoluter Stärke und nicht von Schwäche, die Angst darum hat, ihre Vorteile könnten ihr eventuell genommen werden. Ich halte dich schon für sehr sensibel, aber das finden alle schön, und hat mit Schwäche nun überhaupt nichts zu tun.“ reagierte ich leicht ärgerlich. „Also hier in Hamburg deutsch lernen und dann?“ führte ich die Perspektiverkundung weiter fort. „Ich weiß nicht, ob ich dann hier in Hamburg weiter studieren kann und will.“ erklärte Lucien weiter, „Ich möchte ja auch etwas mit Alyssia machen. Ich habe schon mal daran gedacht, ob wir nicht eventuell ein kleines Bistro aufmachen könnten.“ sprach er zögernd. Ich schaute ihn intensiv fragend an. Jetzt schien er doch durchzudrehen. „Lucien, wo von träumst du?“ reagierte ich erstaunt, „Dass du selber, außer sich im Bistro bedienen zu lassen, von Gastronomie keine blasse Ahnung hast, und von deutscher erst recht nicht, ist ja noch das aller geringste Hindernis, aber was willst du denn mit einer Frau, die nicht spricht, die kein Deutsch versteht, die man nicht berühren darf, und die sich Fremden gegenüber ablehnend verhält in einer Gaststätte. Das musst du mir mal erklären.“ Das konnte er zum Teil sehr detailliert. Er hatte anscheinend schon häufig darüber nachgedacht. Aber zuerst hatte er mich gefragte, warum ich auf einmal so abschätzig über Alyssia rede, und gar nicht ihre positiven Entwicklungsmöglichkeiten sehe, was mich dazu veranlasste, seine Vorstellungen wohlwollend zu betrachten. Ganz überzeugen konnte er mich allerdings nicht, aber absolut unmöglich schien es mir auch nicht mehr. Wenn das eine Perspektive wäre, die funktionieren würde, ungeheuerlich. Sollte so etwas überhaupt möglich sein, ginge das natürlich nur mit Lucien. Unsere Mademoiselle als als Barista in einem französischen Bistro, die Idee ließ mich jetzt auch nicht mehr los. Obwohl ich noch nicht daran glaubte, erfreute mich das Bild ungemein. Ich musste Lucien umarmen und küssen. „Mon cher Lucien je t'adore. Ich habe nur daran gedacht, dem armen verstörten jungen Mann helfen zu müssen, und dabei ganz vergessen, was für ein toller Junge du doch bist.“ bewunderte ich ich ihn. Er grinste ein wenig verlegen und meinte leicht spöttisch: „Und? Jetzt weißt du's wieder?“ Bei Alyssia hätte so etwas früher zu gemeinsamer Balgerei geführt, wir schauten uns aber nur lächelnd an, und ich meinte: „Sei nicht so frech!“, während ich ihm in die Nase kniff. „Komm, lass uns runter gehen. Wir haben viel zu tun, und dürfen keine Zeit versäumen.“ meinte ich hoffnungsfroh. Wir gingen bei Camille vorbei zur Küche und ließen uns von der Barista in Spe einen Café au lait zubereiten. „Wir werden noch viel überlegen und durchdenken müssen, aber das absolut vorrangige ist natürlich zunächst, dass du fließend deutsch sprichst und zwar möglichst schnell.“ meinte ich. Ein sündhaft teurer Managerkurs schien am erfolgversprechendsten. Also gleich morgen anmelden und pauken.


La Barista


Ich traute mich gar nicht, den anderen von Luciens Bistro-Idee zu erzählen. Sie würden mich für absolut verrückt halten. Aber Alyssia verstand und konnte ja mittlerweile so vieles, und schien, immer schneller dazuzulernen. Ihre Wort­schatzerweiterungen aufzuschreiben, war unmöglich geworden. Ich führte nur noch ein Tagebuch, in das ich neue Erlebnisse und Erfahrungen eintrug. Sie war auch nicht mehr so eigensinnig, wie es sich zu Anfang oft gezeigt hatte, vielleicht einfach, weil sie viel mehr verstand. Natürlich skypte sie längst völlig selbständig, kam aber immer fragend mit einem Bild zu mir, ob sie die oder den jetzt anrufen könne. Sie beachtete auch selbständig, dass sie nur ihren speziellen Wein und Kaffee verwenden durfte, und mit einem Verweis auf die Position ihrer großen Narbe, von der man aber wegen der darüber liegenden Haare nichts sah, wurde alles akzeptiert. Lucien hatte versucht, ihr ihren Unfall und ihre erste Zeit in der Klinik, wie lange sie geschlafen habe, und was sie ge­macht habe, als sie ihn wiedergesehen habe, verstehbar und mit reicher gesti­scher und mimischer Unterstützung zu erzählen. Wahnsinnig spannend, Alyssia wollte es immer wieder hören, und Lucien fügte immer wieder neue und ande­re Details hinzu. Wenn sie die Hände wie ein Lenkrad steuernd bewegte, und Lucien fragend anschaute, hieß das immer: „Erzählst du's mir noch mal?“.

Ralf erzählte ich zuerst, was Lucien für eine Idee gehabt hatte. Ich hätte es zu­nächst auch für völlig absurd gehalten, aber wie er seine Vorstellung näher er­läutert habe, sei es mir gar nicht mehr so absolut unmöglich erschienen. Es würde keine Bedienung geben, sondern man könne sich nur an der Theke et­was holen. Zwei Leute stünden hinter der Theke, Alyssia sei nur für die Geträn­ke zuständig. Das Bistro solle original französisch wirken, und die Leute über der Bar aufgefordert werden, französisch zu sprechen. Außer Alyssia, sollten aber alle auch deutsch verstehen können, und Alyssia könne sich immer an sie wenden. Wobei er glaube, dass Alyssia durchaus in der Lage sei, eine deutsche und eine französische Bezeichnung, für die gleiche Sache zu verstehen, und sie sich dadurch nicht verwirren lasse. Zu lernen, die unterschiedlichsten Kaffeear­ten zuzubereiten wäre, für sie ein Kinderspiel und Zahlen zu verstehen war zur Zeit eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Alles musste ich ihr durchzählen, nicht nur ihre Skype-Partner und ihre Musiktitel, sondern auch Teller und Tas­sen im Schrank, und immer, wenn ich ein falsches Zahlwort nannte, wurde ich geknufft, weil sie wusste, dass ich es extra machte, um sie zu ärgern. Dass sie beim Tischdecken einen Teller zu viel oder zu wenig aus dem Schrank holte, kam nicht vor. Das Bistro solle irgendetwas mit 'Sourir' im Namen führen, da­mit die Kunden gar nicht auf die Idee kämen, mit griesgrämigen Gesichtern zu bestellen. Irgendwo solle ein Schild darauf verweisen, dass die Barista nicht antworte, weil sie nicht sprechen könne, sich aber über ein freundliches Lä­cheln freue. „Wenn die Leute zu ihr freundlich sind und immer Lucien oder ei­ner seiner Freunde neben ihr hinter der Theke steht, was soll da schief gehen, und anderen etwas zuzubereiten erfüllt sie mit Stolz und Freude. Zur Zeit wäre das natürlich noch eine zu große Belastung, aber bis Lucien erst mal richtig deutsch sprechen kann, und das alles organisiert sein wird, dauert es ja auch noch sehr lange, und bis dahin wird sich ja auch noch viel entwickeln lassen.“ meinte ich zu Ralf. „Ja eigentlich verrückt, aber wie du es schilderst, ist es für mich auch durchaus vorstellbar.“ stimmte mir Ralf zu, „stell dir vor, das liefe, alle würden sie besuchen, um bei ihr einen Kaffee zu trinken und sie würde sich doch wahrscheinlich ohne Ende freuen, wenn sie ihnen einen zubereiten könne. Aber das darf nicht so eine hässliche Imbissbude oder etwas Stehcafé ähnliches sein. Es müsse schon Stil haben und vielleicht ein spezielles Flair ausstrahlen, damit es für sie selbst eine angenehme Atmosphäre habe, und auch attraktiv für die Gäste wirke. Als Gäste seien ja nur Leute aus der Mittel- und Oberschicht zu erwarten, denn wer ginge sonst in ein Café, in dem er französisch sprechen solle.“ Ralf steckte schon mitten in der Planung. Ich freute mich über meinen tollen Mec, und musste es ausgiebig mit ihm feiern.

Jetzt traute ich mich auch, es Camille zu erzählen. Die schnitt zunächst ein sehr skeptisches Gesicht, aber als sie die detaillierten weiteren Vorstellungen hörte, begann sie selbst mit eigenen Planungsvorschlägen. Man könne es doch als Literaturcafé einrichten, dann könne sie ihren eigenen Gedichtband verkau­fen, und Bilder von französischen Literaten sagten ihr auch etwas. Das wollte ich natürlich genauer wissen. Camille hatte ihr ein bekanntes Bild von Flaubert gezeigt. Sie hatte es sich lange grübelnd intensiv angeschaut, und dann fra­gend zu Camille auf geblickt. „Flaubert ist das. Das ist Flaubert.“ habe sie ge­sagt, „Der hat sehr schöne Geschichten aufgeschrieben.“ Darauf hin habe sie sich das Bild nochmal intensiv angeschaut und gestreichelt. Es habe kein sonst übliches bestätigendes Lächeln gegeben, aber an etwas erinnert haben müsse sie es schon. Dann sei ihr das bekannte Bild von Balzac eingefallen, und abso­lut identisch habe sie darauf reagiert. Camille wollte im Internet nach weiteren Schriftstellern suchen, und mehr Fotos zusammenstellen. Man könne doch auch Lesungen mit französischen Gegenwartsautoren organisieren, und zu Alyssia Stein würden sie doch alle kommen. Vielleicht könne man ja auch ein Regal mit französischen Büchern integrieren, keine Bibliothek mit aktuellen Bü­chern, sondern nur Antiquarisches zum Anschauen und vielleicht mal einen Blick rein zu werfen. Alyssia wolle zwar von Büchern im Einzelnen nichts wis­sen, aber in ihrer Umgebung fühle sie sich doch nach wie vor recht wohl. Vor ein paar Tagen hatte mir Lucien seinen Plan erst verraten und jetzt steckten schon alle tief in den Vorbereitungen, obwohl es noch so lange hin sein würde. Wir hielten alles in einem Bistro-Planungsbuch fest.

Lucien musste viel arbeiten. Das meiste wurde zwar elektronisch übermittelt, aber manchmal musste er auch zu Präsenzveranstaltungen. Damit war immer ein Problem verbunden, das wir noch nicht hatten lösen können. Seit seiner Rückkehr durfte Lucien das Haus nicht mehr verlassen. Alle Versicherungen über Wieder- und Zurückkommen waren wirkungslos, sie schien ihm in diesem Punkt auf Grund ihrer Erfahrungen nicht mehr zu vertrauen. Entweder musste Alyssia selbst mitfahren, oder Lucien wurde fest gehalten. Alles gute Zureden, auch von Lucien selbst, beantwortete sie nur mit Hin- und Herbewegungen des Kopfes, wodurch sie seit einiger Zeit ihr klares 'Nein' zum Ausdruck brachte. Was war da in ihr vorgegangen? Bei allen war es o. k., sich verabschieden, Rückkehr versprechen, alles war in Ordnung. Was empfand sie? Wenn Lucien das sagt, stimmt es nicht. Ich habe es dir geglaubt, und dann warst du so lan­ge nicht hier, das passiert mir nicht nochmal. Sie hatte ihn doch fast jeden Tag am PC gesehen, aber das reichte ihr anscheinend auch nicht. Als Lucien sie mal von seinem PC oben aus zum Spaß in der Bibliothek anskypte, habe sie sich gar nicht gefreut, sondern ein sehr bestürztes Gesicht gemacht, so dass er schnell zu ihr runter gekommen sei. Wahrscheinlich hatte sie gedacht, wenn er skypt, ist er wieder weit weg. Solange Lucien im Haus war, war alles o. k. Alys musste nicht immer mit ihm zusammenhängen, sie lebte weiter wie vorher auch. Lucien war zwar bevorzugter Partner für Bibliotheksgespräche, als Tischnachbar, und fürs zu Bett bringen, aber sie ging genauso weiterhin zu Camille, half in der Küche, hörte Musik oder skypte. Sie wollte sich auch gern neben Lucien an den Schreibtisch setzen, wenn er lernte, aber nach mehreren Versuchen meinte Lucien: „Sie sitzt ganz brav neben mir, und stört mich auch nicht. Ich finde es schön, aber wenn ich aufschaue, sieht sie mich mit großen Augen tief an und lächelt, dann muss ich sie einfach küssen, und das scheint sie genau bewirken zu wollen. Das bringt mich jedes mal aus dem Konzept. Obwohl sie ganz brav da sitzt, bekomme ich kaum etwas geschafft.“

Alyssia hatte entdeckt, was sie außer Mimik mit Blicken bewirken konnte. Manche ließen sich dadurch völlig irritieren, wenn sie von ihr fixiert wurden.


Alyssias Rehabilitation


Bei den Reha-Leuten, die ich alle für völlig inkompetent hielt, machte es mir manchmal richtig Spaß, wenn sie jemanden ernst leicht überheblich spöttisch anblickte, als ob sie dächte: „Sag mal, was bist du eigentlich für ein Arsch­loch.“. Ich beschwerte mich beim Professor darüber, dass ich mit allen nichts anfangen könne, da sie sich alle als ratlos erwiesen hätten, und nur nach ihren bekannten Schemata verfahren könnten, während sie sich auf die spezielle Si­tuation von Alyssia gar nicht einstellen wollten oder könnten. Alyssia sei eine erwachsene Frau, wie man sie denn da zu Spielen mit Kindergarten Legeplätt­chen auffordern könne. Es sei doch kein Wunder, dass sie den Mann anschaue, als ob sie fragen wolle: „Ist noch alles richtig bei dir im Kopf?“ als so einen Un­fug mitzumachen. Der Prof. musste lächeln, und rieb sich mit den Fingerspit­zen seiner rechten Hand über die in Falten gelegte Stirn. „Tja, das ist schon ein Phänomen mit ihre Tochter, sie ist ja außer in den durch die Läsion zerstörten Bereichen, außergewöhnlich fit und selbständig. Andererseits wäre es sehr schade, wenn sie nicht gerade jetzt intensiv gefördert würde. Im Heilungspro­zess kann vieles neu entstehen, zwar nicht die zerstörten Areale, aber die neu­en Kanäle und Bahnen bilden sich vornehmlich nach Bedarf. Sie sollten sich vielleicht an Spezialisten wenden, die direkt zu einzelnen Fragen forschen. Ich nenne ihnen mal zwei Bücher zu Hirnverletzungen, das eine beschreibt hervor­ragend und ist auch für Laien relativ gut verständlich, während das andere eine fast vollständige Bibliographie von Schriften deutscher Wissenschaftler enthält. Vielleicht ist darauf ja auch Mademoiselle besser zu sprechen.“ und zu Alyssia gewandt, „Mir machst du doch auch kein böses Gesicht, mein Herz, nicht wahr?“ Wofür er natürlich ein Lächeln bekam. Er habe mir das so schön an der Tafel erklärt. Ich wisse davon auch noch vieles, aber wenn ich mich sel­ber weiter bemühen solle, wäre es sehr hilfreich, eine schriftliche Unterlage zu haben. Der Hausarzt bekäme einen Arztbrief und ich eine Kopie davon. Ich gab die Adresse von meinem Hausarzt an, den ich erst noch über sein Glück infor­mieren musste, dass er jetzt eine neue Patientin habe.


Julienne und Andy


Die Tage wurden zunehmend nebliger, trüber und verregneter. Ein starker Wind schien Alyssia allerdings Spaß zu machen. Der Wald war ohne Blätter auch uninteressant geworden, und die Möglichkeiten, außerhalb des Hauses Bewegung zu bekommen, schränkten sich für Alyssia fast ausschließlich aufs Einkaufen ein. Ob Wein, Brot, Klamotten oder Käse, alles war für sie inter­essant. Alles andere draußen interessierte sie noch immer nicht. Jetzt, da Luci­en anwesend war, konnte ich auch mal öfter in die Kanzlei fahren. Andy erklär­te mir all seine Ostasien-Entwicklungen, und ich sprach ihn, wie mit Julienne vereinbart, an. Ob er sich noch an die junge Französin, die Freundin von Alys­sia, erinnere, die käme im nächsten Semester zum studieren nach Hamburg. „Nein, das kann doch nicht sein.“ reagierte er ganz aufgeregt, „das hätte sie mir doch gesagt. Wir schreiben uns doch sehr häufig. Ich glaube das nicht, wie will sie denn hier studieren, sie kann doch gar kein deutsch.“ „Natürlich kann sie deutsch. Sie studiert doch deutsch. Deshalb kommt sie doch nach Ham­burg. Ich werde dir doch keinen Unsinn erzählen. Es ist schon alles geregelt. Sie wird in zwei Zimmern bei uns wohnen.“ antwortete ich ihm. „Oh diese ver­logene Biene,“ meinte er erstaunt, „warum erzählt sie mir denn nichts davon? Was soll das denn bedeuten, warum sagt sie nichts.“ Andy war sichtbar aufge­regt. „Magst du sie eigentlich immer noch?“ fragte ich ihn. „Ja natürlich, sehr, sehr gern sogar, aber ich wollte mich immer bremsen, weil es ja überhaupt keine Perspektive hatte. Sie mit Französisch und Englisch wird in Frankreich bleiben, und ich, was soll ich denn als deutscher Jurist in Frankreich. Sich nur im Urlaub treffen können, ist für mich keine Perspektive. Es war immer, wie ein schöner Traum, den ich noch nicht aufgeben wollte, von dem ich aber wusste, dass er einmal zu Ende sein würde.“ Und Andy bekam feuchte Augen. „Wird sie mich denn überhaupt mögen, wenn sie mir so etwas nicht erzählt.“ wollte er noch wissen. „Andy das weiß ich nicht. Das solltet ihr beide unterein­ander klären. Ich denke ihr solltet mal dringend miteinander sprechen.“ ant­wortete ich ihm. Ob ich ihm mal ihre Telefonnummer geben könne. Wenn sie sie ihm nicht selbst gegeben hätte, wisse ich nicht ob Julienne das recht sei, wenn ich sie einfach weitergeben würde. Er solle ihr doch ganz schnell schrei­ben, und sie darum bitten. Als letzte Möglichkeit bliebe immer noch Weihnach­ten, da sei sie nämlich bei uns.

Das musste ich natürlich alles sofort Julienne erzählen, die nicht konnte, weil sie gerade in einem Seminar saß. Nur ein Satz vorab: „Andy liebt dich heiß und innig.“ Später konnte ich dann alles detailliert berichten und aufklären. Sie sol­le sich bloß nichts anmerken lassen und sich wegen ihres Schweigens etwas einfallen lassen. „Brauch ich gar nicht. Ich sag ihm einfach, wie es ist, dass ich aus seinen Briefen nicht schlau geworden bin.“ erklärte Julienne gelassen. Am Nachmittag rief Julienne dann nochmal an wegen einiger Nachfragen. „Ja er hatte ganz feuchte Augen, als er das von dem Traum erzählte, der einmal zu Ende sein würde. Bestimmt hat er viel von dir geträumt, und geheult, wenn er daran dachte, dass es nie etwas werden würde. Der ist total verknallt in dich, da gibt es keine Spur von Zweifel.“ verdeutlichte ich ihr noch mal. Tage später telefonierten sie schon miteinander, und Andy wollte Julienne sofort am Wo­chenende besuchen, aber das habe sie nicht gewollt, und ihm erklärt, sie habe gar keine Zeit für ihn, sie müsse schrecklich viel arbeiten. Auch Telefongesprä­che wurden meist von Julienne beendet mit dem Verweis, dass sie jetzt aber wieder arbeiten müsse. Julienne musste für Andy die fleißigste Frau mit der meisten Arbeit auf der Welt sein. Julienne erklärte, dass sie ihn wunderbar fin­de und eine intensive Beziehung mit ihm sei schon ein Traum für sie, und das wolle sie nicht durch ein nettes Wochenendgeflatter gefährden. Zu schnelles Miteinander-ins-Bett-gehen sei der Tiefe einer Beziehung eher abträglich, und endloses Telefongeschwafel fördere sie auch nicht. Wenn Andy sie liebe, sei es nicht schlecht, wenn er dafür auch etwas tun müsse. Passte das zu dem, was Alyssia mir damals von Julienne erzählt hatte? Aber ganz unbekannt war mir solch taktisches Verhalten auch nicht.


Weihnachtsvorbereitung


Weihnachtsmarkt wollten wir mal versuchen, aber da fehlte bei Alyssia nicht nur das Interesse, sondern sie hatte Aversionen dagegen, und wollte sofort wieder nach Hause. Ich wusste nicht, ob sie mein Empfinden teilte, dann hätte ich sie sehr gut verstehen können. Mir waren diese ganzen Hypes auch zutiefst zuwider. Ich konnte mich bei eingebildeten Glücksseligkeiten und gemeinsam gegrölten Jubelklängen nicht freuen. Sie machten mir eher Angst. Die Verführ­barkeit, etwas für den betreffenden Einzelnen völlig Irrelevantes großartig oder wunderbar zu finden, weil so viele es tun, hielt ich für erschreckend und absto­ßend. Zum Mitmachen bewegen, konnte mich so etwas überhaupt nicht. Was hatten die meisten Menschen und ich mit Weihnachten zu tun, nichts, rein gar nichts. Ich hatte ja nichts dagegen, das man Traditionen aufrecht erhält, es sich gemütlich macht und sich kleine Nettigkeiten zukommen lässt, aber dieser ganze Aufgeblasene Hype, als wenn Jesus und seine sieben Geißlein in jede Wohnung persönlich einfahren würden, und das schon Wochen vorher, inklusi­ve Geschenkerausch und -qual. Woran dachten die Menschen eigentlich, nur an Alles-mitmachen, weil viele es so machen und dann war es schrecklich spannend und aufregend. War das sonst auch die grundsätzliche Leitlinie ihrer Lebensführung? Mir stieß es übel auf.

Es gab bei uns Weihnachten etwas Leckeres zu essen, wir waren alle zusam­men, meistens noch mit Freunden, und es wurden gegenseitig kleine Überra­schungen ausgetauscht, und gemeinsam etwas unternommen. Ich brauchte mich nicht massiv gegen den Willen anderer durchzusetzen, dass tatsächlich empfundene Freude, wichtiger sei als aufgesetzter Pomp und Glitzerschein, fand keinen Widerspruch, und auch meine Erklärung, dass ich Bäume lieber draußen wachsen sehe, als im Zimmer mit Straß behangen vertrocknen, wurde übernommen. Außer zu Weihnachten würde es niemand als schön und sinnvoll empfinden, sondern so etwas wohl für ziemlich verrückt halten.

Lucille hatte ich auch mitgeteilt, dass wir alles sehr schlicht und natürlich hal­ten würden, und sie auf keinen Fall große Geschenke mitbringen sollten. Sie war begeistert, wir würden immer wieder neue Bereiche finden, in denen wir feststellten, wie ähnlich wir empfinden würden. Lucien wollte am zweiten Weih­nachtstag nach Cermont-Ferrand. Julienne hatte schon seine Wohnung in Com­baillaux aufgelöst, und Luciens Sachen bei sich untergebracht. Sie wollte Weih­nachten mit dem Berlingo kommen, und einen Teil davon mit nach Hamburg bringen. Juliennes C3 stand noch in Clermont, mit dem wollte Lucien dann run­terfahren und weitere Gegenstände mitbringen. Alyssia, der wir versucht hat­ten, etwas von Weihachten und der 'fête de Noël' zu erklären, verband das na­türlich sofort wieder mit Tanzen und Ballkleid. Also sollte Weihnachten auch getanzt werden. Endlich war es soweit.


Fête de Noël


Ledoux waren schon früh los gefahren und kamen mit Elias als erste an. Ob­wohl sie ja alle öfter beim Skypen gesehen hatte, schien Alyssia total über­rascht, dass sie jetzt leibhaftig vor unserer Haustür stehen konnten. Zuerst rannte sie auf Elias zu, beugte sich strahlend leicht zu ihm vor und beugte ihre Arme mit geballten Fäusten rauf und runter, als ob sie einen alten Sparring­partner wiedergetroffen hätte. Nach viereinhalb Monaten eine neue Geste, die noch keiner gesehen hatte. Madame und Monsieur Ledoux bekamen ein ganz liebes Lächeln, dann wurde Lucien vorgezeigt, aber nur den Ledoux und nicht Elias, als ob sie gewusst hätte, dass die ihn noch nicht kannten. Wir standen die ganze Zeit vorm Haus. Wir sollten doch endlich mal hinein gehen. Die Be­grüßungszeremonien zwischen Lucille und Camille waren ähnlich wie zwischen mir und Elias, als wenn man sich seit Jahrhunderten nicht gesehen hätte. Ich forderte alle auf, sich doch zuerst mal an den Küchentisch zu setzen. „Ich habe Alyssia erzählt, dass ihr nach der langen Fahrt gerne einen Café au lait trinken würdet. Sie hat schon alles vorbereitet, und wird nichts lieber tun als euch einen servieren.“ erklärte ich. „Ich möchte aber lieber einen Espresso.“ meinte Elias mit schelmischem Grinsen. „So weit sind wir im Moment noch nicht, aber wenn du das nächste mal wiederkommst, wird sie dir garantiert auch deinen Espresso servieren. Unsere Mademoiselle will nämlich Barista werden.“ erklärte ich, und erläuterte, wie Lucien auf die Idee für ein Bistro gekommen war, und wie wir uns das tatsächlich vorstellen könnten. Wenn das funktionieren würde, kämen sie extra nach Hamburg, um bei Alyssia einen Kaffee zu trinken. Ob Monsieur Ledoux denn dann seine Frau auch mal kurz bei uns vorbei bringen würde, wollte ich von ihm wissen. Monsieur Ledoux reagierte mit einem Scherz und meinte, wir würden uns schon so lange und so gut kennen, ob es uns un­angenehm wäre, ihn mit seinem Vornamen Henri anzureden. Selbstverständ­lich duzten wir uns auch mit Henri Ledoux. Er habe etwas mitgebracht, das ei­gentlich als Geschenk gedacht sei, aber es fiele ihm so schwer, damit zu war­ten, dann könne auch Alyssia mit anstoßen. Er sei wahnsinnig stolz darauf und würde es ihr gerne zeigen. „Pack es aus Henri, wir sind ja alle stolz, dass es so gut geklappt hat und neugierig sind auch alle.“ wies ihn Lucille an. Henri zeigte Alyssia eine Flasche von dreien, und erklärte: „Das ist für dich, nur für dich, extra für dich gemacht.“ Alyssia sah sich die Flasche an, strahlte Henri an, - of­fensichtlich hatte sie ihren Lieblingswein erkannt – aber schüttelte mit lächeln­dem Gesicht den Kopf. „Doch,“ meinte Henri, „dein Lieblingswein, wir haben ihn extra so gemacht, dass du ihn trinken kannst.“. Fragend schaute Alys mich an, jetzt wurde es schwierig. Wir hatten ihr nur erklärt, dass die anderen Wei­ne nicht richtig für ihren Kopf seien, und sie nur diesen trinken dürfe. Zum Glück hatten wir eine Flasche des gleichen L'Hermitage da, der nicht désalcoo­lisé war. Ich zeigte ihr die Unterschiede auf dem Etikett. Der eine war für sie, der andere war verboten. Auf ihrem Wein stand das gleiche drauf. 'sans alcool', wenn es fehlte war er für sie verboten, aber wenn 'sans alcool' darauf stand, war es Wein für Alyssia, und Monsieur Ledoux habe ihn extra für sie 'sans alcool' gemacht. Sie dachte nach, schaute Henri an und strahlte ihn mit ihren besonders freundlichen, augenkneifenden Lächeln an. Sie rannte sofort zum Küchenschrank holte einen Korkenzieher und ein Glas, und ließ sich von Henri eine Probe einschenken. Während der Wein sich in ihrem Mund bewegte, schaute sie Henri fragend an, als sie ihn aber herunter geschluckt hatte, bekam Henri ein zustimmend nickendes Lächeln, als ob sie sagen wollte: „Ist in Ordnung. Hast du gut gemacht.“ „Na, Degustation knapp bestanden, Henri.“ meinte Lucille, „dass ist unglaublich, wie schnell sie versteht, worum es geht, aber vor allem, wie sie Henri angeschaut hat bei der Probe, als ob sie geschmeckt hätte, das es nicht das Original wäre. Er ist ja auch nicht absolut identisch im Geschmack. Wirklich unglaublich, die Qualifikation als Sommelière hat sie schon fürs Bistro.“ Jetzt wollten wir aber von Henri wissen, wie er das gemacht habe. Ihm sei die Idee gekommen, als er von Alyssia gehört habe, dass sie nur entalkoholisierten Wein trinken dürfe. Davon müsse es doch eigentlich viele Menschen geben. Er habe sich kundig gemacht, sich eine keine Versuchsanlage ausgeliehen, und es natürlich mit Alyssias Lieblingswein probiert. Das Ergebnis sei überraschend gut ausgefallen. Er sei sich noch nicht schlüssig, ob er es machen wolle, es bedeute ja schließlich dann auch erhebliche Investitionen. „Aber wir wollten doch gemeinsam anstoßen.“ erinnerte Henri. Alyssia und Lucien holten für alle Gläser und so wurde am frühen Nachmittag schon zugeprostet, Gründe dazu gab's ja schließlich genug. Es klingelte. Alyssia war dann immer als erste an der Tür. Julienne stand vor der Tür. Alys stand wiegend und strahlend vor ihr. „Lass Julienne doch mal erst reinkommen, sie wird ja ganz kalt draußen.“ meinte ich. Sie wollte Julienne sofort in die Küche lotsen, aber ich musste mich doch mit meiner Liebsten erst mal umarmen. „Wie steht's“ wollte ich sofort schon bei der Begrüßung wissen. Breite Lippen und hochgezogene Augenbrauen unterstrichen ein: „Nicht schlecht. Erzähl ich dir alles gleich.“ Dann ging's erst mal zur Vorstellung in die Küche.

Als Julienne am Küchentisch stand, fiel mir auf, dass sie auf mich einen ande­ren Eindruck machte, als das Bild, das sich mir von Julienne eingeprägt hatte. Natürlich trug sie andere Sachen, einen anderen Stil, sehr schön, aber das meinte ich nicht, mit dem anderen Eindruck. Es kam mir vor, als ob sie sich anders bewegte, ihr Körper einen anderen Eindruck vermittelte. Ja, das Bild, dass ich von ihr hatte, war eher das patzige große Mädchen, dass sich explosiv oder tranig bewegen könnte, und das wollte mit dem, was ich jetzt sah in kei­ner Weise übereinstimmen. Jetzt viel mir eher eine feste sichere Körperhaltung auf mit einem Anflug von Grazie. Auch die Art und Weise ihrer Bewegungen wirkte mehr getragen und in sich gefestigt. Zu dieser Julienne würden rudern­de Armbewegungen oder schlaff herunter hängende Schultern nicht mehr pas­sen. Ihre Erscheinung sprach eine andere Sprache. Der Eindruck des großen Mädchens war passé, hier stand eine reife, selbstsichere junge Frau. Wunder­schön! Wie hatte sich das so schnell ändern können. Offensichtlich vermittelte ihre veränderte Körpersprache ein Bild ihrer inneren Haltung, ihrer Selbstsi­cherheit, ihres neuen Selbstbewusstseins und ihres gesteigerten Selbstwertge­fühls.

Als wir im Wohnraum saßen, hätten wir ohne Probleme bis in die Nacht Neuig­keiten oder interessante Ereignisse austauschen können. Nicht nur Ledoux wollten unbedingt eine Kostprobe der Deutschkenntnisse von Julienne und Lu­cien hören. Sie wetteiferten miteinander, aber machten es sehr lustig. Lucien sagte zum Beispiel zu Julienne: „Ich werde einen großen Teil der Mehrheit der Aktien ihres Unternehmens erwerben, verehrte Frau Carriere.“ Julienne darauf: „Der Herr ist ein großer Geschäftsmann. Ich hingegen bin vielmehr eine Ge­schäftsfrau, die sich um die Geschäfte der Familie kümmert. Die Erziehung der Kinder, das Essen kochen, den Abwasch, und ich werde ihren Schwiegervater ermorden, mein lieber Herr Renouard.“ Trotz lustiger Redepassagen, die sie wohl besonders beeindruckt hatten, war ihr Wortschatz für die kurze Zeit enorm, und ihre Grammatik fast immer fehlerfrei. „Wir könnten uns ja gern auf deutsch unterhalten, aber dann verstehen Alyssia, Lucille und Henri ja nichts.“ meinte ich. Für Lucien und Julienne war das auch eher ein Scherz, unterhalten würden sie sich schon lieber auf Französisch.

Bevor die drei Nornen sich sich zur Essensvorbereitung am Küchenborn ver­sammelten, brannte ich aber doch darauf, von Julienne neues von Andy zu hö­ren. Wir gingen ins Bad und Julienne erklärte, das Andy ganz verrückt nach ihr sei. „Er wollte unbedingt wissen, wann ich hier ankäme und sich sofort mit mir treffen. Jetzt haben wir uns für morgen früh verabredet, da ja mit schönem Wetter zu rechnen ist. Ich habe ihm das auch mal gesagt, dass ich seine lieben Worte zwar sehr mag, mir aber nicht daran gelegen sei, madonnengleich ver­ehrt zu werden. Ein vertrauensvoller Freund, mit dem ich auf der gleichen Wel­lenlänge läge, und mit dem ich Lust habe, mich auf gleicher Ebene unterhalten zu können, das sei mir wichtig. Ruth, er macht sich über jedes Wort, das ich sage Gedanken. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie er das einmal alles ver­gessen haben könnte. Ich bin mit Sicherheit die erste Frau, bei der das für ihn so ist. Aber bei mir ist es ja auch so. Ich bin richtig verliebt, und Ruth, das macht mich gar nicht aufgeregt und nervös, ich komme mir so cool und stark vor, wie nie zuvor. Ich fühl mich einfach absolut super, mir geht’s total gut.“ berichtete sie, strahlte und fiel mir um den Hals.

In der Küche standen wir drei Frauen uns gegenüber, schauten uns an und ich sagte: „Im Herbst wollten wir uns in Tain-l'Heremitage treffen. Es ist viel, sehr viel geschehen seit dem, aber verändert hat sich nichts.“ Die fragend zweifeln­den Gesichter wandelten sich über ein Lächeln zu freudigem Strahlen. Wir um­armten und drückten uns. „Außer dass wir jetzt natürlich eine hilfsbereite As­sistentin haben,“ ergänzte ich lächelnd und zog Alyssia näher, die unser Wie­dersehen hinter mir stehend beobachtet hatte. Wenn in der Küche etwas ge­schah, war Alyssia immer anwesend. Diese Region, die zusammenhing mit le­ckeren Speisen, Wein, Käse und Kaffee, aber auch mit ständig neuen Erfahrun­gen beim Kochen und der Utensilienanwendung, war für sie ein herausgehoben wichtiger Lebensbereich. Darüber hinaus wurde ja nicht nur das Essen zuberei­tet, man traf sich ja auch fast immer hier zum gemeinsamen Essen mit großer Kommunikation. Aber auch das gemütliche intime Treffen mit der Mamon bei einer Schale Café au lait fand hier statt. Mit uns drei Frauen schien sie es be­sonders toll zu finden. Wie viel sie verstand, konnte man nicht wissen. Meis­tens war es mehr als man annahm, aber vielleicht war es auch primär die At­mosphäre der ständig lachenden drei albernen Frauen, die glücklich waren, so wieder zusammen zu sein.

Während sich die Männer über Vakuumrektifikation, das Verfahren zum Alko­holentzug, dass Henri Ledoux angewandt hatte, unterhielten, saßen Lucien und Julienne bei leiser Hintergrundmusik in der Bibliothek. Elias hatte zunächst mal sein Zimmer inspiziert und kam dann zu uns in die Küche. Camille war sehr in­teressiert von ihm zu hören. Ich hatte ihr zwar einiges erzählt, aber sie selbst hatte schon lange nicht mit ihm gesprochen. Er redete mit ihr, als ob er nie eine andere Sprache als Französisch gesprochen habe. Ob er denn jetzt auch später in Frankreich leben wolle, fragte Camille ihn. Er wiegte fragend den Kopf, wenn er bei Ledoux lebe auf jeden Fall, aber sonst sei er sich da nicht so ganz sicher. Dafür gab's von Lucille einen lächelnden Kuss. Er fände vieles zwar sehr toll, aber ob alles besser sei als hier, da sei er sich nicht so ganz si­cher. Jedenfalls erlebe er sehr viel und sei auf viele Ideen gekommen, woran er hier nie gedacht habe. „Völlig richtig, absolut einverstanden, Elias.“ bestä­tigte ihn Lucille, „es ist wichtig, dass man weiß, wo man die besten Freunde hat, und das hat mit Frankreich oder Deutschland überhaupt nichts zu tun. Meine besten Freundinnen sind ja auch nicht in Tain-l'Heremitage, weil ich Französin bin, sondern sind diese beiden Hexen hier, die in Hamburg wohnen.“ Das bereitete Elias sichtlich Spaß und Alys freute sich auch. Es schien ihr über­haupt gut zu gefallen, dass Elias auch in der Küche war. Sie hatte ihn vom ge­meinsamen Gespräch weg überall hin gelotst, und ihm alles gezeigt. Wie sie skypte und Musik hörte bis zur Wäsche in ihrem Zimmer, wozu natürlich auch die Nachthemden gehörten. Als Elias sich vor Erstaunen ohnmächtig aufs Bett habe fallen lassen, hätte sie sich vor Vergnügen gar nicht wieder ein gekriegt. So übertriebene Gesten und Spiele liebte sie sehr. Bei mir in der Küche machte sie manchmal etwas absichtlich falsch, lächelte leicht und schaute mich mit großen fragenden Augen an. Wenn ich mich dann voller Empörung äußerte: „Na warte. Was hast du gemacht?“ war sie auch immer vor Vergnügen außer sich.

An Heilig Abend wurde im großen Esszimmer gegessen. Alys wäre wahrschein­lich der Küchentisch lieber gewesen, aber dafür war er dann doch zu klein. Ich forderte Alys nur auf, ihren Wein hin zubringen, und sie nahm den l'Hermitage. Jetzt war kein Zweifel mehr möglich, dass sie es verstanden hatte. Wenn wir zusammen saßen, schien die Zeit immer zu verfliegen bei der Vielzahl inter­essanter und lustiger Ereignisse, die man sich zu erzählen hatte. Dass Julienne sich morgen mit ihrem Freund hier treffen würde, war natürlich eine 'message spécial' und bedurfte der ausführlichen Erläuterung. Ich wurde als Kupplerin vermutet, konnte aber einleuchtend erklären, warum ich Andy damals eingela­den hatte. Wir wollten ja noch tanzen und jetzt war es schon nach 9 Uhr. Dass Alys zur gewohnten Zeit zu Bett ging, war auch Weihnachten wichtig, und ih­retwegen machten wir es ja. Stolz stand sie in ihrem Ballkleid da. Camille und ich zogen uns auch entsprechend um, weil es sonst doch sehr sonderbar für Alys wirken musste. Julienne fragte, warum ich denn nichts gesagt habe, sie hätte so ein ähnliches Kleid wie damals hier das geliehene in Montpellier gese­hen, und gekauft. Demnächst würde sie es vorsichtshalber immer mitbringen. Hier müsse man ja immer mit großen Bällen rechnen. Henri lachte sich halb tot über unsere Weihnachtstänze. Er könne Lucille allmählich immer besser ver­stehen, dass sie so gern hier sei. Er empfinde es mittlerweile bei uns auch nicht nur angenehm, sondern ausgesprochen interessant und lustig. Für Alys­sia war es nicht lustig und kurios, sondern himmlisch schön, im Abendkleid eng an Lucien geschmiegt zu tanzen und sich zu küssen. Natürlich brachte er sie zu Bett und las ihr aus ihren Gedichten vor, wobei sie glücklich neben ihm lag, und einen Arm um seine Schultern legte. Ein ereignisreicher freudiger Tag fand sein beschaulich zufriedenes Ende.

Im Bett an Ralf gekuschelt meinte ich, dass ich mich total selig fühle, obwohl ich denke, dass es doch eigentlich gar nicht möglich sein könne. „Ich mache so gut wie nichts mehr in der Kanzlei, und es stört mich überhaupt nicht. Früher hätte mich das nervös und unzufrieden gemacht. Das ist doch mein Leben, na, zumindest ein wichtiger Teil davon. Wo ist das geblieben? Brauche ich das auf einmal nicht mehr? Was ist mit mir geschehen? Bin ich jetzt zufrieden als Hausfrau und Mutter?“ „Ich sehe das nicht so, dass du nur Hausfrau und Mut­ter bist.“ erwiderte Ralf, „Mir kommt es eher so vor, dass du einen neuen Auf­gabenbereich gefunden hast, der nicht nur viel komplexer ist als die Kanzlei, sondern bei dem es auch um viel Wesentlicheres, Wertvolleres geht. Was be­deutet es schon, ein Verfahren zu gewinnen, wenn du dafür sorgen kannst, dass deine geliebte Julienne selbstsicher und glücklich wird. Du brauchst die relativ unbedeutende Kanzleibestätigung nicht mehr für dein Ego, weil du spürst, das du etwas viel Bedeutenderes machst, auch wenn es dir rational gar nicht bewusst wird. Im Übrigen bist du ja wohl nicht nur Hausfrau und Mutter, du managst hier derart viel, dass andere dazu einen ganzen Planungsstab brauchen würden und alles mit Freude verbreitendem Enthusiasmus. Du bist durch das Ereignis mit Alyssia eine neue, andere Frau geworden.“ „Und die magst du nicht mehr?“ fragte ich spöttisch. „Doch ich bewundere dich mehr als je zuvor, und habe aller größte Achtung vor dir.“ antwortete Ralf. „Mein aller, aller Liebster, willst du mich verlegen machen?“ meinte ich ihn mit Küssen be­deckend, „Du sollst mich lieben. Bewundern? na, vielleicht ein ganz kleines bisschen doch.“ Es stimmte mich immer wieder ausgelassen freudig an seiner Seite. Ich musste an Lucien denken. Ich glaube, ohne grundsätzlich meinen Ralf zu haben, ginge es mir auch schlechter als nur übel.


Weihnachten


Alyssia schien es zu bemerken, dass Julienne am Frühstückstisch fehlte. Sie schaute mich fragend an, schaute Lucien fragend an, was sollte sonst fehlen. Mir kam die Idee ihre Skype-Fotos zu holen, und genau, sie suchte Julienne aus. Als ich ihr erklärte, dass Julienne nicht weg sei, sondern sich nur mit Andy treffe, und der Juliennes Liebster sei, genau wie sie und Lucien, und sie sich auch küssen würden. Dann komme Julienne wieder zurück. Schaute Alys mich zunächst lächelnd fragend an, und strahlte dann voll. Verstanden, natürlich. Als Julienne später zurückkam, holte sie sofort das Skype-Foto von Andy und hielt es ihr hin. Nach meiner Empfehlung gab Julienne Andys Foto einen Kuss und Alys war total happy.


Weihnachtsspaziergang


Die Mahlzeiten und ihre Vorbereitung nahmen den größten Teil des Tages ein. Aber an diesem klaren, sonnig kalten, wunderschönen Wintertag wollten wir zumindest ein wenig spazieren gehen und in Begleitung von acht Freunden würde Alyssia sowieso nicht da zu kommen, die uninteressante Umgebung wahrzunehmen. Während Lucien und Alys Spaß daran hatten, sich gegenseitig zu necken, meinte Lucille, das sei das das Gegenteil von dem häufigen Wetter hier. Das Schlimme sei das Graue, Regen verhangene. „Wenn der Himmel blau ist und die Sonne strahlt, kann es ruhig kalt sein. Es ist trotzdem schön. So ist das auch, wenn Alyssia dich anlacht, da kannst du gar keine trüben Gedanken haben, da fühlst du dich auch von selbst glücklich.“ Obwohl der Vergleich ein wenig hergeholt erschien, so ganz unrecht hatte Lucille nicht. In der Anwesen­heit von Alys waren alle immer freundlich und nett, außer bei den Reha-­Menschen, denen sie aber auch kein freundliches Lächeln geschenkt hatte. Ob und wann sie denn wieder verreisen könne, fragte Henri. „Wenn alles glatt läuft, nach einem halben Jahr, also Februar-März“ meinte ich. Das sei doch gar nicht lange hin, ob wir denn nicht im Frühling zu ihnen kommen wollten, dann sei Elias doch auch noch da, und für ihn sei bis dahin auch klar, ob er das Va­kuumrektifikations-Verfahren anwende. Vielleicht könnten wir ja dann ganz viele Flaschen für Alyssia mitnehmen. „Henri wir haben uns überhaupt noch keine Gedanken über's Reisen gemacht, obwohl es ja wirklich schon bald sein wird, dass sie es kann. Wir wollten nur auf jeden Fall zu ihrem Haus in Com­baillaux, zur Klinik und eventuell zur Uni in Montpellier. Vielleicht könnten wir das ja miteinander verbinden. Und mitten im Sommer, wenn's total heiß ist, wollten wir auf keinen Fall reisen.“ erklärte ich.


Lucien verschwunden


Am Abend brachte Lucien Alyssia wieder zu Bett. Dass sie es verstand, was er ihr von der Reise zu seinen Eltern am nächsten Morgen erzählte, stand außer Frage. Sie hatte es sich angehört und keine besonderen Reaktionen gezeigt. Am folgenden Morgen war sie aber doch völlig aufgelöst, als sie Lucien nir­gendwo fand. Hatte sie sich gestern Abend im Stillen gedacht: „Ich werde es schon zu verhindern wissen.“ Wir hatten einen größeren Wochenkalender für jeweils drei Wochen, eine Monatsübersicht und einen Jahresplan in der Biblio­thek aufgehängt. Alyssia stand oft davor und schaute sich die Kalender detail­liert an, obwohl sie ja nichts lesen konnte. Bilder und Symbole wurden nur auf dem Wochenplan befestigt, den sie ganz genau verstand. Ob sie ihr Zeitver­ständnis oder Reste davon behalten hatte, oder auch sich selbst alles wieder neu angeeignet hatte, wussten wir nicht, und es würde auch jetzt nicht mehr zu klären sein. Sie konnte ja schon an den ersten Tagen in der Klinik zwischen sofort, gleich und morgen unterscheiden. Der abwartende Blick zur Tür, ob ich auch tatsächlich wieder komme, war nur einmal erforderlich gewesen. Jetzt schien sie die unterschiedlichen Monate internalisieren zu wollen. Sie liebte es, wenn ich ihr etwas dazu erzählte, und zeigte auf Monate, von denen sie etwas hören wollte. Nachdem ich ihr erklärt hatte, wann ihr Lucien wieder komme, und sein Bild dort befestigt hatte, war alles in Ordnung. Lucien hatte nach der Ankunft bei seiner Mutter sofort Skype installiert, und nach einem lächelnd ge­strengen Blick, den sie immer zeigte, wenn Lucien sie neckte oder ärgerte, hörte sie ihm strahlend zu. Als Lucien noch seine Mutter holte, die Alyssia na­türlich freudestrahlend erkannt, und der sie angeregt zuhörte, bekam Madame Renouard vor Rührung feuchte Augen. Als er zurück kam, berichtete er, seine Mutter habe ihn nicht nur gut verstanden, sondern er sei von ihr noch nie mit soviel Lob und Anerkennung überschüttet worden wie jetzt. Nicht nur speziell wegen Alyssia, sondern für sein ganzes Leben. Sie habe sich oft unnötig Sorgen um ihn und seine Entscheidungen gemacht, aber sie wisse, dass sie ihm selbst mehr vertrauen könne, als ihren eigenen Vorstellungen. Wenn sein Vater, der das wohl alles nicht verstehen könne, Ansätze von Bedenken habe äußern wollen, sei sie ihm immer sofort über den Mund gefahren. Seine Mutter habe ihn nur gefragt, ob er auch nicht vergessen würde, dass sein Kopf zu mehr in der Lage sei, als ein Bistro zu führen. Dass sei ihr sehr wichtig.


Andy besucht Julienne


Am Nachmittag kam Andy zu uns. Alys ließ die beiden nicht aus den Augen. „Ich könnte mir vorstellen, dass sie sehen möchte, wie ihr beide euch küsst. Dass hatte sie ja auch bei der Erklärung schon sehr beeindruckt.“ meinte ich ihr Verhalten deutend. Exakt so war es. Ihre Begeisterung mit bewegenden Schultern und gespreizt drehenden Händen wahr maßlos. Als sie lachend auf­hörten, sich zu küssen, schaute Alys sie abwechselnd mit großen Augen an. Sie wollte es bestimmt nochmal sehen. Wir hatten für 'nochmal' gar keine einheitli­che Geste vereinbart. „Warum freut sie das so?“ fragte Julienne erstaunt. Ich versuchte zu erklären, dass alles was mit Liebe, Küssen, Streicheln zu tun habe, einen hohen freudig belegten Stellenwert für sie besitze, und wenn sich das mit ihrer besten Freundin und Andy, den sie ja auch sehr gern möge, er­eigne, schon eine famose glückliche Überraschung für sie sei. Die beiden lach­ten, und küssten sich nochmal, ohne mit der Absicht, es Alyssia demonstrieren zu wollen.

Andy hatte die Fotos von gestern mitgebracht. „Kann er nicht wunderschön fo­tografieren, wie ein Profi?“ erwarte Julienne Bestätigung. „Du bist wunder­schön, ma belle de l'hiver.“ erwiderte ich, und Andy nickte lächelnd Zustim­mung. „Ich habe überhaupt keine Ahnung davon, aber so schöne Fotos möchte ich auch machen können. Andy wird es mir im Sommer, wenn ich hier studie­re, beibringen. Ich habe ja nur ein – na ja geht so – Foto von ihm, dabei ist er doch ein so schnuckeliger Typ, nicht wahr Ruth?“ fragte sie und brachte da­durch alle zum Lächeln. „Aber das können wir doch machen. Andy stellt alles ein, und auf den Auslöser drücken werde ich ja noch wohl können.“ meinte ich. Also gab's nach Andys Beratung eine Fotosession im Park. Alle sollten und wollten in allen denkbaren Konstellationen fotografiert werden, bis wir zu erfro­ren waren, um noch weitere Vorstellungen entwickeln zu können. Während wir alles vorbereiten, um uns innerlich aufwärmen zu können, überspielte Andy die Fotos auf Alyssias PC in der Bibliothek. Beim Anschauen später wurde er nach den ersten Fotos von Alyssia verdrängt, die selbst die Bildregie übernehmen wollte. Wirklich très bien. Ich wollte von Andy mehr dazu wissen. Er meinte, es liege einerseits an der Kamera, da man hier alle Einstellungen selber vorneh­men könne, aber andererseits brauche man dazu natürlich auch einiges an Er­fahrung, wenn man das erreichen wolle, was man sich vorstelle. „Möchtest du denn wirklich gern fotografieren lernen?“ fragte ich Julienne. „Ja, ich finde An­dys Bilder absolut toll. Das sind Gemälde und nicht nur einfache Abbildungen. Du musst dir mal seine Sammlung im Netz ansehen, da könntest du dir jedes Bild an die Wand hängen. Der hat, glaube ich, den völlig falschen Beruf ge­wählt.“ antwortete Julienne. „Wenn man dazu so viel Erfahrung braucht, warum willst du dann erst im Sommer anfangen, und übst nicht schon jetzt. Andy kann dich ja im Netz kritisieren und dir Tipps geben.“ erkundigte ich mich. Sie habe doch gar keine Kamera nur so einen kleinen Knipser. „Die wirst du doch im Sommer auch benötigen, warum dann nicht jetzt gleich. Besorgen wir doch unter Andys fachkundiger Beratung etwas für dich.“ meinte ich. Dass Julienne keine teure Kamera bezahlen konnte, war klar, sie sagte es aber nicht, weil sie wusste, dass ich dann die Kosten trüge. In den nächsten Tagen im Geschäft, war klar, dass Andy sie bezahlte. Julienne hatte ihm wohl ihr Pro­blem erläutert. Andy schwärmte von einer Kamera, aber als Anfänger brauche man so etwas nicht. „Andy an welche Preislage hattest du denn gedacht?“ fragte ich ihn. „Ja also, maximal 1.000 €. Dafür bekommt man schon etwas ganz Ausgezeichnetes.“ war seine Reaktion. „Weißt du was Andy, 500 € be­zahlst du, und dann suchst du für Julienne die schönste Kamera aus, die du am liebsten für dich haben würdest.“ erklärte ich ihm. Er hatte wahrscheinlich nicht so viele Skrupel wie Julienne, da er sicherlich auch einiges von den finan­ziellen Dimensionen der Kanzlei mitbekommen hatte, aber dass jemand ein­fach so sagt: „Such dir etwas aus, ich bezahle es.“ schien ihn doch wohl zu er­staunen. Andy wusste sofort, zu welcher Kamera er greifen musste, und über­schüttete Julienne mit begeisternden Erklärungen über ihre Vorzüge und Mög­lichkeiten, die sie lächelnd aufnahm, aber nur zum geringen Teil verstand, ei­nerseits weil ihr die Sachkenntnis fehlte, und andererseits Andy die französi­schen Bezeichnungen fehlten. Julienne war ganz sprachlos auf einmal Besitze­rin einer solchen Kamera zu sein. Zu Hause wurde den ganzen Nachmittag al­les erklärt, erkundet und ausprobiert. Alyssia saß immer gespannt daneben, und schien auf die Fotos zu warten. Julienne gab ihr dann auch einmal die Ka­mera, und zeigte ihr wo sie abdrücken musste. Ihr erstes Foto: 'Julienne und Andy gemeinsam auf der Couch'. Nach dem Abendessen wurden auch diese ersten Fotos mit Julienns neuer Kamera angeschaut, hier war ja einiges auch absichtlich falsch gemacht, aber als das Bild mit den beiden auf der Couch kam, war Alys so begeistert, dass sie sich erst nach gutem Zureden bewegen ließ, das nächste anzuschauen. Wir würden es abziehen und in der Bibliothek aufhängen. Alyssia hatte ja selbst eine gar nicht mal schlecht Kamera. Uns war wieder eine gute Idee nur durch Zufall in den Sinn gekommen.

Abends wollte Julienne mir noch ihre Skrupel verdeutlichen, aber ich wehrte ab, und erklärte ihr, dass ich traurig wäre, wenn sie mein kleines Cadeau de Noël nicht einfach akzeptieren würde. Nach einer Umarmung unterhielten wir uns noch lange. Ihre Erklärungen darüber, was sie mir alles zu verdanken habe, wollte ich nicht hören. Sie sei in kürzester Zeit ein ganz anderer Mensch geworden, sagte sie. Von der Julienne vor Alyssias Unfall sei kaum noch etwas geblieben, Gedanken an ihr früheres Verhalten seien ihr heute oft regelrecht peinlich. Und die Ängstliche, Unsichere und Verzweifelte aus der Unfallzeit, gebe es auch nicht mehr. Sie habe zwar aus Angst, eventuell durchdrehen zu können wie Lucien, mit der Entscheidung für Deutsch begonnen, und sei auch heute noch sehr froh, dass sie es getan habe, aber sie habe jetzt keinesfalls mehr Angst davor, nicht ständig in Alyssias Nähe sein zu können. „Ich habe sie sehr gern und freue mich auch, bei ihr sein zu können, daran hat sich nichts geändert, aber alles andere ist auch wieder da, unabhängig von Alys. Es hat sich nur alles sehr verändert. Möglicherweise hat das Ereignis dazu geführt, aber ohne unsere Gespräche, deine Unterstützung und unsere Freundschaft wäre es nie dazu gekommen, dass ich mich heute so sicher, zufrieden und glücklich empfinde. Mit Alys war es auch sehr schön, ich habe mich toll gefühlt, und will das auch gar nicht mindern, aber heute komme ich mir in gewisser weise erwachsener und reifer vor. Das gibt mir ein erhebendes starkes Empfin­den, das ich sogar manchmal mit ein wenig Stolz betrachte.“ sagte Julienne. Ja das entsprach genau der schönen, starken, selbstsicheren jungen Frau, die ich in der Küche am Tisch hatte stehen sehen. Diese kluge, selbstsichere junge Frau mit den sensiblen Gesichtszügen sprach Empfindungen in mir an, die ich nicht kannte. Ich fing an zu träumen, wenn ich sie ansah und ihr zuhörte. „Was ist los, Ruth?“ fragte Julienne als ich nicht sofort reagierte. „Julienne, du weißt, dass ich dich sehr gern mag. Nicht nur Andy, mir würde es auch gefallen, wenn du nicht immer so schrecklich weit weg wärst. Warum willst du nur ein halbes Jahr in Hamburg bleiben?“ fragte ich sie. Julienne lächelte, und meinte scher­zend: „Weil ich im Winter hier erfrieren werde. Nein, ich weiß es nicht. Ich habe mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht. Das Stipendium ist ein­deutig auf ein Semester begrenzt. Ob ich danach einfach hier studieren könn­te, weiß ich noch nicht einmal, und ob ich es dann will, weiß ich auch nicht. Natürlich wäre ich gern in deiner Nähe, aber wie es sich mit Andy entwickeln wird, kann man ja auch nicht absolut vorhersagen. Vielleicht komme ich ja auch mit den Studienbedingungen hier überhaupt nicht klar. Ich weiß noch nichts, Ruth.“ Von den Fotos die Andy von ihr am Weihnachtsmorgen an der Binnenalster gemacht hatte, würde ich auch gern welche haben, zumindest das mit dem Fairmont Hotel im Hintergrund. Julienne wusste nicht genau, welches ich meinte, aber Andy hatte ihr auch einen Stick mit den Fotos gegeben, wir könnten sie ja eben überspielen. In der Bibliothek erzählte ich ihr dann, was es für mich mit dem Fairmont auf sich hatte, und empfahl ihr, jetzt schon mal mit dem Sparen für ihre Hochzeitsnacht mit Andy zu beginnen. Wir plauderten und alberten noch weiter, und ich verspürte Lust bei der Vorstellung, dass Julienne und Andy auch wie Camille und Christoph bei uns wohnen würden. Von der Quadratmeterzahl her, wäre das überhaupt kein Problem, aber mit der Raum­aufteilung, wie sollte das funktionieren. Ich würde mir doch mal Gedanken dar­über machen, aber das hatte ja noch Zeit. Am Neujahrsmorgen fuhr Julienne zurück. Andy, der bei uns auf einer Couch übernachtet hatte, bekam beim Ab­schied feuchte Augen. „Oh Andy, wie verliebt musst du sein, wenn du es nicht verkraften kannst, deine Julienne einen Monat zu entbehren.“ Er lächelte und erklärte mir dann in der Küche, was für eine tolle Frau Julienne sei. „Zu alle­dem empfinde ich sie noch als überaus schön. Wenn ich abends im Bett liege, mich ihre Augen anschauen, und ihre Lippen meinen Mund berühren, fühle ich mich himmlisch. Ruth, ich bin zum ersten mal in meinem Leben richtig verliebt. Auch wenn das vielleicht ein wenig wie ein Rausch ist, aber dass es jemals völ­lig anders sein könnte, ist für mich absolut undenkbar. Wenn sie mich fragte, ob ich sie heiraten würde, ich machte es auf der Stelle.“ Ob das nicht ein wenig hastig sei, gab ich zu bedenken. Dass Julienne ihn auch sehr möge, habe sie mir gesagt, aber sie komme ja schließlich nach Hamburg, um hier zu studie­ren, und nicht primär, um Andy zu lieben, und dass ihr die Arbeit an der Hoch­schule sehr viel bedeute, und die ungewohnten Bedingungen hier eine zusätzli­che Belastung darstellen würden, könne er doch sicher gut nachvollziehen. Ich meinte, wenn er sie wirklich liebte, würde er das berücksichtigen und sie darin unterstützen, und sie nicht eventuell damit bedrängen, seine Bedürfnisse stärker zu berücksichtigen. Verstanden! Julienne würde also auch hier eine fleißige Arbeitsbiene sein, die nicht unbegrenzt ihre Zeit mit ihm verbringen würde.

Ledoux und Elias fuhren am Tag nach Neujahr zurück. Ich versprach sofort mit der Reiseplanung zu beginnen, und Henri wollte uns über den Stand der Ental­koholisierung auf dem Laufenden halten. Lucille empfand die Weihnachtstage bei uns als die schönsten, die sie erlebt habe. Sie fühle sich immer so frei, wenn sie hier sei. Vielleicht sei das die Grundlage für alles weitere Angenehme. Ob Camille denn nicht auch nach Tain-l'Heremitage kommen könne, wenn wir bei ihnen seien. Sie könne nur in den Ferien, also zu Ostern meinte Camille. Wir mussten überlegen, ob sich das alles sinnvoll koordinieren ließ.


Neues Lernen


Christoph half mir beim Verständnis des Arztbriefes, der Bücher und der Biblio­graphie. Er und Ralf wechselten sich ab bei Anrufen und Nachfragen. Häufig gab es Hinweise auf weiterführende Literatur oder eine Aufforderung zur Vor­stellung. Bis Bremen, Hannover und allenfalls noch Münster konnten wir mit Alyssia auch reisen. Am günstigsten war immer ICE mit Speisewagen, dann verging die Zeit schnell und die Bewegungsfreiheit war groß. Wir entwickelten uns alle zu Semi-Neurologen und halben Sonderpädagogen, aber der prakti­sche Effekt, gegenüber dem was Alyssia sich selbst aneignete oder sonst ver­mittelt bekam, war sehr mäßig. Alle l’art pour l’art Spielchen lehnte sie grund­sätzlich ab, und zu banal durfte es auch nicht sein. Sie schaute mich dann im­mer fragend mit einem abwertenden Lächeln an: „Was soll der Quatsch?“. Ein Bezug zur Realität war zwingende Voraussetzung. Signalwörter würde sie auf jeden Fall erkennen können. Sie unterschied ja auch zwischen ihren Skype-Na­men und Zahlzeichen konnte sie ja auch unterscheiden. Es war bald ein abso­luter Spaß, den Teilnehmern am Tisch mit Tischkärtchen immer wieder neue Plätze zuzuweisen, außer Lucien neben Alyssia, dachte sie sich immer wieder neue Konstellationen aus. Als Camille sie mal bat, sie würde so gern neben ih­rem Liebsten, dem Christoph, sitzen, wurde der Wunsch selbstverständlich be­rücksichtigt. Wir sollten ihr allmählich beibringen die unterschiedlichen Kaffee­sorte nach Schriftsignalen unterscheiden zu können. Julienne sollte eine Karte aus dem Bistrot Saint Come in Montpellier besorgen und sich auch nach der Kaffeemaschine dort erkundigen. Dort hatten die beiden sich immer Samstag­morgens getroffen. Wir würden uns eine zumindest ähnliche besorgen. Ein mo­derner Vollautomat in einem südfranzösischen Bistro wäre ja wohl ein absolu­ter Stilbruch gewesen. Mit der Speisekarte kam ein großes Foto von Julienne an einem der Tische vorm Bistro und noch eins von innen vor der Theke. Für Alyssia war das nicht zu fassen. Obwohl sie Julienne ja sofort erkennen muss­te, kam kein freudiges Lachen. Abwechseld schaute sie beide Bilder immer wieder intensiv an, und rannte dann sofort mit ihnen rauf zu Lucien, den sie sonst bei der Arbeit nie störte. Dass sie die Umgebungen und Bedingungen der Fotos auch erkannte, war längst eindeutig klar, aber hier ging es ja um Erinne­rungen, die wieder lebendig wurden, obwohl auf dem Bild eindeutig ausschließ­lich Julienne als Person zu erkennen war. Wenn wir gewusst hätten, welche Er­innerungen wodurch wieder hervorzurufen wären, könnten wir ihr viel weiter­helfen, aber darüber hatte bislang noch keiner von uns irgendetwas Brauchba­res gelesen. Ich wusste ja auch nicht, was sie genau erinnerte. Aber dass sie das Bistro erkannt hatte, dass es primär mit Lucien zusammenhing und irgend­wie ganz wichtig war, so viel musste ihr ja auf jeden Fall bewusst geworden sein.


Bettgeflüster


Zu Ralf meinte ich abends im Bett mal, dass ich glaube, sexuell nicht mono­gam veranlagt zu sein. Ralf schaute mich weitere Erklärungen erwartend mit hochgezogenen Augenbrauen erstaunt an. „Nein, nein, keine Angst.“ erleich­terte ich ihn, „Ich werde dir jetzt nicht erklären, dass ich mit jemand anders geschlafen habe, oder es gern tun würde. Ich meine nur, dass ich auf andere Männer ganz unterschiedlich reagiere, dass sie ganz unterschiedliche Empfin­dungen in mir evozieren können. Zum Beispiel Christoph, ich mag ihn sehr gern, finde ihn sehr nett, unterhalte mich sehr gern mit ihm, und seine Gegen­wart ist mir äußerst angenehm, aber dass er ein Mann ist, mit dem man ja auch etwas anderes machen könnte, so ein Gedanke würde mir bei ihm nie kommen. Es gibt aber auch Männer, bei denen ist das für mich völlig anders. Wenn ich sie sehe, mich mit ihnen unterhalte, höre was und wie sie sprechen, ihren Gesichtsausdruck und ihre Mimik betrachte, dann ist das mehr als ange­nehm, es erfreut mich, regt mich an. Mir fällt ein, dass es schön wäre, es öfter zu erleben, und wenn ich mich frage, was diesen Unterschied ausmacht, ob es erotische Gefühle sind, ob ich Lust haben würde, mit diesem Mann ins Bett zu gehen, kann ich mir durchaus vorstellen, dass es sich dahin entwickeln könnte. Ralf, du brauchst keine Angst zu haben, ich werde es nicht tun, ich will es gar nicht und brauche es auch nicht, ich denke auch gar nicht weiter daran, es be­schäftigt mich überhaupt nicht. Ich meine nur, dass ich Männer unterschiedlich wahrnehme, und einige bei mir erotische Empfindungen auslösen. Nicht auf Bildern, die sagen mir gar nichts. Da finde ich die meisten, die besonders schön sein sollen eher lächerlich und abstoßend. Auch diese nackten Oberkör­per oder mehr lösen in mir nichts aus. Dein Körper ist mir schon sehr wichtig, aber das ist ja dann auch eine völlig andere Situation. Aber auch ganz normale Männergesichter mit markanten Gesichtszügen mögen vielleicht ganz nett und gut fotografiert sein, aber mehr empfinde ich da nicht. Da gefallen mir Fotos von Frauen viel besser, aber das ist ja auch eine ganz andere Dimension. Ich meine vom Ästhetischen aus betrachtet, da rangieren Männer generell ja frü­hestens zehn Plätze hinter den Frauen. Wie ist das denn eigentlich bei dir, Ralf? Männer haben doch viel schneller erotische Gedanken bei visuellen Rei­zen. Denkst du manchmal 'Oha, die Frau möchte ich mal gern ficken.'?“ Ralf lachte sich tot zog mich auf sich, küsste mich und meinte: „Mein Ruthchen, ich sehe dich mit absoluter Achtung und Anerkennung, aber manchmal bist du ein­fach total süß.“ Ich wusste gar nicht, was ich davon halten sollte. „Und Ruth­chen?“ fragte ich. „Na ja, es gibt zu Ruth eben gar keinen Diminutiv, keine Ko­seform, oder soll ich etwa Ruthilein sagen?“ erklärte Ralf. „Gar nichts.“ erklärte ich strikt, „Ich bin nicht dein Hasilein. Und jetzt antworte.“ „Oha denke ich ei­gentlich weniger. Auch bei Frauen nicht.“ meinte Ralf immer noch belustigt. Meine Formulierung fand er wohl absolut komisch. „Aber du meinst, ob andere Frauen in mir erotische Empfindungen hervorrufen. Klar ich sehe es gern, es gefällt mir. Besonders gefallen mir bei Frauen schöne Pos in engen Hosen oder Röcken, aber es macht sehr viel aus, wer das ist. Bei einer Frau, die mir wenig sympathisch ist, interessiert mich auch ihr vielleicht schöner Hintern nicht. Auch im Sommer, wenn Frauen Tops mit viel freiem Rücken tragen, gefällt mir das sehr gut. Busen und tiefe Ausschnitte, die für viele Männer so besonders wichtig sind, berühren mich eigentlich nicht, außer wenn eine Frau keinen BH trägt, und man sieht, wie sich ihre Brüste bewegen, das mag ich schon. Ich finde das alles schön und angenehm, und es erfreut mich auch, aber auf den Gedanken deshalb mit einer ins Bett zu wollen, das hab ich noch nie erlebt. Ich komme mir selbst manchmal ein wenig komisch vor, aber ich glaube, die intime vertrauensvolle Situation ist für mich genauso wichtig wie das Ficken selbst. Ich habe beim Masturbieren als kleiner Junge mir immer schon ausgemalt, dass die imaginierte Frau meine beste Freundin wäre. Wie Männer ins Bordell oder etwas Ähnliches gehen können, ist für mich selber unvorstellbar. Vielleicht ist das ungewöhnlich für einen Mann, aber mich stört es überhaupt nicht, ich kann damit sehr gut leben. Ich wüsste nicht, warum es erstrebenswert sein sollte, Lust dabei empfinden zu können, meinen Penis in die Vagina einer mir unbekannten Frau zu stecken.“ Mon amour! „Sollte ich denn auch öfter rücken freie Tops und enge Röcke tragen, oder ohne BH herumlaufen?“ fragte ich leicht spöttisch. „So weit ich weiß, hast du ja im Bett meist nie einen BH an, und Röcke im Bett, das würde doch auch nicht so ganz passen, oder?“ spöttelte Ralf zurück. „Sag mal,Ralf,“ wollte ich noch wissen, „wie ist das denn für dich eigentlich mit anderen Männern, kannst du dir vorstellen, dass du da etwas empfinden würdest?“ „Also ich mag andere Jungs ganz gern, Christoph oder Maxe zum Beispiel. Ich unterhalte mich gern mit ihnen, das macht mir auch Spaß, aber Streicheln und Amore oder so etwas, völlig unvorstellbar für mich. Ich habe mir mal als kleiner Junge gemeinsam mit einem Schulfreund einen runter geholt, als es so gerade ging, irgendwie zum Ausprobieren oder Erforschen, aber mit Zuneigung oder so Ähnlichem hatte das nichts zu tun.“ meinte Ralf „Ja mir geht das auch so. Selbstverständlich habe ich überhaupt keine Probleme damit, das andere Leute Gleichgeschlechtliches lieben, aber für mich selber nachzuempfinden ist das überhaupt nicht. Ich finde manche Frauen sehr schön, besonders wenn sie nicht mehr ganz jung sind, und ihre Gesichter ausdrucksstarke, charaktervolle Züge aufweisen. Zum Beispiel Camille, ich finde sie wunderschön, es macht mir Freude sie anzusehen, aber Empfindungen, die etwas mit Erotik zu tun haben könnten, überhaupt nichts. Als ich mich neulich mit Julienne unterhielt, empfand ich mich ganz sonderbar. Ich mag sie sehr gern, ja natürlich ich liebe sie, aber irgendwelche erotischen Gefühle sind mir da bislang auch noch nie gekommen, aber jetzt merkte ich, wie ich ihr zuhörte und sie anschaute, dass ich anfing zu träumen. Ich weiß gar nicht mehr konkret was, ich weiß nur, dass ich in einer anderen schönen Welt war. Ich frage mich was das sein könnte, das sie in mir auslöst. Sind das erotische Empfindungen für eine andere Frau? Ja, sie küssen und ihr Gesicht streicheln würde mir schon gefallen, aber mehr? Fehlanzeige, keine Vorstellung, keine Bedürfnisse. Vielleicht hat das ja auch mit Sexualität gar nichts zu tun. Sie ist mir durch unsere langen Gespräche, durch ihre missliche Kindheit und Jugend, durch ihre Liebe zu Alyssia und ihre Verzweiflung, und durch ihre jetzt so fabelhafte Entwicklung so tief ans Herz gewachsen, dass es auch für mich selbst ein völlig neues emotionales Erlebnis ist. Sie ist so etwas wie heißgeliebte Tochter und allerbeste Freundin zugleich. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr jemand Unannehmlichkeiten bereitete. Wenn Andy sie zum Beispiel betrügen würde, brächte ich ihn glaube ich um. Na ja, zumindest sofort rausschmeißen würde ich ihn, ich könnte dann seien Anblick nicht mehr ertragen. Sonderbar, nicht wahr?“ Ralf wusste auch keine Antwort, meinte aber es müsse doch beides schön sein für mich. Frauen hätten doch im allgemeinen viel häufiger auch erotische Empfindungen für andere Frauen als Männer, die allerdings die Diskussion um gleichgeschlechtliche Liebe dominierten. Wenn wir beide Lust daran hätten, könne es doch sehr schön sein. Ralf und ich, wir seien eigentlich sowieso sehr konservativ in unseren erotischen Vorstellungen. „Träumst du von etwas anderem. Möchtest du mich gern fesseln, auspeitschen oder zusammenschnüren?“ fragte ich Ralf sprachlos. „Nein, nein überhaupt nichts.“ reagierte er lachend „Ich finde das absolut toll zwischen uns und möchte auch gar nichts anderes. Ich habe nur konstatiert, dass es zwischen uns so ist, wie man sich das eigentlich gut bürgerlich vorstellt, normaler weise müsste man das für verlogen und krankhaft halten, ich kann es aber gar nicht so empfinden. Ich finde es toll und fühle mich absolut glücklich mit dir. Wenn du auch Lust daran hättest, mit einer anderen Frau, zum Beispiel Julienne, glücklich zu sein, würde mich das im Prinzip überhaupt nicht stören, wenn du mich nicht all zu oft allein ließest. Ich hielte das für absolut normal und verständlich. Aber das ist ja alles blauer Dunst.“ „Nein,nein, mit Julienne wird sich so etwas auch nie ereignen. Sie soll mit ihrem Andy glücklich werden, exclusivement. Da brächte ich es nie zustande irgendeine Art von Verwirrung zu stiften. Mich hat nur mein eigenes Empfinden stutzig gemacht, dass mich zweifeln ließ, ob ich auch für Frauen so etwas wie erotische Empfindungen entwickeln kann, oder ob es nur Juliennes Person ist, die mich emotional außerordentlich tief berührt. Und außerdem gutbürgerlich, was für ein guter Bürger bist du denn, der seine Frau die ganze Nacht durch halb tot fickt?“ schloss ich meine Replik. „Was ich jetzt antworten würde, weißt du ja, deshalb kann ich's mir ersparen. Aber vielleicht hast du ja Recht, dass es doch nicht so ganz gutbürgerlich ist. Und jetzt hör auf zu reden.“ erwiderte Ralf noch, bevor das vielleicht doch nicht so ganz bürgerliche Liebesspiel seinen Verlauf nahm. Ich weiß nicht, ob öfter mein oder Ralfs Verlangen dominierte. Es war nur einfach immer ein wunderbares Erlebnis, das sonst mit nichts zu vergleichen war, und das mich am nächsten Morgen wie neu geboren fühlen lies, wenn ich mich nicht halb tot fühlte, weil wir's wieder mal zu extensiv gemacht hatten.


Printemps


Mademoiselle Barista hatte schnell alle Kaffeearten internalisiert, nur wir konn­ten gar nicht genügend Kaffee trinken. Mitte Januar, als Alyssia und Lucien sich im Wohnraum umarmten und küssten, zog sie plötzlich Lucien den Pullover aus. Ob sie mit Pullover nicht genug von ihm spürte? Aber dann wurde auch noch sein T-Shirt ausgezogen, und Alys streichelte Luciens nackten Oberkörper vorn und auf dem Rücken. Dann schien sie an ihm zu riechen, und begann ihn zu küssen. Der völlig verdutzte Lucien ließ regungslos alles mit sich geschehen. Plötzlich machte Alyssia ihren Oberkörper frei, legte auch den BH ab, und rieb sich mit genießerisch strahlenden Blick an Lucien. Wunderschön, aber nicht hier unten. Das sollte sie sich doch besser nicht angewöhnen. Lucien lächelte verlegen, und wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ich meinte, sie könnten doch alles machen, wozu Alyssia Lust habe, warum nicht, nur nicht hier unten. Und Alyssia nehme keine Pille, da würde ich mich aber ganz schnell drum kümmern. Lucien berichtete, dass sie aber nur ihre Brüste an ihm habe reiben wollen und es wunderbar gefunden habe, wenn er sie gestreichelt und geküsst habe. Dass es unterhalb der Gürtellinie vielleicht auch noch Interessantes gebe, wisse sie wohl nicht mehr. Auch das Interesse für die schönen Empfindungen an den Brüsten, hatte sie mit Sicherheit neu entdeckt, als sie merkte, dass der dicke Pullover störte. Konkrete sexuelle Aktivitäten schienen ihr nicht mehr gegenwärtig zu sein. Warum sollte sie es sich nicht wieder neu aneignen, wenn sie Lust daran hätte? Lucien wäre mit Sicherheit einfühlsam und rücksichtsvoll genug. Lucien sollte immer wieder zu den Brustspielen mit ihr aufs Zimmer kommen, hatte es dann aber auf einmal pro Tag begrenzt. Als er ihr dann mal auch die Hose ausgezogen, und sie auch an Beinen und Po gestreichelt hatte, hätte sie von sich aus ihren Slip ausgezogen, und dort auch gestreichelt werden wollen. Sie hatte einen Orgasmus bekommen, Lucien mit großen Augen angeschaut, und ihn dann mit Küssen überdeckt. Darauf habe sie seine Hand zwischen ihre Beine geführt, und habe es noch einmal gewollt. Das sollte jetzt immer gemacht werden. Jeden Abend, wenn Lucien sie zu Bett brachte – und nur er durfte es noch – hob sie ihr Nachthemd an, legte sich mit gespreizten Beinen aufs Bett und erwartete Luciens Aktivitäten. Lucien berichtete immer, wie sie völlig passiv sich alles gefallen ließ, es genieße, und ihm hinterher umarmend und küssend dankbar sei. Er würde es zwar gern für Alyssia tun, wenn es ihr Freude bereite, aber andererseits käme er mit ihrer völligen Passivität auch nicht klar. Er würde gerne mit ihr zusammen glücklich sein, und nicht immer nur den geliebten Masturbator spielen, und berichtete detailliert über Alys Verhalten. „Lucien ich will das alles gar nicht wissen. Das war ,ist und bleibt euer eigenes Persönliches, Intimes und Privates. Aber du bist doch kein kleiner Junge mehr, dir wird doch wohl etwas einfallen, das Alyssia selber auch zu aktivem Handeln veranlasst. Sie selber scheint ja nichts mehr zu wissen. Sie will immer nur das, was sie am Vortag als schön erfahren hat. Du musst ihr alles neu beibringen und es ihr schmackhaft machen. Überleg dir doch mal etwas. Sie wird von sich aus auf nichts kommen, weil sie anscheinend überhaupt nichts mehr davon weiß.“ riet ich ihm. Er könne mich immer gerne ansprechen, wenn es irgend eine Art von Problemen geben sollte, aber von ihren sexuellen Praktiken wolle ich im Detail nichts wissen. Nach kurzer Zeit meinte Lucien, es sei fast alles wie früher, nur dass Alys nicht mehr so wild sei, dafür empfinde er sie als freundlicher und lustiger, nur ob überhaupt oder nicht miteinander schlafen, da sei sie völlig kompromisslos. Sie drehe sich von ihm weg, starre trostlos in die Gegend, und erwecke den Eindruck, als wenn sie darüber nachdenke, ob so ein Mann überhaupt ihr Freund sein könne. Dass sie selbstverständlich jeden Abend miteinander schliefen, störte Lucien nicht. Er meinte, das sei ja früher auch nicht viel anders gewesen, nur dass er jetzt immer schon um 10 Uhr ins Bett musste, störte ihn sehr. Also verschoben wir die Schlafzeit um eine Stunde, was Alyssia allerdings nur in den seltensten Fällen veranlasste morgens dafür länger zu schlafen.


Reise wieder zurück


Julienne war schon Anfang Februar gekommen, um ihr neues Zuhause einzu­richten und Hamburg inklusive Uni ein wenig näher kennenzulernen. Das Andy sie zu sehr bedrängte, brauchte sie nicht zu befürchten. Er hatte in den nächs­ten Tagen das Rigorosum für seinen Doktorexamen und hatte auch ohne Juli­enne schon zu wenig Zeit. Aber um die Osterzeit, wenn wir zusammen erst nach Combaillaux/Montpellier und anschließend zu Ledoux in Tain-l'Heremitage fahren wollten, hatte er längst alles hinter sich gebracht. Er musste nämlich tolle Fotos machen, die wir später eventuell im Bistro verwenden konnten. Sie sollten die Barista in Frankreich zeigen, aber vor allem auch dafür sorgen, dass Alyssia sich wohl und heimisch fühlte. Wir hatten uns entschieden, in kleinen Etappen mit dem Auto zu fahren, so waren wir in der Tagesgestaltung völlig frei. Julienne und Andy sollten eigentlich fliegen, aber Julienne meinte, es ge­falle ihr auch mit uns zu zockeln, dann könne sie unterwegs viele Erinnerungs­fotos machen. In Wirklichkeit wollte sie Andy nicht allein bei sich im Hause ha­ben, wem sie dabei mehr misstraute, Andy oder sich selbst, wusste sie auch nicht so genau.

Die Reise selbst wurde zum unvergleichlichen Erlebnis, vor allem in Combail­laux und Montpellier. Besonders natürlich Madame Mercier, die uns vom Kran­kenhaus mit zu sich nach Hause nahm, und Alyssia und Arlette sich so live be­gegnen ließ. Sie war so begeistert und gerührt, dass sie versprach, mit Arlette nach Hamburg zu kommen, spätestens zum Ende des Sommers, wenn das Bistro eröffnet werden sollte. Auch sie fand es mittlerweile unpassend, dass wir uns gegenseitig immer noch mit Madame anredeten, also waren wir ab jetzt Ginette und Ruth. Der Chef des Bistros erkannte die beiden wieder, und wollte wissen, warum sie so lange nicht da gewesen seien. Als er erfuhr, was sich er­eignet hatte, und was die beiden in Hamburg vorhatten, hätte er ihnen am liebsten seine halbe Einrichtung geschenkt. Weil seine Hilfsangebote und Tips gar kein Ende nahmen, fuhr Lucien am nächsten Morgen nochmal gesondert zu ihm. Der Bistrochef wollte sich sowieso eine neue Kaffeemaschine zulegen, weil sie ihm sehr viel Arbeit erspare. Er habe sehr an der alten gehangen, aber wenn er wisse, dass sie bei ihnen gebraucht würde, bekämen sie sie ge­schenkt. Im Sommer würde bestimmt jemand runter fahren, und könnte sie mitbringen. Einige alte Reklametafeln nahmen wir schon jetzt mit. Die Tage waren völlig ausgefüllt und die Autos vollgepackt, als wir zur Rhône fuhren. Camille war schon zwei Tage früher gekommen. Ihr war sehr gut verständlich, wie die ausgeglichene Atmosphäre hier gegenüber dem aufreibenden Alltag in Hamburg Alyssia schon sehr schnell deutlich gemacht hatte, dass gutes Leben nur so – also hier in Frankreich – möglich sei. Alyssia selbst kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, über die Menschen, die sie hier traf aber auch die immer wieder neu erinnerten Teile der Gebäude. Andy war ständig beschäftigt. Sehr lustigst waren die Fotos vom Ostereiersuchen im Weinberg.


Tempo le Bistro


Auf der Rückreise legten wir gleich einen Stopp in Lyon ein, weil die Eltern ei­nes Freundes von Lucien hier ein Bistro besaßen und ihn beraten wollten. Au­ßerdem kauften wir eine Kaffeemühle, die modern aber relativ stilvoll war, und von einer Firma hier hergestellt wurde. Wir hatten zwar schon Einrichtungsge­genstände und wage Pläne, wie das Bistro etwa gestaltet werden könnte, aber sonst nichts. Wir wussten nur, dass es in spätestens einem halben Jahr, nach den Sommerferien eröffnet werden sollte. Die aufkommende Panik veranlasste uns dazu, gezielt projektorientiert zu planen. Als ich Torsten nach Kontakten fragte, konnte er es gar nicht fassen, dass es in die Tat umgesetzt wurde. Er überschlug sich vor Hilfsbereitschaft, und wollte sich um alles kümmern. Er be­sorge ein tolles Lokal, würde auch die Kosten tragen und alles ganz schnell. Als ich vorsichtshalber schon mal unsere Innenarchitektin Frau Lenders anrief, meinte sie, dass Gaststätten zwar nicht ihr Gebiet seien, aber in diesem Fall sei es ihr eine persönliche Herzensangelegenheit und würde ihr auch vom Sujet her Freude machen. Übliche Gastronomie-Designer hätten so etwas gar nicht drauf. Sie kam vorbei und schwärmte von allem, was wir schon gesammelt und uns ausgedacht hatten. Sie meinte nur, dass es trotz aller südfranzösischer Schlichtheit und Rustikalität auch so gestaltet sein müsse, dass es intellektuel­le Bedürfnisse von Mittel- und Oberschicht anspreche, denn nur hier seien die potentiellen Gäste zu finden. Eine Pizzakette wechselte ein sehr großes Lokal in einer belebten Fußgängerzone. Wir wollten gar nicht wissen, was Torsten dafür wohl bezahlen musste. Nach gut einem Jahr hatte er das Haus gekauft, wahr­scheinlich weil ihm die Kosten dafür langfristig geringer schienen als die ständi­gen Mietzahlungen.


Le petit sourire


Es war bezaubernd geworden, alle waren glücklich über die gelungene Gestal­tung, besonders Alyssia, die immer mit wollte, wenn Lucien hinfuhr, und nach­dem die Abnahme erfolgt war, immer fleißig alle möglichen Bekannten zur Pro­be und zum Üben bedienen musste. Das Bistro hieß schlicht 'Le petit sourire'. Der Name sollte ja auf jeden Fall etwas mit sourire zu tun haben, und alle an­deren Möglichkeiten waren als nicht ansprechend verworfen worden. Es han­delte sich um ein Eckhaus, bei dem auch der Innenraum der Gaststätte um ein Quadrat aus Küche, Büro und Toiletten gestaltet war. Während die eine Ecke beschaulicher war, konnte man in der anderen Ecke Musik hören, sich Bilder aus Frankreich anschauen, zwei Laptops benutzen und Alyssias Buch kaufen, dass sie mittlerweile in Grundschulschönschrift signieren konnte. Die Wand in der anderen Ecke war mit einer Fototapete beklebt, auf der eine Bouquiniste vor ihrem Klappladen stand. Der Teil des Ladens neben ihr war ausgehöhlt und mit realen alten Büchern aus aus französischen Antiquariaten bestückt. Vorm unteren Teil des Ladens befand sich ein Regal mit aktuellen französischen Zei­tungen und Zeitschriften. Nach oben wurde der Himmel über der Seine immer heller und durch ein Band mit Plakaten von Balzac, Baudelaire, Flaubert, Moliè­re, Zola abgeschlossen. Zwischen ihnen hing jeweils immer eins aus Alyssias wilder Aktserie, allerdings nur mit Kopf, Schulter und Brustansatz. Frau Len­ders war auf die Idee gekommen, und jetzt wirkte Alyssias wilde Mähne mit dem leicht verwegenen Blicken zwischen den alten Zottelbären nicht nur kontrastreich, sondern konnte auch zum Nachdenken anregen. Niemand wagte das Schild über der Theke 'Parlez-vous français, s'il vous plaît!' zu missachten. Wenn man etwas nicht wusste oder sich nicht sicher war, fragte man erst den Begleiter. Auch das zweisprachige Schild, auf dem zu lesen war: „Mademoiselle Alyssia Stein wird ihnen nicht anworten, da sie nicht sprechen kann, aber sie freut sich über ein kleines Lächeln von ihnen.“ erzeugte regelmäßig ein solches, das Alyssia immer freundlich beantwortete. Alle, alle kamen. Torsten kam mit einer ganzen Crew und bekam feuchte Augen. Ich wüsste nicht, dass ich ihn je so erlebt hätte. Als sie geboren wurde zum Beispiel, war er ziemlich cool, aber vielleicht war so eine Wiedergeburt ein emotional tiefgreifenderes Erlebnis. Er war auch begeistert davon, wie wir es gemacht hatten, und meinte scherzhaft, jetzt brauche er ja gar nicht mehr weg zu fahren, sondern könne bei Alyssia Urlaub machen. Er würde bestimmt vielen Bekannten davon vorschwärmen, die alle mal zum Ausprobieren kämen. Viele waren enttäuscht, wenn sie kamen und Alyssia war nicht da, so dass wir ein Schild mit ihren Anwesenheitszeiten aufhängen mussten. Alyssias und Luciens Bistro sprach sich ungeheuer schnell herum, und wurde schon nach kurzer Zeit zum absoluten Renner. Es galt als chic, sich hier zu treffen, Franzosen fühlten sich hier zu Hause, häufig kamen Schulklassen mit den Lehrern hierher, und Alyssias Buch wurde nach einem Besuch von Verlagsvertretern mit einer Zusatzinformation über ihre Lage neu aufgelegt, obwohl es eigentlich nicht beabsichtigt war. Wer von Alyssia gehört hatte, und nach Hamburg kam, musste natürlich im 'Le petit sourire' gewesen sein, und bald stand es auch in Fremdenführern als original französisches Bistro mit seinen kuriosen Bedingungen. Es lief so gut, dass es fast immer absolut voll war, aber Lucien brauchte nicht immer mehr Geld, sondern Hilfe. Alle, auch Elias, der ja jetzt perfekt französisch sprach, halfen, aber das waren ja im Grunde zwar nicht unbedeutende, aber doch eben Aushilfen. Lucien brauchte einen festen Partner, mit dem er sich die Arbeit teilen konnte.


Bedenken


Ich konnte stolz sein, auf alles, was wir gemeinsam mit so vielfältiger Unter­stützung geschaffen hatten, nur so empfand ich schon lange nicht mehr. Ich versuchte mir vorzuhalten, dass es doch keinerlei Grund gebe, unzufrieden zu sein. Alyssia machte zuverlässig eine verantwortliche Arbeit mit fremden Men­schen für fünf Stunden jeden Tag. Wer hätte das außer Lucien träumen kön­nen. Nur wovon träumte er jetzt? Ich glaube nicht, dass seine Träume noch viel mit Alyssia zu tun hatten. Als ich erfuhr, dass er mit seinem Freund, einem französischen Ökonomiestudenten die Gründung eines französischen Delikates­sen Geschäfts erwog, musste ich es ansprechen. Ich lobte ausführlich seine Verdienste wegen der Ideen und Realisierung, erinnerte ihn aber auch daran, aus welcher Situation und mit welcher Motivation alles entstanden sei. Heute stelle sich die Situation für mich völlig anders dar. Er könne, ja er lebe prak­tisch schon ohne Alyssia, auch wenn er regelmäßig mit ihr schlafe. In erster Li­nie habe er sich zum Geschäftsmann entwickelt, bei dem zwar nicht das Geld, das von selbst auch käme, sondern eher so etwas wie Anerkennung im Vorder­grund stehe, und Alyssia habe eher die Rolle einer Zirkuspuppe, die für die Gäste tanze. Heute vermittele sich mir manchmal der Eindruck, dass er sie brauche, weil sie Grundlage seines Geschäftes sei, aber psychische Probleme zu bekommen, weil sie nicht in seiner Nähe sei, hielte ich heute bei ihm für un­vorstellbar. Lucien schwieg lange. Schaute in die Gegend, schaute mich an, und sagte dann: „Ruth, ich kann darauf jetzt nicht antworten. Es spricht so viele Fragen in mir an, über die ich mir noch nie Gedanken gemacht habe. Auch wenn es hart ist und mir teilweise sehr weh tut, bin ich froh, dass du es so deutlich gesagt hast. Ich habe überhaupt in letzter Zeit wenig nachgedacht, nur dass ich heute nicht mehr der Lucien bin, den du als Studenten in Montpel­lier kennengelernt hast, das glaube ich allerdings schon. Ich empfinde es so, dass du den, also mich jetzt, nicht mehr liebst. Und das, Ruth, tut mir sehr weh. Nicht nur, weil ich nicht vergessen kann, dass du mir eigentlich das Leben gerettet hast, sondern jedes mal, wenn ich deinen Namen ausspreche, es mich an unsere geschlossene Freundschaft erinnert, die mir heute genauso viel be­deutet, wie am ersten Tag.“ „Lucien, ich merkte, dass ich mich jeden Tag we­niger darüber freute, wie er verlief, und habe mich gefragt, wo dieses Gefühl der Unzufriedenheit herrühren könnte. Früher hatte Alyssia fast jeden Tag et­was Neues entwickelt oder erkennen lassen, und wir hatten uns darum geküm­mert, ihr bei der Vertiefung, Übertragung oder beim Ausbau zu helfen. Das al­les gibt es überhaupt nicht mehr, ist völlig verschwunden seit sie im Bistro ar­beitet. Sie vollzieht jeden Tag fünf Stunden lang das Gleiche auf dem gleichen Entwicklungsstand. Zu Hause ist sie zum Schlafen, Essen und für ein wenig Re­kreation. Sie geht ja auch immer noch gerne ins Bistro, aber wenn ich mich frage, was neu dazugekommen sein könnte, fällt mir überhaupt nichts ein. Das ist nicht nur ungünstig für sie selbst, sondern macht mich auch traurig. Wenn du sie liebst, solltest du dir doch eigentlich auch Gedanken darüber machen. Und da glaube ich, dass du an so etwas mittlerweile gar nicht mehr denkst. Du bist auf den Gedanken mit dem Bistro gekommen, weil du mit Alyssia etwas zusammen machen wolltest, worüber du heute nachdenkst, hat mit Alyssia nichts zu tun. Wenn Alys sprechen könnte, würde sie dir sicher eines Tages sa­gen: „Lucien, du brauchst mir nicht erzählen, was du wieder für tolle Ideen ge­habt hast. Ich bewundere dich auch so. Erzähl mir lieber von den Ideen, die du hast, wenn du an mich denkst.“, und dann würde dir auffallen, dass du an sie gar nicht gedacht hast. Ich weiß nicht, ob man das noch Liebe nennen kann? Als das Bistro funktionierte und mit Alyssia alles klappte, da hast du dich noch mit ihr und für sie gefreut, da war das Glück für euch beide perfekt, nur das bleibt es nicht automatisch, weil ihr jeden Tag das gleiche tut. Es gibt kein ein­mal installiertes Glück, es ist ein täglich neu zu suchender und bearbeitender Prozess. Zu sagen, jetzt haben wir alles erreicht was wir wollten, und das wird uns für immer glücklich machen, ist ein fataler Irrtum mit meistens sehr schmerzlichen Folgen. Lucien, ich sage dir das nicht, weil ich Zweifel an unse­rer Freundschaft habe, sondern eher, weil mir ein Gedanke daran völlig fern liegt. Ich habe Sorgen und Befürchtungen, deinetwegen und wegen Alyssia, wenn ich mir vorstelle, dass es noch lange unreflektiert so weiter läuft, wie zur Zeit. Und ich sage dir das so offen, weil ich weiß, dass du mir zuhören, und dir Gedanken darüber machen wirst, mein Freund Lucien.“ schloss ich mit einem Lächeln. Lucien schlug vor, ob es nicht hilfreich sein könne, wenn wir drei, also gemeinsam mit Julienne, darüber reden würden. Umso besser, also wurde ein gemeinsamer Termin für die Bücherei ausgemacht.

Auch für die andern im Haus hatte sich das Leben, nachdem die große Eupho­rie für's Bistro vorüber war, verändert. Es mussten nur immer die Termine für's Bistro geregelt werden, wer Alyssia hinbringt und abholt, und wer bei Bedarf aushelfen kann. Ich war jetzt wieder öfter in der Kanzlei, und fand es dort manchmal interessanter als zu Hause. Wahrscheinlich ging es den andern nicht viel anders. Jeder hatte seinen Beruf, und zu Hause gab es nur noch die ge­meinsame Verpflegung und Bistro-Organisation. Natürlich redeten und lachten wir noch miteinander, aber es fand kein gemeinsames Leben mit eigenen In­halten mehr statt. Mir wurde deutlich, dass es eigentlich ja auch gar nicht mehr um Alyssia ging, sondern primär um die Aufrechterhaltung dieses La­dens. Das Leben in unserem Haus hatte sich - vielleicht ein wenig übertrieben gesagt – zu einem Dienstleistungsunternehmen für das Bistro entwickelt. Zu Beginn war das ja auch völlig in Ordnung, um Alyssia und Lucien die Möglich­keit dafür zu bereiten, aber eine florierende Gaststätte musste doch in der Lage sein, sich selbsttragend zu organisieren. Es konnte doch nicht sein, dass sie das Geld zur Bank schleppten, und 6 ehrenamtliche Helfer eingesetzt wur­den. Darüber hinaus müsste Alyssia wieder überwiegend zu Hause sein. Dass sie es konnte, hatte sie ja hinreichend unter Beweis gestellt, nur dazugelernt hatte sie nichts. Ich hatte noch mit niemandem darüber gesprochen, und woll­te erst abwarten, was die Beratung mit Julienne und Lucien ergeben würde.

Dass Alyssia nur noch an einem Tag in der Woche, am Freitag, ins Bistro kom­men sollte, war schnell geklärt. Das Gespräch verlief völlig einvernehmlich, da Lucien meinen Ansichten voll zustimmte, und erklärte, dass er selbst diese Entwicklung für sich eigentlich nicht wolle. Es habe sich unreflektiert so entwi­ckelt. Er würde jetzt alle Gedanken an Ausgestaltung, Perfektionierung und Er­weiterung aufgeben, sondern sich mehr auf das inhaltliche konzentrieren. Es sei ja eigentlich ein literarisches Bistro, und dieser Aspekt sei bisher vernach­lässigt worden. Er denke mehr an Lesungen und Diskussionen im Hinblick auf französische Literatur. Das läge ihm auch selbst viel näher, als immer wieder neue ungewöhnliche französische Spezialitäten zu besorgen. Darüber hinaus würde ihn die Diskussion über ein neues französisches Buch auch zu anderen Gedanken animieren als die Beschaffung eines speziellen Käses aus der Dordo­gne. Die Regelung des Personals ohne unsere ständigen Hilfseinsätze sei eine Selbstverständlichkeit, an die Lucien bislang nur noch nicht gedacht hätte. Wir hofften das Beste, und waren der Ansicht einen neuen guten Weg gefunden zu haben.


Alyssia wieder zu Hause


Dass Alyssia wieder überwiegend zu Hause war, bedingte auch meine Anwe­senheit. Wir unternahmen alles gemeinsam, wobei den Einkäufen immer eine besondere Bedeutung zukam. Sie konnte die Schriftbilder aller Getränke des Bistros erkennen, warum nicht auch die der Lebensmittel zu Hause. Natürlich kein Problem, wir erstellten immer eine Einkaufsliste, mit der sie selbständig im Geschäft die Sachen zusammen suchte. Dass wir ein bestimmtes Produkt kauften, weil es besser schmeckte, war verständlich, aber wenn wir etwas kauften, weil es billiger war, obwohl das teurere viel schöner aussah, schien Alyssia nicht ganz zu verstehen. Sie hatte sich ja mit den Zahlzeichen auch gleichzeitig die Mengenvorstellungen angeeignet. Bis zu welchen Größenordnungen sie damit umgehen konnte, oder auch gleich die ganze Struktur des Zehnersystems durchschaut hatte, wusste keiner. Ich versuchte ihr zu Hause das Geld und die Preise zu erklären, und bekam ein leicht abschätziges, mitleidiges Lächeln. Sollte sie vielleicht alles längst kennen und keiner hatte es bemerkt, weil es ihr keiner beigebracht hatte. Ich fragte sie nach dem Lebensmittel, für das wir laut Kassenbon am meisten Geld bezahlt hatten. Ein zielsicherer Fingerzeig bestätigte meine Vermutung. Sollte sie im Bistro also durch eigene Kombinationen doch etwas gelernt haben? Warum man nicht mehr bezahlen sollte, wenn etwas eine schönere Verpackung hatte, war für sie aber unerklärlich. Mehr oder weniger Geld schien ihr nichts zu bedeuten. Aber das verstand sie schnell am Beispiel der Einnahme und Ausgabemöglichkeiten einer Hilfskraft im Bistro, die sich zu guter Letzt noch ein Negligé für 160 € kaufen wollte, damit aber die die noch vorhanden Mittel aus ihrem Salaire weit überschritten hätte. Alyssia sann einige Zeit nach, bearbeite dann immer wieder die anderen Ausgaben, bis sie schließlich einen Weg gefunden hatte, der Auxiliaire doch noch zu ihrem Negligé zu verhelfen. Sie schaute mich mit einem überlegenen Lächeln, als wenn es nicht um das Wertverständnis von Geld ginge, sondern darum dass sie es geschafft hatte, der Auxiliaire ihr Negligé zu besorgen. Preisvergleiche und Einsparmöglichkeiten waren für die kommende Zeit ihr neues Hobby.


Ich sprach mit ihr mal darüber, wie man sich anredet, ob mit Vornamen oder Nachnamen, und schrieb ihr dabei meinen Namen auf. Als ich Alyssia fragte, ob sie auch mal meinen Namen, Ruth, schreiben wolle, schrieb sie ihn ohne Zögern genauso schön, wie sie ihren eigenen Namen schrieb. Als ich sie lobte, bekam ich von ihr einen freudigen Kuss. Ob sie auch mal Camille schreiben wolle, selbstverständlich, und Julienne, natürlich. Sie war mächtig stolz, und hatte ja auch guten Grund dazu, denn bislang hatte sie ja nur ihren eigenen Namen geschrieben, ziemlich häufig zwar, aber nichts anderes. Jetzt schrieb sie aber nach der Vorlage und Zusehen beim Schreiben, als ob sie im zweiten Schuljahr sei. Wahrscheinlich nahm sie nicht nur die Bilder auf, sondern prägte sich auch die Schwünge der schreibenden Hand ein, sonst war es nicht zu er­klären, warum sie plötzlich etwas konnte, das sie nie gelernt und auch nur an­satzweise geübt hatte. Als Camille aus der Schule kam, rannte sie sofort zu ihr, und führte ihr die neue Kunst vor. Nach dem Erstaunen darüber, das Alys Ca­milles Namen schreiben konnte, wurde auch noch 'Ruth' und 'Julienne' ge­schrieben. Julienne bekam am Abend die gleiche Vorstellung. Wir hatten das gar nicht geübt oder wiederholt, und trotzdem konnte sie es Stunden später ohne jede Vorlage selbständig nachvollziehen. Das Namenschreiben bereitete mächtig Spaß. Alle Skype-Fotos erhielten jetzt neue Beschriftungen mit eigen­händig geschriebenen Namen. Wenn sie so gut schreiben konnte und nichts vergaß, würde sie doch auch alles mögliche Andere schreiben können. Selbst­verständlich, das nächste Projekt war die Einkaufsliste, die sie bald auf Benen­nung von mir eigenhändig erstellte. Früher hatte es sie nicht gestört, dass im Geschäft überall etwas anderes draufstand, als auf unserem französischen Zet­tel, jetzt fiel ihr die Diskrepanz auf. Dass es französisch und deutsch gab, wusste sie natürlich längst, nur hatten wir in dieser Richtung nie etwas entwi­ckelt, und Alyssia hatte auch nie irgendwo durch Interesse erkennen lassen, jetzt wollte sie aber die Einkaufsliste auf Deutsch schreiben können. Das Üben dafür fand sie immer wieder ungeheuer lustig.


Alyssias Kummer


Es schien Alyssia zu gefallen, die Woche über zu Hause zu sein und am Freitag im Bistro Dienst zu tun. Trotzdem empfand ich ihr Verhalten verändert. Es war mir schon während der Zeit im Bistro aufgefallen, dass sie oft ruhiger wirkte, häufig in die Gegend starrte, als ob sie träume, oder einfach allein irgendwo saß, ohne etwas zu tun. Sonst hatte sie auch manchmal einfach nur dageses­sen, bei Camille oder mir, aber jetzt saß sie öfter ganz allein in der Bibliothek und träumte. Damals hatte ich es mir damit erklärt, dass sie von der Arbeit er­schöpft sei, und sich einfach ausruhe und erhole, aber seitdem sie nicht mehr im Bistro arbeitete, hatte es sich in keiner Weise verändert. Sie hatte früher häufig Spaß an kleinen Streichen mit mir gehabt, auch das kam nur noch sehr selten vor. Ihre früher frische Fröhlichkeit schien einen leicht melancholischen Touch bekommen zu haben, unabhängig davon ob sie im Bistro arbeitete oder nicht.

Ich sprach mal mit den anderen darüber, und Camille bestätigte meinen Ein­druck, hatte es nur von sich aus noch nicht zur Sprache gebracht. Einen mögli­chen Grund dafür, wusste niemand ausfindig zu machen. „Vielleicht hat sie Lie­beskummer mit Lucien. Da ist man doch immer traurig.“ meinte Elias forsch, „Und es ihm sagen, oder mit anderen darüber sprechen, kann sie ja nicht.“ Un­möglich war das nicht, was Elias sagte. Wenn Alyssia irgendwo saß und träum­te, hatte sie eine ernste Mine, und das bedeutete, dass sie eher an etwas Un­angenehmes dachte, und dass ereignete sich im Laufe des Tages bei uns ei­gentlich nicht. Alyssia und ich saßen nebeneinander auf der Couch, und ich er­zähle ihr etwas von Julienne und Andy, und dass ich mir schon mal überlegt hätte, ob Andy nicht später auch hier einziehen könne. Normalerweise hätte so etwas bei Alyssia Begeisterungsstürme ausgelöst, aber jetzt quittierte sie es nur mit einem freundlichen Lächeln, als ob es sie relativ cool lasse. „Du bist manchmal so traurig, Alyssia.“ sagte ich zu ihr, „Ist das wegen Lucien? Ist er nicht mehr so lieb zu dir?“ Ein ernstes Gesicht mit weit aufgerissenen erstaun­ten Augen starrte mich an. Ich interpretierte es so, als ob sie mich erschrocken fragte: „Woher weißt du das?“. Dann vergrub Alyssia ihr Gesicht an meinem Hals, wie wenn sie weinte, und drückte mich ganz fest dabei. Nach einer Weile nahm sie den Kopf hoch und lächelte mich an. Sie sprang auf meinen Schoß und setzte sich breitbeinig vor mich, streichelte mein Gesicht, küsste mich und schaute mich ganz liebevoll lächelnd an. Dann begann sie zu spielen, stupste meine Nase, kitzelte meine Ohrläppchen, und hatte deutlich Spaß daran. Ein­deutig erklären konnte ich mir ihr Verhalten nicht, nur dass es in der Bezie­hung zu Lucien für sie ein Problem gab, war klar, ob ihre mir erwiesene Zunei­gung ein Zeichen Alyssias war, wie sie sich freute, mich noch zu lieben, oder ob sie sich freute, das ich es wusste, war eher Spekulation. Als Lucien nach Hause kam, bat ich ihn in die Bibliothek und sprach ihn an: „Lucien es gibt ein Problem. Zwischen dir und Alyssia stimmt etwas nicht. Schon länger nicht. Was ist das. Erkläre es mir.“ Er schaute mich erstaunt an. Ob mehr wegen meiner direkten Frage, oder weil er erstaunt war, woher ich es wusste, war nicht deutlich. Er antwortete nachdenklich zögernd: „Ja, ich weiß es nicht, aber das etwas anders ist zwischen uns, sehe ich auch so. Wir schlafen zwar immer noch miteinander, aber es hat sich irgendwie sehr verändert. Es kommt mir so vor, als ob alles ein bisschen trister geworden ist. Zum Beispiel hat Alys mich sonst hinterher mit freudigen Liebkosungen überdeckt, heute bekomme ich noch einen netten Gute-Nacht-Kuss, und sie dreht sich zum Schlafen zur Seite. Das hat sie früher nie getan, mir den Rücken zudrehen, außer wenn sie sauer auf mich war. Ich weiß aber gar nicht, warum das so ist, und wodurch sich das dahin entwickelt hat. Es muss sich langsam so entwickelt haben, mir ist nur irgendwann mal bewusst geworden, dass es anders ist, als es zu Anfang war. Ich finde es zwar auch nicht schön so, nur mir fällt andererseits auch überhaupt nichts ein dazu.“ „Mir fällt schon etwas ein dazu.“ reagierte ich auf Luciens Darstellung, „Wenn ich schon höre, wie du sprichst 'Wir schlafen zwar immer noch miteinander.', dann impliziert das, aber möglicherweise nicht mehr lange. Und wenn es dann so kommt, wirst du es als gottgegeben hinnehmen, weil dir ja nichts einfällt dazu. Lucien, früher hätte dich so etwas in Panik versetzt, heute ist dir deine Beziehung zu Alyssia ziemlich beliebig. Was du machst ist Gewohnheitsrituale zelebrieren, aber mit Liebe hat das ja wohl nichts mehr zu tun. Auch wenn du dir selber rational darüber nicht im Klaren bist, meinst du denn Alyssia würde das nicht spüren, denkst du denn eine Frau würde nicht merken, ob sie begehrt oder einfach nur so akzeptiert wird. Dazu brauchst du kein Wort zu sagen, du wirst es vor ihr nicht verbergen können, dass sie dir nicht mehr das bedeutet, was es früher einmal war. Wenn sie reden könnte, würde sie dir sagen, dass sie es so nicht will. Dass sie keinen Gewohnheitsficker will, sondern jemanden mit dem sie zusammen glücklich ist, und das ist sie ja wohl eindeutig nicht. Du machst sie nicht glücklich, Lucien, sondern traurig. Und das läuft so nicht. Auch wenn Alyssia volljährig ist, bleibt sie trotzdem meine Tochter, und es ist nicht nur meine Pflicht, sondern selbstverständlich für mich, sie vor Leid zu schützen. Ich hoffe, Lucien, du siehst das genauso wie ich, und machst dir Gedanken, ansonsten ist tatsächlich unsere Freundschaft gefährdet. Du siehst wie ernst mir das ist. Ich will jetzt keine Antwort hören, erwarte sie aber sehr bald von dir.“

Später hat er mir mal erklärt, dass ich ihn darauf aufmerksam gemacht habe, dass er eigentlich wie ein Trottel von einen Tag zum anderen lebe, sich über die Zusammenhänge gar keine Gedanken mache, sich aber trotzdem noch großartig dabei vorkomme. Dass er sich einmal zu einem solchen Verhalten entwickeln könne, habe er früher für ausgeschlossen gehalten. Jetzt sagte er mir am nächsten Tag, dass er fast die ganze Nacht nicht habe schlafen kön­nen. Er habe über alles nachgedacht, auch oder besonders über ihre früheren gemeinsamen Gespräche über Liebe, und könne nicht nur Alyssia gut verste­hen, sondern wenn er bei Besinnung wäre, müsse er eigentlich, auch in Bezug auf sich selbst, den derzeitigen Zustand für unerträglich halten. Ein weiter so sei für ihn indiskutabel, er glaube aber schon, dass er Alyssia noch liebe, auch wenn er sich derzeit überhaupt nicht so verhalte. „Ruth, ich will Alyssia und will sie auch nicht verlieren.“ sagte er und begann zu weinen, „Sie war und ist mei­ne Traumprinzessin, nur ich dummes Arschloch scheine es vergessen zu ha­ben. Als ich deutsch gelernt habe, war alles in Ordnung, wenn ich studieren würde, wäre das sicher kein Problem, nur dieser dämliche Laden scheint aus mir einen Menschen gemacht zu haben, den ich eigentlich selbst nicht ausstehen kann. Ich will absolut, dass es anders wird, und dazu muss ich raus aus dem Bistro.“ „Lucien, wenn man dich angestoßen hat, bist du immer auf gute Ideen und zu klugen Entscheidungen gekommen.“ erwiderte ich ihm, „Wenn du hier jetzt von heute auf morgen das Bistro aufgibst, und mit etwas anderem beginnst, dann stelle ich mir die Situation nicht plötzlich als rosig für euch vor. Auch wenn du wieder ein anderer Mensch werden möchtest, wirst du es nicht mit deinem Beschluss für Alyssia auf einmal sein. Ich denke, dass eine Zeit für euch in einer anderen Umgebung am besten wäre, wenn ihr zum Beispiel mal Urlaub machen würdet, bis ihr beide wieder glückliche – und vernünftige - Menschen seid. Kannst du nicht deinen Freund Gérald als Verwalter einstellen, du hast mir doch mal gesagt, dass er eine Stelle sucht, und du ihn mit dem Spezialitäten Geschäft betrauen wolltest. Bezahlen kannst du ihn doch sicher locker, und wenn ihr wiederkommt macht er es weiter, während du dich um etwas anderes kümmerst. Dann ist auch unser aller Traum, das schöne Bistro, nicht zerstört, sondern bleibt bestehen und gehört euch weiter. Das Bistro ist und bleibt schließlich ein toller Laden, nur welche Folgen es für euch beide haben würde, konnte ja niemand vorausahnen.“ Obwohl Lucien das Bistro im Moment ein wenig hasste, weil er es für seinen Zustand verantwortlich machte, fand er es richtig, es zu erhalten. Die Vorstellung mit dem Urlaub gefiel ihm, und dass Gérald Laguerin, sein Freund, sich über nichts mehr freuen würde, als Chef des Bistros zu sein, stand für ihn fest. Lucien meinte es sei am besten, nach Combaillaux in Urlaub zu fahren. Dort hätten sie ihre schönsten Zeiten miteinander verbracht, und er könne sich nicht vorstellen, dass sie da nicht wieder ein anderes Verhältnis zueinander bekommen würden.


Urlaub für Lucien und Alyssia


Als wir Alyssia davon erzählten, machte sie jedoch ein skeptisches Gesicht. Sie umarmte mich, und es wirkte, als ob sie sich an mir festhalten wollte. So hatte es keinen Sinn. Ich führte ein längeres Gespräch mit Alyssia über Lucien, und dass er sie sehr liebe und wolle, dass es wieder so werde wie früher. Ich er­zählte ihr Geschichten von früher aus Combaillaux, wie sie sich geliebt hatten, und wie sich ihre Liebe entwickelt hatte. Bei Wein und Käse in der Bibliothek hörte sie mir gespannt zu. Es gab oft etwas zu lachen, und wenn ich etwas er­zählte, das ihr besonders gefiel, bekam ich ein Küsschen. Ob Lucien ihr nie et­was darüber berichtet hatte, aber früher verstand sie ja auch vieles nicht so einfach. Ich sagte ihr auch, dass sie erst mit ihm geschlafen habe, als sie sich sicher gewesen sei, dass er sie sehr, sehr liebe. Vorher hätte sie es nicht ge­macht, auch wenn sie davon geträumt habe. Das fand Alyssia zum Beispiel sehr aufregend und lustig. Ich erklärte ihr, dass Lucien extra deshalb mit ihr nach Combaillaux fahren wolle, weil er sich wünsche, dass es wieder so werden würde wie früher. Wenn sie sich das auch wünsche und vorstellen könne, sei das eigentlich keine schlechte Idee. Als Zeichen dafür, das Alyssia es auch so sah, wurde ich geküsst, gedrückt und mit strahlendem Gesicht gestreichelt. Lucien gab ich noch den guten Rat, Alyssia mehr von früher zu erzählen, sie höre das sehr gerne, und er habe da bisher anscheinend viel versäumt. Sie hatten den Berlingo voll gepackt mit allem Möglichem, weil unten ja kaum etwas vorhanden war. Vor allem durften auf keinen Fall die Nachthemden vergessen werden, von denen Alyssia mittlerweile eine beträchtliche Anzahl besaß. Sie, die sonst nie eins trug, hatte sich zu einer richtigen Négligé Fetischistin entwickelt, deren Sammlung bereits ein kleines Vermögen wert war.

Nach drei Tagen waren sie angekommen, und hatten als erstes den Laptop an­geschlossen, um skypen zu können. Sie saßen immer beide vor der Kamera und Lucien erzählte, was sie gemacht und erlebt hatten und Alys kommentierte durch ihre Mimik. Es war ein idyllisches Bild von Anfang an, als ob alles wie früher wäre. Lucien berichtete mir allerdings am Telefon darüber, dass Alyssia ihn manchmal rauswerfe, beziehungsweise ihn gar nicht erst in ihr Zimmer las­se. Beim ersten mal habe sie ihn hinausgeführt und zum Bett im Gästezimmer gebracht, jetzt winke sie nur noch mit der Hand, wenn ihr Bett für ihn in dieser Nacht tabu sei. Warum genau, wisse er nicht, aber er vermute, dass es dann geschehe, wenn seine Gespräche oder sein Verhalten kein Verlangen nach ihm in ihr weckten. Wenn es schon vorher sehr nett gewesen sei und sie sich lieb­kost hätten, sei er noch nie abgewiesen worden. Er müsse sich richtig um ihre Gunst bemühen, sonst könne er die Nacht im Gästezimmer verbringen. Auch sonst sei sie die absolute Chefin, aber es sei schön und sehr lustig. Bis aufs Autofahren sei sie völlig selbständig. Schreibe auf, was sie einkaufen wolle, und gebe den Zettel ab. Sie hebe selbst Geld von ihrem Konto ab, wenn das Portemonnaie leerer würde, sei bestimmt die beliebteste Person im ganzen Dorf, und überall führe man jetzt Henri Ledoux Wein sans alcool. Sie besuch­ten alle Bekannten, luden sie zu sich ein und machten auch Ausflüge zu be­kannten Orten in der Umgebung. Lucien war der Ansicht, dass es nicht mehr zutreffe, dass sie sich für die Umgebungen nicht interessiere. Wenn er ihr et­was dazu erzähle, was ihr Interesse wecke, schaue sie sich alles sehr genau an. Mittlerweile waren sie schon seit drei Monaten weg, und der Urlaub dauerte immer noch an. Zunächst erklärte Lucien, sie brauchten noch ein wenig Zeit, als ich sie aber dann mal besuchte, meinte er, dass er eigentlich gar keine Lust habe, zurück zu kommen, es sei hier alles viel schöner für sie geworden, als es in Hamburg jemals gewesen sei, und wenn er es mit Alyssia mal anspreche, wolle sie es auch nicht. Es sei für sie nicht nur eine schöne Zeit, die sie ver­bracht hätten, sondern eine Lebensweise, die sie nicht aufgeben möchten. Sie möchten die vielen Bekannten und Freunde die sie hier hätten, nicht einfach zurücklassen, es finde hier ein anderes Leben statt. In Hamburg habe man Alyssia und ihn bewundert, hier wolle man sie zu Freunden haben, und das sei eben doch wesentlich mehr wert und angenehmer, vor allem aber schütze es vor unheilvollen Entwicklungen. Also würden wir in Zukunft damit rechnen müssen, dass sie uns nur noch im Urlaub oder zu besonderen Anlässen würden besuchen kommen. So war, was ich für unmöglich gehalten hatte, über viele Umwege und Zufälle doch Realität geworden. Mademoiselle Alyssia lebte wie­der selbständig in ihrem Haus in Combaillaux und freute sich über uns als ihre Gäste.


Die neue Zeit ohne Alyssia


Als Alyssia damals nach Frankreich zum Studieren zog, hatte mir ihr Abschied und die Vorstellung eines Lebens ohne sie Angst bereitet, jetzt war sie einfach verschwunden. In Urlaub gefahren, und nicht zurück gekehrt. Zunächst war es für mich selbstverständlich, dass sie zurückkehren, und wieder hier leben wür­de, aber auch jetzt umgaben mich eher glückliche Empfindungen für sie, als Trauer darüber, dass meine Tochter, für die ich mich bis an mein Lebensende meinte kümmern zu müssen, nicht mehr bei mir war. Ich glaube, dass ich Alyssia damals viel stärker für mich selbst brauchte, dass sie für mich ein wich­tiger Bestandteil meines eigenen Glücks war, um das ich fürchtete, wenn sie fort wäre. Heute viel es mir leichter, mich über ihr Glücklichsein zu freuen, und daraus selber Genugtuung zu schöpfen. Ich hoffte sogar, dass es niemals mehr einen Grund geben würde, aus dem sie wieder dauerhaft zurückkehren müsse. Natürlich fehlte sie uns. Selbstverständlich hätten wir sie lieber hier gehabt. Sie war schließlich für Jahre ein Focus des Lebens in unserem Haus gewesen, aber wir alle hatten es uns abgewöhnt, das Fehlende zu betrauern, sondern uns über neuerliche Zusätze zu freuen, und für alle war es klar, dass Alyssia und Lucien ein so erfülltes Leben hier nicht würden führen können. Auch Juli­enne, die extra ihretwegen begonnen hatte, deutsch zu lernen und zu studie­ren, um in ihrer Nähe in Hamburg sein zu können, war keineswegs enttäuscht, und dachte auch überhaupt nicht daran, wieder nach Frankreich zurückzukeh­ren. Sie lebte nämlich glücklicher als je zuvor mit Andy zusammen, der mittler­weile auch bei uns wohnte. Wir hatten wieder mal umgebaut, und aus den überflüssigen Räumen im Erdgeschoss Fremdenzimmer gemacht, so dass sie drei Räume im Dachgeschoss und zwei in der ersten Etage zur Verfügung hat­ten. Also wohnte meine Frühlingsknospe mit seiner von uns beiden verehrten Freundin jetzt auch bei uns im Haus. Ich hatte zwar kein Büro mehr, aber zum Tasche abstellen konnte ich ja auch Ralfs Arbeitszimmer benutzen, auch wenn es durch den zweiten Schreibtisch sowieso schon ein wenig voller geworden war. Andy selbst war jetzt mit der Zusage seinen Fachanwalt machen zu wol­len, voll bei uns eingestiegen. Selbstverständlich sollte er dann unsere Süd­ostasien Abteilung leiten, die er ja ganz allein praktikabel entwickelt hatte, auch wenn der Aufwand sich im Moment noch nicht rentierte. Eingerichtet hat­te sich Julienne in Combaillaux allerdings auch wieder, denn einfach mit Andy am Wochenende oder für einige Tage ohne viel Gepäck, zu Alyssia und Lucien fahren zu können, war für alle Beteiligten ein wunderbares Erlebnis. In ihrem Urlaub wohnten die beiden auch immer in Combaillaux, und starteten von dort aus kleinere oder größere Unternehmungen. Zwei Gästezimmer hatten Lucien und Andy sich als ihre Privaträume eingerichtet, dadurch war es für Besuche bei ihnen wieder so eng wie früher geworden. Wenn mehr als zwei Personen kamen, mussten sie außerhalb übernachten. Als Julienne berichtete, dass ein Nachbarhaus frei werde und verkauft werden solle, war mein erster feuriger Gedanke, es sofort zu kaufen. Es war sogar ein wenig größer als Juliennes und Alyssias Haus, dafür aber im Laufe der Jahre arg verschandelt worden, obwohl es auch über eine relativ idyllische Grundsubstanz verfügte. Mir kamen Zweifel auf, ob es überhaupt angenehm für die beiden wäre, wenn Mamon und ihr Freund direkt im Nebenhaus wohnten, und mir war selber ein wenig unwohl bei der Vorstellung, mich in ihre Nähe drängen zu wollen, was ich für mich selber ja gar nicht brauchte. Andererseits hätten Julienne und Alyssia dann auch wieder mehr Freunde übernachten lassen können. Vielleicht wäre es eine Lösung, dass Ralf und ich das Haus nicht alleine kauften, sondern mit Camille und Christoph zusammen. Ja, so könnte es auf vielfältige Weise für alle genutzt werden, und hatte nicht so einen eventuell leicht unangenehmen Beigeschmack. Das wollte ich mit Camille besprechen, und hoffte, sie begeistern zu können. Das geschah auch schnell. Am meisten freute sie die Tatsache, wieder gern in Frankreich wohnen zu können, und sogar noch in einem eigenen Haus, von dem aus jeden Tag das Mittelmeer zu erreichen sei. Sie bekam wässrige Augen und meinte: „Das ist die letzte Stufe der Überwindung all meiner Kränkungen, die ich hier erfahren, und meiner Schmerzen, die mir hier zugefügt wurden. Sie bedeuten mir nichts mehr, ich weiß es zwar noch und werde es natürlich auch nie vergessen, aber es tut nichts mehr weh, nie, überhaupt nichts. So wieder zurückkehren zu können, ist ein Traum für mich, den ich nie geträumt habe, weil mir das als eine irre Illusion erschienen wäre. Und Ruth, ich weiß dass du es nicht gerne hören willst, aber immer hat es wieder mit dir zu tun, um es mal so neutral wie möglich zu sagen.“ Wir umarmten uns und Camille fügte noch scherzhaft hinzu: „Wenn Christoph nicht auch begeistert ist, werde ich ihn so lange foltern, bis er es ist.“ Ich musste jetzt so schnell wie möglich in Combaillaux alles klären. Die Freude darüber, dass wir gemeinsam das Haus kaufen wollten, und sie es natürlich auch nutzen konnten war groß. So konnten wir auch hier wieder 'Familientreffen' veranstalten, ohne dass Alyssia und Lucien dazu nach Hamburg reisen mussten. Der Architekt aus Hamburg, der den Umbau planen sollte, verstand meinen Hinweis, dass wir keine gestylte südfranzösische Dorfromantik wollten, sondern ein möglichst natürliches Ambiente, selbstverständlich mit moderner Technik. Es wurde sehr angenehm, und alle empfanden es als absolut gelungen. Für die Kosten hätten wir allerdings bequem ein neues bauen können. Mir war es wichtig, dass Camille und Christoph jetzt auch tatsächlich die Hälfte dazu beitrugen, damit Camille nicht wieder das Gefühl bekam, von mir hilfreich unterstützt zu werden, und mir dafür dankbar sein zu müssen. Ob es für sie finanziell einfach war, wusste ich nicht, zumindest schien es für sie von völlig untergeordneter Bedeutung. Zum Einzug mit anschließender Familienparty hatten wir Alyssias Abendrobe mitgebracht, die sie ja bislang hier nicht gebraucht hatte. Es wurde ein exotisch wirkender Ball, wie eine Hochzeitfeier für alle Unverheirateten, und das waren ja schließlich außer Camille und Christoph alle. In den gemeinsamen Ferientagen hier, gefiel es uns so gut, das wir am liebsten alle hier geblieben wären. Dass die beiden, Lucien und Alyssia, nicht wieder nach Hamburg zurück wollten, konnte jeder nachempfinden.


Meine Tochter liest und schreibt wieder


Alyssia konnte jetzt auch fast alles schreiben. Keine langen Texte oder Berich­te, meist waren es kurze Antworten, Hinweise, Wünsche oder Erklärungen. An­gefangen hatte es damit, dass sie es sehr lustig fand, nicht nur Namen oder Be­zeichnungen aufschreiben zu können, sondern auch Tätigkeiten, wie 'geh ein­kaufen', 'geh schlafen', 'trink den Kaffee' oder ähnliches. Ziemlich freche Sprü­che gefielen ihr besonders gut. So musste Lucien damit rechnen, von ihr Zettel zu bekommen, auf denen etwa stand 'Halt die Klappe.' Meist waren sie aller­dings mit bewusst provozierender Absicht verfasst, und sie hatte ihre helle Freude daran, wenn sie Lucien damit schockieren konnte. Es war allerdings nicht immer nur Spaß, sie konnte auch ernstes verfassen und leicht zynisch sein. Als sie Lucien einmal ihr Bett für die Nacht versagt hatte, bekam er einen Zettel mit dem Text: „Nicht weinen, morgen.“ Sie wollte ihn wieder zurück ha­ben, und fügte ein „Vielleicht“ hinzu. Über schwierige Zettelkommunikation hatte Lucien auch erfahren, warum sie ihn manchmal aussperrte. Es reiche nicht, dass er gern mit ihr schlafen wolle, sie selbst müsse es auch wollen, nur nett finden, dann wolle sie es nicht, dann freue sie sich nicht darauf, und habe keine Lust.

Ich animierte Lucien, sie dahin zu bringen, dass sie auch mal kleine Briefe schreiben könnte. Dann könne sie mir zum Beispiel E-Mails schicken und selb­ständig Fotos zu senden. Nach vielen kleinen Einzeletappen konnte sie es. Sie schrieb es sich immer zuerst mit der Hand auf, und tippte es dann ins E-Mail-Formular. Sie war so stolz und gespannt auf die Reaktion, dass sie gar nicht völlig ernst bleiben konnte, und ihre ersten Briefe, kurios, lustig und süß wa­ren. Im ersten Brief schrieb sie: „Lucien ist heute böse zu mir gewesen. Er hat meinen Wein getrunken. Lucien ist heute auch lieb gewesen. Er hat die Wäsche gemacht. Ist Lucien ein guter Freund für mich?“ Die Antworten interessierten sie brennend, und Lucien musste sie sofort vorlesen, denn Lesen hatte sie über ihre eigene Schreibkompetenz hinaus nie interessiert. Durch die eigenen E-Mails, veränderte sich das natürlich auch schnell. Jetzt bekam ich fast jeden Tag eine neue E-Mail von Alyssia, und sie wurden rasend schnell besser und kompetenter. Einmal schrieb sie mir: „Ich weiß noch sehr viel, aber leider kann ich nicht alles schreiben vielleicht bald. Lucien hilft mir sehr gut.“ Einmal be­kam ich eins ihrer Gedichte zugeschickt mit der Erklärung: „Kennst du es? Es ist ein Gedicht, dass ich vor meinem Unfall geschrieben habe. Gefällt es dir?“ Natürlich kannten wir alle Gedichte, die meisten sogar auswendig, Nur Alyssia hatte über das Lesen meiner E-Mails auch wieder Interesse an anderen Texten gefunden. Als Lucien das auffiel, hatte er sie zunächst für ihr eigenes Büchlein interessiert, in dem sie jetzt Tag für Tag studierte, und Lucien um Erklärungs­hilfen bat, die er noch teilweise von ihr selbst früher kannte. Warum sie denn nicht anderen Leuten auch E-Mails schreibe, so könne sie doch wieder mit ih­nen reden, genügend kompetent dafür sei sie doch mittlerweile. Langsam ent­faltete sich ein neuer Zauber. Alyssia konnte wieder reden, und ihre Texte wa­ren schon schnell keine reinen Berichte mit lustigen Grüßen mehr, sondern gin­gen häufig tiefgreifenden Gedanken nach, wobei sie immer einen Weg fand, den Empfänger mit ihren Darstellungen zu erfreuen. Bald las sie auch nicht mehr nur ihre eigenen Gedichte, sondern als Lucien ihr erzählte, dass sie frü­her die Gedichte von Baudelaire sehr bewundert und gemocht habe, wurden die als nächstes erforscht. Dadurch dass sie sehr viel schreiben musste, wenn sie sich mit Lucien unterhalten wollte, war auch ihre Schrift schnell und flüssig geworden. Alyssia hatte immer Blöcke zum Schreiben dabei, und konnte sich so überall leicht verständlich machen und mit allen diskutieren. Lucien meinte, es unterscheide sich kaum von früher, nur dass er ihre Meinung jetzt nicht mehr zu hören bekäme, sondern sie lesen müsse. Sie verbiete ihm auch nicht mehr ihr Bett, sondern bekäme es rechtzeitig genug mitgeteilt, wenn Alyssia etwas an ihm störe. Mit Lesen und Schreiben waren Alyssias Tage ausgefüllt, so dass Lucien sich fast allein um alles Übrige kümmern musste.

Natürlich waren Alyssias E-Mails nicht nur bei uns im Haus Gesprächsstoff, manche wollten es gar nicht glauben und hielten es zunächst für einen Fake, bis ich ihnen die Echtheit bestätigen konnte. Torsten hatte auch eine E-Mail be­kommen, und war sehr gerührt. Sie hatte ihm dafür gedankt, wie er mit dazu beigetragen habe, dass sie jetzt so glücklich leben könne. Er solle sie doch un­bedingt besuchen kommen, und solle Omi Sylvia mitbringen, sie habe große Sehnsucht nach ihr. Genaue Pläne ihres Wohnorts und Fotos habe sie beige­fügt. Geschlossen habe sie mit dem deutschen Satz: „Leider spreche ich kein Deutsch, nur mein Liebster.“ Auch Lucille hatte zunächst gezweifelt, ob der Brief tatsächlich von Alyssia sei, oder Lucien versucht habe ihre Gedanken nachzuempfinden. Sie habe geschlossen mit der Bemerkung „Liebe Lucille, ich möchte dir noch so unendlich viel erzählen und von dir hören. Ihr müsst uns sobald ihr es eben ermöglichen könnt, besuchen kommen. Aber sag deinem Mann Henri, er soll uns vorab schon 6 Kartons Wein von jeder Sorte, mit und ohne Alkohol, schicken, wir vertrocknen bald.“. Ich erklärte Lucille, wie Alyssia sich dahin entwickelt habe, und sie wollte sofort hin fahren. Wenn Henri Pro­bleme mache, würde sie eben alleine fahren. Ginette Mercier habe dem Profes­sor eine E-Mail von Alyssia gezeigt. Der habe gedankenverloren reagiert, und gesagt, ich war damals erstaunt dass alles so gut funktioniert hat, aber wenn es einen Gott gibt, dann hat er uns damals sicher beigestanden, dieses wun­dervolle Leben zu erhalten. Erklärlich sei es für ihn nicht, wie sie bei diesen Verletzungen wieder so wunderbar formulieren könne.

Damals hatte Alyssia Französisch gelernt, vornehmlich über die Beschäftigung mit französischer Literatur, jetzt lernte sie Schreiben und Formulieren durch das Lesen von französischen Gedichten.


Alyssias Besuch in Hamburg


Als sie uns wieder in Hamburg besuchen kamen, interessierte sie jetzt natür­lich auch die Bibliothek wieder, nur war das meiste eben auf deutsch. Sie meinte: „Ich sollte eigentlich wieder deutsch lernen. Ich kann ja nur deutsche Einkaufszettel schreiben, und das reicht nicht mal dafür, dass ich meine eige­nen deutschen Gedichte verstehen kann.“ Natürlich las sie nicht mehr nur Ge­dichte, und Flaubert war ihr nicht mehr nur vom Namen bekannt. Sie hatte da­mit begonnen 'L'Éducation sentimentale' zu erforschen und konnte sich endlos mit Camille unterhalten. Sie liebte die Geschichten von aus der Zeit vor ihrem Unfall, und wir brannten natürlich darauf, von ihr Erklärungen für ihr Verhalten zu bekommen und zu erfahren, wie sie ihre eigenen Motivationen begründete. „Ich weiß nicht viel, weil ich gar nicht darüber nachdenke.“ schrieb Alyssia auf. Die Bücher in der Bibliothek zum Beispiel seien ihr wie ein Land mit verschlos­senen Türen, die sie nicht habe öffnen können, erschienen, und daran habe man dann kein Interesse, das gelte ja schließlich für alle Menschen. Warum solle sie sich bemühen, sprechen zu lernen, wenn sie wisse, das sie es nie kön­nen werde. Es mache sie nicht traurig, wenn sie unverbrüchlich Feststehendes nicht ändern könne, sie habe mehr Interesse daran, das Mögliche glücklich ge­nießen zu können. Wenn jemand sage, schau mal, die Arme kann nicht spre­chen, dann sage das sehr viel über denjenigen selbst aus. Er sei nämlich nicht in der Lage wahrzunehmen, dass sie sich sehr wohl fühle und glücklich sei, und jemand der so etwas nicht bemerken könne, sei bestimmt eher zu bedauern als sie. Auch dass sie niemanden berühren könne, sei nicht etwas, worüber sie sich Gedanken mache und überlege, wie sie es ändern könne. Sie habe keine Lust, ständig darüber traurig zu sein, dass sie ihre Freundinnen nicht mehr umarmen könne, ihr gefalle es besser, trotzdem zusammen glücklich zu sein und Freude zu haben. Nur so mache es Spaß und zeige vielleicht Wege auf, die einen dahin führen könnten, für verschlossen gehaltene Türen, doch noch ge­öffnet zu bekommen. „Als ich in der Klinik wach wurde,“ schrieb Alyssia, „war es für mich eine Geburt. Dieses neue Leben will ich leben. Ich will nicht leben, um ein früheres zurückzuholen, das ich nicht einmal kenne. Ihr habt mir alle sehr viel dabei geholfen, dass ich heute glücklich sein, und sogar wieder über den Stift mit euch sprechen kann. Ganz, ganz großen Dank und nie endende Liebe dafür.“ Ein neues Leben mit Alyssia hatte begonnen, seit die Kommuni­kation mit ihr nicht mehr auf die Interpretation ihrer Mimik beschränkt war. Sie war nicht mehr die, um deren Wohlergehen wir uns kümmern mussten, sonder sie machte Vorschläge, hatte Ideen, dachte sich Lustiges aus, was wir machen könnten, auch wenn sie nur für wenige Tage in Hamburg war. Immer wieder wurde mir deutlich, das sie die von mir so geliebte Tochter geblieben war, eine liebevolle sensible junge Frau, die aber ihre Entscheidungen traf, nach dem, was sie für sich selbst als richtig erkannt hatte. Bevor sie zurückfuhren schrieb Alyssia zum Abschied: „Meine geliebtesten Frauen wohnen alle in meinem Zu­hause, und ich fahre weg, um anderswo zu leben. Eine perverse Situation. Trotzdem glaube ich, dass es besser so ist. Ich bin auch nicht traurig, weil ich weiß, dass wir uns oft besuchen werden, und uns schreiben, was unsere Her­zen und Gedanken bewegt.“


Haus der drei Freundinnen


Nun lebte ich mit den Frauen zusammen, die Alyssia zu ihren Freundinnen ge­macht hatte, und die es liebten Alyssia zur Freundin zu haben. Jetzt waren sie auch meine eigenen besten Freundinnen. Nicht weil ich es etwa schön gefun­den hätte, Alyssias Freundinnen auch gern zu mögen. Unsere Freundschaften hatten ihre eigene Geschichte. Camille, die sich in vielen Bereichen aufgege­ben, hatte, weil sie sich dazu nicht mehr in der Lage wähnte, Julienne, die ein Bild von sich malte, das ihr nicht entsprach, und dass sie oft verzweifeln ließ, beiden war deutlich geworden, dass sie die Vorstellungen und Einschätzungen anderer übernommen, und sie zu ihren eigenen erklärt hatten. Sie hatten in unseren gemeinsamen Beziehungen gelernt, ihre eigenen Einschätzungen und Empfindungen zu mögen, und sie für wertvoll und richtig zu halten. Sie hatten in ihren Erfahrungen stets Bestätigung gefunden, und konnten ein selbstsiche­res, selbstbewusstes glückliches Leben führen.

Vielleicht hatten sie das wiedergefunden, was kleine Kinder zunächst alle ha­ben, das Gefühl, dass ihre Empfindungen und Ansichten richtig und berechtigt sind. In der Regel wird ihnen das schnell abgewöhnt. Sie lernen, dass ihre In­tentionen falsch seien, und die anderer richtig, weil sie Erwachsen sind, weil sie schlauer sind, weil sie Personen sind, die zu bestimmen haben, und so wei­ter. Was sie dabei einprägsam lernen ist, sich selbst nicht zu glauben und zu vertrauen, sondern anderen meistens unverstanden Einschätzungen mehr zu vertrauen, als sich selbst. Die Kunst des Zweifelns an sich selbst, wird meist schon in den frühkindlichen Bahnen der Hirne kleiner Kinder fest verankert. Bei Alyssia hatte ich keine begründeten pädagogischen Absichten, es gefiel mir einfach, dass dieses kleine Fräulein etwas noch lange nicht tat, weil ich es woll­te oder die Omi es schön gefunden hätte, sie musste es für sich selber akzep­tieren können, und sie verhielt sich so, als ob dies ihr selbstverständlich gutes Recht sei. Ich fand es wundervoll, und wollte dieses Verhalten auf keinen Fall stören. Ich scherzte damals, dass es daran läge, dass sie Alyssia heiße, und damit Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit in ihr festgelegt seien. Es ist aber wohl zunächst bei allen Kindern so, wird ihnen nur sehr schnell abge­wöhnt. Alyssia hat ja nie irgendwelche Probleme gehabt. Im Gegenteil, ihr war ständig daran gelegen, etwas genau zu verstehen, dann war es ihre eigene Sa­che. Wenn ich ihr etwas so erklären konnte, dass es für sie verständlich und akzeptabel war, nahm sie es auch für sich an. Das fordere ich bis heute selbst­verständlich auch für mich selbst, und nicht anders ist es bei Camille und Juli­enne. Niemand von uns wird gegen seine eigenen Empfindungen und Entschei­dungen handeln, nur weil es der liebe Christoph, Ralf oder Andy gern so möch­ten. Wir Frauen haben gelernt zu wissen, dass unsere empfundenen Entschei­dungen richtig sind, und setzen sie auch um. Der größte Fehler, sich selbst nicht zu glauben, kommt bei den Frauen in unserem Hause nicht mehr vor. Vielleicht verbindet uns das auch mit meiner Tochter, die seit ihrer Geburt nie anders gedacht und empfunden hat, es auch in ihrem zweiten Leben nie tat, und damit selbst größte Schwierigkeiten glücklich überwunden hat.



FIN




L'amour sumonte tout.


Beim nächsten Elternsprechtag saßen wir beide uns an einem kleinen Schul­tisch gegenüber. Wir blickten uns spöttisch lächelnd an, und Ralf begann for­melhaft etwas von Alyssia vorzutragen. „Ralf, hörst du mal bitte auf, so einen Stuss zu reden!“ stoppte ich ihn. „Was sollen wir denn machen?“ fragte er hilf­los. Ich war aufgestanden, zu ihm rüber gegangen und forderte ihn auf: „Steh bitte auf, so kann man doch nicht sitzen.“ Wir standen uns direkt gegen­über, und sahen uns in die Augen. „Weißt du was der Schülerin Alyssia Stein am aller besten helfen wird, wenn du jetzt sofort und unverzüglich ihre Mutter küsst.“ erklärte ich. Er atmete tief, schaute mich mit großen Augen an, und zog mich zu sich. Obwohl ich es für mein offizielles Selbstverständnis immer abgestritten hätte, aber jetzt ging für mich ein kleiner Traum in Erfüllung. Ich presste mich an ihn, und rieb mich an sei­nem Körper. Ralf begann an meiner Bluse zu fum­meln. Ich wehrte ab. „Küs­sen, nicht ausziehen!“ erklärte ich, obwohl ich nach meinem Empfinden eigent­lich nichts dagegen, wahrscheinlich sogar nichts lieber gehabt hätte.


Ruth - Lebensszenen – Seite 191 von 191

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Tag der Veröffentlichung: 13.04.2013

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