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Introduction und Inhalt

Elvi Mad

 

 Anne und Luc verspätete Liebe

 Ehemalige Schülerin und Schüler entdecken ihre Zuneigung

 Erzählung

 

Krone des Lebens, Glück ohne Ruh', Liebe, bist du!

Johann Wolfgang von Goethe

Als ich wieder zu Luc zum Kaffee kam, meinte ich
eine Veränderung zu spüren. Als ob wir uns anders
betrachteten. „Luc, dir geht etwas durch den Kopf.
Sag es mir.“ forderte ich ihn auf. Luc zögerte, dann meinte er:
„Anne, im Gegensatz zu dir, scheine ich es zu lieben,
wenn es gefährlich wird. Und ich bin mir nicht sicher,
ob du das Prickelnde nicht auch magst, es dir nur selbst
untersagst.“ „Nein, Luc, ich will das nicht. Ich mag dich
sehr gern, aber ich mag die Konse­quenzen nicht,
die es hätte.“ lautete meine Antwort. Noch nie war eine
Andeu­tung in der Richtung gefallen, gemeinsam ins Bett
gehen zu können, aber jetzt war es für uns beide sofort
selbstverständlich, dass wir darüber redeten. „Aber du
möchtest es schon gerne?“ meinte Luc fragend. „Bitte,
bedräng mich nicht, Luc. Lass es.“ ich darauf. „Wir können
uns ja küssen und ein wenig zärtlich sein. Das ist doch auch
schon was.“ meinte ich. „Da hast du Recht. Das ist ganz viel,
und ich freu' mich drauf“ reagierte Luc. Wir lächelten uns zu,
und für den gefundenen Kompromiss gab's den ersten Kuss.

 

Anne und Luc Verspätete Liebe - Inhalt

Anne und Luc Verspätete Liebe 4

Schultrieb 4

Luc, was treibt dich her? 5

Annes Beziehung 6

Peergroup 6

Lucs Beziehungen 7

Erinnern und Vergessen 8

Los compañeros de la escuela 9

Ach, du Armer 9

Berührungen 10

Compañeros 10

Zerbrochene Beziehung 11

Lust auf Luc 12

Lieben wir uns eigentlich? 13

Luc, ich bin sehr empfindlich 14

Glück einer weisen Frau 15

Mamis neue Freundin 15

Anne, mir fehlt etwas 16

Marcel 17

Marcels Fragen 18

Trennung von Marius? 19

Aletta 19

Kein absurdes Theater 20

Ne Freundin hät' ich auch schon gern 21

Luc, I'm free 22

Luc mit Aletta und Marcel 22

Du hast einen guten Charakter, Luc 23

Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder 24

Alettas intime Besprechung mit Luc 25

 

Anne und Luc Verspätete Liebe

Wir, schauten einander an und lachten uns über uns selber tot. Vor 27 Jahren, mit 18, hatten wir uns zum letzten mal gesehen. Wir blieben die Compañeros de la escuela, so lebten wir und so liebten wir uns. Anders kannten wir uns ja nicht.

Schultrieb


In allen Straßen und an allen Ecken sieht man Kneipen, Restaurants, Bistros und Imbissbuden. Selbstverständlich, dass es so viele davon gibt. Sie resultie­ren aus der Notwendigkeit, dass der Mensch öfter etwas essen und trinken muss, um nicht zu verhungern oder zu verdursten, dem Selbsterhaltungstrieb letztendlich. Hinzu kommt dass Kommunikationsbedürfnis, dem hier leichter entsprochen werden kann, als bei der Nahrungsaufnahme zu Hause. Von einem direkten Kommunikationstrieb spricht man nicht, obwohl es für Freud gewiss eine Auswirkung des Sexualtriebes wäre. Aber welches Triebbedürfnis bedienen die vielen, oft unscheinbaren kleinen oder größeren Gebäude, die einem meist gar nicht auffallen, obwohl sie in der Regel über einen größeren freien Platz verfügen, auch mitten in der Innenstadt. In jedem Ort gibt es sie, meist meh­rere davon, hier sogar einige Hundert. Ob man sie deshalb nicht wahrnimmt, weil sie nicht mit Reklametafeln die Blicke auf sich lenken, oder ob unsere Er­fahrungen mit ihnen die Wahrnehmung beeinflusst haben? Wenn man dreizehn Jahre in einem Betrieb gearbeitet hatte, gehörte man zum Stammpersonal, fühlte sich mit ihm verwachsen, identifizierte sich mit ihm. Die Augen glänzten, wenn man das Gebäude sah, in dem man so lange Zeit seines Lebens ver­bracht und so viele Erfahrungen gesammelt hatte. Bei Schulen ist das in der Regel nicht der Fall. Nahm man im Betrieb wehmütig Abschied, wenn man ihn verließ, hier feierte man Freudenfeste bei der Entlassung. Für's Leben sollte man hier gelernt haben, aber da waren viele mit Seneca der gleichen Meinung, dass dies nicht geschehe, sondern man für die Schule lerne. Ob es einen Trieb geben könne, der die jungen Menschen zur Schule gehen lasse, ist ein so ab­wegiger Gedanke, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, es zu erfor­schen. Man kann sicher davon ausgehen, dass ein Schultrieb nicht existiert. Es basierte auf einem Beschluss von Eltern und den anderen Erwachsenen, dass der Mensch etwas zu lernen habe, und zwar in der Schule. Das hatte Wilhelm Busch schon richtig benannt. Sich um das spätere Wohlergehen ihrer Kinder zu kümmern, war die Motivation. Eine Fortsetzung des Brutpflegeverhaltens, von dem mache überzeugt sind, das es bei ihren Eltern nie abgeschlossen sei. Bei nicht wenigen wird der Besuch der Schule eher als Antagonist des Lustprinzips empfunden und könnte so zu Fehlentwicklungen oder Störungen der Libido führen. Schule, das sind Hausaufgaben, die einem die Nachmittage stehlen, das sind Klassenarbeiten, deren Benotungen Frustrationen erzeugen, das sind Dinge, die man lernen muss, obwohl sie einen anwidern. Dass du trotzdem Lä­cheln kannst, wenn du morgens deine Klassenkameradinnen und -kameraden siehst, grenzt an ein Wunder. Das Zusammenleben mit ihnen ist es, was für die meisten von großer Bedeutung ist. Du triffst sie ja nicht nur kurz, wie einmal abends auf einer Fète, sondern jeden Tag verbringst du mehrere Stunden mit ihnen und das über Jahre. Du bist mit ihnen erwachsen geworden, kennst sie aus tausenden von Situationen, lebst mit ihnen und legst Wert darauf, von ih­nen anerkannt zu werden. Was du hier lernst, ist nicht für die Schule. Es ist für dich, deine Persönlichkeitsentwicklung, es ist für dein Leben. Du hast es nicht unter Lerndruck gelernt, du hast es freiwillig internalisiert. Es gehört zu dir, vergessen wie die Inhalte der Fächer wirst du es nicht können. Es ist ein Wissen, das du lebst und das in keinem Lehrplan steht.


Luc, was treibt dich her?


Lukas, den wir Luc nannten, hatte ich seit der Schule nicht mehr gesehen, und trotzdem erkannte ich ihn nach über fünfundzwanzig Jahren auf Anhieb wieder. Wir kannten uns ja nur von der Schule, als Achtzehnjährige hatten wir uns zu­letzt gesehen. Jetzt betrachteten wir einander, schauten uns an und lachten uns über uns selber tot. „Luc, was treibt dich her? Besuchst du deine Eltern?“ fragte ich ihn. „Nein, ich habe mich versetzen lassen, und jetzt hat es endlich geklappt. Alle wollen sie hierher versetzt werden. Familienzusammenführung wird als vorrangiger Grund angesehen, und kranke Eltern, die ihre Hilfe brau­chen, haben sie angeblich alle. Da musst du schon etwas belegen können. Jetzt hat es bei mir ausgereicht, und ich unterrichte hier am Schillergymnasi­um.“ erklärte Luc. „Meine beiden sind am 'Frau vom Stein'“ sagte ich. „Hast du Kinder?“ fragte Luc. „Ja, und 'nen Mann, richtig Family. Wie sich das gehört.“ antwortete ich. „Die Kinder wollen schon erwachsen werden. Aletta, ist zwölf und Marcel ist vierzehn. Ganz schön verrückt oft, aber ich find's herrlich. Wie steht's bei dir mit Frau und Kindern?“ fragte ich Luc. „Anne, du wirst mich nicht verstehen. Ich habe zwei Jahre mit einer Freundin zusammengelebt. Danach war für mich klar, dass ich so etwas nicht mehr will. Nicht, weil Leonie, so hieß die Freundin, unerträglich gewesen wäre. Mit ihr hatte das nichts zu tun. Ich bin überzeugt, dass ich für das Leben in Horden nicht geschaffen bin. Natürlich ist es schön, eine Freundin zu haben und mit ihr glücklich zu sein, aber dazu muss man sich doch nicht permanent in der gleichen Wohnung aufhalten. Ich habe Lust, mit ihr das gemeinsame Glück zu teilen, aber doch nicht die Müll­entsorgung, das Wischen oder das Einkaufen. Das zerstört eher das Glück.“ er­klärte Luc. „Und hast du eine Freundin, mit der du dein Glück teilst?“ fragte ich ihn grinsend. „Na, so halb und halb.“ meinte Luc. Auf meinen fragenden Blick hin erläuterte er es näher: „Ach, es ist so, dass wir uns schon mögen, aber in einer Beziehung zwischen Mann und Frau möchtest du ja mehr, als dich gegen­seitig ganz nett finden.“ Ich sah ihn an und hatte nicht wenig Lust, ihn zu pro­vozieren. Wir standen immer noch vor einem Geschäft in der Fußgängerzone. „Luc, ich würde gern mehr mit dir reden, als über den Kick in der Beziehung zwischen Mann und Frau. Ich möchte etwas davon hören, was dazu beigetra­gen hat, unsere Gesichter, unsere Körper, unsere Persönlichkeiten in diesen siebenundzwanzig Jahren zu verändern. Das geht aber nicht hier und auch nicht jetzt. Hast du auch Lust, dass wir uns mal treffen?“ fragte ich Luc. Wir vereinbarten den Termin und das Café, in dem wir uns treffen wollten. Unsere Handynummern tauschten wir für den Notfall aus, wenn jemand doch mal plötzlich verhindert sein sollte.


Annes Beziehung


Auf dem Weg nach Hause belegte ein Schmunzeln mein Gesicht. Ich überlegte, was es wohl sein könnte, dass Marius, mein Mann, und ich in unserer Bezie­hung mehr haben wollten, als sich gegenseitig ganz nett zu finden? 'Sich ge­genseitig ganz nett finden' das war doch was, das sollte man doch nicht herun­terspielen. Welches Paar konnte das denn ohne zu lügen nach zwanzig Jahren Ehe noch von sich behaupten? Bei den meisten sah es doch so aus, dass sie gelernt hatten, sich ohne großen Ärger gegenseitig zu ertragen. Wenn das die Folgen das gemeinsamen Müllentsorgens, Wischens und Einkaufens waren, konnte man nicht nur Lucs Position verstehen, sondern musste ihm auch eine absolute Schärfe des Durchblicks attestieren. Was erwartete Luc denn von ei­ner Beziehung mehr? Unstillbare Sehnsucht, überbordend heißes Begehren und öffnen der komplexen Liebe in ihren Facetten reichen Formen und unendlichen Details. Ich versuchte, es mir bezüglich meiner Beziehung mit Marius vorzu­stellen, jetzt musste ich lachen. Schmunzeln reichte da nicht mehr. Dabei han­delt es sich ja nicht um eine überspitzte Karikatur. Viele heiß verliebte Pärchen empfinden es ja exakt so. Sie verändern dazu sogar die Strukturen ihres Ge­hirns und versperren manchen Kanälen, die zu rationalen Zentren führen, den Zugang. So Ekstase ähnlich ist es bei Marius und mir nie gewesen. Von Bedürf­nis nach dem anderen, gegenseitigem Begehren und Lust aufeinander konnte man aber schon sprechen, und das Liebe im Spiel sei, war auch unsere feste Überzeugung. Nur spielte es sich in moderaten, vernünftigen und überschauba­ren Grenzen ab. Dieses exaltierte Gehabe hielten wir für lächerlich und unwür­dig. Für eine gute Basis hielten wir unser Verhältnis, das beständig sei, und im­mer so fort existieren könne. Wir respektieren und achten uns, mögen einan­der auch und finden uns gegenseitig ganz nett. Das ist geblieben. Meine emo­tionale Bedürfnisbefriedigung finde ich mit den Kindern.


Peergroup


Von Luc meinte ich, ein sehr detailliertes Bild zu haben, zu wissen wie er sich in irgendwelchen Situationen verhalten würde, aber ich wusste so gut wie nichts von ihm. In der Schule hatte ich mit ihm kaum etwas zu tun gehabt. Ich wusste nur, dass er zu den wenigen netten Jungs gehörte und nicht zu denen, die die mentalen Ergebnisse ihrer Pubertät ostentativ demonstrieren mussten. Er lachte gern, war freundlich, und ich vermutete, dass sein trockener und manchmal auch bissiger Humor, nur bei ausgeprägter Intelligenz möglich sei. Mehr wusste ich nicht. Ich meine auch, dass er eine Freundin gehabt hätte, kann es aber nicht mehr genau sagen. Was interessierte es auch schon. Als Kinder und Jugendliche waren wir uns sehr vertraut. Wir sahen uns ja jeden Tag und waren länger miteinander zusammen, als mit jedem anderen Familien­mitglied. Damals war es mir gar nicht bewusst geworden, aber jetzt erstaunte es mich, dass nach siebenundzwanzig Jahren, das Verhältnis untereinander so selbstverständlich war. Etwas Fremdes war nicht zu spüren, eher ein Verhalten, das familiär vertraute Züge trug. Wir waren immer noch Mitglieder der gleichen Peergroup.


Lucs Beziehungen


„Wieso hast du mich eigentlich sofort erkannt?“ wollte ich von Luc wissen, als wir uns im Café trafen. Im Grunde eine dumme Frage. „Jedem der ein Bild von damals und jetzt gesehen hätte, wäre es wie von zwei verschiedenen Personen vorgekommen.“ fügte ich noch an. Luc wusste trotzdem eine Antwort. „Ich denke, dass es so etwas wie für ein Gesicht charakteristische Strukturen gibt, die sich auch im Alterungsprozess nicht verändern. Wir haben unsere Gesichter ja nicht eimal gesehen, sondern tausendfach in den unterschiedlichsten Situa­tionen. Diese charakteristischen Strukturen werden sich uns eingeprägt haben. Wahrscheinlich gehören sie zum festen Repertoire unseres Erkennens und ha­ben sich uns eingeprägt wie Gerüche, die man nie vergisst. Du hast mich ja auch sofort erkannt.“ erklärte Luc es. „Aber das mit dem Besonderen in der Beziehung zwischen Mann und Frau, das wolltest du mir noch erklären.“ fuhr ich fort. „Na ja, es muss sich doch so etwas wie ein Bedürfnis nach Zuneigung entwickeln.“ meinte Luc. „Das hast du auch bei kleinen Kindern. Du meinst, sie muss attraktiv sein und in dir ein Bedürfnis nach erotischer Zuwendung entwi­ckeln?“ korrigierte ich ihn. Luc lachte. „Das vielleicht auch, aber alleine gibt es das für mich nicht. Es muss schon im Zusammenhang stehen. Im Zusammen­hang damit, dass mich die Persönlichkeit der Frau fasziniert, dass ich Lust ver­spüre, ihr nahe sein zu wollen und ihr Anerkennung zu schenken.“ Luc darauf. „Du meinst, das du Liebe in dir fühlen müsstest?“ fragte ich nach. „Liebe ist ein komplexer, häufig missbrauchter Begriff, aber diesem Bereich ist es sicher zu­zuordnen.“ Luc dazu. „Hattest du denn in St. Augustin keine Freundin?“ fragte ich nach. „Schon, aber es war vorbei, bevor ich versetzt wurde.“ antwortete Luc. „Hast eine wechselvolle Beziehungsgeschichte hinter dir, oder?“ meinte ich. Luc schaute sinnierend in den Caféraum, grinste dann ein wenig verlegen und erklärte: „Nein, so kann man das sicher nicht nennen. Es ist nur vertrackt, evolutionär muss es bedingt sein. In einer Frau scheint irgendwann, trotz vor­heriger gegenteiliger Beteuerung, doch noch der Wunsch nach Kindern aufzu­kommen. Das kannst du keiner wieder ausreden. Es hat eher den gegenteili­gen Effekt, dass es den Kinderwunsch verstärkt und dringlicher macht. Wenn du dich dem strikt und hartnäckig verweigerst, entsteht zunächst eine Kluft, die langsam zum Zerwürfnis und zur Trennung führt. Bei jeder Beziehung war es genauso.“ erzählte Luc. „Und dass du keine Kinder willst, ist das auch evolu­tionär bedingt? Luc du spinnst. Luc, hast du dir mal Gedanken darüber ge­macht, wie wundervoll es sein kann, mit aufwachsenden Kindern zu leben? Im Gegensatz zu dir, werden deine Frauen das getan haben. Die Gedanken kom­men dir in der Regel, wenn du dich wohlfühlst, wenn du glücklich bist. Dann von dem, mit dem dieses Glück verbunden ist, nur ein harsches 'Nein' zu hö­ren, tut weh, zerstört etwas.“ meinte ich dazu. „Aber was soll ich denn tun? 'Ja, vielleicht doch' sagen? Das wäre gelogen und würde falsche Hoffnungen wecken. Ich muss doch schon klar sagen, dass es für mich nicht in Frage kommt. Die schönen Stunden und Erlebnisse sehe ich ja auch, nur ist dass die eine Seite. Ich könnte mein Leben nicht mehr so leben, wie ich es wollte. Ich wäre ein anderer Mensch. Jemand der für das Leben anderer von ihm abhängi­ger junger Menschen verantwortlich ist. Das kann ich nicht, und das will ich auch nicht.“ meinte Luc. „Traust es dir nicht zu. Hast Angst vor der Verantwor­tung. Meinst es könnte dich belasten oder überfordern.“ antwortete ich fra­gend. „Ja, bestimmt. Ich würde es als zusätzliche Belastung empfinden, die nicht sein muss. Warum soll ich es dann tun?“ antwortete Luc. Ich hätte ihm noch etwas dazu sagen können, dass sein Verhalten widersprüchlich und seine Sichtweise egozentrisch sei, aber ich wollte ihn ja nicht überreden. Es zeigte mir vor allem, wie empfindsam Luc war. Dass mein Leben ein anderes gewor­den, und ich jetzt für Marcel verantwortlich sei, wurde mir erst richtig bewusst, als er schon fast ein Jahr alt war. Dass er sensibel und feinfühlig war, passte sehr gut zu dem Bild, dass ich noch aus Schulzeiten von Luc hatte.


Erinnern und Vergessen


Dass ich Kulturgeschichte und er Englisch und Französisch studiert hatte, wussten wir nicht. Bestimmt war in der Schule darüber gesprochen worden, so etwas vergaß man, aber die Situation, wie er Frau Lensing im Philosophieun­terricht durch eine Frage bloßgestellt und die ganze Klasse zum Lachen ge­brachte hatte, das hatte ich nicht vergessen. Wie hoch die emotionale Beteili­gung war, schien Kriterium für's Behalten und Vergessen. Wie hoch war die emotionale Beteiligung bei Luc selber denn, das Interesse an seiner Person? Da gab es nichts. Er war einer von den Mitschülern, wie die anderen auch. Ich hat­te mich auch in all den Jahren nicht an Luc erinnert. Als ich ihn jetzt sah, freu­te es mich aber. Beim weitaus überwiegenden Teil der Jungen wäre das nicht der Fall gewesen. Die Bilder von ihnen existierten noch genauso gut, aber sie hatten hässlich Stellen, die mir nicht gefielen. Die Erinnerung an Luc war mit Sympathie verbunden, die mir während der Schulzeit gar nicht bewusst gewor­den war. Lucs Erinnerungen an mich, mussten auch wohl positiv besetzt sein. Er hätte auch die Jahre über nicht mehr an mich gedacht, aber dass er mich getroffen habe, hätte ihn richtig gefreut. Den ganzen Abend habe er sich noch an die gemeinsamen Zeiten in der Schule zu erinnern versucht. Leider hätten wir beiden ja viel zu wenig miteinander zu tun gehabt, aber die Mädchen hät­ten sich ja auch nicht für sie interessiert, sondern immer nach den Jungs aus den höheren Klassen geschielt. Ob ich denn damals einen Freund gehabt hätte? „Ja, schon, aber das war auch mehr für's Ansehen, da es eben zum gu­ten Ton gehörte, einen Freund zu haben. Was du für die Beziehung zwischen Mann und Frau gefordert hast, fehlte da ganz bestimmt. Auch wenn wir uns damals selbst für super erwachsen hielten, kommt es mir heute vor, dass wir im Hinblick auf Beziehungen noch richtige Kinder waren. Wie man sich wäh­rend der Schulzeit verlieben konnte, und das fürs ganze Leben hält, ist mir ein absolutes Rätsel.“ antwortete ich. Wir hatten nichts Wichtiges besprochen, trotzdem schien es uns beiden zu gefallen. Als Luc fragte, ob wir den Kontakt nicht aufrecht erhalten sollten, antwortete es aus mir: „Ja, selbstverständlich.“. Luc meinte, wir könnten uns ja auch gegenseitig besuchen. Ich weiß nicht, warum mir nichts daran lag, ihm bei mir alles zu zeigen, vorzuführen und ihn mit allen bekannt zu machen. Das Bild gefiel mir nicht. Ich wollte Luc nicht in die Familie integrieren. Damit hatte er nichts zu tun. Er war eine persönliche Erinnerung aus meiner Jugend. Das gefiel mir, und so sollte es auch bleiben. Wir wollten uns bei ihm treffen. Dann würde ich es ihm verständlich erklären.


Los compañeros de la escuela


Luc hatte eine viel zu große Wohnung. „Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das auch stimmte, was du mir erzählt hast. Deine Wohnung sieht eher so aus, als ob du hier Frau und Kinder unterbringen wolltest.“ scherzte ich. „Man weiß ja nie, vielleicht gelingt es einer ja doch noch, mich zu überreden.“ meinte Luc lä­chelnd. „Aber bei Frauen in meinem Alter erledigt sich der Kinderwunsch bald biologisch.“ fügte er hinzu. „Aber in deinem Alter fängt der Mann doch an, Aus­schau nach etwas Jüngerem zu halten, ohne Falten und mit knackigem Po.“ meinte ich. „Jetzt spinnst du total, aber man weiß ja nie, ob diese Phase nicht doch irgendwann kommt, so zwischen sechzig und siebzig.“ reagierte Luc. „Weißt du, Luc, das ist evolutionär bedingt. Ursache für den Sex ist doch der Fortpflanzungstrieb, und da suchst du automatisch nach Weibchen, die ver­sprechen, dir kräftige Junge zu gebären und keine alten, bei denen es schon zu spät ist.“ erklärte ich es ihm. Luc lachte. „Aber der Fortpflanzungstrieb scheint bei mir gar nicht richtig zu funktionieren. Meinst du nicht, dass ich da in Zu­kunft auch mit Älteren zufrieden sein könnte?“ fragte Luc scherzend. „So gut kenne ich dich auch wieder nicht. In der Schule ist mir jedenfalls nicht aufge­fallen, dass du nach älteren Damen geschielt hättest.“ meinte ich dazu. Es herrschte eine launige, scherzhafte Atmosphäre. Beim Kaffee erklärte ich: „Luc, ich habe mir das mal überlegt, mit dem gegenseitigen Besuchen. Wenn du zu mir kämst, würdest du allen vorgestellt, bekämst einen Bezug zur Fami­lie, das möchte ich gar nicht. Ich möchte nicht, dass du in irgendeiner Form zur Familie gehörst. Du gehörst nur mir.“ Wir lachten. „Ja, Luc, du kommst aus einer anderen Welt, aus meiner Jugend, die nur mir gehört. Ich möchte gern, dass es so bleibt, und nicht alles mit der Familie vermengt wird. Kannst du mich verstehen, wahrscheinlich nicht?“ Lucs Mimik prägte ein skeptisches Lä­cheln. „Ich muss deine Familie nicht unbedingt kennenlernen.“ meinte er. „Ich hätte nur vermutet, dass du sie mir gern zeigen würdest. Aber wenn das nicht so ist, habe ich da kein Problem mit. Dann bleiben wir eben 'los compañeros de la escuela' nur unter uns. Du kannst ja weiterhin zu mir kommen. Wenn du Lust auf 'nen Kaffee hasst, rufst du einfach kurz an. Dann brauchen wir gar nicht umständlich Termine abzusprechen, oder?“ Das fand ich nicht schlecht, mal auf einen Kaffee zu Luc.


Ach, du Armer


Es gefiel uns gut. Ich berichtete über die neuesten Einfälle der Kinder oder was wir im Museum planten, und Luc erzählte nicht selten, was er heute wieder in der Schule erlebt hatte. Aber auch alles konnte Thema sein, was uns gerade einfiel und was uns bewegte. „Jetzt ist es ja alles selbstverständlich mit der Schule, aber zu Anfang hätte ich fast daran verzweifelt.“ erzählte Luc, „Ich war ein totaler Idiot, studiere Englisch und Französisch, weil mich die Sprache und die Literatur interessiert. An der Uni gefiel's mir ja auch gut, nur dann hätte ich nicht in die Schule gehen dürfen. Da hast du mit den Sprachen nichts mehr zu tun, allenfalls mit den Voraussetzungen. Die Schülerinnen und Schüler sind das Thema, Pädagogik und Psychologie. Dein Interesse an den Sprachen ist irrele­vant. Das hätte ich ja vorher wissen müssen, mich hat es aber total fertig ge­macht. Ich hätte ganz schnell wieder rausgehen sollen, promovieren oder so etwas, aber ich war total schockiert und verwirrt, hab' nur geweint.“ Wörtlich glaubte ich ihm das zwar nicht, trotzdem wollte ich Luc scherzhaft trösten. „Ach, du Armer.“ sagte ich und strich ihm dabei mit meinem Handrücken über die Wange. Sonderbar, das war doch nichts, aber Luc schaute mich an. Ich musste grinsen. „Was ist los? Hat dir das gut gefallen?“ fragte ich. Luc antwor­tete nicht, er lächelte nur. „Das ist nur für die Fälle, in denen du ganz traurig bist oder etwas ganz Trauriges erzählst.“ erklärte ich. „Das werde ich bestimmt demnächst öfter tun.“ meinte Luc. „Na gut,“ sagte ich, „noch einmal zur Vor­beugung.“ Jedem Fremden hätte ich über die Wange streicheln können, aber bei Luc war schon ein Hauch von Gefallen dabei. Die compañera streichelte ih­rem compañero gern übers Bäckchen. Luc nahm meine Hand und gab mir einen Kuss auf die Fingerrücken. „Luc, was machst du? Nicht, lass das.“ sagte ich. Obwohl, schlecht war das ja auch nicht. Ich hatte heute bestimmt einen Schmusetag, aber das würde ich doch lieber zu Hause mit Aletta abarbeiten.


Berührungen


Es ist doch nichts Besonderes, dass man einen anderen Menschen berührt. Permanent tut man das, und warum verwundert es Luc und mich ja auch, wenn ich ihm über die Wange streichele? Das Streicheln allein ist bestimmt nicht der Grund. Es wird nicht immer die gleiche Bedeutung für dich haben, sonder die Person und Situation in der es geschieht, müssen für den emotiona­len Gehalt wichtig sein. Aber wo sollte denn der emotionale Gehalt zwischen Luc und mir liegen? Ja, natürlich er war mir sympathisch und ich mochte ihn, sonst hätte ich ja keine Lust, zu ihm zum Kaffee zu fahren. Vielleicht war da ja doch noch mehr. Luc war ja nicht einfach ein fremder sympathischer Mann, wir waren uns ja schon sehr vertraut. Aber trotzdem, wenn das Streicheln emotio­nal bewegen sollte, reichte vertraut und sympathisch doch nicht aus. War da eventuell mehr, was Luc für mich empfand? Bei mir vielleicht auch, nur durfte es mein Bewusstsein nicht erreichen? Wir hatten uns erst vor kurzem wieder­getroffen, trotzdem gab es unter meinen Freunden und Bekannten niemanden, zu dem ich ein so selbstverständliches, vertrauensvolles Verhältnis hatte. Es gab keinen Grund dafür. Der lag in der Schule. Wir hatten unser damaliges so­ziales Verhältnis einfach auf siebenundzwanzig Jahre später transponiert. So musste es sein. Ihm damals die Wange zu streicheln, wäre fast einer Liebeser­klärung gleichgekommen. Ob Luc es wohl jetzt auch so empfunden hatte? Ich lachte stumm in mich hinein.


Compañeros


Worüber wir gesprochen hatten, war nichts Weltbewegendes. Ich wusste zwar einiges mehr von Luc, aber mein Bild hatte sich dadurch nicht verändert. Es hatte nicht bewirkt, dass ich ihn jetzt mehr oder weniger gemocht hätte. Es war wohl eher die Art, wie wir miteinander redeten, die uns Lust an den ge­meinsamen Kaffeegesprächen bereitete. Das Empfinden, sich gegenseitig sehr gut zu verstehen, die Offenheit und fehlende Distanz, der Humor und die Lust an leichten gegenseitigen Provokationen schafften eine Atmosphäre, die wir beide liebten. Anderswo gab es so etwas nicht für mich. Da spielte ich immer irgendeine Rolle, auch meinem Mann gegenüber. Da war ich eben die Frau. Bei Luc schien es keine Rolle für mich zu geben, wir waren anscheinend tatsächlich die Schulkameraden geblieben. Luc musste es wohl so ähnlich sehen und emp­finden. Als ich ihn fragte, ob er sich mit seiner Freundin ähnlich unterhalte wie wir beide, meinte er: „Nein, wie soll das denn gehen? Sie gehört doch nicht zu den Compañeros.“


Ich wähnte mich zu Hause glücklich, liebte die Kinder, mein Beruf machte mir Freude, na und Marius, das war eben auch o. k.. Besondere Wünsche an ihn hatte ich nicht. Auf die Kaffeegespräche mit Luc freute ich mich aber beson­ders. Es war eine andere Welt, in der es keine Ansprüche, Anforderungen und Verantwortungen für mich gab, in der ich mich völlig frei fühlen konnte. Es war meine Welt, eine andere Welt, in der ich glücklich war und die ich trotz der kurz­en Zeit wie mein kleines zweites Zuhause empfand. Luc und ich hatten uns diese Welt geschaffen.


Zerbrochene Beziehung


Heute hatte Luc ein Problem. Er hatte sich mit seiner Freundin gestritten. „Ich streite mich doch nicht und schon gar nicht mit einer Frau, die ich als meine Freundin bezeichne.“ meinte Luc. „Sie hat hier rumgekeift und mich beschul­digt. Ich habe öfter gesagt, dass ich mich mit ihr nicht streiten, sondern alles in Ruhe besprechen wolle. Es hatte keinen Zweck, sie war in Rage. Dass ich ihr gesagt habe, sie solle es doch mal alles aufschreiben, dann würde ich es in Ruhe durchlesen, musste ihr wohl überhaupt nicht gefallen. Sie nahm ihre Sa­chen, zog die Jacke an und flüchtete. Seitdem habe ich nichts wieder von ihr gehört.“ „Und was war der Grund?“ fragte ich. „Das weiß ich gar nicht. Es war so ein Konglomerat aus Vorwürfen unterschiedlichster Art. Ich schätze mal, dass sie allgemein unzufrieden war. Ich hatte in letzter Zeit oft nicht besonders viel Lust auf sie, und das kannst du letztlich gar nicht verbergen.“ versuchte Luc es zu deuten. „Und was machst du jetzt? Meinst du, dass sie wieder­kommt?“ fragte ich nach Lucs Prognose. „Ich hätte sie ja anrufen können, aber ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch will. Soll ich mich etwa entschuldi­gen? Wofür? Für meine frechen Worte? Und ihr Verhalten habe ich schon längst vergessen? Um die sogenannte gute Beziehung zwischen uns wieder zu repa­rieren? Ich tendiere eher dazu, auch wenn sie sich entschuldigt, zu sagen, dass ich es nicht mehr will.“ lautete Lucs Antwort. „Du Armer, müsste ich jetzt sa­gen und dich trösten. Erwartest du das?“ fragte ich. „Na selbstverständlich.“ reagierte Luc, „Aber Freundin verlieren, das ist so ein schwerer Fall, dass kurz­es Streicheln mit dem Handrücken nicht ausreicht.“ „Sondern, was müsste ge­schehen?“ fragte ich und befürchtete Schlimmes, aber Luc wollte nur mit der Wange gestreichelt werden. Wir umarmten uns und hielten unsere linken Wan­gen aneinander. „Jetzt die andere Seite.“ meinte Luc. „Nein, Luc, ich will das nicht.“ reagierte ich. Luc blickte erstaunt. „Ja, Luc, das ist mir zu gefährlich. Ich mag dich einfach zu gern. Und auch wenn wir Compañeros sind, bist du trotzdem ein Mann und ich eine Frau.“ Luc schaute mich lächelnd an. Ob es ein mildes Lächeln war, oder es mir sagen sollte, dass er mich auch sehr gern möge. Vielleicht bedarf diese Bekundung ja auch immer eines Signals der Milde und Güte gegenüber dem, für den diese Botschaft gedacht ist. „Luc du bist mir einfach zu nahe. Ich traue mir selber nicht. Ich befürchte, wenn wir uns streicheln und miteinander schmusen würden, könnte mir das bestimmt leicht zu gut gefallen.“ erläuterte ich meine Befürchtungen. Luc grinste und fragte schelmisch: „Mit wem streichelst und schmust du denn sonst, und was verstehst du unter zu gut gefallen?“ „Mit meinem Mann.“ reagierte ich trocken und patzig. Luc wusste auch, dass das nicht stimmte und wir platzten beide los vor Lachen. „Du scheinst gar nicht zu wissen, was einer Frau gut gefällt. Kam das in deinen bisherigen Partnerschaften gar nicht vor?“ wollte ich von Luc wissen. „Ja, schon.“ meinte er, „aber ich weiß nicht, ab wann es zu gut gefällt.“ „Luc, du willst mich necken. Das weißt du auch ganz genau.“ ich darauf. „Nein, Anne, das weiß ich wirklich nicht. Ich kenne es nur so, dass es der Frau immer besser gefiel, aber zu gut, das wüsste ich nicht. Ist das bei dir denn so?“ fragte Luc. Ich lachte, umarmte und drückte Luc. „Luc ich muss ganz schnell nach Hause. Bei mir ist das jetzt schon so.“ antwortete ich.


Lust auf Luc


In der Tat. Ich hatte Lust auf Luc. Das kannte ich gar nicht mehr. Wann hatte ich denn so etwas zum letzten mal gespürt. Ich konnte mich nicht erinnern. Aber das letzte mal vergisst du sowieso. So ein wenig neckisches Gerede, soll­te es das bewirkt haben? Es musste daran liegen, dass es Luc war, mit dem ich so geredet hatte. Bestimmt waren Assoziationen und Vorstellungen aufge­taucht, die sich meinem Bewusstsein gar nicht explizit gezeigt hatten. Aber mit Luc zu schmusen und vom ihm gestreichelt zu werden, das hatte schon etwas Verlockendes für mich. Und Luc hatte schon Recht, dann kann es eigentlich nur immer besser werden. „Oh, Herr bewahre mich!“ schickte ich ein Stoßgebet an einen mir unbekannten Gott. Nein, ich wollte das nicht. Bei einem mal würde es ja nicht bleiben. Es würde uns gut gefallen, und wir täten es immer und im­mer wieder. Das würde mein Leben durcheinander bringen, außerdem befürch­tete ich, gegenüber Marius damit überhaupt nicht klar zu kommen. Alles ging mir im Kopf herum. Wäre ich dann Lucs neue Freundin? Vor Kinderwünschen konnte er bei mir ja sicher sein. Auf die unsinnigsten Gedanken kam ich, be­sonders welche, die mich lachen ließen. Auch wenn es mich verwirrt hatte, ich fühlte mich extrem gut drauf.


Ob ich von Luc geträumt habe, weiß ich nicht, aber beim Lesen vorm Einschla­fen störte er immer. Das Bett muss über irgendwelche Adapter verfügen, die süchtig sind nach Gedanken an Zärtlichkeit und liebevoller Zuneigung in dir. Sie locken sie immer wieder hervor, lassen dich nicht lesen oder an irgendet­was anderes denken. Was sollte dieser Schmus denn? Was wollte ich denn von Luc? Nichts. Ich war doch nicht in ihn verliebt. Trotzdem ließ mich der Gedanke an den Austausch von Zärtlichkeiten mit ihm nicht los. Zärtlichkeiten kannte ich nur noch mit Aletta. Sie war immer eine Schmusekatze gewesen und schmuste auch jetzt noch gern mit Mama, obwohl sie schon zwölf war. Das Bedürfnis zum Austausch von Zärtlichkeiten mit einem Mann hielt ich bei mir auch für abgestorben. Dass es so etwas mit Marius nicht mehr gab, hatte ich akzeptiert und betrachtete es als selbstverständlich. Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit sind doch etwas, das jeder Mensch sucht, wie konnte ich das denn verdrängen. Eigentlich musste so etwas doch zu psychischen Beschädigungen führen. War ich denn neurotisch und hatte es nur selber nicht gemerkt? Luc würde es mir schon sagen. Heute war er mein imaginärer Teddybär, mit dem ich sanft einschlummern konnte.


Lieben wir uns eigentlich?


Als ich wieder zu Luc zum Kaffee kam, meinte ich eine Veränderung zu spüren. Als ob wir uns anders betrachteten. „Luc, dir geht etwas durch den Kopf. Sag es mir.“ forderte ich ihn auf. Luc zögerte, dann meinte er: „Anne, im Gegensatz zu dir, scheine ich es zu lieben, wenn es gefährlich wird. Und ich bin mir nicht sicher, ob du das Prickelnde nicht auch magst, es dir nur selbst untersagst.“ „Nein, Luc, ich will das nicht. Ich mag dich sehr gern, aber ich mag die Konse­quenzen nicht, die es hätte.“ lautete meine Antwort. Noch nie war eine Andeu­tung in der Richtung gefallen, gemeinsam ins Bett gehen zu können, aber jetzt war es für uns beide sofort selbstverständlich, dass wir darüber redeten. „Aber du möchtest es schon gerne?“ meinte Luc fragend. „Bitte, bedräng mich nicht, Luc. Lass es.“ ich darauf. „Meinst du denn, dass wir es auf Dauer verhindern können, wenn wir es beide gerne wollen?“ fragte Luc. „Ich weiß es nicht, Luc, aber jetzt quälst du mich. Wir können uns ja küssen und ein wenig zärtlich sein. Das ist doch auch schon was.“ meinte ich. „Da hast du Recht. Das ist ganz viel, und ich freu' mich drauf“ reagierte Luc. Wir lächelten uns zu, und für den gefundenen Kompromiss gab's den ersten Kuss. „Sag mal, Luc, lieben wir uns eigentlich?“ wollte ich wissen. „Das weiß ich auch nicht.“ meinte Luc und lachte. „Wann liebt man sich denn eigentlich? Und woran merkt man das?“ „Du musst es doch am besten wissen. Du sagst doch, dass solche Gefühle da sein müssen, wenn eine Frau deine Freundin werden will.“ antwortete ich ihm. „Und sind solche Gefühle bei dir für mich da?“ wollte ich von ihm wissen. Luc lachte sich schief. Er wurde wieder ernst und meinte: „Anne, das ist, glaube ich, alles ganz anders. So ineinander verliebt, und voneinander schwärmen, das wäre nicht nur albern. Dabei ist man sich viel entfernter als wir es sind. Wir waren uns schon ganz nah und vertraut, als wir uns getroffen haben, und das hat sich vertieft und verfestigt. Wenn du Liebe daran fest machst, wie viel du dir ge­genseitig bedeutest, empfinden wir bestimmt außergewöhnlich viel Liebe für einander. Die kleine Welt der Compañeros wäre dann nicht nur unser spezielles Zuhause sondern auch unser Liebesnest.“ „Und das ohne Küssen, ohne Berüh­ren und alle anderen Liebesattribute.“ fügte ich hinzu und wir lachten. „Aber ich denke du hast schon Recht, Luc. Bei Mann und Frau spricht man erst von Liebe, wenn sie auch miteinander ins Bett wollen. Nur das ist absoluter Quatsch. Obwohl wir diese Bedingung ja jetzt auch erfüllen.“ meinte ich. „Muss ich denn jetzt sagen: „Anne, ich liebe dich.“ erkundigte sich Luc, aber bevor er eine Antwort darauf bekam, mussten wir erst wieder lachen. „Tscha, für normale Geliebte ist es meistens sehr wichtig, das von ihrem Liebhaber zu hören, aber ich glaube, mir würde es mehr geben, wenn du sagtest: „Komm zu mir, compañera und küss mich.“ Das sei ein wichtiger und sehr hilfreicher Tip. Jetzt wisse er, wie er seine Liebesempfindungen mir gegenüber artikulieren solle. Ich musste nach Hause, und die Verabschiedung gestaltete sich, als ob ich zu einer dreijährigen Weltreise aufbrechen wollte. Wie lange das wohl noch gut ging?


Luc, ich bin sehr empfindlich


Jetzt war ich nicht nur auf der Fahrt nach Hause gut aufgelegt, sondern tage­lang. Ich fühlte mich sonst nicht mies oder war schlecht gelaunt, aber jetzt kam es mir so vor, dass ich sonst doch eine recht biedere, gesittete Madame war, wie es sich für eine Frau und Mutter in meinem Alter ziemte. Jetzt hatte ich einen Geliebten. Ganz schön widerspenstig war das. So kam es mir wenigs­tens vor, und ich war nicht nur glücklich, ich fühlte mich auch stark. Und was sollte daraus mal werden? Nichts. Es war doch gut so. So war ich glücklich so sollte es bleiben. Ob Luc das auch so sah, war mir nicht ganz klar. Mit mir per­manent zusammen sein zu wollen, das konnte er sich doch nicht wünschen. Wir hatten immer beim Kaffee an Lucs Küchentisch gesessen und uns unterhal­ten, jetzt gingen wir meistens ins Wohnzimmer, wo sich die Audioanlage be­fand. Luc liebte klassische Musik in allen Schattierungen und verfügte über eine immense CD Sammlung. Ich konnte mir etwas wünschen, Luc hatte es da. Wir unterhielten uns zwar auch noch, aber wir durften uns ja jetzt küssen und Zärtlichkeiten austauschen, dazu passte die Musik sehr gut. „Luc, weißt du, ich bin sehr empfindlich und halte mich nicht für sehr widerstandsfähig. Lass uns doch ein wenig vorsichtig sein.“ meinte ich als Luc mir die Bluse geöffnet hatte und meine Brust streichelte. Vierzehn Tage dauerte es, bis die Situation sich so entwickelte, das meine Widerstandsfähigkeit überwunden war. Zunächst hatte ich noch ein paar mal halbherzig gesagt: „Nein, Luc, nicht.“ aber als wir im Bett lagen, waren die letzten Reste von Widerstand überwunden. Luc meinte, wir sollten uns doch Zeit nehmen, ich sei schon so erregt. Und dann wurde es wundervoll. Wenn ich Luc auch draußen sehr mochte und seine Zärtlichkeiten und Feinfühligkeit liebte, im Bett kam er mir vor, als ob er das alles noch uner­messlich steigern könne. Er war so einfühlsam, zart und rücksichtsvoll, so dass es mir vorkam, wie unsere körperlich gelebte Liebe. Wann hatte es zum letzten mal für mich so etwas gegeben. Eigentlich noch nie, das hatte ich nie erlebt. So hatte ich Liebe noch nie erfahren. Obwohl ich am liebsten wonnig, breit im Bett gelegen hätte, musste ich Lucs Gesicht immer wieder an allen Stellen küs­sen. Am liebsten hätte ich ihm gesagt: „Luc, du warst berauschend.“ aber das tut man ja nicht. Im Bett hatte sich mein Bild von Luc verändert. Ob es einen Glorienschein bekommen hatte, weiß ich nicht, auf jeden Fall strahlte es. „Oh, Luc, ich muss ganz schnell nach Hause, sonst bestellt man schon den Such­dienst.“ erklärte ich. Stundenlange Verabschiedungsszenen brauchten wir jetzt nicht mehr. Eine Umarmung, ein Kuss, wir blinzelten uns zu, das reichte.


Glück einer weisen Frau


Glücklich sah ich mich auch, als ich nach Hause fuhr, nur in einer anderen Wei­se. Ich war nicht happy wie sonst, das einem das Empfinden nahe legte, jün­ger zu sein, als man wirklich war. Älter kam ich mir jetzt auch nicht vor, nur es schien mir das Glück einer weisen Frau zu sein, einer Wissenden, deren Glück nicht bunt, sondern tiefer ist. Die Liebe mit Luc war immer präsent, ob ich träumend lächelnd am Abendbrottisch saß oder gedankenverloren die Spülma­schine einräumte, für heute hatte sie mich okkupiert. Im Bett etwas zu lesen, versuchte ich erst gar nicht. Warum auch? Gab es eine schönere Geschichte als unsere Liebe vom Nachmittag? Und die kannte ich auswendig, im Detail. Ob wir es wiederholen würden, oder ob es bei dem einen mal bliebe? Welch dum­me Frage. Ob wir wieder ins Bett gehen sollten, fragte Luc beim nächsten Be­such. „Nein, heute nicht, das reicht noch für diese Woche. Luc, ich empfand es so wundervoll, dass es mich noch ganz lange erfüllen könnte.“ antwortete ich. In Wirklichkeit hatte ich Angst, dass in unserer Beziehung Sex alles dominieren könnte. „Ich möchte mich auch gern mit dir unterhalten, Luc. Das haben wir fast ein ganzes Jahr lang getan. Ich empfand es so, dass wir dabei glücklich waren, und uns nichts fehlte.“ ergänzte ich meine Ansicht. Nach gewisser Zeit war man aber der Ansicht, dass man sich auch im Bett unterhalten könne, so­gar viel angenehmer und man habe die Möglichkeit, sich dabei gegenseitig zu liebkosen. Wir gingen also immer direkt ins Bett, wenn ich kam. Luc hatte schon Kaffee zubereitet, den wir mit ins Bett nahmen. Wir haben tatsächlich nicht immer miteinander geschlafen, meistens aber, weil unsere Unterhaltun­gen so lange gedauert hatten, dass dafür die Zeit nicht mehr reichte. „Du, Luc,“ sagte ich „ganz früher hatte ich auch Lust und Spaß am Sex, aber dann ist das mit Familie, Kindern und Marius langsam alles abgestorben. Es war nichts mehr da, alles tot. Aber vergehen kann das, glaube ich, gar nicht. Es kann nur verschüttet sein, und du kannst es nicht mehr finden. Aber du hast es in mir entdeckt und wiederbelebt.“ „Aha,“ staunte Luc, „und wie habe ich das gemacht?“ „Das muss der Täter doch am besten selber wissen, wie er et­was gemacht hat.“ meinte ich dazu. „Ich habe aber nichts dafür getan. Ich wusste ja auch gar nicht dass es für dich so ist. Im Gegenteil. Ich hätte das bei dir überhaupt nicht erwartet, das hätte gar nicht zu dir gepasst.“ erklärte Luc. „Und wie sieht eine Frau aus, zu der das passt?“ wollte ich wissen. „In der Re­gel hat das ja eine Geschichte, und die ist nicht selten voller Qualen, Verzweif­lung und Nöten. Wenn sich das über Jahre hinzieht, wirst du das in deinem Ge­sicht nicht verbergen können.“ meinte Luc. „Siehst du, ich war schon immer eine kluge Frau.“ meinte ich lachend. „Ja,ja, das habe ich auf der Schule schon immer gedacht. Meinst du denn, ich würde mich mit irgendeiner Tussi einlas­sen.“ Luc darauf, womit wir wieder im Bereich Scherz, Satire, Ironie angekom­men waren.


Mamis neue Freundin


Unsere Treffen dauerten jetzt natürlich länger. Ich kam immer so früh es ging und fuhr erst nach Hause, wenn es höchste Zeit wurde. Wir sprachen auch wie­der Termine ab für Tage, an denen wir beide möglichst viel Zeit hatten. Früher reichte es, dass wir uns gesehen, einen Kaffee getrunken und ein wenig mit­einander geredet hatten. Jetzt war die Zeit prinzipiell zu knapp. Die Kinder kümmerten sich nicht darum, wenn ich nachmittags rausfuhr. Irgendetwas würde es schon sein. Vielleicht war ich einkaufen, noch mal zum Museum, mit irgendjemandem etwas besprechen oder was auch immer. Es interessierte sie nicht. Jetzt war ich aber oft ungewöhnlich lange fort, fast den ganzen Nachmit­tag manchmal. „Wo steckst du eigentlich immer, Mami, du bist so oft nicht da.?“ wollte Aletta wissen. Ich war überrascht, wusste gar nicht was ich direkt sagen sollte, und fragte erst mal nach, was sie meine. Obwohl es mir ja son­nenklar war, bekam ich dadurch Zeit, mir eine Antwort zu überlegen. Bevor ich Aletta es erklären konnte, meine Marcel schon: „Vielleicht hat Mami ja eine neue Freundin.“ und grinste mich dabei schelmisch, frech an. Ob er etwas Kon­kretes wusste, mich doch mal telefonieren gehört hatte, oder ob er nur mein Verhalten als untrügliches Zeichen sah, aus dem man es schließen musste. Je­denfalls schien er sehr überzeugt von seiner Ansicht, hatte kein Interesse an meinen Erklärungen, sondern ging in sein Zimmer. Dass Marcel es akzeptieren würde, dessen war ich mir sicher, nur er würde darüber reden, mit Aletta und mit anderen. Mit Marius bestimmt nicht. Ich berichtete Luc davon. „Was sollen wir denn tun? Ich habe jetzt schon das Gefühl unter Zeitdruck zu stehen.“ fragte er sich und mich. „Vielleicht könnten wir ja einen festen Termin machen. Einmal wöchentlich und ich habe dann meinen Volleyballclub. Obwohl...“ fügte ich zögernd an, „donnerstags zum Vögeln zu Luc. Da weiß ich auch nicht, ob ich das so gut fände. Das passt nicht zusammen. Das ist doch kein Terminge­schäft. Bis jetzt wusste man nie ob und wann der andere anrief, das fand ich spannend und schön, aber regelmäßige Ficktermine nicht.“ „Bist du dir denn si­cher, dass Marcel etwas weiß?“ fragte Luc. „Zumindest ist er fest überzeugt da­von.“ antwortete ich. „Na, wenn er es sowieso weiß, wäre es dann nicht besser, du würdest mal mit ihm darüber sprechen?“ meinte Luc. Ich überlegte. „Ei­gentlich ja, eine gute Idee. Das werde ich auch tun. Aber nicht mit Aletta. Da kann ich überhaupt nicht einschätzen, wie sie es verstehen und verarbeiten würde.“


Anne, mir fehlt etwas


„Anne, mir fehlt etwas. Du magst das nicht mit einem festen Termin. Ich ge­nauso wenig, aber auch sonst. Meistens haben wir Sex miteinander. Wir wollen es auch und lieben es, aber manchmal erscheint es mir, als ob meine Wohnung ein Stundenhotel für uns wäre. Anne, ich liebe dich doch, und da würde ich dich auch gerne anders erleben, als die Frau, die im Bett mit mir glücklich ist. Alle anderen Träume bleiben unerfüllbare Wunschvorstellungen. Keine großen Träume, ganz simple Dinge. Wenn ich spazieren gehe, bin ich immer allein, ob­wohl ich eine geliebte Freundin habe, mit der ich jetzt gern zusammen wäre. Wenn ich ins Konzert gehe, sitze ich da alleine, immer. Nie wirst du da sein, um dich mit mir gemeinsam an der Musik zu erfreuen. Anne, wir teilen hauptsäch­lich unsere sexuelle Lust, aber das Glück unserer Liebe teilen wir nicht.“ erklär­te sich Luc. „Nach Scherzen ist mir jetzt gar nicht zu Mute, aber trotzdem kannst du zu mir kommen, damit ich dich trösten kann.“ erklärte ich, „Aber ich weiß nicht wie und wodurch ich dich trösten sollte. Fast ein Jahr lang gefiel es uns gut, wir freuten uns und waren glücklich über die Stunde, die wir beim Kaffee miteinander redeten. Keiner kam auf den Gedanken, das uns etwas feh­len könne, aber jetzt kommt es mir fast so vor, als ob du nicht mehr ohne mich allein sein möchtest. Zum Müllentsorgen und Badwischen würde ich natürlich raus gehen, aber alles was gemeinsam schön sein könnte, würdest du gern mit mir erleben. Ich auch mit dir Luc, das ist keine Frage, nur ich träume es nicht und sehne mich nicht danach, weil es absolut unrealistisch ist. Unsere gemein­same Welt ist nicht unser gemeinsames Leben, sondern immer noch die kleine Welt der Compañeros. Aber dass wir auch mal etwas andere machen sollten, als immer nur miteinander ins Bett zu gehen, finde ich gut. Zunächst war ich ja so fasziniert, von unserem gemeinsamen Bett und dir, dass ich darauf gar nicht hätte verzichten wollen, aber jetzt fänd ich es gut, auch mal gemeinsam spa­zieren zu gehen. Und abends, das ist doch kein Problem. Ich muss ja nicht ver­künden, dass ich mit meinem Liebsten ins Konzert gehe.


Marcel


„Marcel, ich muss mal mit dir reden, lass uns in dein Zimmer gehen.“ bat ich ihn. „Es geht um meine neue Freundin, Marcel, kennst du sie?“ fragte ich. Das Eis war schon gebrochen, wir mussten beide heftig lachen. „Sag mal, Marcel, wie hast du denn davon erfahren?“ fragte ich ihn. Er lachte wieder. „Von dir Mami. Hast du dich mal erlebt, wenn du zurückkommst. Da passt alles nicht zueinander. Ich weiß ja nicht wie Frauen Sex erleben, aber glücklich muss es sie wohl machen, dich zumindest. Und das bei einem Gesicht und einer Frisur, die nicht aussieht, als ob du gerade aus der Oper kämst, sondern eher an­strengende Arbeit hinter dir hättest.“ erläuterte er. „Du bist gemein Marcel, machst dich über mich lustig. Ja, ich habe mich richtig verliebt. Ich wollte dich mal fragen, was du davon hältst?“ sagte ich. „Mami, was soll ich denn davon halten. Soweit ich weiß, kann man sich gegen die Liebe nicht wehren, da ist man machtlos. Wenn der oiseau rebelle zu dir gekommen ist, wirst du keine Chance haben, ihn zu vertreiben.“ antwortete mir Marcel. „Das will ich doch auch gar nicht, Marcel.“ reagierte ich. „Ist es sehr schön?“ fragte er. Ich nickte nur mit breiten glücklichen Lippen. „Das freut mich richtig für dich, Mami. Hast die ganzen Jahre über immer nur die Arbeit mit uns gehabt. Du hast es wirk­lich verdient, jetzt glücklich sein zu können.“ meinte er. „Marcel, was redest du.“ erwiderte ich entrüstet, „Ich war die ganze Zeit glücklich mit euch. Dass es auch mit Arbeit verbunden war, habe ich gar nicht gespürt. Ich liebe euch, ihr wart mein Glück.“ „Ja, aber das ist doch etwas ganz anderes, ob du deine Kinder liebst, oder einen Mann.“ wandte Marcel ein. „Mhm,“ schüttelte ich ab­lehnend den Kopf, „Liebe kannst du nur eine empfinden, und die basiert darauf, wie du von deiner Mutter Liebe erfahren und gelernt hast. Was bei Mann und Frau hinzukommt, ist nur der Sex. Mein Freund und und ich haben auch fest­gestellt, dass es Liebe sein müsste zwischen uns, bevor wir gemeinsam im Bett waren. „Du meinst also, wie ich dich liebe und dein Freund dich liebt, das wäre ziemlich ähnlich?“ „Ja, natürlich. Liebe besteht darin, das du den anderen glücklich zu sehen wünscht, das du ihm deine Zuneigung und Anerkennung schenkst. Bei allem was du tust, kalkulierst du automatisch, welche Vor- oder Nachteile es dir bringt, nur bei der Liebe nicht. Da hast du selbstlose Lust am Geben. Du wünscht dir nur den anderen glücklich zu sehen, wenn du daran denkst, was es dir selber bringt, hat es mit Liebe nichts zu tun. Das ist bei einer Mutter mit ihrem Baby schon so, alles andere wäre da ja auch Irrsinn. „Und warum liebst du mich? Weil ich in deinem Bauch gewachsen bin?“ fragte Marcel. „Könnte man denken, nicht wahr, aber dann würden adoptierte Kinder ja von ihren Eltern nicht geliebt. Luc, warum ich dich liebe, das weiß ich nicht. Bei meinem Freund weiß ich das auch nicht. Wenn einer sagt: „Ich liebe meine Frau, weil ...“, dann weißt du schon, das er lügt, bevor er es gesagt hat. Das weiß niemand, warum er einen Menschen liebt. Was ihm an ihm gefällt, was er gern mag, das schon, aber das lässt dich niemals Liebesgefühle entwickeln. Die liegen entweder bei allen Menschen im tiefen Unbewussten oder Liebe ist etwas, das sich mit unserem kausalen Denken nicht erfassen lässt. „Ich freue mich trotzdem für dich und hab' dich sehr, sehr lieb, besonders, wenn du glücklich schmunzelnd mit deiner zerzauselten Frisur abends wiederkommst.“ sagte Marcel und wir beide lachten. „Ach, übrigens Marcel, beinahe hätte ich es vergessen. Ich möchte nicht, dass darüber getratscht wird. Es wäre mir deshalb sehr wichtig, dass du mit niemandem darüber redest, auch mit Aletta nicht. Ich weiß nicht, wie sie es auffassen und verstehen würde. Deshalb wäre es mir sehr lieb, wenn es ausschließlich unser Geheimnis bleiben könnte.“ erklärte ich. Mit Ehrenwort und Schwüren versicherte Marcel, niemandem etwas davon zu erzählen.


Marcels Fragen


„Aber was wird denn aus euch beiden? Wenn man sich liebt, dann will man doch mehr als sich ein oder zwei mal in der Woche am Nachmittag treffen, oder?“ fragte Marcel. Ich sah ihn an, und mir lief alles durch den Kopf, sagte aber nur: „Das wäre schön, aber wenn's eben nicht anders geht, dann muss man sich damit begnügen.“ Marcel dachte nach und meinte: „Das tun andere aber nicht. Männer, die 'ne neue Freundin haben, sagen ihrer Frau, dass sie wegen der neuen Freundin nicht mehr mit ihr zusammenleben wollen. Du willst aber noch mit Papa zusammenleben und sagst ihm nicht, dass du 'nen neuen Freund hast?“ „Marcel, was kannst du für schwere Fragen stellen. Es geht ja nicht nur um meinen Mann, es geht ja um die ganze Familie. Er ist ja euer Va­ter, und das würde alles zerstört.“ antwortete ich. Marcel hob die Augenbrauen. „Du meinst, wir würden eure Trennung psychisch nicht verkraften, und schwere seelische Schäden für's spätere Leben davon tragen?“ sagte Marcel, und wir mussten beide lachen. „Mami, du musst dich mal damit abfinden, dass wir langsam erwachsen werden, und das, was ihr beide tut ganz allein für euer Bier halten. Und da bin ich sicher, dass Aletta es keinen Deut anders sehen würde.“ fügte Marcel noch hinzu. Ich musste über alles nachdenken, es wühlte mich auf. „Komm, drück mich mal, mein Liebster.“ sage ich zu Marcel und der schmunzelte. „Ich fand es sehr bedeutsam, was wir miteinander besprochen haben. Ich sollte doch öfter mal mit meinen erwachsenen Kindern reden.“ meinte ich. Ob es dafür war, weiß ich nicht, jedenfalls bekam ich noch einen Kuss.


Trennung von Marius?


Diese Perspektive hatte ich überhaupt noch nicht in Erwägung gezogen. Die Beziehung zu Luc war ja meine Privatangelegenheit. Wunderschön aber neben­bei. Mein Primärleben spielte sich in der Familie ab, und da gehörte Marius eben dazu. Meine Beziehung zu ihm zu beenden, kam mir überhaupt nicht in den Sinn, obwohl sich da ja schon sehr lange so gut wie nichts mehr abspielte. Was würde ich mit diesem Mann zu tun haben, wenn es die Familie nicht gäbe? Was Marcel gesagt hatte, konnte ich nicht richtig interpretieren. Hatte er nur informiert, dass es bei anderen nicht so liefe, wie zwischen uns, und sie eine Trennung problemlos akzeptieren würden, oder wollte er mir nahe legen, es doch zu tun. Sein Verhältnis zu Marius war cool, immer schon gewesen, einen konkreten Anlass gab es nicht. Er war schon immer Mamas Junge und Papa war der fremde Mann. Meinen Bruder, seinen Onkel, mochte er gut leiden, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Das Leitbild eines Mannes in Marcels Kindheit war bestimmt mein Bruder und nicht sein Vater gewesen. Sah Marcel vielleicht durch mich eine Chance, ihn los zu werden? So richtig glauben, wollte ich das allerdings nicht. Ich denke eher, dass er zum Ausdruck bringen wollte, wie un­gewöhnlich er unser Verhalten empfand. Allerdings ist es üblicherweise ja auch so, dass Mann oder Frau sich trennen, um anschließend mit den neuen Gelieb­ten zusammenzuleben. Dass es darum bei Luc nicht ging, konnte Marcel ja nicht wissen. Aber wenn er meinte, dass es ihn und Aletta nicht störe, warum war ich dann überhaupt noch mit diesem Mann zusammen. Er störte doch nur. Völlig unabhängig von meiner Beziehung zu Luc. Ich hatte mir nur abgewöhnt, etwas anderes wünschen zu können. Unsere Beziehung war nicht das Wichtige, den Kindern gehörte mein Herz, und für sie war die Familie. Langsam verfes­tigte sich in mir der Gedanke, mich von Marius zu trennen. Tagelang ging es mir durch den Kopf. Wie ich es Marius wohl sagen könnte, und wie er reagieren würde. Zusammenbrechen würde er nicht. Man sähe ihm nichts an. Es würde in seinem Inneren arbeiten. Nachdem wie ich ihn kannte, hielt ich ihn gar nicht für allein lebensfähig, aber es forderte ihn ja auch nichts heraus, man half ihm ja überall und nahm ihm alles ab. In seinem Beruf musste er ja auch alles selb­ständig gemanagt kriegen. Sonst würde man ihn wohl rauswerfen. Bald war die Trennung für mich beschlossen. Die Beziehung unter diesen Bedingungen wei­ter fortzuführen, schien mir absurd und grotesk. Ich musste nur noch mit Alet­ta sprechen.


Aletta


Aletta liebte es aufs Innigste, wenn ich abends beim Zubettgehen zu ihr kam. Es war die schöne Zeit, in der Mami ganz nur für sie da war. Nichts, was es sonst noch tagsüber gab, konnte sich einmischen, und die Atmosphäre war im­mer freundlich und glücklich, damit Aletta gut einschlafen und etwas Schönes träumen konnte. Wenn ich jetzt kam, blühte sie noch mal richtig auf, besprach die wichtigsten Angelegenheiten und verriet mir ihre intimsten Geheimnisse. Sie war mein Kätzchen oder meine Katze, meine Schmusekatze. Ich hatte ihr schon auf der Grundschule beim Streicheln Baudelairs Chat süßlich zugeflüstert und übersetzt. Sie liebte es außerordentlich. „Noch einmal die Katze, Mami“ war zum Standardrepertoire ihrer „Gute Nacht“ Wünsche geworden. Ich hatte mich neben sie gelegt. Wir schauten uns lächelnd an. Ich ließ meine Finger über ihren Arm gleiten und zitierte Baudelaire.


Viens, mon beau chat, sur mon coeur amoureux;
Retiens les griffes de ta patte,
Et laisse-moi plonger dans tes beaux yeux,
Mêlés de métal et d'agate.
Lorsque mes doigts caressent à loisir
Ta tête et ton dos élastique,
Et que ma main s'enivre du plaisir
De palper ton corps électrique


„Mami,“ sagte Aletta, „du bist so schmuselig. Du willst etwas von mir.“ „Ja, dei­ne Meinung will ich hören.“ antwortete ich. Dann erzählte ich, dass Marius und ich uns auseinandergelebt hätten, und dass wir uns trennen wollten. „Ich bleib aber bei dir.“ war Alettas erste sorgenvoll ängstliche Reaktion. Ansonsten müssten wir das ja selber wissen, was wir wollten. Dass es zudem bei mir einen neuen Liebhaber gebe, interessierte Aletta viel mehr als unsere Tren­nung. Da hätte sie am liebsten eigentlich jedes Detail erfahren. Immer wieder neu Fragen fielen ihr ein, zu Luc, zu mir, zu unserer Liebe und zur Liebe allge­mein. „Bring ihn doch mal mit. Wenn du abends wiederkommst, nimmst du ihn einfach mit.“ schlug Aletta vor. Später mach ich das auch, Kätzchen, nur ich habe es Papa überhaupt noch nicht gesagt. Ich wollte erst deine Meinung und deinen Rat einholen.“ antwortete ich. Das schien sie für eine besondere Aner­kennung und Ehre zu halten. Sie fiel mir um den Hals und drückte mich.


Kein absurdes Theater


„Luc, ich weiß gar nicht, was ich tue. Ich werde mich von Marius trennen.“ er­klärte ich Luc. Entgeistert blickte er nicht, aber fragend schon. Dann erklärte ich ihm, dass ich mich unabhängig von uns dazu entschieden habe, nachdem ich erfahren hätte, dass es den Kindern egal sei. „Auswirkungen auf uns wird es natürlich haben. Ich kann so oft kommen und so lange bleiben, wie ich möchte. Wir können solange spazieren gehen, wie wir wollen und anschließend noch ins Bett. An den Wochenenden habe ich frei, und wir könnten sogar ge­meinsam in Urlaub fahren. Aletta brennt übrigens darauf, dich kennenzulernen. Mamis Freund, das ist ja schon was.“ erläuterte ich. Luc smilte, überlegte und musste mich erst mal küssen. „Dann wird das Leben ganz anders für uns wer­den, Anne. Vor kurzem hast du noch erklärt, wie wundervoll du unsere Bezie­hung fändest, aber sie sei nicht dein Leben. Und jetzt, wird sich das ändern?“ fragte Luc. „Mein Leben wird ein anderes sein. Es wäre Platz für dich. Aber ob ich dich da rein lasse, muss ich mir noch gut überlegen.“ scherzte ich. „Luc, jetzt blicke ich ganz aufgeregt auf die nächsten Tage. Morgen werde ich es Ma­rius sagen. Ich, Marius gegenüber nervös.“ da musste ich erst mal lachen. „Aber es wird weniger an Marius liegen, als an dem, was ich ihm zu sagen habe. Mit zwei Sätzen eine gemeinsame zwanzigjährige Partnerschaft beenden. Zwanzig Jahre Familie, mir bedeutet das schon etwas, es war mein Leben. Mir erscheint alles, was sich in diesem Zusammenhang ereignet hat. Was mir mit Marius nicht gefallen haben könnte, habe ich immer locker weckgesteckt, hab's nicht bedauert, sondern gedacht, so ist das eben. Es hat mich emotional nicht getroffen, meine Gefühle gehörten den Kindern. In der Situation hat es mir si­cher geholfen. Ich habe mich nicht gegrämt und bin nicht verbittert, aber ich habe auch verlernt, zu wissen, was ich mir denn überhaupt von Marius hätte wünschen sollen. Jetzt weiß ich es wieder, was ich mir von einem Mann zu wünschen habe. Nein, nicht nur das Bett und die körperlichen Zärtlichkeiten, das zentrale ist Liebe und alles was daraus resultiert. Da hast du schon recht. Das macht es mir auch leicht, es Marius zu sagen, denn zwischen uns existiert davon nichts mehr. Die Partnerschaft trotzdem fortzuführen, wäre absurdes Theater.“ erläuterte ich meine Lage. „Luc, du musst mich nicht so unordentlich gehen lassen, ich meine mich zwar immer zurecht zu machen, aber Marcel, der ja konkret nichts davon kennt, war bei meinem Aussehen sonnenklar, dass ich aus dem Bett meines Freundes kommen musste.“ erzählte ich. „Du siehst aber dann viel schöner aus, als wenn du ankommst.“ meinte Luc. Warum er dafür von mir eine Boxhieb bekam, weiß ich auch nicht. Jedenfalls führte die weitere Eruierung der Frage, was daran denn schöner sei zu liebe- und lustvollen Wor­ten und letztendlich ins Bett. Was ich mir eigentlich für heute gar nicht hätte vorstellen können.


Ne Freundin hät' ich auch schon gern


„Na, wie sehe ich aus?“ fragte ich Marcel als ich zurückkam. Wir mussten beide lachen. „O. k., heute siehst du ganz ordentlich aus. Aber das war ja auch nicht jedes mal so, wenn du zurückkamst.“ urteilte Marcel. „Mein Junge, es gibt auch noch etwas anderes in der Liebe, als gemeinsam ins Bett zu gehen. Kannst du dir das vorstellen?“ erklärte ich. „Mami, du erzählst ja nichts. Wie soll ich da wissen, was es in der Liebe gibt.“ reagierte er und lachte. „Übrigens, Marcel, Morgen wollte ich es Papa sagen, damit du Bescheid weißt.“ sagte ich. Marcel nickte und fragte: „Bist'e nervös?“ „Nervös nicht gerade, aber ein wenig son­derbar ist mir schon zu Mute. Das war ja immerhin 'ne ganz schön lange Zeit in der sich viel ereignet hat, ganz Wichtiges und Bedeutendes ereignet hat, und Schönes gab's ja auch.“ antwortete ich. „Sagst'e ihm, dass du einen Freund hast?“ fragte er. „Ich weiß es noch nicht. Aber das ist auch nicht das Entschei­dende. Mit meinem Freund habe ich nur erfahren, dass es das alles in der Be­ziehung zwischen Papa und mir nicht mehr gibt, dass da eigentlich nichts mehr ist, unsere Beziehung hohl und leer ist. Wozu sollen wir so etwas fortführen?“ antwortete ich ihm. „'Ne Freundin hät' ich auch schon gern.“ erklärte Marcel, „Aber ich glaube, ich bin zu wählerisch. Die Mädchen meinen ja immer, die Jungs seien ihnen zu kindisch. Sie seien ja schon so erwachsen. Aber ich sehe das gar nicht so. Ganz schön dämlich können die Frolleins sein. In dich könnte ich mich verlieben, aber das ist krank, nicht wahr.“ „Nicht krank, das ist bei al­len Jungs so, das sie sich in ihre Mama verlieben möchten, aber das vergeht wieder. Wenn das mit zwanzig immer noch so ist, das wäre nicht so gut. Au­ßerdem, du brauchst dich doch nicht in mich zu verlieben, wir lieben uns doch schon.“ meinte ich dazu. Wir lachten und ich wurde gedrückt und geküsst. Aletta schien es nicht sonderlich zu interessieren. Sie war süß, immer fand ich sie süß. Sie nickte nur mit geschlossenen Augen, als wenn sie sagen wollte: „O. k., ich weiß Bescheid.“. Einen Kommentar gab es nicht.


Luc, I'm free


Als ich vierzehn Tage später zu Luc kam, war alles vorbei. Marius war ausgezo­gen. Er existierte nicht mehr bei uns. Da ich befürchtete, dass er alles hinaus­zögern würde, sich verhalten, als ob er es gar nicht registriert hätte, durfte er am gleichen Abend schon nicht mehr in unserem gemeinsamen Bett schlafen. Die Kinder besorgten ihm eine Wohnung und Aletta hatte ihn wegen seiner ei­genen Untätigkeit ausgeschimpft. Völlig respektlos mir gegenüber sei er, hatte sie ihm vorgeworfen. Als die Kinder eine Wohnung gefunden hatten, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu nehmen. „Luc, I'm free.“ frohlockte ich. „Müss­ten wir das nicht feiern?“ fragte Luc. „Vielleicht ein bisschen schon, aber die Freude ist ja auch mit Nachdenklichem verbunden.“ meinte ich. Ein Glas Champagner gab es auf jeden Fall. „Wir können ja den Rest mit zu uns neh­men.“ meinte ich. Luc sah mich fragend an. „Natürlich kommst du mit zu uns, was spricht dagegen?“ erklärte ich. „Ich muss noch etwas für die Schule tun.“ meinte Luc. Meine Mimik zeigte Falten der Qual. „Oh, Luc, was für eine schlechte Ausrede. Hast du Angst?“ wollte ich wissen. Luc lachte und meinte: „Dann gehen wir aber heute nicht ins Bett.“ Jetzt musste ich lachen. „Hast Angst, dass man es dir ansehen könnte?“ fragte ich. „Ein bisschen nervös bist du aber schon. Keine Angst, Luc. Wer sagt denn, dass wir ins Bett müssen?“


Luc mit Aletta und Marcel


„Luc? Ist das nicht ein französicher Name? Bist du Franzose“ fragte Marcel bei der Begrüßung. „Und Marcel? Du bist auch Franzose, nicht war? Wir beiden Franzosen müssen gut zusammen halten. Nur heiße ich tatsächlich gar nicht Luc sondern Lukas. Luc haben die“ wobei er auf mich zeigte, „mich genannt. Und seitdem heiße ich für alle so.“ „Ich finde Luc auch besser.“ erklärte Aletta mit einer sonoren Altstimme. Es schoss mir ins Lachen. So hatte ich meine Kleine noch nie sprechen hören. „Katze, was hast du mit deiner Stimme ge­macht? Hast du Whiskey getrunken?“ fragte ich. „Sie war wieder heimlich an den Spirituosen.“ erklärte es Marcel, und Aletta erläuterte zu Luc gewandt: „Katze sagt sie immer zu mir, aber das darf nur sie. Für alle anderen heiße ich immer Aletta.“ Die Atmosphäre war schon launig, als wir uns an den Tisch setzten. An der linken Seite neben Luc saß ich und an die andere hatte sich Aletta gesetzt. Sie starrte Luc ständig an. „Aletta, das tut man doch nicht, an­dere Leute so anstarren.“ meinte ich. „Ich muss doch seinen Charaker ergrün­den.“ entschuldigte sie es, und Luc bestätigte sie: „Das ist schon richtig. Wenn man den Charakter erkennen will, muss man sich die Leute genauestens an­schauen. Und hast du bei mir schon Charaktereigenschaften entdeckt?“ Dafür bekam er von Aletta einen Knuff auf den Arm und die lächelnde Belehrung: „Das tut man erst recht nicht, andere Leute verarschen.“ Trotzdem schien sie brennend an Luc interessiert. Deshalb hatte sie sich auch wohl direkt neben ihn gesetzt. Es gab nichts, was sie von Luc nicht wissen wollte. Luc war nur für sie da. Wir waren überfüssige Randfiguren. „Das sind aber sonderbare Ansich­ten.“ meinte sie, als ihre Bewertungen noch moderat ausfielen. „Das liegt doch nicht an der Tätigkeit, sondern an dir, was du daraus machst. Man kann sich doch auch beim Müllentsorgen seine Liebe zeigen. Wenn du sie jedes mal küs­send verabschiedest, wenn sie mir der Mülltüte rausgeht, sie freudig emp­fängst, wenn sie wiederkommt und dich erkundigst, was sie am Container er­lebt hat, ist das Teil eurer Liebe. Sie wird es gern und immer wieder tun.“ Wir hielten uns die Bäuche und Luc kniff die Lippen zusammen aber Aletta konnte sich noch mehr vorstellen: „Oder zum Beispiel beim Küche wischen. Du gibst ihr einen Klaps auf den Po. Sie ist entsetzt und rennt hinter dir her. Es kommt zur Balgerei, und anschließend liebt ihr euch.“ „Und seitdem will sie nur noch Küche wischen.“ vervollständigte Marcel es.“ Jetzt mussten natürlich alle, in­clusive Aletta, lachen. Ich unterstützte sie und erklärte: „Nein, im Grunde hat Aletta schon Recht, es kommt auf dich an, und was du aus einer Situation machst, das ist das Entscheidende.“. Aletta störten diese kleinen Intermezzi aber nicht bei ihren Erkundungen in der Angelegenheit Luc. Luc versuchte öfter seine Position zu rechtfertigen, aber das führte nur zu gegenteiligen schärferen Reaktionen von Aletta. „Das ist absolut pervers Luc, das ist wieder die mensch­liche Natur. Den Menschen alleine gibt es gar nicht, kann es gar nicht geben. Jeder Mensch ist nichts anderes, als seine Beziehung zu anderen Menschen und seiner Umwelt. Der Mensch kann nix, wenn er geboren wird, außer Mamas Zitze finden, wenn sie ihm ans Bäckchen stößt. Alles lernt er im Umgang mit seinen Mitmenschen, das geht im ganzen Leben so weiter. Das ist die mensch­liche Natur. Anders würdest du verkümmern. Alles teilst du mit anderen oder setzt es zu ihnen in Beziehung. Wenn du sagst du seist kein Hordentier, dann ist das ein Konstrukt aus deinem Kopf, aber absoluter Stuss.“ belehrte sie Luc, dem es trotzdem zu gefallen schien.


Du hast einen guten Charakter, Luc


„Du Armer, soll ich dich trösten?“ fragte ich den beschimpften Luc. Wir beide lachten und mussten erklären, warum. Dass so unsere Liebe begonnen hatte, war natürlich höchst spannend. So wollten die beiden sie erzählt haben, die Geschichte unserer Liebe. Meistens hörte man von Aletta oder Marcel nur: „Ja, und dann.“. Hauptsächlich erzählte Luc, ich ergänzte nur manchmal etwas. „Nein, Luc, das nicht. Das gehört nur dir und mir. Das kann man doch nicht er­zählen, das ist doch viel zu intim.“ musste ich Luc schon mal stoppen. „Ja, und da waren die letzten Bedenken eben überwunden. Und seitdem schlafen wir miteinander.“ erzählte Luc. Erläuternd musste ich unbedingt hinzufügen: „Es geht aber nicht nur ums Ficken. Dann wäre ich beim ersten mal schon nicht mit ins Bett gegangen. Ich empfinde es, als ob wir unsere gesamte Liebe mit unseren Körpern erlebten. Das ist wunderbar, Luc ist wunderbar, er verwöhnt mich und macht mich glücklich, wie ich es früher noch nie erlebt habe.“ Jetzt starrte Marcel Luc an, und Aletta stand auf, umarmte Luc und gab ihm einen Kuss auf jede Wange. „Du hast doch einen guten Charakter. Wer Mami glück­lich macht, muss einen guten Charakter haben. Sie selbst hat einen guten Charakter und lässt mich auch oft glücklich sein.“ Marcel streichelte Luc zwei mal über den Oberarm. Männer untereinander verstehen das. Dazu brauchen sie keine Worte. Luc war ganz begeistert von Aletta. „Ich glaube, so eine Frau könnte ich doch immer um mich haben. Sie ist ja noch ein Kind, was aus der wohl mal wird?“ fragte er sich. „So wie gerade habe ich sie auch noch nicht er­lebt. Sie ist nicht auf den Mund gefallen, das weiß ich wohl, aber sie konnte ja richtig mit dir fighten und keineswegs simpel. Ja, sie ist sehr gut drauf für ihr Alter, kann aber auch sehr lieb sein und vor allem äußerst komisch. Ich mag sie schon sehr.“ meinte ich dazu.


Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder


Wir wollten den restlichen Champagner trinken. „Dafür kann ich eingesperrt werden, dass ich meine Kinder mit Alkohol füttere.“ erklärte ich. „Aber wenn Aletta heute sowieso schon an den Spirituosen war.“ versuchte Luc es abzu­schwächen. „Was feiern wir denn eigentlich?“ wollte ich wissen. Aletta wusste es: „Dass es schön ist.“ Das war eine sehr gute Erklärung. Was in der Kleinen wohl vorging. Ob sie durchschaute, dass jede andere Erklärung ungünstig ge­wesen wäre. Ich hatte es nicht durchschaut, sonst hätte ich nicht gefragt. Das weise Kind. Ich hatte schon früh mit Kirche und Glauben nichts mehr zu tun gehabt, aber irgendetwas aus der Bibel fiel mir öfter ein. Bei Aletta musste ich an die Geschichte mit dem zwölfjährigen Jesus im Tempel denken, den die Schriftgelehrten ja auch für klug und weise hielten. Aletta durchschaute ich auch oft nicht, außer wenn sie schmusen wollte, dann war sie einfach und di­rekt. Dass Luc akzeptiert wurde, war keine Frage. Mir kam es schon vor, als ob er richtig dazu gehörte, vielleicht mehr als Marius jemals. Ihn hatten die Kinder respektiert, für Luc interessierten sie sich. Sie mochten ihn, und dass er sie mochte, war evident. „Wenn mir im ersten Jahr in der Schule ein Hellseher er­zählt hätte, dass Luc und ich uns in vierzig Jahren verlieben würden, ich hätte mich gekugelt und den Hellseher für verrückt gehalten. Aber auch in der drei­zehn genauso.“ erklärte ich zu unserer Schulzeit. „Und warum habt ihr euch dann verliebt?“ fragte Marcel. „Ich weiß nicht, ob du mich verstehen kannst. Wie du jetzt mit deinen Mitschülern lebst, das wird es zwanzig Jahre später für dich nicht mehr geben. Da ist ganz viel dazugekommen, das dich und deinen Umgang mit anderen Menschen verändert hat. Und im Verhalten zwischen uns beiden spielte das keine Rolle. Wir kannten ja nur unser Verhalten in der Schu­le, das haben wir weitergelebt und das gefiel uns ausgezeichnet.“ erklärte ich es. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder.“ versuchte Marcel es zu verstehen. „Genau, wie die Kinder,“ bestätigte ihn Luc, „und damit stand uns das Himmel­reich offen.“ „Luc, du bleibst aber heute Nacht.“ musste ich klarstellen, weil wir darüber überhaupt noch nicht gesprochen hatten. „Die ganze Nacht?“ fragte Luc erstaunt. „Das schaffst du schon.“ beruhigte ich ihn, und die beiden grins­ten. „Mami, du bist für mich jemand anders geworden.“ erklärte Marcel mir beim Gute Nacht Wunsch. „Sonst warst du immer die Mutter, aber die gibt es gar nicht mehr.“ „Und wer bin ich jetzt.“ fragte ich. Marcel druckste: „Ich weiß nicht wie ich es sagen soll. Irgendwie so etwas wie einfach eine ganz normale Frau. Natürlich die tollste und liebste.“ fügte er an und lächelte. „Marcel, das höre ich sehr gerne von dir. Das gefällt mir ausgesprochen gut, und es bedeu­tet mir sehr viel, dass du es gesagt hast. Es wird mich beschäftigen und unser Verhältnis zueinander beeinflussen. Danke Marcel.“ lautete meine Reaktion. Dass die Umarmung heute Abend besonders intensiv ausfiel, verstand sich von selbst.


Die erste gemeinsame Nacht. Geschlafen haben wir nicht viel. Wenn wir nicht schmusten, oder uns liebten, redeten wir. Durchwirkt von exaltierenden Glücksgefühlen waren wir, und unser Vigilanzpegel, verbat sich jede Einmi­schung von Müdigkeitsempfinden. Am Morgen gemeinsames Frühstück. Das gab es bei uns nur Sonntagmorgens mal. Jetzt versuchten die beiden und ich alles mögliche auf den Tisch zu bringen, wie eine Mischung aus Osterfrühstück und American Breakfeast. Marcel wollte noch Pfannkuchen backen, aber ich meinte, wir könnten das alles gar nicht essen. „Aber Bratkartoffeln, das ginge doch.“ bemerkte Aletta trocken und ernst. Ich musste schrecklich lachen, denn Bratkartoffeln gingen für Aletta grundsätzlich immer, zu jedem Essen und zu jeder Tageszeit. „Soll'n wir uns nicht 'n paar Bratkartoffeln dazu machen?“ war schon zum geflügelten Wort geworden.


Alettas intime Besprechung mit Luc


Ich fuhr jetzt kaum noch zu Luc, sondern er war immer öfter und länger bei uns, bis er irgendwann fast immer da war. „Warum denkt Luc sich denn so et­was aus? Er tut doch genau das Gegenteil davon und beteiligt sich an allem. Er bringt den Müll raus, auch ohne von dir mit Küssen verabschiedet zu werden.“ fragte Aletta. „Ich denke, du kannst dir vieles überlegen, aber du hast auch immer Bilder, unformulierte, emotionale Vorstellungen von allem. Lucs Bilder sind wahrscheinlich entstanden, als er nicht sehr glücklich war und in anderen eher eine Belästigung und Einengung als eine Freude sah. Daraus hat er seine Theorie gestrickt und sich selber das Leben verbaut. Wie sehr viele andere Menschen auch.“ versuchte ich es Aletta zu erklären. „Werde ich mir denn auch mein Leben verbauen?“ fragte sie leicht grinsend erstaunt. Lachend meinte ich: „Bestimmt, mein Schatz. Aletta, meine Liebe, du könntest das gar nicht, selbst wenn du es unbedingt wolltest. Da bin ich absolut sicher.“ „Und Luc, hat der jetzt die Bauklötze weggeräumt?“ fragte Aletta. „Genau weiß ich das natürlich nicht, aber ich denke, dass er sich sehr wohlfühlt und außergewöhnlich glück­lich ist. Dazu tragen wir alle bei, besonders du. Angefangen, ein anderes Bild zu malen, hat er aber bestimmt schon als wir uns kennenlernten. Da sah die Welt schon sehr bald anders für ihn aus.“ antwortete ich ihr. Aletta musste mal eine intime Besprechung mit Luc durchführen. Kurze Zeit später meinte Luc abends im Bett zu mir: „Ich habe mir das mal alles überlegt, Anne. Im Grunde ist es ja unsinnig, dass ich eine eigene Wohnung habe. Ich nutze sie ja nie, bin ja immer hier, lebe permanent mit euch zusammen, was ich doch eigentlich überhaupt nicht wollte. Und das Verblüffende daran ist, dass es nichts gibt, was mich stören könnte. Ich glaube, Ansichten hat man, um sie den Gegeben­heiten anzupassen und sie zu korrigieren, wenn sie nicht mehr stimmig sind. Von meinen Ansichten über das Zusammenleben passt nichts mehr. Mein Le­ben ist mit dir ein anderes geworden und hat sich jetzt noch mal verändert. Das Leben hier und euer Lebensstil gefällt mir auch, aber das Entscheidende ist, dass ich nirgendwo so geliebt werde wie hier von euch. Ich würde gern zu euch ziehen und eben auch offiziell mit euch zusammen leben.“ Meine Lippen hatte ich zu leichtem Lächeln breit gezogen, und meine Augen beobachten Luc genau, aber besser erkennen, in wieweit ich Aletta durchhörte, konnte ich trotzdem nicht. „Luc, wir haben uns beide gemeinsam unsere Leben verändert, ganz wundervoll, so wie wir es uns gar nicht erträumen konnten. Die 'com­pañeros de la escuela' gibt es zwar nicht mehr, aber die Schulkameraden hat­ten die richtigen Vorstellungen von Unbeschwertheit und Unbefangenheit, sie waren natürlich und vertrauensvoll und haben uns den Weg gewiesen. Ohne sie gäbe es unser Glück heute nicht, oder es sähe zumindest ganz anders aus.



FIN




Krone des Lebens,
Glück ohne Ruh',
Liebe, bist du!

Johann Wolfgang von Goethe



Wir, schauten einander an
und lachten uns über uns selber tot.
Vor 27 Jahren, mit 18,
hatten wir uns zum letzten mal gesehen.
Wir blieben die Compañeros de la escuela,
so lebten wir und so liebten wir uns. Anders kannten wir uns ja nicht.





Anne und Luc verspätete Liebe – Seite 28 von 28

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Tag der Veröffentlichung: 12.04.2013

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