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Introduction und Inhalt

Elvi Mad

 Miriam Angst vor Romantik

 

Erzählung

 

Nun geh ich stumm an dem vorbei,
Wo wir einst glücklich waren,
Und träume vor mich hin: es sei
Alles wie vor zehn Jahren.

Joachim Ringelnatz

„Du weißt überhaupt nicht, was Liebe ist.“
hatte mein Vater meiner Mutter vorgeworfen.
„Realitätsferne Romantizismen sind das alles,
was du über unsere Beziehung fantasierst.“ argumentierte
meine Mutter vorwurfsvoll gegenüber meinem Vater.
Die Sätze waren Miriam aus dem Streit ihrer Eltern
vor der Trennung in Erinnerung geblieben.
Mei­ne Mutter ohne Liebe und mein Vater ein
tagträumerischer Spinner? „Mit André hast du doch
absolutes Glück gehabt. Der ist ja so romantisch.“
meinte meine Freundin Julie. Bei mir entwickelten sich
aber keine Glücksgefühle, sondern ich bekam Panik.
Wie Miriam mit ihrer Panik umging, und ob ihr André
auch zu romantisch wurde, verrät die Geschichte.

 

Miriam Angst vor Romantik - Inhalt

Miriam Angst vor Romantik 4

Backzeit 4

Zerwürfnis 4

Romantikfreund 5

Was ist romantisch? 6

Befürchtungen 7

Zerbrechende Liebe 8

Forderungen statt Liebe 8

Neue Beziehungsebene 9

André, my love 10

Trennung kein erledigtes Thema 11

Freund und Freundin 11

Wer braucht einen Therapeuten? 12

Mein Junghegelianer 13

Abgrund Schule 14

Romantischer November 15

Weihnachtsplanungen 16

Die Feiertage 17

Wo war mein Glück? 19

Kaffeekränzchen und Dinieren 20

Obskure Perspektiven 21

Psychischer Tresor 22

Journalistin werden? 22

Psycho Close-up 23

Fontana 26

Springtime 26

Keine One-Man-Show 27

Freu dich, Miriam 28

Geheimbundtreffen 28

Annes große Streiche 29

Weihnachten für die neue alte Liebe 30

Mein Bild 30

 

 

Miriam Angst vor Romantik

Der ist ja so romantisch. Mit André hast du doch absolutes Glück gehabt, meinte meine Freundin Julie. Oh je! Das war gefährlich. Miriam will es genauer wissen, doch ihre Eltern schweigen.

Backzeit


Heute lud die Sonne mit pompöser Pracht zu ihrer Untergangssoirée ein. Der Abendhimmel schien all seine Fantasien und kreativen Kapazitäten bemüht zu haben. Mit Farbtönen von Orange bis fast Dunkelrot hatte die untergehende Sonne die langgezogenen grauen Wolkenfetzen angepinselt. Toll sah es schon aus. Auf Postkarten hielt ich so etwas für einen Kitsch-Klimax. Was wollten die Menschen, die derartige Karten verschickten ihren Freunden und Verwandten sagen? „Schau mal, wie romantisch es hier ist. Wir sind total beseelt.“ Und die Empfänger dachten: „Nein, wie romantisch. Die müssen sich ja absolut selig fühlen.“ In Gefühlen wühlen, schön ohne jeglichen Bezug zu irgendeiner Reali­tät? Trotzdem sah es einfach gut aus am Himmel heute Abend. Niemand würde es als hässlich oder daneben empfinden, und der Sonne mitteilen wollen, dass sie an ihrem Firmament heute Abend reinsten Kitsch produziere. Als kleines Mädchen hatte ich meiner Mutter mal staunend erzählt, dass der ganze Him­mel rot leuchte. Ihre Mutter habe ihr erklärt, das so etwas immer nur auftreten könne, wenn im Himmel gerade gebacken werde. „Aha!“ hatte ich's erstaunt und verschmitzt lächelnd vernommen, „Und was wird da gerade gebacken, Weihnachtsplätzchen oder auch Brot und Brötchen?“ „Das weiß man doch nicht. In das Alltagsleben im Himmel haben wir Sterblichen doch keinen Ein­blick.“ klärte sie mich auf. „Und woher will man dann wissen, dass dort jetzt gerade gebacken wird?“ insistierte ich. Wir liebten diese kleinen Nonsens Ge­spräche, die wir, bis auf ein leichtes Schmunzeln allenfalls, mit vollem Ernst führten. „Na ja, du weißt doch, wie das so geht. Der eine erzählt's dem ande­ren, der erzählt es wieder weiter, und in Zeit von Nichts hat es die Runde ge­macht.“ gab sie als lapidare Erklärung. „Ja, aber der eine, woher weiß der's denn?“ hatte ich Lust, es weiter zu treiben. „Beziehungen, verstehst du, sehr gute Beziehungen braucht man da. Und damit steht's ja bei uns nicht zum Bes­ten.“ Wir hätten jetzt noch so vieles zu erledigen, und wenn das alles geschafft sei, wir mit allem fertig seien, wollten wir uns auch um bessere Beziehungen zum Jenseits kümmern. „Wollen wir's so halten?“ schloss sie. Eine Redewen­dung, die sie sehr häufig benutze, und wer einmal in der falschen Annahme, dass es sich um eine offene Frage handele, zu erwägen versucht hatte, ob man es nicht vielleicht auch anders halten könne, musste schnell feststellen, dass dieser Spruch für meine Mutter nach ihrem Verständnis so viel bedeutete wie: „So wird’s gemacht und kein bisschen anders.“ Sie hatte keine Lust mehr, wei­ter über die Hintergründe des Abendrots ihrer Mutter zu diskutieren. Nie habe ich sie als autoritär, harsch oder dominant empfunden. Eine liebevolle und zärt­liche Frau ist sie für mich, der es auch heute noch die größte Freude bereitet, mit mir zu scherzen und mich zum Lachen bringen zu können.


Zerwürfnis


Sie wisse überhaupt nicht, was Liebe sei, hatte mein Vater ihr vorgeworfen, bevor es zur Trennung der beiden kam. Ich habe nur einige Sentenzen ihrer Auseinandersetzungen mitbekommen, aber so rational unerklärlich wie Liebe sein kann, scheint es auch vor sich zu gehen, wenn zwei keine Gemeinsamkei­ten mehr sehen. Realitätsferne Romantizismen seien das alles, was er über ihre Beziehung fantasiere, hatte meine Mutter vorwurfsvoll argumentiert. Mei­ne Mutter ohne Liebe und mein Vater ein tagträumerischer Spinner? Beide wa­ren verrückt, ich mochte und liebte jeden von ihnen, aber ich konnte ihnen ja nicht erklären, warum sie sich gefälligst zu lieben hätten. Es tat einfach nur weh, aber dass ich den Entschluss meiner Eltern zu respektieren hatte, ließ mich meine fortgeschrittene Pubertät schon erkennen. Ich liebe meinen Vater auch sehr, habe ein warmes, inniges Verhältnis zu ihm. Ich denke schon, dass er als Mann sehr sensibel und feinfühlig ist. Etwas in die Richtung von matcho­haftem Gehabe fehlt ihm völlig, aber das gefällt mir ja gerade besonders an ihm. Können etwa nur brutalomäßige Typen keine realitätsfernen Spinner sein? Sollte meine Mutter jetzt so etwas bevorzugen? Was hatte sie denn in Paps ge­sehen, als sie sich verliebten. Hatte sie eventuell nach etwas Unbestimmtem gesucht, von dem sie meinte, dass es ihr fehle? Hatte sie in meinem Vater das Fabelwesen vom blauen Planeten ihrer Sehnsucht gesehen, und war ent­täuscht, als sie erkannte, dass er auch nur ein ganz normaler Mensch mit viel­leicht ein wenig ungewöhnlichen Vorstellungen war? Darüber reden konnte man mit ihr nicht. Es schien ein Bereich ihrer Biographie zu sein, mit dem sie unzufrieden war und Gespräche darüber sofort abblockte.


Romantikfreund


Mir fiel auf, dass bei uns auch mein Freund für die Romantik zuständig war. So war es zwar bei uns zu Hause nie gewesen. Paps hatte sich nie darum geküm­mert, dass es auch schön gemütlich war, nur gefielen mir wahrscheinlich Eigen­schaften meines Freundes, die bei meinem Vater Ähnlichkeiten fanden. Worin Vaters realitätsfernen Romantizismen bestehen sollten, habe ich nie erfahren, bei André verhielt es sich jedoch so, das es mir äußerst gut gefiel, was ihm oft wichtig zu sein schien. Mit Realitätsferne und Romantizismus hatte es sicher nichts zu tun, wenn er zum gemeinsamen Frühstück den Tisch freundlich deck­te. Wenn man sage: „Das Auge isst mit.“, bedeute es nicht nur, das der Braten, den man zu verzehren beabsichtige, auch eine ansprechende Färbung aufwei­sen müsse, sondern alles was im Blickwinkel des Bratenessers liege, übe einen partikularen Einfluss auf sein Empfinden aus. Und ein bei Wohlgefühl verzehr­ter Braten schmecke eben tausendmal besser, als ein in trister Stimmungslage zu essender, den man sich trotz bester Qualität herunter würge, erklärte es André. Da war nichts mit Romantik, um schlichte wahrnehmungspsychologi­sche Betrachtungen handelte es sich, die ich durch meine Erfahrungen nur ve­rifizieren konnte. Morgendliche Muffeligkeit, wie sie sich sonst bei mir lange hinschleppen konnte, hatte an dem netten, frischen Frühstückstisch keinen Platz. Während ich sonst stereotyp immer das Gleiche gegessen und getrunken hatte, bekam ich jetzt Lust auf Abwechslung. Wie ein ganz kleines Fest war es jeden Morgen. Ich fühlte mich gut drauf. Ein wunderbarer Start in den neuen Tag.

Derartiges brachte André bei anderen Gelegenheiten häufiger. Er hatte sich nie mit wahrnehmungspsychologischen Aspekten oder sonstigen Fragen aus diesen Bereichen befasst, machte es einfach aus dem Bauch heraus, weil er es für an­genehmer und schöner hielt. Er hatte ein Gespür dafür. Vielleicht war dies ja das Romantische an ihm, dass er seinen Gefühlen stärkere Beachtung schenk­te. Mir fiel so etwas gar nicht ein, kam überhaupt nicht drauf, war wohl ein we­nig stupid. Meine Gefühle meldeten sich erst, wenn ich das von André Initiierte mit ihm gemeinsam genießen konnte. Anmutungen von Sentimentalität oder Rührseligkeit hatten bei dem, was man vielleicht als romantisch deklarieren könnte, keinen Raum. Sonnenuntergänge, Vollmondnächte oder dergleichen, lösten in Andrés Gefühlshaushalt keine wallungsähnlichen Zustände aus.


Was ist romantisch?


Trotzdem meinte Julie, meine Freundin, dass ich mit André absolutes Glück ge­habt habe, der sei ja so romantisch. Was sie genau damit ausdrücken wollte, habe ich sie leider nicht gefragt. Etwas, das sie für sich als positiv bewertete, musste es ja sein. Ihn für einen realitätsfernen Tagträumer zu halten, hatte sie wohl eher nicht zum Ausdruck bringen wollen. Ob sie ihn für einfühlsam und feinfühlig hielt, oder den Begriff auch ein wenig weiter fasste, konnte man bei Julie nicht genau wissen. Schließlich beliebte sie ja auch, Weihnachtsmärkte als romantisch zu deklarieren. Man verstand sich nicht, wenn man Romantik oder romantisch sagte. Klar war jedem nur, dass es sich dabei um etwas als schön und angenehm zu Empfindendes handeln musste, das sich außergewöhnlich gefühlsbetont gab. Wer's besonders mit dem Realitätsbezug hielt, sah darin al­lerdings etwas Negatives, Geringschätziges. Für den handelte es sich dabei um kitschige Gefühlsduselei, und deren Betreiber waren geschmacklose Träumer.


Vielleicht würde ich ja demnächst Genaueres wissen. Ich wollte nämlich ein Se­minar über Romantik belegen, einem speziellen Bereich zwar nur, der Bedeu­tung der Romantik für die Schriftsteller des Vormärz, aber ich würde ja schon erfahren, was diese von der Romantik gehalten, und was sie darin gesehen hatten. Dass das Seminar aller Voraussicht nach nicht bei Kerzenschein statt­finden würde, dessen glaubte ich mir auch jetzt schon absolut sicher sein zu können, und dass von all jenen, die heute alles und nichts für romantisch hal­ten konnten, niemand mehr nach der blauen Blume suchte, wusste ich auch. Romantisch war zu einem selbständigen Begriff der Umgangssprache gewor­den, hatte dabei seine Beziehung zum Ursprung weitgehend verloren und diente als mögliche Sammelbezeichnung für Begriffe mit sehr unterschiedli­chem Bedeutungsgehalt. "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es." was Novalis zur Zeit der Romantik sah, hatte heute wohl niemand mehr im Hinterkopf, wenn er ein „Wie romantisch!“ beim Anblick des Abendrots hervor brachte. In gewisser Hinsicht rekurriert die heutige Verwendung allerdings schon auf ihren Ursprung, die Flucht in die als schön empfundene Natur war ja schließlich ein Hauptbestandteil der Romantik. Nur Flucht in die Natur, wo sollte es die denn heute geben? Flucht wovor? Flucht davor, vermittels Naturwissenschaften, die Natur verstehen zu wollen, wie es in der Romantik der Fall war? Die kulturgeschichtliche Epoche der Ro­mantik basierte auf theoretischen Grundlagen aus allen Wissenschafts- und Kulturbereichen. Sie stellte eine Ideengeschichte dar, die ihre historischen Be­züge und Ursprünge hatte. Das spielt heute bei der Bezeichnung Romantik al­les keine Rolle mehr. Heute sind es losgelöste Bruchstücke, die manchmal eher einem Bedürfnis nach Rotieren im Sentimentalen ohne jegliche ideengeschicht­lichen Bezüge ähneln. Ihre Bezüge und Ursprünge sollte man vielleicht eher in den Romantikhotels suchen als in ernst zunehmenden gedanklichen Erwägun­gen. Und wenn das Bedürfnis nach dem, was als romantisch bezeichnet wird zunimmt, ist dies eher ein Zeichen für einen psychosozialen Mangelzustand in weiten Bevölkerungskreisen. Grundbedürfnisse nach Harmonie und Geborgen­heit, nach Wohlfühlerfahrungen und warmen zwischenmenschlichen Kontakten werden im realen Lebensalltag nicht mehr hinreichend befriedigt und bedürfen als Ausgleich romantischer Events im Privatbereich, die dort realer Bezüge ent­behren und im Sentimentalen suhlen. Bei der Romantik unserer Tage handelt es sich nicht um eine kulturgeschichtliche Strömung, sondern sie ist ein Pro­dukt der psychosozialen Lebensbedingungen unter den gegenwärti­gen Verhält­nissen und äußert sich meistens in übermäßig gefühlsbetonten Formen.


André selbst, der Mathematik und Philosophie studierte, hätte sich in seiner äs­thetischen und emotionalen Verfasstheit wohl keiner dieser Beschreibungen des Romantischen zuordnen lassen wollen, weder der von Schlegel, Novalis und seinen Zeitgenossen benannten noch dem heute weitgefassten umgangs­sprachlichen Begriff. Und er sah sich auch nicht vor der Dichotomie naturwis­senschaftliches Denken versus Gefallen an der Natur finden.


Befürchtungen


Auch wenn mir das, was andere als das Romantische an André bewerteten, ausgesprochen gut gefiel, es überhaupt nicht als romantisch bezeichnet haben und so sehen wollte, machte ich mir doch Gedanken. Könnte der Tag kommen, an dem ich es nicht mehr schätzen würde, sondern es mich vielleicht sogar aus irgendeinem unerfindlichen Grund zu nerven begänne? Mama musste Paps Verhalten ja schließlich auch über Jahre hin gemocht und geliebt haben. In je­manden, den sie für einen gefühlsduseligen Spinner hielt, hätte sie sich ja wohl kaum verliebt. Hatte ich mich nicht nur in einen Mann verliebt, der viele Ähn­lichkeiten mit meinem Vater hatte, sondern von dem ich mich demnächst auch ähnlich meiner Mutter zu trennen wünschen sollte? Wir versicherten uns ge­genseitig unserer großen Liebe und überlegten, worauf wir besondere Obacht geben wollten, und was wir vordringlich zu berücksichtigen hätten, damit es auch immer so bliebe. Nur das würden meine Eltern auch wahrscheinlich nicht viel anders gemacht haben. Sie waren ja schließlich fünfzehn Jahre zusammen gewesen und ich mit André erst eineinhalb. Dass ich jedoch das, was ich bei meinen Eltern erlebt hatte, auch in dreizehneinhalb Jahren nicht würde erleben wollen, dessen war ich mir heute schon absolut sicher. Ich dachte nicht häufig daran, aber immer mal wieder kamen in mir derartige Gedanken auf. Hatte die Trennung meiner Eltern doch einen Schaden bei mir hinterlassen? War ich von einer Scheidungsphobie ähnlichen Befürchtung befallen? Hatte es mich psy­chisch so tief verletzt, dass der Gedanke daran mir heute noch Angst machte?


Zerbrechende Liebe


Es hatte mich damals schon sehr beschäftigt, wobei nicht einmal im Vorder­grund stand, dass die Atmosphäre zu Hause dadurch zerstört werden würde. Mir war es unfassbar, dass zwei, die ich für so tolle Menschen hielt, so etwas grenzenlos Irrsinniges anstellen konnten. Ich wollte es verstehen können, woll­te genau wissen, was sich in den Menschen dabei abspielte, obwohl ich ja von ihren konkreten Bedingungen so gut wie nichts wusste. Alles über die Liebe zwischen Mann und Frau und über ihr Scheitern wollte ich in Erfahrung brin­gen. Mit gerade vierzehn lernte ich, dass Liebe nicht nur im Smaltalk ständig präsent ist, sondern seit alters her auch das Thema Nummer eins in der ernst zu nehmenden Literatur und Gedankenwelt bildete. Verstehen konnte ich es trotz meines Intensivstudiums nicht. Ich würde nicht mal plötzlich zu meinem Teddy 'du Arschloch' sagen und ihn wegwerfen können. Ich hab ihn sogar heu­te noch, auch wenn ich jetzt jemand anderen zum Schmusen habe, ist er ein Teil meiner Geschichte, die ich absolut nicht wegwerfen kann und will. Was muss das für eine Liebe sein, bei der so etwas einfach so möglich wird. Ver­standen, so dass ich es nachempfinden konnte, habe ich es zwar nicht, aber gelernt, dass es eine Vielzahl von Gründen gibt, woran Liebe zerbrechen und der Partner sogar zum Aggressionsobjekt werden kann. Durch meine ausführli­chen Beschäftigungen damit, galt das Problem für mich als abgeschlossen. Meine Aufregung war verflogen, und ich würde mit den Folgen leben. Ich emp­fand nicht, dass es mich weiter beschäftigte und quälte. Natürliche wäre es an­ders schöner gewesen, aber mit Mama allein war es schon o. k..


Forderungen statt Liebe


Warum sprach meine Mutter nicht darüber? Sie könnte mir doch eventuell da­durch ähnliche Entwicklungen bei uns vermeiden helfen. Schämte sie sich, dass es ihr nicht gelungen war, eine beständige Ehe zu führen? So konnte es nicht sein, aber was ließ sie dann schweigen? Es musste etwas für sie Unange­nehmes sein, etwas bei dem sie peinliche Fehler einzugestehen hätte. Bislang stand für mich fest, dass sie darüber nicht reden wollte, aber ich würde es doch noch einmal versuchen. Es ließ mir keine Ruhe. An einem Wochenende fuhr ich zu ihr. Wir sprachen über André, und wie herrlich ich alles fände. Ich erklärte: „Mama, ich habe dich immer für eine wundervolle Frau gehalten und tue es auch heute noch, nur es gibt einen Punkt an dem ich dich als absolut bescheuert gesehen habe, und das hat sich bis heute auch nicht verändert.“ „Als wir uns getrennt haben, nicht wahr?“ reagierte meine Mutter. „Ja, und ich halte mich auch für eine Frau, die ziemlich o. k. ist, und ich habe Angst, dass bei mir auch mal so eine Situation eintreten könnte, in der ich mich so irrsinnig verhielte. So etwas möchte ich mit André nie, nie, nie erleben. Aber ich bin un­sicher, ich weiß nicht wie es dazu kommen kann, wie sich eine Beziehung so entwickeln kann. Gewollt habt ihr es doch vorher auch bestimmt nicht.“ ant­wortete ich darauf. Meine Mutter schaute mich tief an und verzog ihren Mund zu einem Lächeln. Sie nahm einen Schluck Kaffee, sog mit Blick ins Leere an ihrer Zigarette und blies den Rauch in einem langen Zug gegen die Decke. „Mi­riam, was soll ich dir denn erzählen? Ich werde doch selbst nie damit fertig. Es war mein Leben, ein wunderschönes Leben. Die Liebe mit Nick war die schöns­te Zeit meines Lebens. Das war so und wird auch immer so bleiben. Ich bin blind gewesen, wusste nicht was ich tat, habe nicht gemerkt, dass ich begon­nen hatte, mir dieses Glück selber zu zerstören.“ „Und was hast du konkret ge­macht?“ unterbrach ich fragend den Redefluss meiner Mutter. „Na ja, es geht dir gut, du fühlst dich wohl, bist zufrieden. Das ist jeden Tag so. Wenn sich nicht etwas Außergewöhnliches ereignet, nimmst du es irgendwann gar nicht mehr als etwas Besonderes wahr, es ist selbstverständlich. Womit das zusam­menhängt, siehst du gar nicht mehr, und jemandem deine Liebe dafür zu schenken, fällt dir gar nicht mehr ein. Natürlich hat sich an der Liebe zu dei­nem Liebsten nichts verändert, denkst du, aber jetzt fallen dir zunehmend öf­ter Dinge auf, von denen du meinst, wenn er sich ein wenig anders verhielte, würde es dich noch glücklicher machen. Warum tut er dies oder jenes denn nicht, wo er doch wissen müsste, dass es dir gut gefiele. Miriam, du bist da schon auf eine Bahn geraten, auf der das Ausmaß der Selbstzerstörung sich ei­genmächtig potenziert. In der Liebe hat es dich nur erfreut, geben zu können, Lust daran den anderen zu beschenken, daraus resultierte das Glück, wenn du anfängst, vom Partner die Erfüllung irgendwelcher Ansprüche zu erwarten, hat das mit Liebe nichts mehr zu tun. Du beginnst damit, sie langsam zu killen, in dir selbst und im anderen auch. Du beginnst mit der Arbeit daran, eines Tages sagen zu können: „Ich würde dich lieben, wenn du ganz anders wärst.“. Selbst wenn es dir auch irgendwann bewusst wird, aber es gibt einen Punkt, an dem du nicht mehr zurück kannst. Alles Empfundene rückgängig machen, das geht dann nicht mehr. Wenn's dir nicht bewusst ist, betreibst du es einfach weiter, und wenn's dir bewusst ist, was sich da abspielt, tust du's zwar auch, kommst dir nur dabei vor, wie in deinem eigenen Irrenhaus.“ erläuterte meine Mutter. „Aber es wird doch nicht an dir allein gelegen haben, dass ihr euch nicht mehr vertragen habt und unbedingt voneinander loskommen wolltet. Wie ist Paps den damit umgegangen?“ wollte ich wissen. „Ich denke schon, dass es von mir ausging. Bei Nick ist mir zumindest nichts aufgefallen, aber es beginnt ja auch ganz langsam schleichend. Du nimmst es selber gar nicht als eine Forderung, die keine Liebesbezeugung ist, wahr. Na ja, das wirkt sich dann schnell auf die Einstellung des Partners zu dir aus und trägt damit zur Potenzierung bei. Wenn Nick mir vorwirft, ich sage ihm ständig, was er zu tun und wie er sich zu ver­halten habe, aber äußerst selten nur, dass ich ihn liebe, hat er wahrscheinlich Recht, aber glücklich macht mich die Kritik auch nicht gerade. Sie ist berech­tigt, aber trotzdem ein Vorwurf der mit irgendeiner Art von Liebe nichts zu tun hat. Die Beziehung erschöpft sich hinterher in unerfüllten Forderungen und Vorwürfen an den Partner. Und das beruht dann absolut auf Gegenseitigkeit, unabhängig davon, wer ursprünglich mal damit begonnen hat, das gemeinsa­me Gleis der Liebe zu verlassen.


Neue Beziehungsebene


„Und die Vorwürfe und Forderungen waren die denn berechtigt?“ fragte ich wohl ein wenig dümmlich. Mir ging es auch eigentlich nur darum, zu erfahren, was sie sich denn konkret alles vorgeworfen hatten. Meine Mutter verzog den Mund zu einem abschätzigen Lächeln mit breiten Lippen, hochgezogenen Brau­en und einem Blick, der im günstigsten Fall sagte: „Du erwartest doch wohl nicht, dass ich darauf antworte.“. Sie ging aber doch darauf ein. „Miriam, es können ja Banalitäten sein, die du vorher gar nicht wahrgenommen hast, oder, die dir nichts bedeuteten. Langsam steigert sich der Grad ihrer Relevanz für dich und deine Zufriedenheit, bis es schließlich zu einem zentralen Moment wird. Nick war immer lieb und nett, rücksichtsvoll und einfühlsam, wunderbar. Aber es gibt natürlich auch Momente, in denen eine Frau das mal nicht für so erforderlich hält. Ist bei mir wenigstens so. Nur war das ja nichts Neues, hat nie gestört, war nie ein Problem zwi­schen uns. Wir konnten immer locker damit umgehen. Jetzt plötzlich wurde es eins. Ein ganz zentrales, mit bösen Vorwür­fen und herabsetzenden Beleidigungen. Es ist tatsächlich alles irrsinnig, wie du sagst, was sich da entwickeln kann. Nur du bist darin gefangen, es ist wie ein psychischer Käfig, aus dem du nicht entflie­hen kannst.“ In etwa meinte ich jetzt verstehen zu können, durch welche Hölle sich die beiden damals selbst getrieben hatten. „Ich denke sehr gut verstanden zu haben, was du erzählt hast. Es hat mir vieles verdeutlicht. Nur du meinst, wenn du den anderen für irgendetwas kritisierst, hat das mit Liebe nichts mehr zu tun, sondern ist ein Zeichen dafür, dass sie bereits zu zerbröckeln beginnt?“ fragte ich nach. „Ach wo!“ reagierte meine Mutter lachend, „Selbstverständlich kannst du etwas kri­tisieren oder dich sogar streiten. Das haben wir ja vorher auch getan. Es ist nur eine Frage auf welcher Basis es geschieht. Eine Mutter kritisiert doch auch ihr Kind, ohne dass sich dadurch ein Fünkchen an ihrer Liebe ändern würde. Nur wenn du der Ansicht bist, dass sich durch das von dir Kritisierte das Bild der Persönlichkeit des Partners für dich ändern würde, wenn du beginnst, dunkle Flecke auf die leuchtende Darstellung zu malen, beginnt es ernst zu werden. Miriam, für mich hört es sich nicht gut an,“ fuhr sie fort, „wenn du mich immer noch Mama nennst. Wir sind doch zwei erwachsene Frauen, die miteinander reden. Worüber wir gerade gesprochen haben, weiß sonst nie­mand von mir. Mir klingt es vertrauensvoller und gleichberechtigter, wenn du Anne zu mir sagst, und zur Not bedeutet das ja auch immer noch Mama.“ Wir lachten und umarmten uns. Mir erschien es auch so, dass das Bild der Bezie­hung zu meiner Mutter nicht nur einige zusätzliche Farben gewonnen hatte, sondern dass sich das bislang eher luftige wirkende Aquarell zu einem gravitä­tischen Ölgemälde entwickelt hatte. Ich dachte, es sei schon längst so gewe­sen, aber ich merkte, dass sie mich jetzt tatsächlich als eine erwachsen Frau anerkannte.


André, my love


Nach den Erläuterungen meiner Mutter hatten also André und ich die Permissi­on, uns getrost weiter anmeckern zu dürfen, ohne dass es unserer Liebe ab­hold sein könne. Wobei ich der Ansicht war, das bei uns sogar das Gegenteil der Fall war. Die kleinen Zickereien hatten nicht selten zur Folge, dass wir uns anschließend im Bett wiederfanden. Nach anderthalb Jahren noch richtig ver­liebt. So musste es wohl sein. Eine Phase der ekstatisch Verliebtheit hatte es bei mir gar nicht gegeben. Anscheinend brauchte man nicht zu Anfang ein we­nig durchgedreht zu sein, um sich erfüllend lieben zu können. Schade, erfahren hätte ich ja schon gern mal, wie sich so etwas anfühlt, aber für tranceartige Entrückungszustände war ich anscheinend nicht das geeignete Medium. Ich sah meine Liebe zu André ein wenig kurios. Ich liebte in ihm nicht nur den Mann, den die Frau wollte, er war für mich viel mehr. Er stellte auch meinen gewünschten Bruder dar, den ich leider nie gehabt hatte, mein bester Freund und Kumpel musste er sein und meine sogenannte allerbeste Freundin auch. Alle Personen, denen ich gern meine Liebe geschenkt hätte, die mir aber fehl­ten, musste André verkörpern. Weil ich das alles in André so wunderbar erken­nen und lieben konnte, hielt ich ihn für einen ganz besonderen Menschen, der extra für mich auf dieser Welt kreiert sein müsse. So ein üblicher Typ mit der normalen stupiden Männersozialisation würde so etwas doch niemals bringen können. Vielleicht war es ja mein Romantizismus, das ich in André einen reali­sierten Traum sah, den ich zwar nicht geträumt hatte, aber liebend gern ge­träumt haben würde. Träume können wunderbar sein, sie Wirklichkeit werden lassen fantastisch, aber manchmal musste du der Realität einfach zugestehen, dass sie es besser bringt, als du in all deinen Träumen.


Trennung kein erledigtes Thema


André und ich unterhielten uns lange über das Gespräch mit meiner Mutter. Grundsätzlich waren wir froh, dass es mit unterschiedlichen romantischen Am­bitionen der Partner nichts zu tun hatte, sondern sich um den üblichen Weg der Destruktion einer Liebe handelte, wie sie in jeder Beziehung auftreten konnte. Dass wir selbst bei uns schon damit begonnen haben könnten, wurde ener­gisch bestritten, selbst wenn es etwas gab, das mir an André total zuwider war. Ich hasste seine Vorliebe für diese dunkelgrüne Cordhose. Einen dunklen Punkt auf meinem Bild von ihm hatte es dafür aber bestimmt nicht gegeben, und wenn die Entzugserscheinungen übermächtig wurden, ließ ich ihn diesen Aus­bund von Scheußlichkeit an Beinkleidern ja auch tragen. Wie mein Vater denn zu der Trennung heute stehe, wollte André wissen, aber darüber war mir auch sehr wenig bekannt. Er hatte mir einfach zugestimmt. Als irrsinnig könne man es schon bezeichnen, aber damals sei alles schon zu spät gewesen, es wäre nur noch eine Trennung als möglicher weiterer Weg übrig geblieben. André kam es sonderbar vor. Nur eine Erleichterung, dass sie sich jetzt nicht mehr gegenseitig quälen müssten, sei es doch anscheinend nicht gewesen. Es sei jetzt schon zehn Jahre her und beide seien immer noch allein. Den Eindruck, dass es sich dabei um ihre bevorzugte Lebensform handle oder sie nicht über entsprechende soziale Kompetenzen für neue Beziehungen verfügten, machten beide auf ihn nicht. Er vermutete, dass es für beide, trotz der vielen Jahre, kein erledigtes Thema sei. Bezüglich meiner Mutter konnte ich ihm darin nur zustimmen.


Freund und Freundin


Jetzt hatte mein Vater eine Freundin. Meine Mutter hatte auch schon mal einen Freund gehabt. Nicht mal ein halbes Jahr hatte es gedauert. Da meine Mutter keine Spur von Traurigkeit oder Enttäuschung gezeigt hatte, musste sie ihn wohl rausgeworfen haben und froh darüber sein. Ich wollte überhaupt nichts dazu wissen. Ich freute mich nur, dass er verschwunden war. Was für ein Typ er war, dazu konnte ich gar nichts sagen, ich hatte damals nur gemerkt, dass es mir grundsätzlich nicht gefiel, dass meine Mutter einen Freund hatte. Ich hätte mich doch für sie freuen müssen. Sie würde glücklich sein und wieder lie­ben können, aber mir war die Vorstellung unangenehm. Am liebsten hätte ich es ihr verboten. Mein Bild sah sie in den Armen von Paps, sich aneinander ge­schmiegt liebkosen und küssen. Das war für mich das Glück. Anders wollte ich sie nicht sehen. Es würde mein Bild zerstören. Wenn aus der Bezie­hung mehr geworden wäre, hätte ich sie gewiss nur noch selten besucht, weil es jedes mal geschmerzt hätte, sie in einen anderen Mann verliebt zu sehen. Kindisch dumm, meine Vorstellung. Ich wollte sie ja auch nicht wahr haben und miss­achtete sie. Nur gefallen konnte es mir trotzdem nicht, dass meine Mutter einen Freund hatte. Womöglich war es gar nicht die Beziehung meiner Mutter, der ich zentrale Beachtung schenkte, sondern meiner eigenen Kindheit. Das Glück meiner Kindheit war an Mama und Paps gebunden, es war mein glückli­ches Leben mit ihnen beiden. Das war meine Welt, die ich geliebt hatte, in der ich aufgewachsen und glücklich war. Dieses Bild war ich, die kleine Miriam. Es hatte starr so über all die Jahre verharrt. Sich nicht im Geringsten im Laufe der Zeit den veränderten Gegebenheiten angenähert, sich nicht verändert und sich nicht entwickelt. Wie eine Ikone trug meine Seele diese Bild mit sich herum. Es kam mir vor, als ob ein anderer Mann, der Mama in den Armen hielt, diese Bild zerstören wollte, es als nutzlos, wertlos deklariere. Es würde nicht mehr ge­braucht. Im Grunde realitätsferner Unsinn, aber meine Emotionen spielten mir diese Assoziation ein. Als verkraftet konnte man bei mir die Trennung meiner Eltern auch in dieser Angelegenheit wohl nicht ansehen.


Bei meinem Vater verhielt es sich jetzt kein bisschen anders. Ich solle sie doch mal besuchen kommen. Ihm sei sehr viel daran gelegen, das seine Freundin und ich ein gutes Verhältnis zueinander bekämen. Ich würde sie bestimmt mö­gen. Bestimmt nicht. Hassen, würde ich sie, obwohl ich sie gar nicht kannte. Ich wusste einfach nur, dass sie störte, störte im Bild, das ich von meinen El­tern hatte, auch wenn es eine Produktion meines Kopfes war, dem jeglicher Be­zug zur heutigen Realität fehlte.


Wer braucht einen Therapeuten?


Ob ich einen Therapeuten brauche, überlegten André und ich. Leidensdruck er­füllte mich ja nicht. Es handelte sich eben nur um eine Macke, die ich lieber nicht gehabt hätte. „Die Alternative wäre, deine Eltern würden sich wieder ver­tragen, dann könnte dein Vater wieder deine Mutter in den Armen halten, und dein Bild stimmte wieder.“ meinte André. Die Vorstellung erheiterte mich. „Ja und wie soll das gehen? Wird meine Mutter meinen Vater anrufen: 'Hallo Nick, du weißt doch, die Sache damals vor zehn Jahren, das war alles nicht so ge­meint. Tut mir leid. Soll nicht wieder vorkommen. Vergiss es. Lass uns doch lieber zusammen wohnen, dann können wir uns die teure zweite Wohnung spa­ren.' Meinst du so könnte das gehen, oder müsste sie vielleicht doch noch et­was sagen in der Richtung, dass sie ihn immer noch liebe oder so?“ wollte ich wissen, und wir lachten. „Nein,“ erläuterte André, „es war schon ein wenig scherzhaft gemeint, aber wenn du überlegst, ist es doch auch heute noch per­vers. Die beiden haben mit der Trennung keinen Schlussstrich unter ihr bisheri­ges Leben gezogen nach der Devise, „Jetzt ist es vorbei. Jetzt beginnt etwas Neues.“. Es scheint doch bei beiden tief in ihre Psyche eingegriffen zu haben, in ihre Emotionalität, in ihr soziales Verhalten, als ob es ihren Umgang mit der sie umgebenden Welt verändert hätte. Und damit scheinen sie ja wohl nicht fertig zu werden, nach zehn Jahren noch nicht. Es scheint immer noch in ihnen zu wühlen und sie zu quälen. Wie es aussieht, brauchten die beiden eigentlich dringend einen Psychotherapeuten.“ „Mein Liebster, ich sehe es ja auch so, dass die beiden das, was ihnen am kostbars­ten war, unbewusst selber zu Grun­de gerichtet haben, dass sie sich ihr Leben völlig vermurkst haben, dass sie fahrlässig etwas angestellt haben, was ihren Seelen langanhaltenden Schaden zugefügt hat, alles sehr schlimm. Ich sage es nicht, weil ich ihnen Vorwürfe damit machen will. Ich liebe sie beide, was geschehen ist, wird mir immer für beide leid tun. Aber anzunehmen, wenn es beide gleich sähen, müsse doch et­was zu reparieren sein, ist absolute Illusion. Da sind keine offenen Wunden, die man heilen könnte, sie haben alles tot ge­macht. Jemandem, der dich herab­würdigend übel beleidigt und beschimpft hat, wirst du vielleicht verzeihen kön­nen, wenn er alles bereut, aber lieben wirst du diesen Menschen, der dazu in der Lage war, nicht mehr können. Du wirst das Geschehene nicht wieder aus der Welt schaffen, in dem du es zu einem großen Fehler erklärst. Die beiden haben sich gegenseitig und selbst die Basis zerstört, auf der eine Beziehung zwischen Menschen möglich ist. Wenn du meinst, dass sie doch eigentlich wie­der zusammenfinden könnten, werde ich dich umtaufen müssen mein Junghe­gelianer, etwa zu meinem romantischen Träumerprinzen oder so. Es gibt eben vieles Unangenehme auch in deiner eigenen engsten Um­gebung, das du ein­fach so akzeptieren musst, weil es nicht zu ändern ist. Wie überall sonst auf der Welt auch.“ erwiderte ich André.


Mein Junghegelianer


'Mein Junghegelianer' war er liebevoll scherzhaft für mich, seit wir mal fast ein ganzes Wochenende über Hegel diskutiert hatten, er Philosophie studierte und ich die Junghegelianer sowie das Wort selber mochte. André hatte sich immer schon sehr tiefgreifend gedanklich beschäftigt. Die linguistische Welt hatte er mit elf Jahren grundlegend zu erschüttern versucht. Als er das Wort panaschie­ren kennen lernte, habe er sich totgelacht. Es sei für ihn das schönste Wort ge­wesen, das er je gehört habe. Beklagt habe er sich darüber, dass man es viel zu selten verwende. Er werde das ändern. Überall dort hatte er es verwendet, wo es ihm besser gefiel, als das übliche, gebräuchliche Verb. „Das muss ich erst noch mal gründlich panaschieren.“ sagte er dann etwa, und aus dem Sachzusammenhang war evident, dass ihm hier die Bedeutung von 'untersu­chen' oder 'recherchieren' zukam. Als sich Andrés Panaschierungsaktivitäten häuften, habe sein Vater ihn amüsiert gefragt, ob er denke, dass eine Sprache mit einem einzigen Verb auskommen könne. Die Bedeutung ergäbe sich doch aus dem Zusammenhang, habe André erklärt, worauf sein Vater gemeint habe, wenn es nur noch ein Verb gebe, könne man dies doch auch ganz weglassen, da ja jeder wisse, dass es sowieso nichts Alternatives gebe. Nein, nein, es ma­che ja gerade das Schöne aus, es verwenden und hören zu können. Sein Vater habe noch zu Bedenken gegeben, dass die Schönheit aber verblasse, wenn man es ausschließlich und ständig höre. Doch bevor die Linguisten ihre ableh­nenden Einwände zu Andrés Vorstellungen einbringen konnten, hatte er selber erkennen müssen, dass das Verb ein konstitutives Element einer Aussage bil­det, das ein hohes Maß an Differenzierungsmöglichkeiten wünschenswert ma­cht und eben wohl doch nicht alles zu panaschieren sei. Ob man es nicht losge­löst von seiner Ursprungsbedeutung als Sammelbezeichnung für Verben aus ei­nem Tätigkeitsfeld mit ähnlichen Handlungsbezügen verwenden könne, und sich dadurch eine weitaus höhere Anwendungsmöglichkeit schaffe, hatte er da­mals nicht in Erwägung gezogen. Heute, nachdem er sich über den Alltagsbe­griff Romantik Gedanken gemacht hatte, wäre er bestimmt auf die Idee ge­kommen. Alles was man sonst unter nachforschen, erkundigen, eruieren, re­cherchieren und vielem ähnlichen mehr verstanden hätte, bezeichnete man dann generell als panaschieren. Die Germanisten stritten sich über den tat­sächlichen Bedeutungsgehalt des Wortes, und die panaschierenden Wähler frag­ten sich, was ihre Aktivität denn eigentlich mit panaschieren zu tun habe.


Abgrund Schule


Aber ob André damals im Alter von zehn Jahren schon über die erforderlichen Kräfte verfügt hätte, so direkt auf die Sprachentwicklung einwirken zu können, war nicht sicher. Heute verfügte er über viele Kräfte, wobei ich die physischen unberücksichtigt lasse. Über die Kraft, uns vor dem sich immer deutlicher ab­zeichnenden Ende unserer Studi-Zeit zu bewahren, schien aber auch er nicht zu verfügen. In meinem Romantik-Vormärz Seminar beschäftigte ich mich wie­der mit meinem Literatur-Liebsten Heine. Als Kind hatte ich den Menschen ge­liebt, der diese Gedichte geschrieben hatte, als Jugendliche hatte ich den Men­schen geliebt, der dieses Leben geführt hatte und anschließend meinte ich, den Menschen selbst näher zu kennen, seine Gedanken und Emotionen verstehen zu können, die Persönlichkeit dieses genialen Menschen zu lieben. Er war mein Liebster in der Literatur, der mich immer begleitet hatte und ich war ein eifer­süchtig, dass eine so große Anzahl fremder, unqualifizierter Menschen sich mit ihm schmücken und verbrüdern wollte. Ich denke auch, das André neben den vielen anderen, die er schon darstellen musste, ein wenig von dem verkörper­te, wie ich mir Heinrich Heine vorstellte, selbst wenn er noch nie ein einziges Gedicht für mich verfasst hatte. Um das zu können, würde er trotz all seiner Romantik wahrscheinlich erst einmal nach Kevelaer pilgern müssen und der ge­lobten Marie ein Wachsgedicht zu opfern haben. Die Tage an denen wir sehr wohl wussten, was es zu bedeuten hatte, dass wir so traurig waren, häuften sich, und der Fluss an dem sich dies zutrug, war nicht der Rhein, sondern die Zeit, die immer schneller voran zu strömen schien, um uns dem Strudel zuzu­führen, der uns im Abgrund Schule versenken sollte. Es war nicht der Umgang mit den Kindern, der uns schreckte, es war der Ekel vor dem Apparat, der Ad­ministration, den Hierarchien und Bürokratien, der ganzen Atmosphäre, die uns muffig erschien und die wir nicht mochten, dem ganzen System Schule. Das war gar nicht unsere Welt. Damit wollten wir eigentlich nichts zu tun haben. Wir wollten beide überhaupt keine Lehrer sein, sondern 'ganz normale Men­schen' bleiben. Wir hatten es aber doch von Anfang an gewusst, worüber woll­ten wir uns denn da jetzt plötzlich beschweren? Die Gewichtungen hatten sich im Laufe der Zeit verschoben. Zu Beginn war die Berufspraxis in der Schule noch sehr entfernt und nicht so bedrohlich erschienen. Es war daher auch gar nicht schwer gefallen, sich für die Schule zu entscheiden, wenn wir dadurch in unseren Interessengebieten studieren konnten. Ich hatte es ja versucht, hatte mit Jura begonnen, nur das war der Gipfel. Der Schwerpunkt meiner Interes­sen, nicht in die Schule zu müssen, wurde hier überhaupt nicht thematisiert, und alles andere, was ich da so zu hören bekam, interessierte mich im Grunde nicht die Bohne. Es war ja noch ein wenig hin, aber die Panik vorm Referenda­riat nahm zu. Die semikompetenten Fachleiter und gewichtigen Ausbildungs­lehrer, die Unterrichtsbesuche mit den feinziselierten Planungen, an denen man fimschig herumzunörgeln versuchen würde, das war alles gar nicht das Meine. „Miriam, wenn es dich so sehr schockt, wirst du etwas anderes machen müs­sen, nur es wird dich nichts anfliegen. Da wirst du dich schon drum kümmern müssen, musst etwas dafür tun. Mir kommt es eher vor, als ob du in einem Schockzustand erstarrt wärest, und hofftest, dass die Schlange Schule dich vielleicht doch nicht verschlingen würde.“ schienen André meine Klagen zu ner­ven. In der Tat, so ein Verhalten war mir eigentlich fremd, etwas wie ein unab­wendbares Schicksal auf sich zukommen lassen. Es war von Anfang an sonnen­klar, für Germanistik und Philosophie standen für uns beide nur in der Schule Arbeitsplätze zur Verfügung. Sich doch noch nach anderen Möglichkeiten um­zuschauen, war gar nicht in Erwägung gezogen worden. Wir hatten nichts ver­sucht, hatten uns keine Gedanken gemacht. Jetzt stand für mich fest, ich wür­de nach allen nur erdenklichen Wegen suchen, damit ich, wenn ich dann letzt­endlich doch in die Schule müsste, zumindest vor mir selbst erklären könnte, nichts unversucht gelassen zu haben. Wenn ich mich entschlossen auf mir noch Unklares einließ, bereitete es mir ein gutes Gefühl. Ich wusste, dass ich mich voll darauf stürzen und mich darin vertiefen würde. Es war wie ein neues Ziel, von dem ich überzeugt war, es würde für mich erreichbar sein. Das erstarrte Kaninchen war aufgesprungen und hatte die lauernde Schlange vertrieben.


Romantischer November


Ich sah es so, dass Andrés Vorstellungen weniger von Affinitäten zum Romanti­schen dominiert wurden, sondern ihm ein sensibleres psychisches Wahrneh­mungssystem in die Wiege gelegt worden war. Es war eben häufig so, dass ich mich fragte: „Warum ist mir das nicht aufgefallen? Warum bin ich nicht darauf gekommen? Warum habe ich das nicht gesehen?“ Ich hielt mich keinesfalls für hölzern, plump und unsensibel, aber vielleicht hat man sich ja auch nur ange­wöhnt, die Dinge sehr viel differenzierter zu betrachten, wenn man in jungen Jahren schon begonnen hatte, den Analysen Kants zu folgen.


Meinen romantischsten Monat fand André einfach grässlich. Der November sei eindeutig der unangenehmste Monat des Jahres, und nicht umsonst seien alle Trauer, Tod und Trübsal betreffenden Gedenktage in diesen Monat gelegt. Na ja, wonniglich erschien er mir ja auch nicht gerade, nur die anderen Monate traten für mich emotional gar nicht so deutlich in Erscheinung. Im November gab es eben Manches, was mir auffällig ins Gefühlsleben rückte. Die wilden Stürme ließ ich nicht nur lachend mein Haar zerzauseln, sondern auch meine Seele durften sie aufwühlend zu wilder Lust animieren. Die endlos scheinenden Tage mit den durchgezogenen grauen Wolkendecken, an denen es nie richtig hell wurde, und man nie wusste, in welcher Form es gleich wieder zu regnen begänne, bescherten meinem Schmuse- und Kuschelbedürfnis ungeahnte Hö­hepunkte. Auch wenn's schön warm war, braucht ich am Sonntagnachmittag eine Wolldecke auf der Couch und vor allem bluesige oder andere traurig schö­ne Musik. Als depressiv empfand ich meine Stimmung keinesfalls, rührselig, senti­mental das war schon eher die Richtung, in die es tendierte. Eigentlich mochte ich so etwas gar nicht, nur der November schaffte es manchmal, mich dieses Empfinden suchen zu lassen. Mit blaue Blume suchen hatte es nichts zu tun, aber in keinem anderen Monat ließ sich meine Emotionalität so auffällig di­rekt von den Ereignissen in der Natur beeinflussen wie im November. Schön-trau­rige Sentimentalität warm eingekuschelt bei rührseligen Balladen auf der Couch genießen war jedoch nicht die einzige Auswirkung des Bildes, das die Natur im November bot. Dass dürre, triste und dunkele Erscheinungsformen den Gesamteindruck der Natur dominierten, wurde in diesem Monat endgültig deutlich. Die kleine Esche wisperte jetzt nicht mehr mit den unendlich vielen kleinen Blättchen, die ihren mildgrünen Schopf gebildet hatten. Unterschiedlich dünne schwarze Striche zeichneten ihre kleinen Äste und Zweige gegen das fahlgraue Licht dieser Tage. Dass alles was man mit Tod und Trauer assoziierte, zu dem Bild dieses Monats passte, war nur verständlich. Auch wer nicht an Trauer und Vergänglichkeit dachte, dessen Gedanken beschäftigten sich doch überwiegend mit Ernstem und Seriösem. Übermütig quirlige Ausgelassenheit war im November Fehl am Platze.


Weihnachtsplanungen


Mich beschäftigte Weihnachten. Nicht etwa für mich persönlich. Mir war alles, was damit zusammenhing eher unangenehm, hielt alles von den Weihnachts­märkten bis zur rührseligen Getragenheit und Andacht in den Familien für Kitsch. Während meiner revolutionären Phase in der WG hatte ich es auch ein­mal abgelehnt, aus Anlass von Weihnachten meine Eltern zu besuchen. „Ich ver­steh dich ja, Miriam,“ hatte meine Mutter gesagt, „und muss dir auch in den meisten Dingen zustimmen, nur im nächsten Jahr machst'e doch am besten mal einen Fehler und kommst einfach vorbei. Es ist nicht schön, wenn meine Bäckchen kalt bleiben, weil sie die Haut deiner Wangen zur Begrüßung nicht zu spüren bekommen.“ Ich war ihr um den Hals gefallen und hatte sie einer Ent­schuldigung gleichkommend ganz lange gedrückt. Dass ich so einen Unsinn nicht wieder machen würde, stand ein für alle mal fest. Sonst hatte ich immer Heiligabend bei Mama und den erste Weihnachtstag bei Paps verbracht. Im letzten Jahr hatten André und ich den ersten Weihnachtstag aufgeteilt bei bei­den verbracht und waren am zweiten zu Andrés Eltern gefahren. Eine gut prak­tikable Regelung, wir hätten es in diesem Jahr wieder so machen können. Nur die Vorstellung befriedigte mich nicht, sie bereitete mir Unbehagen, Unbehagen bei dem Gedanken, dass wir am Weihnachtsmorgen und Mittag ein paar nette Stunden mit meiner Mutter Anne verbringen würden, und diese Frau ansonsten die Tage über allein war. Es tat mir weh, sie nicht mit einem besonderen Weih­nachtsgeschenk erfreuen zu können, sie spüren zu lassen, wie viel sie mir be­deute, wie groß meine Liebe für sie war. Nach längeren Überlegungen einigten wir uns darauf, dass wir die gesamten Weihnachtstage bei meiner Mutter ver­bringen und nur von dort aus am ersten Weihnachtstag nachmittags meinen Vater besuchen wollten. André musste seine Mutti besänftigen, dass wir in die­sem Jahr erst nach Weihnachten kommen könnten. Ich war froh, Anne strahlte nur, umarmte mich und flüsterte mir „Danke“ ins Ohr.


Die Feiertage


Ausgelassen glücklich war meine Mutter am Heiligabend, alberte herum und feixte mit André. So glaubte ich sie nur aus Kindertagen zu kennen. Bezie­hungsfragen waren für Weihnachten mit einem zwar nicht ausgesprochenen, doch für alle selbstverständlichen Tabu belegt. Aber es gab ja auch so unend­lich viel Wichtiges und für Mutter bei dieser Stimmungslage auch Unwichtiges zu besprechen. Von ganz besonderer Wichtigkeit waren für Anne meine Bemü­hungen, nicht in den Schuldienst zu wollen. Sie schienen ihre zerebralen Win­dungen noch stärker zu stimulieren als ich meine eigenen. Als ob es sie elektri­siert habe, wirkte sie und ich vermutete, das sie darin in nächster Zeit ihre wichtigs­te Aufgabe sehen würde, diesen Wunsch für mich Realität werden las­sen zu können. Anne und André überboten sich lachend und albernd im Zufü­gen wei­terer Aperçus zur Gestaltung des ultimativen Weihnachtsfrühstücksti­sches. Ich merkte an, dass man auf dem Lande vor dem Frühstück immer erst einen Schnaps tränke, und warum der denn hier auf dem Tisch nicht zu finden sei. Früher wirkte Weihnachten auf mich immer ein wenig getragen mit aufge­setzter Freude, nicht sehr angenehm, jetzt war es plötzlich richtig lustig, so konnte es mir gefallen.


Die Lustigkeit war schnell verflogen, als wir meinen Vater besuchten. Er hatte seine Freundin schon wieder „vertrieben“ und war ziemlich down. „Ich versteh mich nicht.“ erklärte er, „Wenn sich mit einer Frau etwas entwickeln könnte, dann mit Gitta. Es gab überhaupt nichts an ihr auszusetzen, verkörperte im Grund alle Eigenschaften, die mir gefielen und sah zudem noch sehr gut aus. Ich müsste verrückt sein, diese Frau nicht zu mögen. So sah ich es und sehe es eigentlich noch immer so. Nur es entwickelte sich nichts, wir machten zu­sammen das eine oder das andere und ich hatte dabei das Empfinden, je mehr sie sich engagiert, umso stärker nimmt mein Interesse ab. Bis dir vieles hinter­her oft lästig vorkommt und du sicher bist, dass es so nichts werden kann. Aber warum? Du hast es gar nicht gewollt. Auszusetzen hast du an der Frau im­mer noch nichts. Was soll es denn sein, das meine Bedürfnisse weckt, das mich nicht müde werden lässt? Ich habe dafür keine Erklärung. Wahrscheinlich habe ich eine dicke soziale Macke. Aber ich will doch gar nicht so leben, ich bin doch nicht zufrieden damit. Es quält mich. Das ist nicht das, was ich für mich unter Leben verstehe.“ und Paps Augen begannen feucht zu werden. Ich nahm ihn in den Arm, und er legte seinen Kopf auf meine Schulter, zum erste Mal in meinem Leben suchte mein Vater Tröstung bei mir. Er schaute mir direkt ins Gesicht, strich mir die Haare aus der Stirn und sagte nur „Miriam“. Nach einer Pause erklärte er: „Ich freue mich im­mer ungemein dich zu sehen, aber in ei­nem Auge hängt auch immer eine klei­ne Träne. Mit dir jetzt kommt für mich auch immer die kleine Miriam, die auf die Welt kam, Laufen und Sprechen lern­te, zur Schule ging, eine Zeit wunderba­rer Freude, wir wähnten uns im Glück selber zu Hause. Mit deiner Geburt war auch ein Stern aufgegangen, ein Stern für uns, der uns auf den Pfad einer neu­en Dimension glücklichen Lebens gelei­tete. Das ist meine Geschichte, die im­mer mit dir kommt. Das haben wir er­lebt. Heute erscheint es wie ein irratona­ler Traum.“ Ich hätte etwas dazu sagen können, aber ich wollte jetzt nicht reden. Es täte ihm im Moment sicher gut, einfach erzählen zu können. „Ich habe auch sehr glückliche Erinnerungen dar­an,“ schob ich nur ein, und Paps erzählte weiter: „Ja, es war als ob es für je­den die größte Freude wäre, dem anderen sein Glück weiterzugeben, und du hast voll mit dazugehört und mitgemacht. Wir haben immer halbernste Diskus­sionen über die Liebe unter uns geführt, zum Beispiel ob wir dich liebten oder in dich verliebt seien oder ob du uns nur sehr gut leiden möchtest oder absolut in uns verknallt wärst und dergleichen.“ Er hätte heute sicher endlos erzählen können. Noch nie hatte er es vorher getan. „Hast du denn jemanden, mit dem du darüber sprechen kannst?“ erkundigte ich mich. Hatte er natürlich nicht. Freunde? Da war er sich nicht si­cher, ob er sie so bezeichnen sollte. Bekannte habe er genug, wenn er mal abends nicht allein sein wolle, gäb's kein Problem, aber das sei eben alles nur Oberfläche. Sich um intensivere tiefere Beziehun­gen zu bemühen, fehle ihm auch der nötige Drive. Wenn er jetzt mit mir rede, käme seine Historie ihn auch öfter besuchen. Ich würde mich darauf freuen,er­klärte ich ihm. „Wenn ir­gendjemand einen Therapeuten braucht, dann ist es dein Vater.“ meinte André auf der Rückfahrt, „Das aus eigener Kraft wieder hinzubekommen ist unmög­lich, zumal er ja auch sein Problem selbst noch nicht einmal zu erkennen scheint. Der wird auch nicht zu einem Therapeuten wollen, hält alles für im ge­wissen Sinne normal und denkt, er würde alles rational be­wältigen können. Aber allein darüber reden, das hilft auch schon viel. Ich habe ja auch keine Ahnung und will mich auch überhaupt nicht zu einem Pseudopsy­chologen ent­wickeln, aber vielleicht wäre es für ihn nicht schlecht, wenn ich als Mann auch daran teilnähme.“


„Was ist los? Warum schaut ihr so ernst? Seid ihr müde?“ fragte Anne noch heiter, als wir wieder zurückkamen. „Paps hatte eine Freundin und hat sie nach gut fünf Monaten wieder rausgeworfen, obwohl er sie immer noch für eine ganz tolle Frau hält. Jetzt versteht er sich und die Welt nicht mehr.“ erklärte ich. Annes Lippen zogen einen breiten Mund und ihr Blick verlor sich im Lee­ren. Wie in Trance saß sie kurz da, dann holte sie tief Luft und stand auf. „Ihr werdet noch nichts gegessen haben, vermute ich mal“ rief sie von der Küchen­zeile herüber. Hatten wir zwar nicht, wollten wir aber auch nicht mehr. Die At­mosphäre war ein wenig verklemmt. Ich denke nicht, dass alle ständig an die für meinen Vater missliche Lage dachten, aber der Nachmittag und die Infor­mation darüber, ließen die unbeschwerte Fröhlichkeit nicht mehr zu, die bis da­hin unser Weinachten beherrscht hatte. Wir gingen bald ins Bett, auch weil die Unterhaltung keine besondere Anregung mehr bot. Was meiner Mutter wohl durch den Kopf gegangen war, als sie so kurz sinnierend vor sich hin gestarrt hatte. Unsinn, überlegen können würde ich es nicht. Trotzdem spielte ich mit verschiedenen Möglichkeiten, was diese Frau wohl empfinden könne, wenn sie von meinem Vater hörte.


Anne hatte sich offensichtlich auch noch weiter damit beschäftigt. Und beim Spaziergang am Morgen des zweiten Weihnachtstages wurde das Tabu gebro­chen. „Ja, ja, das ist sehr kurios.“ begann Anne, „Was wir uns da wohl einge­brockt haben. Ich weiß ja nichts von dem, was bei Nick gelaufen ist, will ich auch nicht wissen, aber bei mir war das schon sehr sonderbar. Du findest einen Mann sehr nett, alles dran, alles in Ordnung und in kürzester Zeit kommt er dir immer komischer vor, obwohl nichts passiert ist. Du bist so durcheinander, dass du dir überhaupt nicht mehr vorstellen kannst, was du von diesem Alien eigentlich wolltest. Ich fand ihn doch nett und völlig in Ordnung. Was will ich denn überhaupt. Ja, Gott und die Welt nicht mehr verstehen, so ist das. Gott hatte ich doch eigentlich immer sehr gut verstanden, nur mit der Welt da hatte ich immer schon meine Probleme und sich selbst versteht man sowieso nie.“ Sie konnte wieder lachen. „André, was meinst du, ob es bei uns auch so laufen würde, wenn ich mich in dich verliebte? Könntest du mir dann auch immer fremder werden, oder sähest du für unsere Liebe eine Chance, dass es sich an­ders entwickeln könnte?“ fragte Anne. „Eure Liebe hat überhaupt keine Chan­ce, Anne, auch wenn sie bei dir schon längst Blüten treibt. Sie wird immer eine unerfüllte Sehnsucht bleiben müssen, Frau Mutter. Dieser Mann ist der Meine. Such dir gefälligst etwas Gleichaltriges für deine amourösen Bedürfnisse.“ er­klärte ich scherzend harsch und André meinte, wenn er sich noch mal verlieben könne, würde er sowieso alles genau umgekehrt machen. Er würde mit dem Hass be­ginnen, den dann Stück für Stück weiter abbauen, so dass er langsam in den Bereich der Liebe käme, diese dann immer ein wenig intensivieren, bis er schließlich zur vollkommenen Liebe gelange. Wir hatten unsere Jux und Spaßfähigkeit wiedergefunden. Als wir uns verabschiedeten, versicherten wir uns alle gegenseitig, die schönsten und lustigsten Weihnachstage erlebt zu ha­ben. Silvester wollten wir wieder zusammen verbringen, nicht um Annes Ein­samkeitsempfinden zu begegnen, sondern weile es uns Spaß machte, und wir Lust darauf hatten.


Wo war mein Glück?


Ich hatte meiner Mutter eine Freude machen wollen, sie nicht traurig sein las­sen wollen an den Feiertagen, jetzt erschien es mir, als ob sie uns Freude ge­geben hatte, uns alle hatte glücklich werden lassen. Ob es das war, was mein Vater als 'dem anderen sein Glück weitergeben' bezeichnet hatte. Wo war denn mein Glück? Wann hatte ich es denn wie und wem weitergegeben? Ich sagte einfach André, dass ich ihn ganz schrecklich liebe, und ich denke sogar dass es ihn auch ein wenig glücklich sein ließ. Ich hielt mich keinesfalls für exaltiert, ausgeflippt oder campy, aber bieder, ordentlich und gleichbleibend ruhig sah ich mich auch bestimmt nicht. Vielleicht würde lebenslustig, ein wenig quirlig es am ehesten treffen, was aber nicht bedeuten konnte, dass es mir an Nach­denklichkeit und Sensibilität mangelte. Vor richtig gehendem Blues schien ich gefeit zu sein und die Produktion meiner Glückshormone funktionierte hervor­ragend. Ich war meistens gut drauf und kam letztendlich mit allem einigerma­ßen gut klar. Einen Freund hatte ich fast immer, aber es war immer schon von Anfang an so, dass ich nie gedacht habe, es könnte für länger andauernd sein. Obwohl es doch eigentlich recht sonderbar war, habe ich mir dabei nie etwas gedacht. Vor großen Trennungsschmerzen hat es mich bewahrt. Ich hatte mich persönlich nie tief darauf eingelassen, es kam mir eher vor wie ein Hobby. Es war immer in gewisser weise wie ein in die Jahre gekommenes Teeny-­Geplän-kel geblieben. Eine erste Liebe, die für mein ganzes Leben etwas Bedeutsames bleiben könnte, hatte es nie gegeben. Ich empfand es nicht schlecht, aber et­was, an das ich mich wehmütig erinnern würde, war nicht darunter. Es war ge­wiss so, dass ich die Beziehung zu einem Mann gar nicht an mich, an meine Persönlichkeit ran ließ. Es war Oberfläche. So, wie ich Lust hatte, mit ihm ein Bier zu trinken, so hatte ich Lust auf Sex mit ihm, mehr nicht.


Ich liebte meine Eltern, besuchte sie auch öfter, aber die Berührungspunkte waren dünn. Primär fuhren unsere Lebenszüge auf unterschiedlichen Gleisen und zu gemeinsamen Aktivitäten kam es nicht. Wie ich André kennengelernte habe, fand ich jedoch schon ziemlich sonderbar. An einen Freund hatte ich bei ihm gar nicht gedacht, ich hatte ja einen. Ich merkte nur, dass ich ihn immer besser leiden konnte, bis ich plötzlich das dringende Bedürfnis hat­te, ihn zu küssen. Einfach so, ohne zu wissen, was es bedeuten sollte und was daraus werden könnte. Es trieb mich dazu, obwohl André noch nie irgendwelche Äuße­rungen mit amourösen Tendenzen mir gegenüber von sich gegeben hatte. Sehr schnell war klar, ihn wollte ich richtig für mich, für meine Person, als meinen Gefährten. Ihn konnte ich als gleichberechtigt anerkennen und achten. Ein Hobby oder etwas in dieser Richtung könnte er für mich bestimmt niemals wer­den. Was sich in mir mit André abspielte, war eine andere Dimension, spielte auf einer Bühne, die für mich bislang immer ihre Vorhänge geschossen hielt, jetzt gab ich die Hauptactrice. Die anderthalb Jahre mit ihm hatten mich schon ein wenig verändert. Viel stärker und häufiger suchte ich das Glück zu Hause. Irgendwelche Hully-Gully Events konnten nicht mehr einen Hauch von Aufmerksamkeit erzeugen. Ob ich ein wenig ruhiger gewor­den war? Mit André gefiel es mir jedenfalls so sehr gut, und ich empfand mich rundum happy.


Kaffeekränzchen und Dinieren


Wir wollten jetzt immer am Samstagnachmittag zu Anne zum Kaffeekränzchen und Sonntagsmittags mit Paps essen gehen. Die Treffen wurden zu kleinen selbstverständlichen Ritualen unseres Wochenablaufs. Welch große Freude wir beiden dadurch machten, merkten wir nicht nur an der Atmosphäre sondern an der schnell wachsenden Vertraulichkeit und Offenheit untereinander. Auch mein Vater schien uns 'sein Glück weitergeben' zu wollen. Beim dritten Treffen er­klärte er es für unangebracht, sich gegenseitig mit 'Herr Fabian' und 'Herr Nau­man' anzureden und ich sollte jetzt auch Nick zu ihm sagen. Sonderbar, erfreu­en konnte mich das im ersten Moment nicht. Paps kam mir viel vertrauter vor. Aber es war wohl sinnvoller, den lieben kuscheligen Paps abzugeben, und mit dem Mann Nick auf gleicher Ebene zu reden. Wir sprachen zwar nicht aus­schließlich darüber, aber die Szenen dieser Ehe waren uns bald in zwei Versio­nen bis ins Detail geläufig. Die Sichtweisen der beiden wiesen nur marginale Unterschiede in der Wahrnehmung einiger Details auf, ansonsten waren sie frappierend identisch. Dass sie sich sehr gut verstanden haben mussten, leuch­tete uns ein. Es gab nur einen Bereich, über den keiner von beiden ein Wort verlor. Die Benennung dessen, was sie sich denn konkret vorgeworfen hatten, wessen sie sich denn gegenseitig bezichtigt hatten, dazu kam nichts über ihre Lippen. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater schienen nicht nur während unserer Besuche aufzublühen, jedes Wochenende diese Möglichkeit zu haben, der neben ihren anderen sozialen Kontakten eine sehr herausragende Bedeu­tung für beide zu kam, schien den leichtenDunst, der wie ein Schleier über ih­rem Leben lag ein wenig zu lichten.


Wohin hatte ich mich entwickelt? Wie sollte ich das eigentlich verstehen? Mit vierundzwanzig begann ich, mich für das Leben meiner Eltern zu interessieren und das kein bisschen aus irgendeinem Pflichtgefühl heraus. André versuchte es so zu erklären, dass wir durch unsere eigene Altersentwicklung mittlerweile einen besseren Zugang zum Leben und Verstehen anderer Erwachsener gefun­den hätten. Ich sah es mehr als meine individuelle Angelegenheit. Ich hatte meine Mutter anders angesprochen, hatte sie akzeptiert, von ihr Hilfe erbeten, was wiederum ihr Verhältnis mir gegenüber verändert hatte. Wir hatten die Di­stanzen überwunden, die wir durch die unterschiedlichen Generationen als ge­geben ansahen. Ich liebte unsere Gespräche. Sie bedeuteten mir viel mehr als Party-Talk und auch als die Treffen mit Julie. Sie vermittelten mir eine andere Gewichtigkeit, Ernsthaftigkeit und einen tieferen Bedeutungsgehalt, obwohl sie kei­nesfalls in ernster, getragener Atmosphäre stattfanden. Im Gegenteil es war lo­cker und heiter, und oft eben sogar ausgesprochen lustig. Es war eine andere Ebene von Kommunikation, auf der es sich ereignete. Vielleicht eine höhere, tiefere, vertrauensvoller war sie auf jeden Fall. Sie gefiel uns allen, und ver­zichten hätte darauf niemand wollen.


Obskure Perspektiven


André hatte sich schon entschlossen zu promovieren, war dabei alles in die Wege zu leiten und sich fleißig zu informieren. Ich hatte mit ihm mal über Ro­land Barthes gesprochen, der mich in einem Seminar begeistert hatte. Eigent­lich hatte ich vor, mich tiefergehend damit zu beschäftigen. André hatte es ge­tan und wollte jetzt in Narratologie über einen Bereich von ihm pro­movieren. Er hatte sich dabei in Felder der Wissenschaftstheorie begeben, die hauptsäch­lich Gegenstand der Linguistik sind. Ich kannte mich meist in den Bereichen seiner Fragestellungen überhaupt nicht aus, da ich mich mit Linguis­tik kaum befasst hatte, und konnte ihm trotz Germanistikstudium oft nicht wei­terhelfen. Wenn er Doktor der Erzählkunst sei, werde er es doch sicher zu Stande brin­gen, mir auch mal kleine Geschichten zu schreiben, frotzelte ich. Was er als pro­movierter Erzähltheoretiker denn machen wolle, welche Beschäftigungs­möglichkeit er sich denn vorstellen würde, wagte ich ihn zunächst gar nicht zu fra­gen. Für meine Perspektive hatte sich nicht weniger Obskures angebahnt. An­nes Freundin kannte eine Redakteurin beim WDR. Ich solle mich doch für ein Volontariat bewerben. Sie nähmen zwar immer nur zehn, aber die meisten würden anschließend übernommen. Meine Voraussetzungen seien doch güns­tig, zwei Fremdsprachen fließend und Germanistik studiert. Journalistische Pra­xis sei keine Vorbedingung. Mich amüsierte es mehr, aber treffen konnten wir uns ja mal mit der Redakteurin.


Psychischer Tresor


„Mich lässt das nicht in Ruhe.“ erklärte André eines Sonntagsnachmittags als wir von Nick zurückkamen, „Unsere Verhältnisse sind total offen, sowohl zu Anne als auch zu Nick. Über alles können wir reden, mit allem locker umgehen, aber was sie sich gegenseitig angetan haben, ist wie in einem dicken geheimen Tresor verschlossen. Was kann denn so schlimm sein, dass man nach zehn Jahren immer noch über nichts davon reden kann? Und wenn es so schlimm ist, dann ist es doch das, mit dem sie klar kommen müssen, dann liegt da doch das Problem, das ihre Psyche nicht in Ruhe lässt. Wir besuchen sie ja nicht in irgendeiner therapeutischen Absicht, es gefällt mir, sonst nichts, aber ich den­ke, dass es für beide jetzt schon positive Auswirkungen gehabt hat, nur wenn sie ihre Tresore nicht öffnen, wird sich grundlegend nichts ändern.“ „André, ich denke sie schämen sich beide ungeheuerlich dafür, was sie getan haben, vor sich selbst und vor anderen erst recht. Ich glaube schon, dass sie sich gegen­seitig zutiefst beleidigt haben, und wenn man sich sehr gut kennt, weiß man ja auch, wo es beim anderen am besten trifft, ihn am stärksten verletzt, am meisten weh tut. Berechtigung oder nicht spielte dabei keine Rolle, wesentlich war, dass man seine Wut, seinen Hass ablassen konnte. Ich für mich möchte gar nicht hören, wie scheußlich Menschen zueinander sein können und von meinen Eltern erst recht nicht. Anne hat mal beispielhaft etwas angedeutet, dass sie Nick auch wohl etwas in Richtung fehlender Männlichkeit vorgeworfen hätte, und das ganz übel. Ich weiß nicht, was man da sagen kann, aber dass es zutiefst beleidigend werden kann, ist für mich schon vorstellbar. Jetzt möch­te sie es nie gesagt haben wollen. Das sie es nicht wiederholen und uns erzäh­len will, kann ich sehr gut verstehen.“ beantwortete ich Andrés Darstellung. „Trotzdem wird es keinen Weg geben, ohne diese Dinge geklärt zu haben. Dann müssen sie es eben mit einem Psychotherapeuten tun, wenn sie sich vor uns schämen, aber ohne das zu klären gibt’s keine Lösung.“ unterstrich André sei­ne Auffassung. Wir wollten mal versuchen, vorsichtig das Gespräch darauf zu bringen.


Journalistin werden?


Die Redakteurin vom WDR war eine wunderbare Frau. Wir schienen uns auf den ersten Blick zu mögen. Sie erklärte, wie alles liefe mit der Bewerbung, dem Auswahlverfahren und der Ausbildung. Trotz der minimalen Chancen ver­stand sie es, mir immer wieder Mut zu machen und bei mir Zuversicht zu er­zeugen. Meine Voraussetzungen Germanistik und Französisch studiert und amerikani­sches Englisch absolut fließend seien hervorragend. Da es sich aber um eine Journalistenausbildung handle, sei das Verfassen von Texten schon während des Auswahlverfahrens ein wesentliches Kriterium. Ich hatte zwar in der Schule immer die besten Aufsätze geschrieben, unter anderem auch des­halb Germa­nist studiert, aber anschließend hatte ich mich um nichts mehr in der Richtung gekümmert, war gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich für mich etwas schreiben könnte. Wenn ich vielleicht Tagebuch geführt hätte, aber mir gefiel es besser, die von anderen zu lesen. Ein Referat, das mal ein wenig umgemodelt auf Veranlas­sung eines Professors in einer Fachzeitschrift erschien war, blieb das einzige. Sonst hatte es nichts gegeben, das mich als Écrivain ei­ner kleineren oder größeren Öffentlichkeit hätte zuführen können. Ich müsste mich intensiv mit Medien und Journalistenschreibe beschäftigen. Gab's bei uns ja auch einiges, hatte ich mich bislang nur nie drum gekümmert. Frau Gut­mann, so hieß die Redakteurin, war so freundlich, mir Nachhilfeunterricht ertei­len zu wollen. Geld wollte sie keines dafür. Sie mache es für ihre Freundin und weil sie meine Motivation gut verstehen könne und mich dabei unterstützen wolle. Eine mir völlig fremde Frau, vielleicht lag es ja doch daran, dass ich rei­fer geworden war, und zu einer Verständigung mit Frauen, die wesentlich älter waren als ich, jetzt leichteren Zugang hatte.


Bis über beide Ohren waren André und ich beschäftigt. Meine Mutter hatte mit vierundzwanzig ja schon mich zur Welt gebracht. Hatte sie sehr gut gemacht, fand ich, trotzdem erzeugte es in mir kein Bild, das einem Vorbildcharakter hätte ähneln können. Ich mochte schon Kinder, würde sie auch gern beim Auf­wachsen begleiten, das konnte ich als prinzipielle Grundsatzfeststellung ver­künden, praktisch lag so etwas aber außerhalb meines temporär überschauba­ren Horizontes. Uns beschäftigten gegenwärtig andere Fragen. Schwanger­schaft und Babys und Kinder kamen darin nicht vor und hatten dort auch kei­nen Platz.


Psycho Close-up


Bei Anne schien es uns am einfachsten. Ob sie das alles denn ihr ganzes Leben lang mit sich herum tragen wolle, fragte ich. Wenn ich wüsste, dass ich jeman­dem in einer Kleinigkeit Unrecht getan hätte, würde es mich schon beschäfti­gen, und ich fühlte mich nicht eher mit mir selbst im Reinen, bis ich es richtig gestellt oder mich entschuldigt hätte. „Und das ist bei Kinkerlitzchen schon so. Ich kann es nicht verstehen, wie ihr so etwas verkraften wollt, wie ihr damit le­ben könnt, und es waren ja wohl keine Kinkerlitzchen, die ihr euch gegensei­tig bewusst zu unrecht an den Kopf geworfen habt.“ erklärte ich meine Sicht. „Was soll ich denn machen? Soll ich überlegen was mir einfällt und dann zu Nick ge­hen und sagen: „Entschuldige dafür, und dafür, und dafür?“ Erstens ist es da­durch nicht wieder aus der Welt, und darüber hinaus wusste ich ja immer, dass es Unrecht war, nur das hat mich doch nicht interessiert. Ich wollte ihm ja zu Unrecht weh tun. Ihm zu sagen : „Entschuldigung, es war nicht richtig, was ich gesagt habe“, wäre doch albern. Ich müsste mich dafür entschuldigen, dass ein so böser, blinder, wütender Mensch aus mir werden konnte, wobei wir uns ja kräftig gegenseitig gepuscht haben. Kann man sich dafür denn überhaupt entschuldigen. Soll ich sagen, glaub mir, dass ich lieber ein anderer Mensch ge­wesen wäre. Das weiß auch jeder so. Für mich ist es ein dunkles Kapitel, ein schwarzer Balken, der keine andere Farbe mehr annehmen wird. Es ist schade und wird immer beim Anblick des Bildes, das ich von mir habe schmerzen, aber ich bin sicher nicht die einzige, die sich zu etwas hat hinreißen lassen, ohne zu erkennen, welchen Schaden sie ihrem eigenen Leben damit zufügt.“ erklärte Anne ihre Sicht. Ausweglos, keine Änderung möglich, man kann es nur als schweren Stein an seiner Seele mit sich herumschleppen, so sah es Anne. „Ich sehe es überhaupt nicht so.“ erwiderte ich, „Anne, du stellst es dar, als ob tau­send böse Teufel dich befallen hätten, und du ihren Handlungsempfehlungen gefolgt wärest. Weißt du, es ist etwas ganz Stinknormales, was ihr damals ab­gezogen habt. In deiner eigenen Betroffenheit siehst du es mit Sicherheit nicht so, aber es passiert täglich tausendmal auf der Welt, dass Paare sich gegensei­tig ihre Liebe kaputt machen und eigenmächtig ihr Glück zerstören. Meistens ist dort, wo die Liebe am größten war, hinterher auch der Hass am stärksten. Natürlich ist es trotzdem nicht schön, auch wenn's nicht ungewöhnlich ist. Alle Psychotherapeuten können dir genau erklären, wie sich so etwas entwickelt, und was sich da bei dir abspielt. Auch daran ist, wie bei der Liebe, dein Be­wusstsein nur sehr schwach beteiligt. Mit der Ratio ist da nicht viel zu regeln. Das läuft in dir ab. Aufhalten kannst du es vielleicht noch mit einer Therapie. Ein böser Mensch bist du nie gewesen, auch wenn du Dinge getan hast, die du aus deiner heutigen Sicht rational für dich als unmöglich bezeichnen würdest. Es gibt keinen Grund für einen schwarzen Balken, ein böser Mensch, der Anne heißt, hat nie existiert. Du kannst sagen, da habe ich einen Fehler gemacht, für den ich teuer bezahlt habe, aber damit kannst du leben, mit einem schwarzen Balken nicht.“ Anne kam zu mir zur Couch, setzte sich neben mich und um­armte mich lange drückend. Sie schaute mich mit strahlenden Augen an und erklärte erleichtert wirkend: „Ich muss das alles erst mal verdauen. Meinst du, es wäre besser für mich, wenn ich mal damit zu einem Therapeuten ginge?“ „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur das du damit klar kommen musst, und die Er­klärung mit dem schwarzen Balken das Gegenteil davon ist. Du musst dahin kommen, es so zu empfinden, dass du dir nichts vorzuwerfen hast. Einen Feh­ler hast du gemacht, o. k., aber lebenslange Vorwürfe, Anne, das ist neben der Spur. Damit kann keiner leben.“ reagierte ich darauf. Als wir uns verabschiede­ten drückte Anne mich intensiv, grinste mich schelmisch an, gab mir einen Stups auf die Nase und meinte feixend: „Ich hätte gar nicht gedacht, dass ich so ein schlaues Töchterchen bekommen könnte.“


Nick erklärte ich sinngemäß, dass ich davon nichts hören wolle, weil ich es vor­aussichtlich nicht ertragen könne. Wie er, der das ja alles selber erlebt habe, es ertragen könne, ständig damit zu leben, sei mir ein Rätsel. Einfach vergessen werde er es ja wohl nicht. „Es ist ja da, ist ja geschehen, intensiv geschehen. Vergessen werde ich davon nie etwas. Es ist ja schon schlimm genug, wenn ich nur daran denken muss. Wie soll denn Darüber-reden etwas bringen. Es wird alles nur neu aufwühlen und verschlimmern. Ich bin einfach gezwungen damit zu leben. Eine andere Wahl habe ich nicht. Ich kann nur davon träumen, wie schön es wäre, sie zu haben.“ stellte Nick seine Sicht dar. „Du sprichst wie je­mand, der einen anderen umgebracht hat. Er kann noch so viel bereuen und alles für völlig falsch halten, der Ermordete bleibt tot. Aber selbst so einem Menschen kann geholfen werden. Wo ist denn deine Leiche? Ist es die, dass du Anne auf's Schlimmste beleidigt hast? Du hättest es nie gewollt und hast es doch getan. Ist da etwas gestorben, was nicht wieder lebendig zu machen ist? Wenn du merkst, das dich jemand absichtlich desavouieren und beleidigen will, und das noch eigentlich deine Allerliebste ist, bestimmen Enttäuschung, Zorn und Wut, was du zu tun hast. Deine Liebste hat deinen Bauch getroffen und der hat reagiert, nicht deine höheren korticalen Zentren. Heute schleppst du das aber alles vor die Schranken deines Bewusstseinsgerichtes und lässt es da aburteilen, obwohl ihm dafür jegliche Zuständigkeit fehlt. Natürlich müsstest du dich schämen, wenn du jetzt so etwas bewusst planen und machen wür­dest, aber hast du jemals gehört, dass Paare ihre Streitigkeiten nach bewuss­ten rationalen Überlegungen durchführen. Wie läuft es denn ab, wenn die Liebe zerbricht? Immer ganz anders als bei euch. Leider nicht, sonder meistens so ähnlich oder genauso. Ihr habt in dem Rahmen reagiert, in dem man dabei eben emotional reagiert. Sag, dass eure Entwicklung blöd und schade war, aber sag nicht, dass du bewusst etwas falsch gemacht hättest, für das du dich heute schämen müsstest. Bewusst hättet ihr das gar nicht bringen können, was ihr euch geleistet habt.“ erklärte ich Nick meine Einstellung dazu. Er lä­chelte mich milde mit leicht strahlenden Augen an, wie der Paps, der seine Mi­riam ganz lieb hat. Ich mochte das sehr. „Miriam, das hörte sich für mich ein wenig an wie eine Absolution. Ich würde dir zustimmen, es hat mich über­zeugt, was du gesagt hast, nur empfinden kann ich es so nicht.“ meinte Nick dazu. „Na, du hast ja deine Sünden gar nicht gebeichtet, nicht deine Schuldig­keit bekannt, nicht um Vergebung gebeten, und Buße hast du auch noch nicht getan. Wie soll man denn da eine Absolution erteilen? Deine Tochter hat in ih­rer ganzen Heiligkeit erkannt, dass gar keine Schuld vorliegt, sondern nur eine absolute Dämlichkeit. Nick auch wenn du's jetzt noch nicht so empfinden kannst, das ist doch verständlich, aber du weißt, dass eine andere Sichtweise, mit der du leben kannst, möglich ist und dass es nicht mehr ein unerfüllbarer Wunschtraum bleibt. Du musst dich kümmern, dass es dazu kommt. Eine Per­spektive hast du aber doch schon wenigstens.“ erläuterte ich zum Absolutions­empfinden. Nick war äußert gut gelaunt und wir sollten unbedingt noch auf einen Kaffee bleiben, was üblicherweise nicht geschah. Auch Nick umarmte mich zum Abschied innig und strich mir lächelnd mit der Hand über die Wange.


Den ganzen Sonntagnachmittag verbrachten wir damit, weiter über die Ge­spräche mit Anne und Nick zu diskutieren. 'A little bit proud' waren wir schon, dass es uns gelungen war, beide zu der Einsicht zu bewegen, dass sie die Käfi­ge ihrer Selbstvorwürfe öffnen könnten. Wie sie dies tun und sich in der neuen Freiheit bewegen würden, konnte man nicht abschätzen. Am unverständlichs­ten blieb mir jedoch, wieso ich plötzlich nach zehn Jahren so brennendes Inter­esse entwickelte, die Residuen des Ehekonfliktes meiner Eltern, die beide noch massiv in ihrer Psyche mitschleppten, einer Lösung zuzuführen. Ausgangs­punkt war die Angst gewesen, dass sich zwischen André und mir ähnliche Kon­flikte wie bei meinen Eltern entwickeln könnten. Daran dachte ich jetzt gar nicht mehr. Wie sollte es in der Liebe zwischen zwei so erfahrenen Ehethera­peuten wie uns denn zu einer Krisenentwicklung kommen können?


Fontana


Ich verfasste fleißig Reportagen und Berichte. Frau Gutmann fand meinen Stil sehr angenehm und interessant, aber für News und Informationen sei er zu li­terarisch, poetisch. Das wüssten Leser und Hörer gar nicht zu schätzen. Wenn ich mal Essays verfassen dürfte, sei das schon angebracht. Ich musste mich noch viel stärker auf journalistische Gedankengänge einlassen. Aber war das denn die Sprache, die ich liebte? Sollte das deutsche Hochsprache sein? Nein, eindeutig nicht. Nur war es die mediale Ebene, auf der Kommunikation funktio­nieren konnte. Mit medienwissenschaftlichen Gesichtspunkten sollte ich mich vielleicht auch ein wenig mehr beschäftigen, damit ich Journalistische Schreibe sinnvoll einordnen konnte und sie nicht mit der Sprache in der Literatur ver­glich. Aber es gab ja mehrere berühmte, sprachlich wundervolle Schriftsteller, die Journalisten gewesen waren. Selbst Fontane hatte nicht nur mal einen Arti­kel veröffentlicht, sonder vollständig bei Zeitungen gearbeitet. Also musste Journalismus doch nicht zwangsläufig mit Schmalspur Deutsch verbunden sein. Die Fontana unserer Tage wollte ich werden, nur Fontane hatte in meinem Alter schon mehrere Romane und Gedichte verfasst, und das als Apotheker. Ich hat­te bislang noch nichts zu Wege gebracht. Gedichte wollte ich vorerst mal nicht schreiben, aber das ich meine literarische Kreativität hatte verkümmern lassen, und ich das keinesfalls weiter so dahin schludern lassen wollte, stand absolut fest.


Springtime


Unsere Eltern schienen im Frühling gleichzeitig mit den Knospen in der Natur fast ruckartig aufzublühen. Nur die Zuversicht in das Wissen, dass ein anderer Umgang mit ihren Erfahrungen möglich sei, und sich ein Weg zur Lösung ihrer Probleme aufzeigen ließ, vermittelte ihnen einen Schub an Lebensfreude und schien die leicht tristen Schleier, die ihr Empfinden umhüllt hatten, von ihren Emotionen aber auch von ihrem Antlitz zu nehmen. Anne war nicht zum Thera­peuten gegangen, aber sie berichtete immer angeregt und erstaunt über neue Erkenntnisse und Entwicklungen. „So dumm und stupid, wie konnte ich das nur sein. Ich kann es heute nicht verstehen. Ich hatte es ja mitbekommen, wie al­les abgelaufen war, konnte es ja erklären, ich wusste also Bescheid. Wozu soll­te ich mich da irgendwo informieren. So naiv und dämlich habe ich es wohl ge­sehen, keine Zeile habe ich mich dazu informiert. Psychologie, Psychotherapie, das fällt mir gar nicht ein. Mir einer intellektuell gebildeten Frau. Das ist etwas für Kranke, Schizophrene, Depressive, so in der Richtung habe ich wohl emp­funden. Kann man wirklich so tumb seien. Ich leide, aber komme überhaupt nicht darauf, mir erklären zu wollen, was meine Seele quält. Ich weiß es ja, weiß immer alles in meiner naiven Erklärungsweise. Jetzt, nach zehn Jahren fange ich endlich an, ein wenig mehr zu verstehen. Aber das Tollste ist, ich kann über alles einfach so reden, einfach so, war von selbst da. Mit meiner Freundin, die geschieden ist unterhalte ich mich darüber, als ob's um 'nen le­ckeren Wein ginge. Ich weiß nicht, was sich da noch alles in meiner Psyche verbirgt, aber ich habe ein sehr starkes Empfinden, befreit zu sein, befreit von einer Klammer, die meine Seele eingequetscht hatte.“ stellte Anne ihre neu empfundene Verfasstheit dar. Nick äußerte sich nicht in so emphatischen Erklä­rungen und Darstellungen. Er brachte es stärker durch seine stets sehr geho­bene, locker, lustige Stimmung zum Ausdruck. „Ich war mal bei einem Thera­peuten. Der meinte, ich hätte einen guten Weg gefunden, und mein emotiona­les Betroffenheitsempfinden würde sich gewiss bald ändern. Er wisse nicht, was es im Moment zu therapieren gäbe. Wenn sich etwas nicht so entwickle, und ich Leidensdruck verspüre, solle ich mich doch wieder melden. Als geheilt entlassen. Vom Therapeuten. Was will ich denn mehr?“ erklärte Nick und lach­te.


Keine One-Man-Show


Anne erklärte mal bei einem Spaziergang am Samstagnachmittag: „Ich habe ein wenig ein sonderbare Empfinden, wenn mir bewusst wird, dass ich es für mich geklärt habe und damit leben kann. Ich kann mein unmögliches Verhalten erklären und verstehen und es ist o. k. so, nur war es ja nicht eine Show, die ich für mich allein abgezogen habe. Sie ist ja in der Kommunikation zwischen Nick und mir entstanden. Auch wenn ich es so empfinde, dass ich es für mich geklärt habe, bleibt da ein Gefühl, als ob etwas fehlte. Ich habe schon mal dar­an gedacht, eventuell mit Nick zu reden, aber ich bin mir völlig unsicher, wie so etwas laufen könnte, und was es bringen würde. Ihr seid doch jeden Sonntag bei ihm, was meint ihr denn dazu?“ „Oh Anne, das ist eine schwere Frage, die ich ohne hellseherische Fähigkeiten gar nicht beantworten kann.“ meinte ich dazu, versuchte aber doch etwas dazu zu sagen, „Wie ihr euch gegenseitig wahrnehmen werdet, wenn ihr euch trefft, wenn ihr miteinander redet. Wie ihr das verstehen werdet, was ihr daraus hören wollt, was der andere sagt, da kann ich doch nichts zu sagen. Obwohl es sicher entscheidenden Einfuss auf ein mögliches Gespräch haben wird. Ich kann nur zu Nick sagen, dass er mitt­lerweile sehr offen mit allem umgehen und darüber reden kann. Da unterschei­det ihr beide euch nicht viel. Wenn du meinst, dass du gern mit Nick über eini­ges reden würdest, kann ich dir aus meiner Sicht nur raten, es zu versuchen. Eine Basis dafür müsste eigentlich vorhanden sein.“ Wir sollten Nick am Sonn­tag Annes Bedürfnis vermitteln und ihn fragen, ob er dazu bereit wäre.


Nick schien völlig verwirrt zu sein, als wir es ihm erklärten und ihn fragten. „Anne? Mit mir sprechen? Sie will mit mir sprechen?“ brachte er erstaunt her­vor, „Wie kommt sie denn darauf?“ Nick sagte etwas, das klang aber, als ob er vor Konfusion im Grunde gar nicht wusste, was er sagen sollte. Ich erklärte al­les noch mal. Dass sie der An­sicht sei, jeder könne für sich allein nicht alles geklärt bekommen, dass es eben auch Fragen gebe, die sie gemeinsam beant­worten müssten. Sie sei sich auch sehr unsicher, was daraus würde, wolle aber so mutig sein, es zu versu­chen. Die Gedankenmischmaschine in Nicks Kopf war zum Stillstand gekom­men. Er konnte jetzt wieder in Zusammenhängen denken und reden. „Ja, eine gute Idee, selbstverständlich.“ sagte er nur knapp und prägnant. Dann scherz­te er schon wieder: „Ob ich wohl ein wenig nervös sein werde, bestimmt. Wie sollen wir das denn organisieren? Wollt ihr das machen, oder soll ich mit Anne telefonieren?“ Die beiden sollten es selber untereinander abstimmen und woll­ten sich am Sonntagnachmittag zu einem Spaziergang treffen.


Freu dich, Miriam


Wir wussten ja nicht im Entferntesten, wie es ablaufen und was sich daraus er­geben würde. Es könnte sich ja auch ganz mies entwickeln, aber das ließ die Grundstimmung der beiden wohl nicht vermuten. Jedenfalls schien meine hor­monale Glücksproduktion außer Rand und Band geraten zu sein. Nach zehn Jahren tiefster Feindschaft redeten meine Mama und mein Paps wieder mitein­ander. Tanzen, singen, springen, André umarmen und ihn abknutschen, da war so viel Glück, dass ich es ohne körperliches Ausagieren in meinem Kopf allein gar nicht bändigen konnte. Ich sang immer den blöden, uralten Schlager „Sha­me And Scandal In The Family“ und freute mich dabei, wie ein Kind. Was war nur in mich gefahren? Wenn ich für eine Volontariatsstelle beim WDR genom­men worden wäre, hätte ich überschäumende Freude verstehen können, aber dar­über, das meine Eltern mal klärend miteinander sprechen wollten, was war das denn? Vor allem was sollte es überhaupt für mich schon bedeuten? Ich musste schon einen netten Schaden haben, ziemliche Macken in der Psyche, die mit der Tren­nung meiner Eltern zu tun hatten. Ja, aber es war ja auch so, blieb auch so und war durch nichts zu ändern, dass dies meine Goldenen Jahre waren, als die beiden sich liebten. Ich kann mich nicht in meiner Kindheit iso­liert sehen. Es war im­mer dieses Trio, von dem ich ein Teil war. Vielleicht hat es ein wenig Ähnlichkeit mit der Beziehung zu meinem alten Teddy, den ich nie­mals wegwerfen kann. Er war das liebend schmusende Einschlafen, mein bes­ter und treuester Freund abends im Bett. Das war mein Erleben, mein Empfin­den, meine Geschichte. Die will ich behalten, nicht verlieren und nicht verges­sen. Selbst bei einem Buch, mit dem du nur kurze Zeit kommuniziert hast, dessen Text deine Gedanken angeregt und beeinflusst hat, ist zwischen ihm und dir ein Verhältnis entstanden, dass du es nicht nach dem Lesen einfach wie bedrucktes Papier siehst und wegwerfen kannst. Das Buch meiner Kindheit wird immer mein wertvollstes bleiben. Ich brauche es nicht mehr, weil ich jetzt in einem neuen, eigenständigen Buch für mein erwachsenes Leben schreibe? Das kann mein Verständnis nicht sein. Freu dich Miriam, wenn die Liebsten dei­ner Kin­dertage wieder miteinander reden.


Geheimbundtreffen


Verstockt waren sie. Aus keinem von beiden war ein einziges Wort über ihr Treffen heraus zu bekommen. Ganz in Ordnung sei es gewesen. Sie hätten aber noch nicht alles klären können und wollten sich am nächsten Sonntag weiter unterhalten. Mehr Informationen gab es nicht. Auch am darauffolgenden Sonntag schien wieder ein Geheimtreffen stattgefunden zu haben, bei dem es auch jetzt noch nicht zu einer endgültigen Klärung gekommen war. Allem An­schein nach mussten sich die Dinge wohl mehr und mehr verwirren statt zu entflechten, denn regelmäßig waren sonntags weitere Klärungsgespräche er­forderlich. „Miriam, das ist aber nun wirklich unsere Angelegenheit, was wir miteinander besprechen. Schließlich haben wir fünfzehn Jahre zusammen ge­lebt, und da wird es doch wohl einiges zu bereden geben. Und da es mit Nick gut geht, gefällt es mir auch.“ war Annes zurechtweisende Reaktion auf meine Bitte, doch mal endlich wissen zu wollen, was sich denn da zwischen ihnen ab­spiele. Nick war genauso schweigsam, formulierte es zwar ein wenig lustiger aber stellte eindeutig klar, dass es sich um eine Angelegenheit von Anne und ihm handele. Wir fragten Nick jetzt immer, ob er es wünsche, dass wir zu ihm kämen. Zum Mittagessen, das funktionierte sowieso nicht mehr. Da war das anschließende Treffen mit Anne in seinem Kopf präsenter als wir, die gegen­wärtig am Tisch live um ihn saßen. Auch für Anne hatten die sonntäglichen Treffen höchste Priorität. Unsere regelmäßigen Besuche am Samstagnachmit­tag erfolgten zwar noch länger als bei Nick, aber es kam uns schon so vor, dass sie uns nicht mehr unbedingt brauchte wie bisher, zumindest nicht so dringlich. Sie würde uns anrufen, wenn sie Lust auf ein Kaffeekränzchen mit uns hätte.


Sonderbare Dinge taten sich da. Diese beiden Typen, die meine Eltern sind, treffen sich jeden Sonntag und verraten kein Sterbenswörtchen darüber, was sie da mit einander tun. Nick war sonntags ganz aufgeregt, etwas Besonderes bedeuten muss es ihm auf jeden Fall. Üblicher weise hätte man längst mitein­ander im Bett gelegen, wenn man so oft zusammen spazieren gegangen wäre. Was tun sie denn da, dass es für sie so interessant macht, die Klärung alter Probleme allein kann es doch wohl nicht sein, aber die beiden sollten anfangen sich wieder ineinander zu verlieben? Das war auch absolut unvorstellbar für mich. Ratlos waren wir. Nur rätseln und wilde Mutmaßungen anstellen konnten wir. Im Grunde waren sie unmöglich. Uns, ohne die dies niemals zustande ge­kommen wäre, brauchten sie nicht mehr. Hielten es noch nicht mal für nötig uns irgendetwas zu verraten.


Annes große Streiche


Ich war am Sonntagabend bei Anne, weil ich ihr etwas gebracht hatte. Mit lausbubenhaften Grinsen, als ob sie gerade einen großen Streich ausgeheckt habe, erklärte Anne: „Nick war schon am Samstagabend hier. Wir haben zu­sammen gekocht.“ „Und hat's Spaß gemacht?“ fragte ich nach. Anne zog nur eine zufrieden grinsende Schnute und nickte Zustimmung. „Magst du Nick ei­gentlich?“ fragte ich weiter. Jetzt begleitete ein: „Mhm“ das zustimmende Ni­cken. „Sehr, Anne?“ erkundigte ich mich noch genauer. Sehr langsam bewegte sie jetzt den Kopf auf und ab und holte dabei einen tiefen Luftzug durch die Nase. Wie ein Teeny-Mädchen, das seine eigentlich verbotene Liebe versonnen träumend gesteht. Anne schien auch zu träumen. Unbelievable! Mama hatte sich wieder in Paps verliebt. Ich war nicht Herrin meiner Sinne. Ich umarmte Anne und fuhr schnell nach Hause. Dort wollte ich mich aufs Bett legen und al­les ganz ruhig zu checken versuchen. Natürlich konnte ich unterwegs nicht meine Gedanken und Assoziationen so lange abschalten. Ruhig checken war nicht mehr. „André, André, André!“ stürmte ich die Wohnung. „Ich seh' die Bil­der von damals noch live. Wenn jemand gesagt hätte, die haben sich gegensei­tig abgestochen, das hätte ich geglaubt, aber sich wieder verlieben, wie kann das denn gehen? André, warum hast du nicht Psychologie studiert, dann könn­test du's mir jetzt vielleicht erklären.“ Ich konnte ihm gar nicht viel erzählen. Es war ja so simpel gewesen. Anne hatte nur ein paar Mal zustimmend genickt. Aber warum sprachen sie denn sonst nicht darüber? Wusste Nick vielleicht gar nicht, dass Anne ihn sehr gut leiden mochte, sprach man untereinander nicht darüber, weil das vielleicht nicht sein sollte, sondern lebte es nur? Zwei Monate später am ersten Adventssonntag, hatte man es zumindest wohl nicht mehr voreinander verheimlichen können, das man sich gegenseitig liebe. Mit dem gleichen spitzbübischen Gesicht wie damals erklärte Anne jetzt: „Nick hat bei mir geschlafen, in meinem Bett. Wir haben uns geliebt.“ Als ob sie ganz keck und mutig gewesen wäre, so schaute sie drein, aber ich denke Anne war eher ein wenig stolz, stolz auf sich, darauf wie sich alles entwickelt hatte, was aus dem Gespräch mit Klärungsbedarf geworden war. Vielleicht war sie auch ein wenig verzaubert, weil sie einen Wunsch erfüllt bekommen hatte, den sie sich nie gewünscht hatte, weil sie ihn gar nicht denken konnte.


Weihnachten für die neue alte Liebe


Nick und Anne verbrachten jetzt das ganze Wochenende bei Anne. Weihnach­ten sollten wir unbedingt alle zusammen bei Anne feiern. Besonders Nick war daran gelegen. Er betonte immer, dass sie alles nur uns zu verdanken hätten, und er dafür sorgen würde, dass wir später mal im Himmel einen Platz unter den Erzengeln dafür bekämen. Anne gestand mir aber auch zu, dass es wahr­scheinlich im nächsten Jahr angebrachter sei, und sie es in diesem Jahr mit Nick allein besser fände. Nick und Anne konnte man vorerst nur an den Aben­den in der Woche besuchen. Es würde nicht mehr lange dauern, so sah ich es, bis sie auf die Idee kämen, dass man ja sogar innerhalb der Woche zusammen sein könne, wenn man eine gemeinsame Wohnung habe. Wir sahen keine Not­wendigkeit, ihnen bei der Entwicklung dieser Gedankengänge behilflich zu sein. Allerdings mussten wir sie dadurch auch immer einzeln in ihren getrennten Do­mizilen aufsuchen.


Mein Bild


Am Spätnachmittag eines Freitags im Januar, als ich Anne besuchte, begann die Sonne schon wieder ihren Platz am Horizont zu verlassen. Heute war es kalt und klar, und eine Wolke, die von der Sonne zum Abschied hätte ange­strahlt werden können, war am Himmel nicht zu sehen. Da ließ sie einfach die ganze, vielleicht mit Eiskristallen durchsetzte Atmosphäre der westlichen Hemi­sphäre des Horizonts in einem leichten fast rosafarbenem Rot erglimmen. Das war nicht die brennende Gluthitze, die zum Backen erforderlich gewesen wäre. Bei dieser zart erscheinenden Decke in hellen Pastelltönen musste im Himmel etwas anderes geschehen. Für eine sanfte, neue alte Liebe gab sie schon eher das einfühlsam ummantelnde Szenario.

Bevor ich Anne verließ und nach Hause fuhr, kam Nick schon herein. Freudig begrüßten wir uns, und Nick hatte ein paar launige Bemerkungen für mich. Dann ging er zu Anne. Mit freudig lächelndem Gesicht kamen sie sich entge­gen. Sie schlangen ihre Arme umeinander, küssten sich, schauten sich an und strahlten. Ich sah es, schaute dem zu, erkannte dieses Bild und und musste schlucken. Meine Lippen hatte ich zusammen gepresst, aber trotzdem wurde die sich in meinen Augen ansammelnde Flüssigkeitsmenge zu groß und rann langsam über meine Wangen nach unten. Mit breitem freudestrahlendem Mund weinte ich. Weinte vor Glück. Zum ersten Mal in meinem ganzen Leben. Es musste schon eine Freude sein, die aus ganz tiefen Regionen der Psyche kam, die man als das Herz bezeichnete, und wo die größte Liebe und das stärkste Emp­finden für andere zu Hause waren. Eine ergreifende Freude, Freude über das Glück meiner Eltern, das auch das meine war, jetzt und schon vor ganz langer Zeit.



FIN


Nun geh ich stumm an dem vorbei,
Wo wir einst glücklich waren,
Und träume vor mich hin: es sei
Alles wie vor zehn Jahren.


Joachim Ringelnatz


„Du weißt überhaupt nicht, was Liebe ist.“hatte mein Vater meiner Mutter vorgeworfen. „Realitätsferne Romantizismen sind das alles, was du über unsere Beziehung fantasierst.“ argumentierte meine Mutter vorwurfsvoll gegenüber meinem Vater. Die Sätze waren Miriam aus dem Streit ihrer Eltern vor der Trennung in Erinnerung geblieben. Mei­ne Mutter ohne Liebe und mein Vater ein tagträumerischer Spinner? „Mit André hast du doch absolutes Glück gehabt. Der ist ja so romantisch.“ meinte meine Freundin Julie. Bei mir entwickelten sich aber keine Glücksgefühle, sondern ich bekam Panik. Wie Miriam mit ihrer Panik umging, und ob ihr André auch zu romantisch wurde, verrät die Geschichte.




Miriam Angst vor Romantik – Seite 29 von 29

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Tag der Veröffentlichung: 11.04.2013

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