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Intoduction und Inhalt

 

 

Elvi Mad

 

Lee Aang Crazy China Studentin Girl

 

Deutsch geht nix. I tried it.

 

 

 

Liebe ist die Kraft, die allen Wesen Leben schafft.

Cinesisches Sprichwort

 „Liebe, Liebe, ist ein Scheißwort.“ erklärte Lee Aang, „Was sagt es aus über die Beziehung, die zwischen uns besteht?“ „Du meinst also, wir haben eine sehr tiefe gemeinsame Beziehung, dürfen aber nicht Liebe dazu sagen? Also mon amoure, oder meine Liebste wäre völlig falsch? Nur sich gegenseitig in die Augen schauen?“ erkundigte ich mich. Eine Antwort gab's nicht. Stattdessen wurde ich auf's Bett geworfen. Durch die Austauschstudentin Lee Aang Wang erhofften wir uns ein wenig Belebung für die Situation in unserer Familie. Welche furiose Entwicklung es nahm, konnte niemand ahnen. Über's Älterwerden und die damit vielleicht einhergehende Zunahme von Ruhe und Stille im Haus, machte mein Vater sich keine Gedanken. Nur Mutter dachte ernst­haft daran und war überhaupt nicht zufrieden. Sie war es aber nicht direkt, die das neue Leben initiiert hatte. Den Anstoß hatte sicher Lee Aang gegeben. Den guten Menschen hatte sie in jedem von uns erkannt, und bewirkt, dass wir uns an­ders, aufgeschlossener, lebendiger verhielten. Gesagt hatte sie es nicht, aber das spürt man ja, wenn der andere dich für einen guten Menschen hält. Mutter hatte schon Recht, ein neues Zeitalter hatte begonnen, in dem uns neues Le­ben gewachsen war. Lee Aang hatte es nicht hereingetragen, das neue Leben liegt in dir selbst, du oder ein anderer muss es nur entdecken, und es mit ei­nem Funken zum Wachsen und Aufblühen bringen. Das geht überall und jeder­zeit. Das Alter spielt dabei keine Rolle.

 

 

 

Lee Aang - China Girl - Inhalt

Lee Aang – China Girl 4

Stilles Haus 4

Gittas Zimmer 5

Frau Lee Aang Wang 6

Bruder und Schwester 8

So sprichst du nicht 9

Deutsch lernen 9

Brother-Sister-Time 10

Lyrik-Time 11

Weihevolle Momente 12

Berührungen 12

Ohne Hosen 14

Übersetzer 16

Pekingente 18

Einen guten Menschen erkennen 19

Couple-Time 20

Brief aus Nanjing 21

Die Gangster 21

Wieder zu Haus 23

Deutsche Sängerin 23

Vater Wangs Rat 24

Das Hochzeitskleid 25

Deutsche Sängerin 26

Die Heirat 27

Die Hochzeitsente 28

Hochzeitsfeier 29

Das Bistro „L'insensé“ 30

Bis Wangs Abschied 31

Deutsch Frau oder China Mädchen 33

Musikalisches Urerlebnis im Urlaub mit guten Freunden 34

Abendländische Kultur 36

Gemeinsamer Abend 37

Verzweifelt 38

Größter Coup ihres Lebens 39

Europatrip 40

Gedanken über die Zukunft 40

Eine chinesische Kunoichi Kämpferin 41

Mutter mit vier Augen 42

Blind für das eigentliche Wunder 43

Bea gehört auch zu uns 43

Louisas Klangwelten 44

Neu erwachtes Leben 44

 

 

Lee Aang – China Girl

Lee Aang ist eine chinesische Austauschstudentin, aber normal verläuft bei ihr nichts.

Stilles Haus

 

„Es ist richtig still und öde geworden, seitdem du nicht mehr hier lebst.“ be­klagte sich meine Mutter. „Ach! Und wo lebe ich? Mama, was redest du? Dabei bin ich extra deinetwegen hier wohnen geblieben.“ reagierte ich erstaunt. „Wie bitte?“ meine Mutter noch erstaunter. Oh je, was war mir da rausgerutscht. „Nein, nein, nein, alles ganz falsch. Ich hatte mir allerdings schon Gedanken gemacht, ob ich nach dem Abi hier wohnen bleiben sollte, wegen der Selbstän­digkeit und Eigenverantwortlichkeit. Wann willst du damit anfangen, wenn nicht jetzt? Wenn du bis zum Altersheim zu Hause wohnen bleibst, ist es zu spät. Dann habe ich mir die Freuden der Selbstständigkeit vorzustellen ver­sucht. Mir hätte ja nicht nur dein leckeres Essen gefehlt, das wäre geschenkt gewesen, aber wenn ich dich und Papa sehen will, muss ich als Besuch zu euch kommen. So etwas absurd Lächerliches. Was ist denn die sogenannte Selb­ständigkeit? Kaufst du etwa für mich ein, weil ich es selber nicht könnte? Kochst du für mich, weil ich sonst verhungern würde? Es mag ja viele Men­schen geben, die andere lieber von sich abhängig als selbstständig sehen, aber das ist doch eine Frage der menschlichen Beziehung und nicht des getrennten Wohnens. Eine mit unnützen Qualen verbundene Chimäre also, die eigene Wohnung. Abhängig von euch bin ich nämlich schon, von unserer Beziehung untereinander, und da hätte es auf jeden Fall eine wie auch immer geartete Trennung bedeutet mit Verlusten, die schmerzen und traurig machen. Da habe ich in der Tat an dich gedacht, Mama, dass es mir zusätzlichen Schmerz berei­ten würde, dich traurig zu wissen.“ erläuterte ich meine Position und bekam dafür eine dicke Umarmung mit Kuss. „Natürlich bist du hier. Das ist doch kei­ne Frage. Ich meine das Leben von damals, als du noch zur Schule gingst. Ständig waren Leute hier zu irgendwelchen Arbeitsgruppen und Aktionskomi­tees, und zum Abendbrot nach Hause gehen, das gab's nicht. Manchmal saßen fünf bis sieben Leute bei uns am Tisch, von denen ich niemanden kannte. Das alles gibt es nicht mehr, jetzt ist alles tot. Du kommst später nach Hause und verkriechst dich zum weiteren Lernen in dein Zimmer. Allenfalls Till schaut mal vorbei. Damals bei Anett hatte sich doch auch nichts geändert.“ so meine Mut­ter. „Das wäre ja auch noch schöner gewesen.“ reagierte ich. Anett war meine Freundin, für ein Jahr, die einzige die ich bislang hatte. Probleme mit Mädchen kannte ich nicht, aber mit einer Freundin sollte einen ja schon Tieferes verbin­den. Anett und mich verband nichts. Wir lebten in verschiedenen Welten. Bei einer Fète hatten wir uns kennengelernt und fanden uns interessant. Anett be­wunderte mein 'ungeheueres Wissen und meine große Bildung' und ich? Mir war ihre quirlige, lebenslustige Art ganz angenehm, vielleicht weil es dem We­sen meiner Mutter nicht unähnlich war, vielleicht auch eine passende Ergän­zung zu mir. Mich konnte man eher als beschaulich und nachdenklich bezeich­nen, exaltierte Wesenszüge waren mir fremd. Anett schleppte mich in die Disco und ins Café Squeeze, wo sich die Möchtegern Alternativ-Bohème die letzten Tropfen so mancher menschlicher Sinnbereiche ausquetschen ließ. Bei einem Spaziergang am See sich von den Inspirationen erfüllen lassen, seinen Assoziationen nachhängen und seinen Gedanken freie Flügel geben, das machte Anett einmal. Wir konnten uns gar nicht verstehen und ich hegte auch keinerlei Bedürfnis, Anett besser verstehen zu wollen, mich mit ihrer hippen Lifestylewelt auseinander zu setzen. Vernünftig unterhalten konnten wir uns nicht. Etwas Gemeinsames, über das wir tiefergehende Gespräche führen konnten, existierte nicht. Trotzdem gab es ein Phänomen, das ich bis heute nicht verstehe. Auf eine gewisse Art und Weise mochten wir uns gut leiden. Wir konnten zusammen lachen, scherzen und Albernheiten machen, als ob es all das andere nicht gäbe. Es muss eine basale Ebene der menschlichen Kommunikation unterhalb aller Sozialisation und erlebten Geschichte geben, die lebenslänglich virulent bleibt. Auf der Ebene dieses sozialen Sandkastens verstanden wir uns gut. Da mochten wir uns, und das bezog sich auch auf die Körperlichkeiten und Liebesspiele. Abends im Bett spielte es keine Rolle, dass Anett shoppen gewesen war, während ich in den neuesten „Blättern für deutsche und internationale Politik“ gelesen hatte, da freuten wir uns, glückliche Kinder der gleichen Spezies zu sein. Deswegen hat unsere Beziehung auch überhaupt so lange bestanden, sonst wäre bestimmt schon nach vierzehn Tagen Schluss gewesen. Mein Vater könnte mir sicherlich eine Lösung für das Rätsel geben, aber ihn brauchte ich nicht zu fragen. Er hätte mir einen Termin in seiner Praxis angeboten. Zu Hause war er nur mein Vater und Mensch an sich.

 

Gittas Zimmer


„Mama das geht einfach nicht mehr. Manche meinen ja, wenn die Schule zu Ende sei, bräche die große Freiheit aus. Du hast die Freiheit zu versagen und niemanden interessiert's. Ich habe mich in der Schule viel freier gefühlt als jetzt. Das ist nicht zu schaffen, Philosophie und Germanistik. Philosophie allein ist ja schon fast nicht zu schaffen, alles unendliches Pauken. Außerdem habe ich die Kontakte ja auch gar nicht mehr. Aber sag mal, bin ich denn der Zere­monienmeister hier? Was ist denn mit deinem Weiberrat, den du schon vor Ewigkeiten gründen wolltest? Dann wäre hier bestimmt auch immer etwas los. Und mit Papa, der müsste mal zu sich selbst in die Therapie. Das ist ja schon fast krankhaft.“ lautete meine Meinung. „Er sagt, er stehe den ganzen Tag un­ter Strom und durch meinen Anblick würde der abgeschaltet.“ meine Mutter dazu. „Und abends im Bett da wird er wieder angeschaltet, auf Schwachstrom oder Gleichstrom?“ erkundigte ich mich. „Hochspannung, mein Junge, Hoch­spannung.“ meine Mutter darauf lachend, und ich bekam einen Boxhieb in die Magengegend. „Ja, aber du hast schon Recht. So gern wie Papa ins Konzert geht, allein käme er nicht raus. Tagsüber sei er eine arbeitende Maschine und zu Hause müsse er das leben, was den Menschen an sich ausmache. Da müs­sen wir aber nochmal drüber reden, was das denn im Einzelnen genau ist.“ meinte Mutter. „Wir könnten ja Gittas Zimmer vermieten. Das steht schon seit vier Jahren leer, und dafür, dass sie zu Weihnachten oder Neujahr mal eine Nacht darin schläft, braucht sie nicht das ganze Jahr über ein Zimmer.“ schlug ich vor. Das Gesicht meiner Mutter zeigte, dass sie darin keine erfreuliche Per­spektive sah. „Ich meine, nicht einfach so an einen Wildfremden vermieten, sondern an einen guten Bekannten. Ich kenne aber selbst niemanden, der in Frage käme. Till wird nicht aus seiner WG ausziehen, um zu uns zu kommen. Kennst du denn niemanden?“ fragte ich. „Doch, meine besten Freundinnen würden bestimmt ihre Männer verlassen, wenn sie bei uns ein Zimmer bekommen könnten.“ scherzte Mutter. „Einen von Papas Patienten, die kennt er doch auf's Tiefste.“ versuchte ich weiter zu scherzen. „Aber Mama, es gibt doch so viele Austauschstudenten aus allen Bereichen, und die brauchen ja nicht nur einen toten Schlafraum, sondern Familienanschluss oder so etwas Ähnliches. Wenn man eben nicht gut miteinander klar kommt, nach einem oder einem halben Jahr ist es vorbei.“ gab ich eine Anregung, die diesmal Mutters Gesicht freundlich, nachdenklich stimmte. Ich musste mich näher erkundigen und sollte berichten.


Einheitliches gab es da nicht. Es war abhängig davon, wer das Stipendium fi­nanzierte. Die meisten EU Studenten hatten ein Auslandssemester, während die Chinesen und Japaner überwiegend für ein Jahr hier blieben. „Oh ja,“ mein­te Mutter, „das müsste dir doch gefallen. Ein Chinese, der abends im Bett vorm Einschlafen in der Mao Bibel liest.“ „Red' nicht so einen Stuss, Mama, aber in­teressant könnte es doch schon sein. Nur die Chinesen sind fast alle Ingenieur­wissenschaftler oder Wirtschaftswissenschaftler, nicht so ganz unsere Interes­sensphären.“ gab ich zu bedenken. „Mir ist es wichtig, dass ich als Frau Ver­stärkung bekomme. Frauen verstehen sich über die Grenzen aller Wissenschaf­ten hinweg. Kann man da keine Wünsche äußern?“ fragte Mutter. Ich wusste es nicht, betrachtete nur das grenzenlose Frauenverständnis mit schmunzelnder Skepsis. Eine chinesische Studentin sollte also für ein Jahr in Brittas Zimmer wohnen und mit uns leben. Britta selbst wurde dazu gar nicht gefragt, auch wenn es ein Leichtes gewesen wäre, sie kurz anzurufen. Auf mögliche Einwän­de von ihr legte aber keiner von uns Wert. Britta war meine vier Jahre ältere Schwester. Ich hatte ein widersprüchliches Verhältnis zu ihr und sie zur ganzen Familie. Mutter hatte sich lange damit gequält. Sie habe sie doch genauso ge­liebt wie mich, erklärte sie immer wieder, und suchte stets nach anderen Grün­den für das ziemlich distanzierte Verhältnis. Ich war zwar auch für Britta der liebe Kleine, spürte aber, dass ich für sie auch der kleine Doofe war. Vielleicht war mein intensives Lesen und mein Bildungshunger eine Reaktion darauf. Brit­ta war nicht die verlorene Tochter, aber sie gehörte eben nicht dazu. Im Grun­de hatte sie das selber auch nie gewollt. Nach dem Abi war sie direkt zum Stu­dieren mit ihrem Freund nach Berlin gezogen, und jetzt machte sie einmal im Jahr so etwas wie einen Pflichtbesuch.


Frau Lee Aang Wang


Es hatte tatsächlich geklappt. Eine chinesische Wirtschaftsstudentin, Frau Lee Aang Wang, sollte für ein Jahr zu uns kommen. Sie wurde zu uns gebracht, weil es mit dem Abholen öfter Probleme gegeben hatte. Der Begleiter erkun­digte sich noch, ob wir die Telefonnummer für eventuelle Fragen und Probleme hätten. Dann wünschte er wohl Frau Wang etwas und verabschiedete sich. Wir waren aus dem Flur in die Küche gegangen. Die lächelnde Frau Wang schaute Mutter an, sagte mit einem fragenden Unterton: „Frau Langenbach.“, verneigte sich, reichte Mutter die Hand und sagte dabei „Guten Tag.“ Das gleiche bei meinem Vater. Dann blickte sie Mutter an und fragte mit einem Hinweis auf mich: „Herr Langenbach?“ „Nein, nein, Peter oder Piet, Piet, einfach Piet, das ist am besten.“ erklärte ich. Frau Wang hatte mich scharf betrachtet, jetzt schmunzelte sie, verneigte sich vor mir, gab mir die Hand und sagte: „Piet, Guten Tag.“. Es hatte keineswegs alberne Züge, aber wir lächelten stark dabei. „Guten Tag, Frau Wang?“ reagierte ich fragend. „No, no, no, no, no.“ wehrte sie ab. „Lee Aang, Guten Tag, Lee Aang.“ sagte sie mir vor. Ich gab ihr noch mal die Hand und begrüßte sie mit „Guten Tag, Lee Aang“. Ob ihr meine Sprachmelodie gefallen hatte, oder sie die gesamte Atmosphäre lustig fand, ihr Gesicht zeigte, dass sie lachte. Meine Mutter fragte sie nach der Reise und ob sie im Studium viel arbeiten müsse. „Mama, Lee Aang versteht dich nicht.“ erklärte ich, weil Lee Aangs Gesicht nur das zu entnehmen war. Meine Mutter wiederholte, sprach ganz langsam und artikuliert. Lee Aangs Gesichtsausdruck blieb der gleiche. „Do You speak English?“ fragte ich. „A little bit.“ Lee Aang darauf. „And German?“ erkundigte ich mich weiter. „Deutsch geht nix. I tried it.“ Lee Aang dazu. Wir schauten uns gegenseitig betreten an. Was war das denn? Mutter wollte sofort anrufen. „Was will sie denn hier? Versteht kein Deutsch, kein Englisch, das ist doch nicht zu fassen.“ Mutter in einer Mischung aus Entsetzen und Fassungslosigkeit. Mutter fragte Lee Aang auf Englisch, wie sie sich das denn vorstelle. „You have to speak Chinese.“ begann Lee Aang auf Englisch und hielt dann einen längeren Vortrag auf Chinesisch. Es war interessant und anregend ihr dabei zuzuschauen. Sie erzählte eine Geschichte, die an manchen Stellen sehr lustig sein musste und sie selber lachen ließ. Ich hatte kein Wort verstanden, aber dass Lee Aang eine lebenslustige, offene Frau war, dass sie ehrlich, vertrauensvoll und feinfühlig war und gern lachte, das alles hatte ich sehr gut verstanden. Dass sie eine anmutige Frau war und kluge Augen hatte, konnte jeder sehen. Lee Aang blickte mich an, als ob sie von mir ein bestätigendes „Genauso ist es.“ erwarte. Ich sagte aber: „I want to kiss You.“ Ein erstaunt, erschrockenes: „Huch!“ war Lee Aangs Reaktion. Die lächelnden Blicke unserer Gesichter trafen sich. „You'll do it really?” fragte Lee Aang. Ich nickte gravitätisch Bestätigung. So ein Quatsch, ich hatte Lee Aang nie küssen wollen. Es war mir nur unüberlegt rausgerutscht, weil ich ihren Vortrag so anmutig, lustig fand. Aber Lee Aang hielt mir nach einem weiteren prüfenden Blick ihren Kussmund hin. Wir küssten uns richtig, touchierten nicht nur leicht unsere Lippen. Lee Aang blies die Luft hörbar durch ihre zu einem O geformten Lippen aus und fächelte sie mit der rechten Hand, als ob sie zu heiß geworden sei. Ein Jux war es, und wir lachten stumm darüber. „Once again?“ fragte ich, als ich sie lächelnd anschaute. „Oh, no, no, no, no, no.“ war Lee Aangs Reaktion, sie lächelte aber und hielt nochmal ihre Lippen zum Küssen hin. “Now it is enough.” erklärte Lee Aang anschließend. Mein Vater und meine Mutter hatten dem Schauspiel amüsiert zugeschaut. Während meine Mutter offen lächelte, enthielt die Mimik meines Vaters auch Besinnliches. Wahrscheinlich analysierte er das Erlebte auf seine psychologischen Hintergründe oder ob sich darin auch der Mensch an sich gezeigt habe. Mutter schien es jedenfalls gefallen zu haben. Kein Gedanke mehr daran, anzurufen. Sie wollte Lee Aang ihr Zimmer zeigen. Als sie zurückkam schüttelte sie den Kopf. „Unfassbar, aber sie ist unendlich süß.“ erklärte sie, „Nein, süß, welch ein dummes Wort, das ist kindlich naiv. Sie ist eine tolle Frau. Bezaubernd ist sie. Frauen verstehen sich nicht nur über alle Wissenschaftsgrenzen hinweg, sondern auch ohne Worte.“ sagte es und lachte. Ich solle Lee Aang doch noch mal verdeutlichen, dass sie unbedingt Deutsch lernen müsse. Jetzt räumte sie in ihrem Zimmer noch ein, als sie kam, gingen wir in mein Zimmer und setzten uns auf's Bett. Wie und was ich genau sagen wollte, wusste ich nicht und bevor es dazu kam, sprach schon Lee Aang. Sie erklärte mir offensichtlich, dass man überall auf der Welt Chinesisch lerne. Dadurch, dass sie für die Länder oder Kontinente, von denen sie sprach, die Englischen Bezeichnungen verwendete, bekam ich einiges mit. Auch in Deutschland lerne man chinesisch. Was machten Mercedes Benz und Volkswagen ohne Chinesisch Kenntnisse. Nur Piet kann kein Chinesisch. Wie traurig. Wir werden sofort beginnen, es zu lernen. Ich musste mich aufs Bett legen, während Lee Aang im Schneidersitz neben mir saß. Mittel- und Ringfinger, mit denen sie mehrmals ihre Lippen berührte, taten anschließend das gleiche bei mir. Dann bekam ich das chinesische Wort für Kuss zu hören, musste es nachsprechen, und wenn es richtig geklungen hatte, musste ich es noch einmal wiederholen. Alles absolut ridiculous. Ich wollte Lee Aang vermitteln, dass sie Deutsch zu lernen hätte, jetzt lag ich auf dem Rücken und lernte Chinesisch. Nach dem Kuss ging es weiter, die Lippen, die Augen, die Nase und so weiter. Manchmal lachte Lee Aang sich schief, weil die Wörter in meiner Betonung etwas völlig anderes bedeuteten. Sie erklärte es mir. Ich kannte schon so viele Wörter, dass ich ein Vokabelheft gebrauch hätte, als Lee Aang erklärte, dass sie müde sei und ein wenig schlafen wolle. Bevor ich aber überhaupt darüber nachdenken konnte, wo sie denn schlafen könne, hatte sie schon ihren Kopf auf meine Schulter gelegt, und ich wagte nicht, mich zu bewegen oder etwas zu sagen. „Das geht aber schnell.“ kommentierte meine Mutter den Anblick, als sie hereinkam.


Bruder und Schwester


Beim Abendbrot erklärte Lee Aang, dass sie so viel lernen müsse, zuhören, es im Kopf behalten, lesen, sich den Kopf damit füllen. Im Grunde sei alles wertlo­ser Müll, den man mit einem Wurf über die Schulter entsorgen solle. „Hier, in Deutschland, ist alles besser?“ fragte ich. Lee Aang nickte. Wieso hatte sie mich verstanden? Unsere Sprache wurde zwar reichhaltig durch ausgeprägte Mimik und Gestik unterstützt, aber es war keinesfalls Pantomime. Die Sprache, die Stimme, ihre Melodie und ihr Rhythmus erfüllten eine sehr wesentliche Funktion in unserer Mitteilung und unserem gegenseitigen Verstehen. Wir kannten die Bedeutung der Wörter nicht, aber konnten uns trotzdem verste­hen. Der Klang meiner Frage und das Wort Deutschland ließen nur einen Schluss zu. Die Theorie des Sprechaktes müsste neu geschrieben werden. „Mama“ und „Papa“ hatte Lee Aang öfter von mir gehört und wollte es erläutert haben. Ich erklärte keine Hintergründe, sondern sagte nur, dass die Frau „Mama“ sei und der Mann daneben „Papa“. Lee Aang sinnierte kurz und fragte dann: “For me as well?”. Jetzt grinste meine Mutter und nickte lächelnd nach kurzem Überlegen. Sodann wurden meine Eltern als Mama und Papa begrüßt. Lee Aang hatte es so verstanden, dass es ihre Namen seien, als sie später er­fuhr, dass es sich um eine Kurzform für Mutter und Vater handele, erschrak sie, veränderte aber nichts. Meine Frage: „And you're my sister?” stand daher auch für sie in keinem Zusammenhang. Sie schmunzelte, überlegte und fragte: „Then you're my brother?” Jetzt lachten wir, und mit einem “O. k.” tat Lee Aang ihr Einverständnis kund.


So sprichst du nicht


Nach dem Abendbrot würde mich aber nichts davon abhalten können, Lee Aang eindringlich klar zu machen, dass sie Deutsch zu lernen habe. Nach ein paar Sätzen legte Lee Aang mir ihren Finger auf die Lippen und ließ mich schweigen. Dann ahmte sie in besonders intensiver Weise nach, wie ich ge­sprochen hatte. Sie zog dabei ein Gesicht als ob ihr jeder Nerv bis in den letz­ten Zipfel qualvolle Schmerzen bereite. Das sei nicht Piet, das gehöre nicht zu Piet, so spreche Piet nicht, erklärte Lee Aang. „That's Piet.“ sagte sie, und ich bekam eine Melodie zu hören, wie sie tatsächlich meiner Stimme entsprechen könnte. Was war ich für ein Idiot gewesen, wollte auf Lee Aang mit eindringli­chen Argumenten einwirken. So redeten wir nicht miteinander. Wir erzählten uns Geschichten, dann verstanden wir uns. Alles kannst du als Geschichte er­zählen, auch die Geschichte von der Lee Aang, der die Ohren verstopft zu sein schienen, weil sie nirgendwo etwas verstand. Die keiner verstehen konnte, die man auslachte und ihr sagte, sie solle deutsch reden, so könne man sie nicht verstehen. Die mit niemandem reden konnte und traurig resigniert erklärte: „No one understands me.”, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen. Lee Aang fand es lustig und schmunzelte, während sie die fiktiven Tränen der fikti­ven Lee Aang von meiner Wange wischte. „But you understand me.” verkünde­te Lee Aang fast triumphierend. „Just as you understand me.” reagierte ich. Lee Aang schaute kurz leicht erstaunt, nachdenklich. Ob sie wirklich geglaubt hatte, dass ich sie verstehen würde? Ich konnte kein Chinesisch, aber ich meinte schon den Inhalt von Lee Aangs Gesprächen verstehen zu können. Lee Aang überlegte. Befühlte dabei mit ihren Fingern mein Gesicht. „You will help me?” fragte sie ernst. Sie könne sich noch nicht entscheiden. Sie müsse noch nachdenken. Morgenfrüh wisse sie Bescheid.


Deutsch lernen


Am Morgen wurde ich schon von Lee Aang geweckt. Sie strich mir über die verschlafenen Augen und über die Wange und nachdem ich ein “Guten Morgen, Lee Aang” gekrächzt hatte, erklärte Lee Aang, dass sie sich entschieden habe und Deutsch lernen wolle. “But I do not know how.” gab sie zu Bedenken. Das wurde am Frühstückstisch erörtert. Bei den Sinologen anrufen und um Hilfe in diesem komplizierten Fall bitten, das war die ultima Ratio. Wir bekamen sogar einen Termin für ein kurzes Gespräch mit Professor Sing persönlich. Ihm er­zählte sie auch nichts davon, wie sie es geschafft hatte, her zu kommen. Er habe sie zweimal gefragt, das sei schon unhöflich gewesen, meinte Prof. Sing. Sie müsse einen Manager Kursus besuchen, alles andere sei Spielerei. Das sei allerdings sehr teuer. Er rief direkt an. Sie könne noch in einen Kurs kommen, der vor zwei Tagen begonnen habe. Prof. Sing erläuterte Lee Aang einiges und nach kurzer Zeit hatte offensichtlich Lee Aang das Gespräch in der Hand. Erzählte von 'Mama' und 'Papa' und Piet, ihrem Bruder, und brachte Prof. Sing auch immer wieder zum Lachen. Sie sei eine kluge Frau meinte der, und er sei überzeugt, dass sie es schaffen würde. Sie sei ein wenig verliebt in Deutschland, deshalb habe sie wohl unbedingt her gewollt. Bei Problemen sollten wir uns an ihn wenden. Er gab uns sogar seine Privatnummer. Lee Aang hatte ihn wohl für sich eingenommen.


Wir fuhren noch kurz beim Sprachinstitut vorbei, um gegebenenfalls Informati­onsmaterialien zu holen. Der Mann mit dem wir sprachen, strahlte keine be­sondere Freundlichkeit aus, sondern vermittelte eher den Eindruck, dass wir ihn belästigen würden. So reagierte Lee Aang auch nach ihrer ersten Übung. Mit sieben Schüssen in die Schläfen müsse der Lehrer erschossen werden, während er meiner Mutter gegenüber noch mit Colts aus den Hüften umgelegt wurde. Bei mir rannen Lee Aang noch fiktive Tränen und ihr Kopf brauchte eine kurze Anlehnung an meine Schulter. Beim Abendbrot erklärte sie, dass die Menschen im Institut hässlich seien. Auf meinen erstaunt fragenden Blick hin erläuterte Lee Aang näher, es seien keine guten Menschen. Wir seien schöne Menschen, weil wir gute Menschen seien. „You talk about the the human being in itself?” fragte mein Vater. Lee Aang starrte ihn kurz erstaunt an und fragte dann: “You are a wise man?” Meine Mutter lachte laut auf und mein Vater be­kam einen Kuss: “Of course, of course he is a wise man.” und lachte dabei “In­deed he is a wise man.” bestätigte ich ebenfalls lachend und mein Vater bekam auch von mir einen höchst seltenen Kuss. Lee Aang machte einen konsternier­ten Eindruck. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Ich erklärte, dass mein Vater ein wenig schüchtern sei. Jetzt lachte Lee Aang und der Papa bekam auch von ihr einen Kuss. Mein Vater hielt ihre Hand und Lee Aang legte die andere auch darauf. Ihre Blicke sagten, dass sie gerade einen Pakt geschlossen hatten. Kei­ner wusste welchen, aber die beiden hatten sich offensichtlich verstanden. Mein Vater und Lee Aang verkehrten von nun ab in einer Form, der ein gewis­ser Touch von gegenseitiger Hochachtung und würdevoller Zuneigung nicht fehlte, der weise Mann und die Frau, die vom Menschsein an sich gesprochen hatte. Etwas Ungeheuerliches geschah, mit Lee Aang redete mein Vater über Psychisches. Dazu hatte ich in diesem Hause noch nie ein Wort von ihm gehört.


Brother-Sister-Time


Vorm Abendbrot half Lee Aang meiner Mutter in der Küche, und nach dem Abendbrot unterhielten wir uns in meinem Zimmer auf dem Bett. Dann war Brother-Sister-Time. Es kam mir vor, als ob wir uns immer besser verstehen könnten. Nicht weil Lee Aang langsam einige deutsche Wörter lernte, sondern wir stimmten unsere Erzählweise wohl immer besser aufeinander ab. Ohne Vorsatz geschah das, wir mussten es intuitiv spüren. Ich sprach zu Lee Aang automatisch so, dass ich überzeugt war, so würde sie mich am besten verste­hen. Lee Aang lachte gern und viel. Oft war es nur das kleine Schauspiel, den Inhalt hatte ich gar nicht genau verstanden. Wir gingen auch öfter spazieren und ich erklärte der interessiert zuhörenden Lee Aang, was man am See alles erleben könne. Das Wichtigste waren aber Konzerte. Für meine Eltern war ich wohl immer im Kindergarten geblieben. Ins Konzert, die Oper oder ins Theater gingen sie selbstverständlich allein. Jetzt gingen wir alle zusammen. Über Musik war Lee Aangs Faible für Deutschland erwacht. Ihre Mutter spielte viel Klavier, weil ihr die Musik so gut gefiel, hatte sie sich immer weiter interessiert und war in der deutschen Literatur und Philosophie gelandet. Ich hatte den Eindruck, sie kannte alles. Trotzdem war es nicht leicht, sich im Stil unserer Unterhaltungsform, dezidierter mit Schleiermacher auseinanderzusetzen, auch wenn wir der Ansicht waren, dass wegen unserer Kommunikation viele Bereiche der Philosophie und Linguistik grundlegend neu zu überdenken seien. Sprache ohne Wörter war es, die sonst auch existierte, deren Wert und Bedeutung man aber nicht erkannte oder unterschätzte. Warum hatte Lee Aang nicht Philosophie oder Germanistik studiert. Dann hätte sie nicht nach Deutschland gekonnt, nur mit Wirtschaft und Technik. Und warum hatte sie die Sprache nicht gelernt? Sie habe resigniert. „So gut, dass du Hegel, Kant, Fichte und Voltaire auf Deutsch lesen kannst wirst du nie. Du kannst Brot kaufen. Das ist albern, was soll ich damit?“ meinte Lee Aang. „Voltaire?“ reagierte ich erstaunt. Bestimmt hatte sie es extra gemacht. Sie grinste schelmisch und meinte: „Ah, sorry, Schopenhauer. Voltaire, so ein Quatsch.“ und lachte. „Jetzt lernst du's aber doch, warum jetzt?“ fragte ich. „Weil du so traurig warst und geweint hast.“ reagierte sie und lachte laut. „Nein, du machst mir Mut. Ich habe Vertrauen in mich, weil ich weiß, dass du mir helfen wirst. Dann ist meine Balance in Ordnung, meine Harmonie stimmt.“


Tagsüber ging Lee Aang zur Uni. „Was machst du da?“ wollte ich wissen. „Schil­der lesen.“ bekam ich zur Antwort. Sie hätte damals die deutsche Schrift und deutsch Lesen gelernt. Und jetzt probiere sie es immer wieder, damit sie sich auf Plänen orientieren könne. „Hörsaal ZB 3, da weiß ich genau, wo der ist.“ sagte es und lachte. Sie treffe auch andere Praktikanten. „Aber das ist nicht so gut. Viele klagen oder sind unzufrieden, und mit ihren Tips und Ratschlägen kann ich nicht viel anfangen.“ meinte Lee Aang. „Wieso nicht?“ fragte ich. „Sie haben alle keine Mama, keinen Papa und keinen Piet, und so gut Tipps und Ratschläge wie die, kennt sonst eben keiner.“ lachte Lee Aang wieder. Sie lese viel. Gehe in die UB oder zu den Sinologen in die Bibliothek. Professor Sing habe sie auch schon wieder getroffen. Er sei auch ein sehr guter Mensch. Pro­fessor Sing müsse unbedingt mein Freund werden, meinte Lee Aang.


Lyrik-Time


Zwischen zehn und elf Uhr am Abend begann die die Lyrik-Time. Dann erzähl­ten wir uns nichts Aufregendes vom Tage mehr oder diskutierten heiße The­men, dann wurde es besinnlich. Lee Aang hatte es vorgeschlagen, den Tag vorm zu Bett gehen so ausklingen zu lassen. Wundervoll war es, Lee Aang zu­zuhören, wie sie den Abend beschrieb. Poetisch klang es ohne ein Wort verste­hen zu können. Alle Hektik legte sich, Aktivitäten wurden eingestellt, langsam kehrte immer mehr Ruhe ein. Die Sonne sandte nur noch ihr warmes rotes Licht, bevor sie sich gar nicht mehr zeigte. Sprache kann auch eine andere Form von Musik sein, die du ja auch ohne Worte verstehst. Lee Aangs Abend­segen hatte mir ein sanftes, besinnliches Empfinden vermittelt. Einen Kuss da­für? Das passte nicht. Das war zu profan. Zartes Streicheln der Haut am Unter­arm und ein Händedruck mit den Händen gegeneinander, war die angemessene Reaktion. Keiner wusste, was es bedeutete, aber wir beide verstanden es sehr genau. Ich hatte vom See erzählt, einige Gedichte vorgetragen, da war mein Vorrat schon zu Ende. Arm an Besinnlich, Beschaulichem war ich. Ich las Ge­dichte vor, da ist es bei manchen ganz deutlich, dass sie mehr Musik als die Bedeutung ihrer Worte sind. Beim Knaben im Moor kuschelte sich Lee Aang angstvoll Schutz suchend an mich, obwohl sie doch kein Wort verstand.


Weihevolle Momente


Zu Anfang hatte es sich so ergeben, dass Lee Aang und ich die Zeit nach dem Abendbrot miteinander verbrachten. Die Verständigung war für die anderen doch äußerst mühsam und uns beiden gefiel es. Jetzt war es selbstverständlich so. Ein Abend allein ohne Lee Aang oder ohne Piet war für uns beide nicht vor­stellbar. Zu einem festen Bestandteil unseres Tagesablaufes war die Brother-Sister-Time geworden, auch wenn Lee Aang sehr schnell lernte und schon vie­les verstand. Vorm Abendbrot waren Mutter und Lee Aang immer zusammen. Sie schienen sich innig zu lieben und lachten die ganze Zeit. Lee Aangs Mama war das nicht. Ihre gute Freundin? Nein, das war zu wenig, eher wie zwei Schwestern, die sich ausgezeichnet verstanden. Lee Aang brachte immer ku­riose Sätze und Redewendungen aus ihrem Managerkurs mit. „Frau Langen­bach, würden sie uns, bitte, die Zertifikate zukommen lassen?“ sagte sie, und dann lachten die beiden sich tot. Mir erzählte Lee Aang so etwas nicht. Von mir wollte sie am liebsten wissen, was ich gerade in Philosophie mache und wollte darüber diskutieren. „Try it again.” war es, was ich am häufigsten zu hören be­kam, und wenn Lee Aang es dann verstanden hatte, gab's einen Kuss. Meinen Büchern galt Lee Aangs besondere Aufmerksamkeit. Sie hatte eins geholt, von dem sie vermutete, dass es sie vielleicht interessieren könne. Ich erklärte ihr dann etwas zu Titel, Autor und Inhalt und verwies sie auf andere Bücher, die ich ihr erklärte. Für Lee Aang waren es andächtig weihevolle Momente. Dass sie auf deutsch philosophisch aktuelle Fagen erklärt, und Bücher vorgestellt be­kam, sodass sie es verstehen konnte, hatte außerhalb ihres Vorstellungsberei­ches gelegen. Ein sanftes Streicheln und der gegenseitige Händedruck bestä­tigten die tiefe Bedeutung dieser außergewöhnlichen Erfahrung für sie.


Berührungen


Dass man Küsse bekam oder verteilte gehörte zum alltäglich Selbstverständli­chen. Mit Liebe oder Beziehung hatte das nichts zu tun. Wir berührten uns auch gern und streichelten uns, wir wollten eben freundlich zueinander sein. Mutter schien es jedoch zu quälen. „Du willst mir doch nicht weiß machen, dass nichts zwischen euch liefe.“ konstatierte sie. „Nein, Mutter, es ist absolut nichts. Wir mögen uns sehr gut leiden, ja, aber das ist wie zwischen Bruder und Schwester.“ erklärte ich. „Ach, Bruder und Schwester tun so etwas aber nicht. Lee Aang und ich mögen uns auch gut leiden, ich bekomme aber keine Küsschen von ihr.“ reagierte sie. Wozu sollte ich mir über so ein Gewäsch den Kopf zerbrechen. Es war so wie es war, und so war es gut. Als Liebespaar sahen wir uns jedenfalls nicht. Unsere Küsse waren sanfte Berührungen, am intensivsten waren noch die beiden Küsse bei der Begrüßung gewesen. Es war Sommer. Lee Aang trug eine Art gelbes Seidencamisole als Top. Seide liebte sie über alles. Ich hatte schon Näheres in der Lyric-Time zu diesem wundervollen Stoff gehört. Während ich Lee Aangs Schulter und ihr Dekolletee streichelte, richtete sie sich plötzlich auf, hob ihr Hemdchen hoch und sagte: „Kuck hier, Lee Aang ist keine Frau.“ Ich starrte sie an, lachte und hob mein T-Shirt hoch. „Piet ist auch keine Frau.“ bemerkte ich mit einem traurigen Gesichtsausdruck. Lee Aang lachte, fiel mir um den Hals und warf mich auf's Bett. Ihre sehr jugendlich wirkenden Brüste schienen sie aber nicht zu stören. „Balletttänzerin hättest du werden sollen, die freuen sich über kleine Brüste.“ kommentierte ich. „Soll ich mich auch freuen?“ fragte sie mit einem juxigen Gesichtsausdruck. Es schien ihr völlig schnuppe. Frauen, die ihr Selbstbewusstsein über die Größe ihres Busens definieren, sind offensichtlich eine typisch westliche Spezies. Lee Aang hob mein T-Shirt an und gab einen Kuss auf den Bauchnabel. „Kannst du das mal ausziehen?“ bat sie und meinte mein T-Shirt. Jede Pore der Haut meines Oberkörpers wurde nach und nach inspiziert. Zu Einigem gab es Geschichten, von Bauch, Herz und Leber, aber meistens spürte ich nur Lee Aangs zart tastenden Finger. Einen Kuss gab es auf manche Stelle und dann legte sie einfach ihre Wange wie zum Schmusen auf meine Haut. Jetzt erfuhr ich auch, was es mit der Schulter auf sich hatte. Die Schulter eines lieben Menschen sei die beste Unterlage für einen Kopf. Sie hatte als Kind immer schon ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters gelegt. „Aber du kanntest mich doch gar nicht.“ wandte ich ein. „Ich vertraue mir und ich vertraue dir. Das ist beides das gleiche.“ erwiderte Lee Aang. „Am ersten Tag?“ hakte ich nach. „Du musst einen anderen Menschen sofort erkennen, sonst ist es zu spät und du bekommst keine Antwort mehr. Ich höre deine Stimme, sie ist die Musik deiner inneren Harmonie, und ich sehe deinen Körper, er führt den Tanz deiner Emotionen, deines Empfindens auf, in seiner Körperhaltung, seiner Gestik und seiner Mimik, und deine Augen sagen, ob du klug und ehrlich bist, oder stupid bist und zu lügen versuchst. Das siehst du sofort, wenn du einem anderen Menschen begegnest.“ erklärte Lee Aang. „Mama, du und Papa, ihr seid gute Menschen, und Papa ist ein sehr kluger Mann.“ Was Lee Aang mir von ihm erzählte, klang fast revolutionär, nur er hatte es immer in dieser dämlichen Redewendung vom 'Menschen an sich' verborgen. Lee Aang küsste meine Brustwarze. Es kitzelte und ich wand mich. „Piet ist doch eine Frau.“ erklärte Lee Aang lachend und legte noch einmal ihren Kopf auf die jetzt unverhüllte Schulter. „Und du, Lee Aang?“ sagte ich fragend, „Ich möchte deine Haut auch gerne spüren. Selbst wenn meine Finger das nicht so zart wie deine können.“ „Jetzt?“ reagierte Lee Aang überrascht, „Morgen,“ schlug sie vor, „Ach Unsinn.“ erklärte sie und streifte sich ihr Hemdchen über den Kopf. Sie legte sich schräg auf mich. Ihren Kopf versenkte sie neben meinem, mit meinen Händen hielt ich ihren nackten Rücken. Verwirrung spürte ich. Liebe? Ich begehrte sie. Ich begehrte Lee Aang. Vielleicht hatte ich das früher auch schon getan, aber jetzt war es nicht zu überhören. Leicht verwegen sah sie aus, als Lee Aang ihren Kopf hob. Ihre langen schwarzen Haare hingen teils zur Seite und teils in ihrem Gesicht. Was hatten wir gemacht? Nichts. Aber auch Lee Aangs Gesicht mit den breit gezogenen Lippen und ihren Augen sagte das sie etwas erlebt hatte. Was, das konnten wir nicht genau beschreiben. Unsere Augen schienen es zu verstehen. Es war ein bislang nicht gekanntes uns glücklich stimmendes Empfinden. So etwas Banales, wieso empfanden wir es als so toll, wenn unsere nackten Oberkörper sich umarmend berührten, aber wir empfanden es eben als wundervoll, uns gegenseitig zu spüren.


Das brauchten wir jetzt jeden Abend, wie könnte man darauf verzichten. Manchmal zog der eine dem anderen gleich zu Beginn das T-Shirt oder sein sonstiges Bekleidungsstück aus und manchmal unterhielten wir uns auch zu­nächst, bis das Bedürfnis nach gegenseitiger berührender Umarmung nicht mehr aufzuschieben war. Meine Mutter äußerte sich nicht mehr dazu. Sie sagte nur noch ironisch „Deine Schwester“, wenn sie mit mir von Lee Aang sprach. Warum fragte sie die nicht mal nach unserer Beziehung, ob sie sich nicht trau­te? Lee Aang war schon ein halbes Jahr bei uns. Mein Germanistikstudium hat­te ich gecancelt. Mit unserer Brother-Sister-Time war das sowieso überhaupt nicht mehr zu schaffen. Außerdem ging mir die dämliche Seziermessergerma­nistik schon längst auf die Nerven. Die Liebe zur deutschen Sprache ist eine üble Grundlage für ein Germanistikstudium, die zwangsläufig zu bösen Enttäu­schungen führen muss. Die Unterhaltung mit Lee Aang fand in einem Gemisch aus Deutsch, Chinesisch und Englisch statt. Sie wollte von uns besser und mehr Deutsch lernen. Der anschließende Managerkurs bestehe fast nur noch aus Wörtern und Redewendungen, die sie gar nicht lernen wolle. Wir wollten zusammen Nietzsche lesen. Ich hatte es Lee Aang empfohlen, weil er die am einfachsten verständliche deutsche Sprache spreche, hatte aber nicht die Bezü­ge bedacht, für die ich selbst meistens nachschauen musste.


Ohne Hosen


„Piet, du bist ein guter Mensch. Nicht nur jetzt. Das ist dein Wesen. Du wirst es immer bleiben. Was auch geschieht, Piet wird immer ein guter Mensch sein.“ erklärte Lee Aang eines Abends. „Wie ist das bei Lee Aang? Hältst du Lee Aang auch für einen guten Menschen?“ fragte sie. „Ja, sicher.“ reagierte ich. „Nein, nein, nein, so nicht. Das war geplappert. Du musst es gut überlegen, ob du denkst, dass Lee Aang auch immer ein guter Mensch bleiben wird.“ sie darauf. „Lee Aang, du bist ein guter Mensch, der beste Mensch, den ich kenne. Alle mögen böse und hässlich werden, aber ein Mensch, bei dem ich mir das über­haupt nicht vorstellen kann, das ist Lee Aang.“ erklärte ich und Lee Aang lä­chelte besänftigt. „Piet, ich möchte in meinem ganzen Leben immer mit einem guten Menschen zusammen sein, mit einem so guten Menschen wie dir. Ist das für dich anders?“ fragte Lee Aang. Was war das denn jetzt? Ein Heiratsantrag? Sollten wir uns ewige Treue schwören? Sie war doch in einem halben Jahr wie­der in

Nanjing

. „Lee Aang, willst du mich heiraten? War das ein Antrag, dass wir heiraten sollen?“ erkundigte ich mich. „Nein, nicht heiraten. Ich meine et­was anderes. Es macht ein so wundervolles Gefühl, wenn wir uns umarmen, und ich spüre es nicht nur hier oben, sondern auch da wo ich Frau bin. Bei dir ist es nicht anders, das weiß ich. Ich möchte gern, das wir uns ganz haben,

ohne Hose, dass wir uns haben wie Frau und Mann, verstehst du?“ Lee Aang darauf.

Das war nicht viel weniger überraschend als ein Heiratsantrag. Meinem erstaunt fragenden Blick wurden keine näheren Erläuterungen zuteil. Ein lächelnd ernster Blick Lee Aangs begegnete mir. Ich hatte es ja gehört und mit Sicherheit verstanden. „Aber,“ brachte ich zögerlich hervor, „Lee Aang, wir haben uns doch noch nicht einmal gesagt, dass wir uns lieben.“ „Liebe, Liebe,“ Lee Aang abschätzig, „ich liebe mein Auto, ich liebe das schöne Wetter, ich liebe Musik, ich liebe alles. Liebe ist ein 'Scheißwort'. Jeder kann es für alles verwenden und tut es auch. Über die Beziehung zwischen dir und mir sagt das Wort nichts aus. Es ist nicht zu gebrauchen, wie viele Wörter etwas allgemein beschreiben, damit man mit ihnen kommunizieren kann. Für das, was zwischen uns beiden ist, gibt es kein Wort, nicht im Deutschen und nicht im Chinesischen. Du bist Piet und ich bin Lee Aang, das werden wir auch immer bleiben, solange wir leben, aber da gibt es noch ein Wesen, und das sind Lee Aang und Piet gemeinsam. Das ist das was uns verbindet. Das gehört gleichzeitig zu dir und zu mir. Nicht zur Hälfte, die gibt es nicht. Die gemeinsamen Lee Aang und Piets kannst du nicht teilen. Ein Atom kannst du spalten, aber nicht unsere Beziehung. Sie ist eine Idee, sie ist oder ist nicht. Gibt es denn eine Beziehung, die tiefer und umfassender ist, als die zwischen Lee Aang und Piet. Liebe dazu zu sagen, welch ein schales Wort.“ erklärte Lee Aang. Ich war komplett verwirrt. Lee Aang hatte mir gerade erklärt, dass wir auf's tiefste ineinander verliebt seien, es aber nicht so nennen dürften. Unsere Liebe, dadurch entstanden, dass Lee Aang mich als guten Menschen erkannt hatte? Ich denke, dass es etwas anderes gibt, das du beim ersten Blick genauso schnell erkennst, wie den guten Menschen. Mutter und Vater sah Lee Aang auch als gute Menschen, aber es zog sie zu mir, und ich konnte die Abendbrotzeit kaum abwarten, weil wir anschließend zusammen sein würden. „Du bist eine Triefnase.“ hatte Anett gesagt, Aber ich mag dich. Warum? Das weiß ich nicht.“ „Und du bist eine dämliche Tussi.“ hatte ich gedacht, während wir uns umarmten, „Warum ich dich mag, wir ewig unergründlich bleiben.“ Frühe Bilder müssen es sein, entstanden in einer Zeit, auf die dein Bewusstsein keinen Zugriff hat. Keine flüchtigen Sandgebilde werden in der Zeit des sozialen Sandkastens gebaut, feste Trutzburgen sind es, deren Grundfesten jederzeit in deinem späteren Leben zum Tragen kommen und es in entscheidenden Momenten beeinflussen können. Da werden Lee Aang und ich

auch gleich im anderen Bilder erkannt haben, die uns beglückten. „Lee Aang ich weiß nicht was ich dazu sagen soll. Meine Gedanken rotieren. Ich habe alles immer für natürlich, freundlich gehalten und gemeint, mit Liebe habe das nichts zu tun. Aber ich glaube, mein Kopf hat mir immer nur das gesagt, was ich hören wollte, und was sich tatsächlich zwischen uns abspielte, ließ er mich nicht erkennen und falsch bewerten. Ich denke schon, das du Recht hast mit der der außergewöhnlich tiefen Beziehung und Verbundenheit zwischen uns.

Und wir dürfen dazu nicht Liebe sagen? Mag ja sein, dass das Wort oft missbräuchlich verwendet wird, aber auch das Schöne, Edle spricht doch von Liebe. Ich habe dir manche Liebesgedichte vorgelesen. Du musst doch ein Wort haben, um davon sprechen zu können.“ war meine Meinung. „Es gibt Manches, für das die Sprache unserer Wörter keinen Namen hat. Die Wörter sind zum reden, damit man sich verständigen kann, aber sie bezeichnen nie dieses

Konkrete genau. Das Wort wäre unbrauchbar, weil es niemand anders verstehen würde. Für unsere Beziehung gibt es ein Wort in der Sprache unserer Herzen, die kann aber unser Mund nicht sprechen und unsere Ohren können sie nicht hören. Wir lesen das Wort in den Augen des anderen und verstehen es.“ lautete Lee Aangs Antwort. „Und 'Mon amour, meine Liebste' sagen, das wäre ganz falsch, nicht war? Sich nur anschauen.“ wollte ich mich vergewissern. Eine Antwort erhielt ich nicht. Dafür wurde ich aufs Bett gestoßen und Lee Aang begann an meiner Gürtelschnalle zu nesteln. „Jetzt, direkt?“ rief ich verwundert, erschrocken auf. „Worauf willst du warten?“ fragte Lee Aang nur. Zur Sicherheit fragte ich noch mal: „Nimmst du denn die Pille?“, obwohl ich davon ausging, das sie in China zu den üblichen Nahrungsmitteln einer Frau gehören würde, aber Lee Aang nahm keine Pille. Präservative hatte ich auch keine, aber das wollte Lee Aang auch sowieso nicht. Sie erklärte mir mit irgendwelchen Kalendern, warum heute nichts passieren könne. „Nein, Lee Aang, das mache ich nicht. Solange du keine Pille nimmst, können wir nicht zusammen schlafen.“ erklärte ich kategorisch. Das taten wir aber schon, nur wir hatten eben keinen Geschlechtsverkehr. Als ein kleines Manko empfanden wir das, denn ohne kam es uns auch schon berauschend vor.


Übersetzer


Die Schwester war heute Morgen gar nicht in ihrem Zimmer, als ich sie we­cken wollte.“ verkündete meine Mutter lachend, „Sie wird Alpträume gehabt und bei ihrem Bruder Schutz gesucht haben.“ erklärte sie es spottend. „Lee Aang hat erklärt, dass wir eine ganz tiefe innige Beziehung haben. Dann wird es wohl so sein. Aber Liebe sei dafür ein viel zu profanes Wort. Das habe ich dir ja auch immer gesagt. Aber, Mutter, Lee Aang nimmt keine Pille. Sie braucht eine Frauenärztin. Käme deine nicht dafür in Frage?“ erkundigte ich mich. Selbstverständlich kümmerte sich Mutter um alles. Lee Aang hatte der Ärztin in chinesisch psychologisch-philosopischer weise erklärt, was sie brau­che, und die Ärztin hätte gemeint, das der darin enthaltene Wirkstoff genau dies bewirke, dass der ganze Mensch Lee Aang es in jeder Hinsicht ablehne, von Piets Samen schwanger zu werden. So wäre man in China bestimmt nicht mit der Verschreibung einer Pille umgegangen. Wir hatten uns einfach irgend­

wann ausgezogen und waren unter die Bettdecke gekrochen. Lee Aang hatte beschlossen, dass mein Zimmer jetzt ihr offizielles Schlafgemach sei. Sie zog sich in ihrem Zimmer aus und kam dann in ihrem, na was denn? Unter Schlaf­anzug stellt man sich etwas anderes vor. Es handelte sich um eine einfarbige Seidenkombination mit kurzem Höschen und einen Oberteil mit dünnen Trä­gern. Die Lee Aang ohne textile Behänge war mir im Bett sicher am liebsten, aber so sah sie göttlich aus. Diese burgunderfarbene Seide mit dem schwarzen Spitzenbesatz am Rand, der zu den Trägern führte, das sollte sie

tagsüber tra­gen statt der verwaschenen Jeans mit einem Allerwelts-Baumwoll T-Shirt. „Mama, hast du schon mal Lee Aangs Schlafanzüge gesehen?“ fragte ich sie morgens in der Küche. „Natürlich.“ sie. „Süß nicht wahr?“ ich. „Schon, sollte ich auch so etwas tragen, meinst du?“ fragte sie. Wir lachten. „Aber ein langes Seidennegligé das würde für dich schon gut aussehen und in Papas Hochspan­nungsnetz flögen bestimmt alle Sicherungen raus.“ erklärte ich scherzend.

„Warum schenkst du mir keins? Ich kann mir so etwas nicht leisten.“ erklärte sie. Unsinn war das. Sie wollte nur nicht so viel Geld für ein Nachthemd ausgeben. Lee Aang erklärte, es ginge darum, welches Verhältnis man zu Seide habe. Wenn Lee Aang lange genug hier wäre, würde bestimmt bald alles aus Seide bestehen. Irgendwann würde dann auch gewiss mal der Zeitpunkt kommen, an dem ich nicht mehr Lee Aangs Übersetzer wäre. Durch eine unüberlegte Äußerung von Mutter schon ganz zu Anfang hatte es begonnen. „Kannst du das mal Lee Aang übersetzen?“ hatte sie gesagt, und wir hatten uns schief gelacht. Aber eine Basis gab es ja schon. Mutter ging unbewusst davon aus, dass Lee Aang mich besser verstehen würde. So ist es prinzipiell bis heute geblieben. Lee Aang versteht bei weitem nicht alles, vor allem viele Redewendungen nicht. Wenn sie etwas nicht versteht, macht der andere ein dummes, fragendes Gesicht. Dann sag ich es ihr, ebenso auf deutsch und Lee Aang versteht. Das hätte Eva, Mutters Freundin, genauso sagen können. Erzählend, bilderreich war unsere Sprache und offen für mimische und gestische Unterstützung, dann verstanden wir uns und Lee Aang sowieso. Auch Lesen ging nur gemeinsam. Hätte sie die deutschen Bestsellerlisten mit ihren ganzen Tintenklecksen gelesen, wäre ich nicht gebraucht worden, aber Lee Aang bevorzugte grundsätzlich solche Bücher, die auch kein deutscher Haupt- oder Realschüler alleine lesen könnte.

Unser gemeinsames Lesen von Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“ mit seinem kaleidoskopartigem Blick über Nietzsches Sicht des Menschen und die Bedeutung der Kunst war für Lee Aang ein so außerordentlicher

erkenntnisreicher und emotionaler Höhepunkt gewesen, das sie sich wünschte, so eine Leseerfahrung müsse jedes Buch verschaffen können. Besonders in den Gesprächen mit meinem Vater musste ich oft vermitteln. Das lag aber vor allem daran, dass ich meinem Vater häufig etwas erklären sollte, was Lee Aang selbst kaum verstand. So gut sie sich mit Hegel, Kant und Habermas auskannte, so wenig Ahnung hatte sie von chinesischer Philosophie. Ihr Wissen über den Daoismus befand sich auf dem Stand eines interessierten Laien hier. Trotzdem versuchte sie mit meinem Vater über den Unterschied europäischen und chinesischen Verständnisses vom Menschen zu diskutieren. „Das ist nicht wahr. Das ist falsch und eine sehr verkürzte Sichtweise, wie du es beschreibst. Nichts ist falsch und nichts ist umsonst was du machst. Alles ist ganz nützlich und wertvoll. In der Harmonie

deiner Bewertung stimmt etwas nicht.“ erklärte Lee Aang. Worüber mein Vater sich vorher ihr gegenüber beklagt hatte, konnte ich nicht mitbekommen. „Wenn du eine Sitzung hast, dann hilfst du jemandem, der freut sich und der ist dem Menschen Dr. Langenbach dafür dankbar. Was soll das denn mit Erfüllung der Rollenvorgabe zu tun haben?“ fuhr Lee Aang fort. „Nach der nächsten Sitzung kannst du Mama ein Paar chice, neu Schuhe schenken. Rollenvorgabe erfüllt, oder Mama eine Freude gemacht? Die folgende Sitzung sorgt für unsere nächste Peckingente. Wir freuen uns, und an

deine Rollenvorgaben denkt niemand. Bei der nächsten Sitzung, sorgst du dafür, das Piet weiter studieren kann. Er fällt dir nicht ständig um den Hals dafür, sollte aber vielleicht mal daran denken, es öfter zu tun, damit du nicht vergisst, dass du für ihn und nicht wegen deiner Rollenvorgaben gearbeitet hast. Gibt es noch eine Sitzung? Ja, anschließend kannst du mir das Ticket fürs Konzert besorgen. Ich will mich freuen und tue es auch. Vergiss deine Rollenvorgabe, wenn du

mit mir im Konzert glücklich sein willst.“ Mein Vater saß am Schreibtisch und Lee Aang im Sessel. Nach einer kurzen Pause, in der sich die beiden huldvolle Blicke zugeworfen hatten, erhob sich mein Vater und bewegte sich auf Lee Aang zu. Die schien zu wissen, worum es ging, und stand ebenfalls auf. Eine schlichte Umarmung, wenn man sich begrüßt oder sich mag, war das nicht. Das Ritual hatte schon gravitätische Züge und die besondere Bedeutsamkeit war nicht zu verkennen. So ein Verhältnis würde es zwischen meinem Vater und mir grundsätzlich niemals geben, da könnte ich noch so klug und weise sein. Vielleicht konnte Lee Aang so selbstverständlich damit umgehen, weil sie Ähnliches von ihrem Vater, den sie sehr verehrte, gewohnt war. Er war Professor an der

Nanjing Universität und bevorzugte eventuell ein wenig mehr alte chinesische Etikette.


Pekingente


„Dass du dich in Lee Aang verliebt hast, kann ich sehr gut verstehen.“ meinte Till, „Nur in ein paar Monaten da brauchst du die Liebe nicht mehr? Oder Brief­chen schreiben ist dann Liebe genug? Ich kann mir das nicht vorstellen. Man hat doch eine Perspektive für die Zukunft, oder willst du etwa mit nach China fahren? Ein Auslandssemester in China ohne jegliche Chinesischkenntnisse?“ „So hat Lee Aang es ja auch gemacht. Du hast Recht, sie müsste hier bleiben, nur wie?“ meinte ich dazu. Alles was wir überlegten, war letztendlich un­brauchbar. Die einzige Möglichkeit wäre, das Stipendium zu verlängern, weil sie ja zu Anfang so große Schwierigkeiten gehabt hatte und ihr vieles fehlte. Das gab es nicht. Mein Vater sollte mit der Praktikumsstelle sprechen. Was sollte Lee Aang in Nanjing? Natürlich liebte sie mich, aber hier wurde sie gebraucht, hier hatte sie zu tun, Erfahrungen zu sammeln, Neues zu erkunden und zu ent­decken in allen nur möglichen Bereichen. Mit Lee Aang war eine neue Gourmet Kultur in unsere Küche eingekehrt. Alles erprobten die beiden Cuisiniers. Ihre Meisterschaft hatten sie durch die ultimative Zubereitung einer Pekingente er­reicht. Lee Aang kannte zwar Pekingente, hatte sie aber selbst noch nie geges­sen. Die äße man im Restaurant, für die eigene Küche sei die Zubereitung zu kompliziert. Nicht so für unsere beiden Köchinnen. Nach intensivem Studium und vielfältigen Recherchen hatten sie eine Pekingente besorgt und zubereitet. Lee Aangs erste Pekingente in Deutschland und darüber hinaus noch selber zu­bereitet. Sehr gut schmeckte sie uns, aber die beiden wollten immer noch et­was verbessern. Deshalb gab es relativ häufig Pekingente, immer ein lukulli­sches Festmahl. So etwas konnte man bestimmt in keinem Restaurant der Stadt bekommen. Die französische Küche und die Art zu essen hatten Lee Aangs große Aufmerksamkeit erregt. Sie könne Frankreich jetzt viel besser verstehen, meinte sie. „Du kannst ein Land über seien Musik kennenlernen, kannst es durch seine Philosophen verstehen, eine Liebe zu seiner Literatur entwickeln und ich glaube, du kannst es auch durch den Geschmack seiner Speisen erfassen.“ meinte Lee Aang und lachte. Ein

Baguette mit allem Mögli­chen in den Café au lait einzutauchen, bereitete ihr besondere Freude. Am al­lerwenigsten daran, dass sie in kurzer Zeit wieder nach Hause müsse, dachte Lee Aang selbst. Ihr schien es selbstverständlich vorzukommen, dass sie hier lebte. Sie hatte gar keine Lust, darüber zu sprechen. Mein Vater konnte sehr

geschickt sein, aber all seine Überzeugungskünste waren wirkungslos geblieben. Eine Verlängerung gab es nicht.


Einen guten Menschen erkennen


Es konnte nicht sein, dass wir auseinander gerissen würden. Die Vorstellung war entsetzlich. Ich hatte schon Alpträume davon, und wenn wir miteinander schliefen, fiel es mir auch manchmal ein. Auf die perversesten Gedanken kam ich, um Lee Aang hier zu behalten. Ich hatte mir schon Geschichten ausge­dacht, wie sie als politisch Verfolgte hier Asyl bekommen könne und derglei­chen Schwachsinn mehr. Wenn einer Rat wissen konnte, dann Professor Sing. Dass Lee Aang legal hier bleiben könne, dazu wusste er auch keinen Rat. Es lebten aber tausende von Chinesen illegal hier. Nur wenn Lee Aang bei uns wohnen bliebe, genüge eine Information aus Nanjing und die deutschen Behör­den würden sie in ein Flugzeug nach Hause setzen. Er wollte sich für eine Ver­längerung von Lee Aangs Stipendium einsetzen, aber man wies ihn genauso radikal ab wie meinen Vater. Eine Verlängerung sei aus prinzipiellen Gründen nicht möglich. „Professor Sing, rufen sie meinen Vater an. Wenn uns einer hel­fen kann, dann er.“ flehte Lee Aang. Prof. Sing äußerte Bedenken und Zweifel, wollte es aber morgen zu einer passenden Zeit doch versuchen. Ich war auch erstaunt, dass Lee Aang meinte, Prof. Wang könne aus Nanjing hier etwas be­wirken. Wahrscheinlich schrieb sie ihm übermenschliche Mächte zu. „Nein,“ sagte Lee Aang, „er hat viele Freunde. Sie wissen, dass er ein guter Mensch ist, und sie helfen ihm, wo sie können.“ Viele Freunde, die einem helfen, wo sie können? Nicht schlecht, aber bei mir traf das nur auf Till zu. In der Schule hat­te ich viele Bekannte gehabt, wir waren freundlich zueinander, aber Freunde waren wir nicht. Ich fragte Lee Aang, ob sie denn auch viele Freunde habe? Nein, sie hatte auch nur zwei Freundinnen, mit denen sie sich besser verstand und E-Mails schrieb. „Ich glaube mein Vater erkennt die Menschen sehr genau. Wenn du weißt, dass der andere ein guter Mensch ist, verhältst du dich anders zu ihm. Der andere spürt es und dankt es dir. Hier in Deutschland sind die meisten Menschen blind für die anderen. Sie verfahren nach einem stereoty­pen, distanzierten Verhaltensmuster, das die Beziehung untereinander sehr er­schwert. Bei den jungen Menschen in China ist es aber nicht anders. Ob sie Chinesen, Europäer oder Amerikaner sind, das soll man am besten nicht erken­nen können.“ erläuterte Lee Aang. „Woran erkennt man, dass du eine Chinesin bist?“ erkundigte ich mich schelmisch. „An meiner guten Pekingente und mei­ner Liebe zur Seide.“ lautete Lee Aangs lachende Antwort.


Couple-Time


Wenn Lee Aang in ihrer 'Robe de soirée en soie' erschien, begann unsere drit­te, neu hinzugekommene Abendzeit. Dann war Couple-Time. Ich war Lee Aangs erster Mann. „Hast du in China keinen Freund gehabt?“ fragte ich sie. Als Reaktion erfolgte ein „Mhm“ mit Kopfschütteln. „Und warum nicht?“ wollte ich wissen. „Mich mochte keiner leiden.“ erklärte Lee Aang lapidar, und ich be­gann schon leise zu lachen. „Warst allen zu hässlich, nicht war?“ reagierte ich. „Nein, nicht lieb genug.“ lautete Lee Aangs Erklärung, „Eine Frau muss doch lieb, brav und gehorsam sein, oder?“ „Das schon,so war es bei dir aber nicht?“ erkundigte ich mich. „Nö, frech, renitent und widerspenstig bin ich.“ laute Lee Aangs Selbsteinschätzung. „Oh je, oh je! Auf diesen Schreck brauche ich erst einen Kuss von Lee Aang.“ bat ich. „Nein, ich bin nicht sitzengelassen worden. Auf das, was ich von den anderen Mädchen und ihren Freunden mitbekam, hatte ich keine Lust. Mit vierzehn beginnt langsam die Zeit, in der ein Mädchen einen Freund haben muss. Dann wird sie sich verlieben, weil man ja weiß, wie schön das ist, und das empfindet sie dann auch so. Alles gelogen, nur Klischeebilder, Rollenvorgaben, wie Papa sagen würde, alles nur nachgemachte Gefühle. Ich konnte es damals nicht so analysieren, aber dass ich so etwas nicht machen würde, stand fest. Überhaupt, wozu brauchte ich einen Mann. Mann ist etwas distanziert Fernes. Ich brauchte das nicht, keinerlei Bedürfnis danach. Irgendwann würde dir einer sagen, dass er dich ganz nett fände, die denkst „Die jüngste bin ich ja auch nicht mehr.“, und bist einverstanden. Dann will er dich heiraten. Du bekommst Kinder. Ist das nicht alles trostlos. Nein, das will ich nicht. Ich will Lee Aang bleiben und nicht in dem Gemenge mit einem Mann untergehen. Ich habe nicht oft daran gedacht, aber wenn war ich schon ratlos.“ lautete Lee Aangs tatsächliche Begründung für ihr Singeldasein. „Aber ich bin doch auch ein Mann.“ wandte ich ein. „Ja, schon, das ist es ja. Mein Vater ist ja auch ein Mann, aber er war immer mein Liebling. Das steht im Vordergrund. Meine Wahrnehmung kann sich dem nicht verschließen, zu erkennen, dass er ein Mann ist, aber es ist bedeutungslos.“ so Lee Aang. „Ist es für dich denn auch bedeutungslos, dass ich ein Mann bin?“ wollte ich von ihr wissen. „Heute Abend nicht, aber für dich war es doch auch immer völlig unbedeutend, dass wir Mann und Frau sind. Richtig bewusst geworden ist mir das erst, als wir Lust daran hatten, uns oben ohne zu berühren. Da habe ich zum ersten mal Lust auf dich, auf dich als Mann gespürt. Ich hoffe, dass es schön sein wird mit uns, ich freue mich, habe Lust darauf, weil du es bist und nicht ein Mann an sich. Auch wenn Lee Aang speziell Lust auf mich als Mann verspürte, hätten wir beinahe die erste Nacht ausschließlich mit einem Übermaß an Zärtlichkeiten, Reden über Sex und Scherzen darüber verbracht. Nachher kugelten wir uns vor Lachen über Lee Aangs Kommentar. „Nicht schlecht, an sich. Können wir das morgen wieder machen?“ ließ sie sich vernehmen. Ich hatte Lee Aang umschlungen und drückte sie lachend heftigst an mich. „Hey, Piet!“ beschwerte sich Lee Aang. „Ich muss unser Erlebtes mit in die imaginäre Person unserer Beziehung drücken, damit wir ab jetzt auch in unseren Augen lesen können, dass wir es morgen wieder machen wollen.“ erklärte ich. Wir hatten Spaß an uns, nein, nicht wie Kinder, das wäre falsch, aber ein Hochgefühl von Glück verspürten wir schon, als ob unsere Beziehung jetzt erst gänzlich komplett sei.


Brief aus Nanjing


Professor Wang hatte einen Brief auf englisch an meine Eltern geschrieben. Er bedankte sich überschwänglich. Dass es seiner Tochter gut gehe und sie glück­lich sei, wäre sein höchstes Anliegen. Sie habe geschrieben, dass sie noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen sei, wie jetzt bei uns. Eine größere Freude sei für ihn nicht möglich und wir hätten sie ihm bereitet. Zu gegebener Zeit müssten wir uns unbedingt einmal kennenlernen. Ihm sei zugesichert worden, dass Lee Aangs Stipendium um ein Jahr verlängert werde. Wir, und auch die Austauschstelle würden in der nächsten Zeit darüber informiert. Unfassbar, was hatte dieser Mann für Kanäle. Wahrscheinlich hatte er auch für eine Bescheinigung über Lee Aangs hervorragenden Deutschkenntnisse gesorgt. Ich fragte Lee Aang danach. „Wenn es so wäre, Piet, könnten mein Vater und der Mann, der es gemacht hat, bestraft werden. Deshalb ist es nicht so. Was soll das im Übrigen, ich kann doch Deutsch reden und verstehen. Vergiss es Piet.“ erklärte Lee Aang. Wir warteten jeden Tag auf die Post aus Nanjing. Meistens hatte schon jemand von uns den Postboten gesehen und nahm ihm die Post aus der Hand, aber nichts kam. Lee Aang hielt uns mit Beispielen reich garnierte Vorträge über die Arbeit der Behörden in China. „Eine Pekingente muss lange schmoren, aber was du von der Verwaltung zugeschickt bekommst, ist meistens längst verschmort.“ erklärte Lee Aang, „Wenn ich wieder in Nanjing bin, werdet ihr Post bekommen, dass ich hier bleiben kann.“ Das glaubte sie selber nicht, einerseits lachte sie dabei und andererseits wäre ihr „wenn ich wieder in Nanjing bin,“ nicht so locker über die Lippen gegangen. Kurz bevor Lee Aang eigentlich wieder zurück gemusst hätte, kam auch die Bescheinigung der Verlängerung. Lee Aang führte mit jedem einen Freudentanz auf, sogar mit meinem Vater.


Die Gangster


Heute hätte sie eigentlich wieder abreisen müssen. Wir wollten ein wenig fei­ern. Morgens klingelte es. Mutter machte die Tür nicht ganz auf schaute nur und hatte blitzartig geistesgegenwärtig die Situation erfasst. Zwei Männer in dunklen Anzügen wollten Fräulein Wang sprechen. Mutter hatte einen Fuß hin­ter die nur einen Spalt geöffnete Haustür gestellt und rief ins Haus: „Jonas, ruf die Polizei, ganz schnell. Hier sind zwei Gangster.“ Sie vergewisserte sich noch­mal: „Jonas, hast du die Polizei gerufen?“ Die Männer waren nicht gegangen, als Mutter ihnen erklärte, Fräulein Wang sei nicht zu sprechen. Hartnäckig be­harrten sie darauf, sie unbedingt sprechen zu müssen. Aber da kamen schon zwei Polizeibeamte. Jetzt wollten die Männer doch lieber gehen, aber die Poli­zeibeamten hielten sie am Gartentörchen auf. Sie redeten einiges mit ihnen, dann mussten sie ins Polizeiauto steigen und wurden mitgenommen. „Ich rufe sie gleich an, Frau Langenbach.“ sagte einer der Polizeibeamten zu Mutter. Wir waren völlig perplex. Ganz offensichtlich hatten diese Männer Lee Aang holen wollen. Nicht zu fassen. Wo war Lee Aang überhaupt? Unter ihr Bett hatte sie sich verkrochen. Sie schluchzte und bekam sich gar nicht wieder ein. Auf mei­ner Schulter liegend wurde es langsam besser und Lee Aang schlief ein. Auch nach dem Schlaf war sie noch ganz aufgeregt. Wir versuchten sie zu beruhi­gen. Es sei doch alles vorbei. „Die kommen wieder sagte sie, die kommen im­mer wieder, wenn du sie nicht einsperrst.“ befürchtete Lee Aang. Mutter rief nochmal bei der Polizei an. Die beiden Burschen waren immer noch da. Sie hatten keine Papiere dabei und hatten zu dem noch gelogen. Da wurde von der Polizei alles bis ins letzte überprüft. Zu einem Security Unternehmen gehörten sie. Es war zwar eine deutsche Firma, die aber nur Chinesen beschäftigte. Sie würden Chinesen hier in Problemlagen helfen. Sie hätten Fräulein Wang helfen sollen, ihr Flugzeug nicht zu verpassen. Zwang, nein so etwas gäbe es bei ihnen nicht. Letztendlich war alles korrekt und dass sie etwas ungesetzliches getan hätten, konnte man ihnen ja nicht vorwerfen, aber zu uns würden sie bestimmt nicht wiederkommen, wenn damit ein Tag auf dem Polizeirevier verbunden war. Trotzdem blieb Lee Aang verstört. „Lee Aang, was gewesen wäre oder hätte sein können. Es ist nicht so, oder möchtest du gerne Angst haben. Meine Eltern waren der Ansicht, Lee Aang müsse sich von dem Schock erholen, sie brauche für kurze Zeit eine andere Umgebung. Mutter wollte Beate, ihre Freundin, die Lee Aang auch gut kannte fragen. Vater meinte aber sie müsse ganz raus, er dachte an seine Schwester Marion, die mit einem Arzt in einer ländlichen Kleinstadt wohnte. Also zwei Wochen bei Tante Marion und Onkel Tobias auf dem Lande. Tante Marion war ganz beseelt von dem jungen Glück, während Onkel Tobias meinte: „Lee Aang hat doch einen richtigen Schock erlitten. Das muss man doch behandeln. Vierzehn Tage auf's Land reichen da nicht aus. Dein Vater müsste das doch am besten wissen.“ Wir gingen viel spazieren. Hier war man tatsächlich direkt in der Landwirtschaft. Lee Aang sinnierte darüber, warum die Deutschen wohl ihre Pferde so lieben würden. War ein Pferd als Freund das Surrogat für eine nicht vorhandene glückliche menschliche Beziehung? Weckte der Anblick des kräftigen, eleganten Pferdes ästhetische Assoziationen, die in sonst trister Umgebung nicht angesprochen wurden? Mir war's ziemlich schnuppe. Sollten doch die Männer ihre Hengste lieben und ihre Blechkarossen vergessen. Aber man sagt, der Niedersachse liebe sein Pferd mehr als seine Frau. In der Kleinstadt ist der Arzt noch eine angesehene Persönlichkeit, und Tante Marion kannte alle Leute. Überall hin wurden wir eingeladen. Eine leibhaftige chinesische Studentin, die beinahe entführt worden wäre, war auch trotz Medien etwas leicht exotisches. Lee Aang verstand es immer wieder, schnell die Herzen der Menschen zu gewinnen. Wir sollten doch heiraten, war die Empfehlung, die wir am häufigsten hörten. Auf dem Lande heiratet man schnell. Mir lag der Gedanke daran so fern, dass ich gar nicht weiter darüber nachdachte. Auch Lee Aang hielt nichts davon. „Nach der Hochzeit hat der Mann eine Frau, aber die Frau hat nicht einen Mann. Sie ist die Frau eines Mannes geworden. Unser Verhältnis jetzt ist doch viel besser.“ sagte sie. Natürlich wurden Tante Marion und Onkel Tobias zu uns eingeladen, denn wer noch nie von Mutters und Lee Aangs Pekingente gekostet hatte, konnte auf dieser Welt kein restlos glückliches Leben führen.


Wieder zu Haus


Lee Aang war wieder voll in ihrer alten Welt. Die zwei Wochen Landurlaub zeig­ten ihre Wirkung. Keine Angst mehr vor menschenraubenden Security Män­nern. Mein Vater hatte Anzeige gegen den Leiter des Stipendiumsbüros wegen Beihilfe zum Menschenraub gestellt. Der Anwalt hatte ihm aber gleich klar ge­macht, dass es nur symbolische Wirkung haben würde und sie in Zukunft wohl nicht mehr diese Firma damit beauftragen würden. Vielleicht musste der Leiter ja auch melden, dass und warum Anzeige gegen ihn erstattet worden war, und dann könnte es dienstlich doch noch Konsequenzen für ihn haben. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, wie man einen Menschen gegen seinen Willen durch die Flughafenkontrollen bringen könne. „Sie drohen dir.“ sagte Lee Aang, „Deinem Vater oder deiner Mutter würde sonst etwas zustoßen. Und das geschieht dann auch wirklich. Die gehören zu einem chinesischen Verbrechernetz, das weltweit operiert.“ Lee Aang sah sich aber nicht mehr in den Klauen der chinesischen Mafia und nicht einmal mehr in denen ihrer Austauschorganisation. Sie wollte ab jetzt Philosophie studieren, das gefiele ihr besser. Meine Ohnmachtsanfälle konnten nicht bewirken, dass Lee Aang ihr Vorhaben in Zweifel zog. Auch wenn sie wie selbstverständlich hier lebte, sah ich sie doch noch den Bestimmungen ihres Stipendiums verpflichtet. Außerdem kannte Lee Aang sich gewiss unter den deutschen Philosophen und der deutschen Philosophie aus, aber das Studium umfasste doch mehr. Ob Lee Aangs Kenntnisse dazu ausreichen würden, bezweifelte ich. Letztendlich wurde sie auch gar nicht zugelassen. Sie hätte dafür ein APS Zertifikat der deutschen Botschaft in Peking benötigt. Jetzt hatte die Stipendiumsorganisation ein Sammelzertifikat besorgt. Sie konnte also gar nichts anderes studieren und musste zur Kenntnis nehmen, dass sie hier doch nicht völlig frei über sich verfügen konnte.


Deutsche Sängerin


Dass sie nicht Philosophie studieren durfte, ärgerte Lee Aang natürlich, aber sonst lebte sie voll hier. Wer am wenigsten daran dachte, dass sie in einem Jahr wieder nach Nanjing müsse, war Lee Aang selbst. Sie sprach und verstand mittlerweile viel und hatte die Lieder in der deutschen Musik entdeckt. Volkslie­der mochte sie nicht. Da erinnerten viele ans Marschieren von Soldaten, seien schnulzig oder stereotyp langweilig. Kunstlieder gefielen ihr. Mutter sollte sie am Klavier begleiten. Die beiden übten ständig, doch meistens vernahm man weder die Klänge des Pianos noch Lee Aangs Gesang. Dafür das Gelächter der beiden, wenn ihnen wieder etwas misslungen war. Mutter war eine begnadete Pianistin und miserable Pädagogin. Sie hatte mir ihr brillantes Können vorge­führt, angeblich, um mich auch zum Klavierspielen zu animieren. Ich sah die Geschicklichkeit ihrer Finger auch auch als Zauberkünste und wusste vor der ersten Klavierstunde, dass die mir angeborenen Finger dazu in meinem Leben niemals in der Lage sein würden, und lehnte das Klavierspielen lernen ab. Spä­ter erkannte Mutter selbst, dass es mit ihrer Pianokunst nicht weit her war. Sie spielte nur noch sehr selten in besinnlichen Momenten. Mit Lee Aang änderte sich das schlagartig. Ohne Klavier gab's keine Winterreise, und für ihr gemein­sames Werk musste sie nicht selten mehr können, als sie sich bislang zuge­traut hatte. Lee Aang trällerte den ganzen Tag irgendwelche Passagen, die sie besonders lustig fand. Immer wieder bekamen wir jedoch aus Jaques Offen­bachs Operette

„Lieschen und Fritzchen“ das „Juchhe das

Leben ist doch eine Freude. Juchhe das Leben ist doch ein Plaisir“ zu hören. Das gefiel Lee Aang über alle Maßen. Dass das Plaisir volle Leben in weniger

als einem Jahr sein Ende finden würde, davon wollte sie nichts hören. Jede und jeder der darüber mit ihr zu sprechen begannen, bekamen den Eindruck vermittelt, nicht zu ihren Freunden gehören zu können. „Lee Aang dein Vater hat das Unmögliche er­reicht, dass du noch ein Jahr länger bleiben konntest. Noch einmal wird es das

nicht geben. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. Nur müssen wir etwas tun und können nicht warten bis die Gangster wieder vor der Tür stehen. Frag doch mal deinen Vater, ob der keinen Rat weiß.“ schlug ich vor. Es gehe ihr nicht darum, keine Chinesin mehr sein zu wollen, aber ihr Herz habe ein Bedürfnis, dass stärker sei als alles andere und das erfüllt werden müsse. Sie wolle mit mir zusammen leben und das für immer. So lautete die Quintessenz von Lee Aangs Brief an ihren Vater.


Vater Wangs Rat


Nicht nur außergewöhnliche Kräfte und Mächte schienen Professor Wang aus Nanjing zur Verfügung zu stehen, seine Worte waren für Lee Aang Gold und Honig, wertvoll und köstlich. Um in Deutschland bleiben zu können brauche sie eine Aufenthaltsgenehmigung, schrieb er. Dafür seien allein die deutschen Be­hörden zuständig, und er kenne niemanden, der darauf Einfluss haben könnte. Wenn in Nanjing ein Mann und eine Frau immer zusammenbleiben wollten, würden sie heiraten. Lee Aang dürfe nicht den Fehler machen, die Eheschlie­ßung und ihre Liebe zu vermischen. Die Heirat sei ein staatlicher Akt. Man schließe einen Vertrag mit dem Staat, dass die Ehepartner sich an die beste­henden Gesetze und Regelung zur Ehe halten wolle, dann sei der Staat bereit, die damit verbundenen Vergünstigungen zu gewähren. Ob sich die Partner lieb­ten, interessiere den Staat nicht. Ein reiner Geschäftsvertrag, den man auch in irgendeiner Amtsstube unterschreiben könne. Was die Leute daraus machten, sei im Grunde ein aberwitziger Zirkus. Dann machte er weitere Ausführungen zur geschichtlichen Entwicklung der Heirat und zu der Lust von Menschen am Feiern allgemein. „Bei allem was mein Vater sagt, es ändert doch nichts an der Tatsache, dass du hinterher mein Mann bist und ich deine Frau bin. Ich will aber nicht irgendetwas von irgendwem sein. Ich will ich selber sein.“ erklärte Lee Aang. Das hinderte uns aber nicht daran, uns intensiv mit dem deutschen Eherecht und den entsprechenden Regelungen auseinander zu setzen. „Das ist ja schön, Piet, wenn wir alle Gesetze kennen, nur eigentlich geht es darum gar nicht. Entscheidend ist doch, was sie für eine Bedeutung für uns haben, wie sich Heirat und Ehe auf uns auswirken würden.“ gab Lee Aang zu bedenken. „Das kann ich dir sagen, Ehe und Familie bilden die Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft und tragen dazu bei, die Verhältnisse der kapitalistischen Produk­tionsweise zu reproduzieren. Der Staat greift schon regulierend in unsere pri­vaten Lebensverhältnisse ein. Was dein Vater sagt, ist nicht ganz richtig.“ er­klärte ich dazu. „Was mein Vater sagt, von den Rollenvorgaben, das sind Bilder, wie sie der technologisierten Welt des Kapitalismus heute recht sind, sie ver­körpern nicht die tatsächlichen menschlichen Bedürfnisse und Gefühle, sondern spalten eher ihr Bewusstsein und ihre Empfindungen. So wirkt sich der Kapita­lismus heute hier aus.“ Lee Aang, die aus einem kommunistischen Land kam, verfügte nur über ein beschränktes Wissen vom bösen Kapitalismus. Wenn wir tatsächlich heiraten sollten, dann würden wir so weit wie möglich versuchen, die Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise nicht zu reproduzieren. Na, bei einem solchen Beschluss, was sollte da denn noch passieren. In der Tat wurde der Gedanke ans Heiraten immer virulenter. Wir machten schon unsere Witze und Scherze darüber, bis wir es dann, ein viertel Jahr vor Lee Aangs Ab­reisetermin wirklich tatsächlich beschlossen. Es war schon wieder allerhöchste Zeit, denn für Lee Aang mussten Dokumente aus Nanjing angefordert und übersetzt werden.


Das Hochzeitskleid


Sollten wir einfach in Jeans und Pullover im Standesamt erscheinen? Den Staat spüren lassen, dass wir böse mit ihm waren, weil er sich in die Gestaltung un­serer Lebensverhältnisse einmischen wollte. Das wäre das beste gewesen, aber was sagten wir unseren Eltern: „Ach übrigens, wir haben geheiratet.“ So wollte Lee Aang es doch nicht. Wenn ihr Vater auch von dem aberwitzigen Hochzeits­zirkus gesprochen hatte, gratulieren würde er ihr schon gerne und für Lee Aang wäre es eine Freude. Ihre Eltern sollten eingeladen werden. Eine große Feier wollten wir aber nicht machen. Till und Beate, Mutters Freundin, sollten noch kommen und Tante Marion mit Onkel Tobias sowieso. Lee Aang wollte un­beding, dass Professor Sing mit seiner Frau eingeladen würden. Sie kämen be­stimmt. Und meine Schwester Gitta? Nein, sie passte nicht dazu. Wahrschein­lich wäre sie auch sowieso nicht gekommen. Hinterher fühlte sie sich noch ver­pflichtet. Viel vorzubereiten gab es für die Hochzeit nicht. Das Mittagessen musste es natürlich bei uns zu Hause geben, die Pekingente. Abends wollten wir in ein Restaurant mit einem kleinen Saal gehen.


Ein Hochzeitskleid das wollte Lee Aang nicht, weder ein deutsches noch ein chi­nesisches. Ein chices Kleid brauche sie aber schon und natürlich aus Seide. Das gab es aber nicht. Kleider aus Seide gab es genug, aber keins, das in etwa mit Lee Aangs Vorstellungen von einem Kleid zu diesem Anlass korrelierte. In die ungekannten Welten der europäischen Seiden Haute Couture arbeite ich mich vor, und tatsächlich, schließlich fanden wir in Paris ein Kleid, das Lee Aangs Vorstellungen entsprach. Bei Lee Aang handelt es sich um einen sehr einsichti­gen Menschen, aber sie konnte Setzungen treffen, gegen die auf diesem Planet kein Kraut gewachsen war. Dass für sie dieses Kleid wegen des Preises von über neuntausend Euro nicht sofort ausgeschieden war, wunderte mich schon. „Lee Aang, mit der Reise nach Paris wird es über zehntausend Euro kosten. Ich kenne niemanden, der dir dies bezahlen könnte, wollte und würde. Schlag es dir aus dem Kopf. Das Kleid wird es nicht geben, das kann es nicht geben.“ verdeutlichte ich ihr. „Ich will aber nur das. Ein anderes ziehe ich nicht an.“ reagierte Lee Aang trotzig. „Dann geh in Jeans, wollten wir ja sowieso.“ mein Kommentar. Ein großer Teil des Preises bestand bestimmt aus einem Bonus für das Modehaus und für Paris. Ob wir nicht hier mal fragen sollten, ob man so etwas auch könne? Wir druckten alle möglichen Fotos von dem Kleid aus und gingen damit zu einer Mode Designerin. Eine einfache Schneiderei, das kam nicht in Frage. Die Frau schaute sich die Fotos intensiv an. „Selbstverständlich kann ich das. Keine Frage. Nur das wird nicht billig. Mit zirka zweitausend Euro müssen sie schon rechnen. Es kommt darauf an, wie viel ich für den Stoff und den Besatz bezahlen muss, und das variiert.“ erläuterte die Designerin. Zwei­tausend Euro nicht billig? War das denn nicht fast geschenkt? Man musste nur vorher ein Kleid in Paris gesehen haben, das fünfmal so teuer war.


Deutsche Sängerin


Meine zukünftigen Schwiegereltern kannte ich bislang nur von Fotos. Auf dem Flughafen am Tag vor der Hochzeit lernte ich sie kennen. Lee Aang begrüßte ihre Mutter freundlich, doch ihren Vater mit Überschwang. Sie umarmten sich, scherzten und lachten wieder ohne Ende. Wenn ich in Lee Aangs Herz den ers­ten Platz belegte, dann musste der ihres Vaters ganz nahe daneben sein. Wir unterhielten uns mit Frau Wang, die ein recht passables Englisch sprach, bis wir Lee Aang und Herrn Wang zum Aufbruch mahnten. Zu Hause bei Kaffee, Tee und Gebäck teilte Lee Aang ihren Eltern mit, dass sie jetzt eine deutsche Sängerin geworden sei. Das musste sie erklären, und Frau und Herr Wang ver­langten nach einer Probe ihrer Gesangskünste. Mit „Komm meine Koloratursou­brette, man erwartet unseren Auftritt.“ lockte Mutter Lee Aang zum Piano. Mit Beethovens


Ich liebe dich, so wie du mich,
am Abend und am Morgen.


begannen sie, und Lee Aang erklärte, dass sie mir das immer singen müsse. Sie übersetzte es ihrer Mutter, die es nicht kannte. Die Bitte um die Hilfe Got­tes am Schluss übersah sie geflissentlich. Frau Wang fragte Mutter nach den Noten und spielte es einwandfrei vom Blatt. Anschließend folgte „Schlafe, schlafe, holder süßer Knabe.“ Franz Schuberts Wiegenlied, das singe sie mir immer zum Einschlafen, erklärte Lee Aang. Frau Wang kannte es auf chine­sisch, sehr amüsant. Damit waren sie bei Schubert. Frau Wang wusste von den Liederzyklen, hatte sie aber noch nie gespielt. Mutter und Lee Aang präsentier­ten ihr Bravourstück den „Lindenbaum“ aus der Winterreise von Franz Schu­bert. Sie hatten es häufig geübt, denn sowohl an Lee Aangs Sangeskünste als auch an Mutterspianovermögen stellte es höchste Ansprüche. Frau Wang bat Mutter um Noten, aber auf Anhieb gelang auch nicht alles, selbst wenn Frau Wang in einer anderen Klavierklasse spielte als Mutter. Plötzlich begann sie mit der „Träumerei“ aus den Kinderszenen von Robert Schumann. Sie spielte es wundervoll. Damit beschlossen wir unser Konzert am Nachmittag. Frau freute sich und lächelte ständig. Vielleicht sah sie einen späten Erfolg ihrer frühen Er­ziehung darin, dass Lee Aang sich jetzt mit Schumann und Schubert befasste. Sie war aufgelebt, lachte, scherzte und die anfänglich reservierte Distanziert­heit war verschwunden. Herrn Wang schien ein kontinuierliches Hochgefühl er­fasst zu haben, verursacht allein durch die Anwesenheit seiner Tochter. Lee Aang berichtete begeistert von Mahler, den sie kennengelernt habe. „Das ist eine ganz andere Art von Musik als Schubert, Mozart und Beethoven. Er hat mich verzaubert.“ erklärte Lee Aang. „Das ist bei uns am See. Der muss bei uns am See gewesen sein.“ hatte sie beim Adagietto in Mahlers fünfter Sinfo­nie verkündet. Das also hörte sie in den leicht wallenden Nebeln über dem stil­len See. Lee Aang hörte überall etwas. Das Gesehene hatte auch einen Klang, eine Melodie, einen Rhythmus. Für Lee Aang zeigte sich alles in einer Art Musik. Harmonie war eines ihrer sehr häufig gebrauchten Wörter, weil sie öfter Disharmonien sah und empfand. Natürlich kannte Frau Wang Mahler. Sie fragte Lee Aang, ob sie seine Lieder denn auch schon gesungen habe und lachte sich schief. „Meine Mutter ist richtig ausgelassen.“ urteilte Lee Aang. „So kenne ich sie gar nicht. Zu Hause war sie immer ernst und streng. Musik bedeutet ihr al­les, da liegt der einzige Zugang zu ihrem Herzen. Sie wird sich hier aufgehoben fühlen und glücklich sein.“ Wir mussten dringend vorm Abendbrot noch Mahler­lieder hören. Einen symbolischen Knuff in die Rippen gab es für Frau Wang. Lee Aang sah sich auf den Arm genommen. Wir hatten


„Ich bin der Welt abhanden gekommen.“ gehört und dafür musste man wirklich eine Koloratursoubrette sein. Frau Wang fragte, ob sie denn „Das Veilchen“ könne. Lee Aang schüttelte den Kopft. „M,m, geht nicht, aber das „Heidenrös­lein“ kann ich, und da sitzt der Knabe, der es gebrochen hat. In der Aufregung habe ich ganz vergessen, ihn zu stechen.“ meinte Lee Aang und wiederholte es für ihre Mutter auf Chinesisch. Worauf ich eine juxige Drohung mit Frau Wangs Zeigefinger bekam. Es war so slbstverständlich und aufgeschlossen, als ob Herr und Frau Wang und wir uns schon ewig kennen würden. Über alles konnten wir reden. Lee Aang plauderte stolz unsere Intimitäten aus und lachte sich dabei krumm. Es war ausnehmend gemütlich.


Die Heirat


Ich hatte Lee Aang ja zu den Anproben begleitet und die exaltierten Glücklich­keits Demonstrationen bei der Vorstellung des Kleides vor meinen Eltern erlebt. Jetzt stand sie stumm da, wie eine behängte Statue. „Das hättest du in Cina nicht bekommen.“ lautete Frau Wangs erste Äußerung, „Das ist europäische Haute Couture, Mailand, Paris.“ „Kommt ja auch aus Paris und hat zehntausend Euro gekostet.“ versicherte Lee Aang prompt, sah die ungläubigen Augen ihrer Mutter und begann zu lachen. Dann klärte sie Frau Wang über die Tatsachen auf. „Aber der Besatz kommt tatsächlich aus Paris, weil es hier so etwas nicht gibt. Frau Wang konnte sich an ihr Hochzeitskleid nicht mehr erinnern, aber dass es nicht dem Wert von zweitausend Euro entsprochen hatte, das wusste sie bestimmt. „Und dann noch für so ein kleines Kleidchen.“ fügte sie kopf­schüttelnd hinzu. Jetzt hatte Lee Aang doch ein eierschalenfarben weißes Kleid mit einem Besatz aus Lotosblüten, die die Unschuld verkörpern. Als Hochzeits­kleid würde es aber wohl niemand ansehen. Wofür dann? Gleichgültig. Mit Lee Aang bildete es jedenfalls den Ausdruck vollkommener Harmonie. Ob Lee Aang das gleich erkennen konnte und deshalb kein anderes Kleid wollte? Vielleicht hatte sie es ja sogar gehört.


Feierlich und würdevoll, so soll sich der Akt der Vermählung beim Standesamt gestalten, und dem hat auch das Empfinden der Beteiligten zu entsprechen. Mit einem langgezogenen „Jaha“ in tiefster Bariton Modulation antwortete Lee Aang. Es fehlte eigentlich noch ein Zusatz wie: „Für diemal geht das in Ord­nung.“ oder so ähnlich. Losplatzen konnte ich ja nicht. Lee Aang sei Chinesin und da könne es schon mal zu Problemen mit der korrekten Anwendung der deutschen Sprache kommen, erklärte entschuldigend. Die Mimik des Standes­beamten ließ erkennen, das Lee Aangs Reaktion nicht zu den Verhaltensweisen gehörte, die ihn beglückten und freundlich stimmten. Eventuell wäre er noch auf die Idee gekommen, die Zeremonie abzubrechen, weil wir sie nicht ernst nähmen. Das taten wir ja auch nicht, nur anmerken lassen, durften wir uns das nicht. Zum Schluss zu fragen: „May i kiss the bride?“ konnte ich mir allerdings nicht verkneifen. Der Standesbeamte reagierte, als ob er nichts gehört hätte. Wir müssten uns jetzt umarmen und Küssen, meinten die Eltern. „Das haben wir schon vor Monaten getan.“ machte Lee Aang deutlich, „Das hier war doch nur ein Affentanz.“ Sie lachte und musste ein chinesisches Wort dafür erfinden. 'Affentanz' war nämlich zur Zeit Lee Angs Lieblingsbezeichnung für überflüssiges, unsinniges und unangemessenes Verhalten und die damit verbundene Aktivitäten. Sie verdeutlichte es ihrer Mutter gestenreich und mit Beispielen.


Die Hochzeitsente


Wir hatten keine Sitzordnung festgelegt, aber dass Lee Aang sich einfach ne­ben Professor Sing setzt, sorgte schon für kleine Verwirrung. Natürlich musste ich neben ihr sitzen. Ich bat Till zu meiner anderen Seite, Gott lob. Meine mir soeben angetraute Gemahlin beliebte es nämlich, kein Wort mit zu wechseln, dafür sprach sie umso intensiver mit Professor Sing. Lee Aangs Kleid hatte am Morgen Aufsehen und Bewunderung erregt, die Zeremonie auf dem Standes­amt besaß keinen besonderen Erinnerungswert, jetzt wurde Lee Aangs Kleid aber der Rangplatz streitig gemacht. „Ich habe schon häufig Pekingente geges­sen.“ erklärte Professor Sing, „Aber diese ist einfach die vorzüglichste. Da brauche ich gar nicht zu überlegen.“ Lee Aangs Eltern, die sich auch auskann­ten, konnten das nur bestätigen. „Jetzt bekommen wir die Pekingente, und dazu noch auf eurer Hochzeit. Tobias, sag es, kann unser Glück vollkommener sein.“ scherzte Tante Marion. Sonst erweckt das Brautpaar immer den Ein­druck, am Tag der Hochzeit die glücklichsten Menschen zu sein. Bei uns war es eindeutig Tante Marion. Nach dem Essen sprach Professor Sing mich an. Lee Aang habe sich so lobend geäußert, vor allem aber habe es ihr meine Biblio­thek angetan. Sie und ich hätten in ihr das dringende Bedürfnis, Philosophie zu studieren, sich in ihr entwickeln lassen. Ich gab mich zurückhaltend, aber an­schauen mussten wir uns die Bücher schon einmal. „Lee Aang studiert dem­nächst Sinologie, warum tun sie es nicht auch?“ fragte Herr Sing. Jetzt war es an mir zu lachen. „Na, hören sie, sie haben eine chinesische Frau, da sollten sie doch auch ein wenig versuchen, ihre Welt zu verstehen. Aber im Ernst, der östlichen Philosophie kommt im Studium hier nicht der ihr gebührende Stellen­wert zu. Es ist ein komplett anderes Denken, eine Welt, die sich völlig losgelöst von der griechisch, abendländischen entwickelt hat. Aber man kennt sie nur als Geschichte. Untergegangen ist sie, weil sie sich nicht entsprechend weiter ent­wickeln konnte. Schade ist, dass so vieles Wertvolle und Erhaltenswerte auch mit in den Müll geworfen wurde. Die Menschen heute verstehen es schon gar nicht mehr. Mao war sicher kein Freund Chinas, der die chinesische Kultur ge­rettet hat.“ schloss Herr Sing lachend. Dann erzählte er mir sehr persönlich, wie er schon früh erkannt habe, dass die Kulturrevolution der falsche Weg sei und er über Indien und England nach Deutschland geflohen sei. Auch ohne ein Wort der Sprache zu verstehen, genau wie Lee Aang. „Sie muss wirklich eine Fee sein. Jede und jeder andere wären sofort wieder nach Hause geschickt worden, und sie trifft auf eine so wundervolle Familie. Ach, übrigens, sie sind zum Essen eingeladen. Ich habe es Lee Aang schon gesagt. Nur erwarten sie nichts Besonderes, Pekingente, so etwas gibt es bei uns nicht, deutsche Haus­mannskost, Salzkartoffeln mit Rotkohl.“ sagte es und lachte. „Lee Aang hat Nietzsche gelesen, sagt sie. Ich zeigte Herrn Sing das Buch. Er blätterte und lachte: „Das verstehe ich allein auch nicht. Da brauchte ich auch ihre Hilfe.“ Wir sprachen noch über die Entwicklung des Kommunismus in China, und ka­men dabei von jetzt auf Geschichtliches. Ein unendliches Diskussionsthema auch für mich, denn ich war während der Schulzeit eine zeitlang Mao-Fan ge­wesen. Wir wurden aber zu einem Konzert gerufen. Professor Sing gab mir noch eine Buchempfehlung über China. Ein anderer, sehr kompetenter deut­scher Sinologe habe es herausgegeben. Es umfasse die ganze chinesische Ge­schichte bis heute. „Hinterher sind sie sicher besser über China informiert als ihre neue Frau.“ scherzte Herr Sing.


Hochzeitsfeier


Frau Wang begann mit einem anderen Stück aus Robert Schumanns Kindersze­nen „Von fremden Ländern und Menschen“. Das passte nicht nur gut, Frau Wang spielte auch so bezaubernd, wie Mutter es wohl nicht gekonnt hätte. Dann gab es einige Liedvorträge mit Lee Aang Wang, Gesang, und Sybille Lachmann, Klavier. Sie konnten bei weitem nicht ihr gesamtes Repertoir zum Vortrag bringen, weil das Publikum ständig applaudierte und kommentiert. Zum Schluss musste Mutter noch einmal

„Juchhe das Leben ist doch eine Freu­de. Juchhe das Leben ist doch ein Plaisir“

„L'insensé“?“ fragte Lee Aang an mich gewandt. „Zu essen bekommen wir da genug, familiär wird’s da bestimmt schnell, und Charly ist ein wunderbarer Mensch. „Warum nicht?“ sollte meine Mimik zum Ausdruck bringen. Antworten konnte ich nicht, weil ich mir das Lachen verkneifen musste. Zum Hochzeits­abend in ein Bistro? Na, warum nicht? Herr Sing, der das „L'insensé“ auch kannte, musste sich auch offensichtlich das Lachen verkneifen. Lee Aang ver­breitet den Vorschlag und pries die Vorzüge dieses Etablissements. Also auf ins Bistro „L'insensé“.


Das Bistro „L'insensé“


„Lee Aang, was ist los? Lass dich anschauen. Warte, ich hole eben den Fotoap­parat.“ entfuhr es dem erstaunten Charly als Lee Aang zur Theke kam. Sie sprachen miteinander über die Theke gebeugt, Charly lachte laut auf, beugte sich vor und zog Lee Aangs Kopf zu sich, um ihr einen Kuss zu geben. Charly wollte alle Hochzeitsgäste persönlich begrüßen. Herr Wang fragte ihn, ob er auch Pekingente auf der Speisekarte führe. Es sei eine vorzügliche Köstlichkeit. Charly verstand nicht und Lee Aang erklärte ihm. Charly lachte. „Ich sollte ihre Tochter als Köchin beschäftigen, aber sie ist eine so intelligente und kluge Frau, und darüber hinaus ist sie heute Abend noch die schönste Frau, die seit langem, was rede ich, die jemals dieses Lokal betreten hat.“ antwortete Charly. Charly begrüßte jeden und Lee Aang gab dazu kommentierende Erläuterungen. Als er zu mir kam, zog Charly mir am Ohrläppchen und meinte: „Warum hast du Lee Aang nicht gesagt, dass sie mich heiraten soll? Ich denke wir sind Freunde.“ „Wenn ich nicht gewusst hätte, das du verheiratet bist, hätte ich das doch gemacht. Was denkst du, Charly?“ reagierte ich. Wir kannten uns seit der Schule. „Leider kann ich nur das zubereiten, sowie es auf der Speisekarte steht, und ein wenig länger dauern wird es auch wohl. Ich bin allein in der Kü­che, und damit konnte ich ja nicht rechnen.“ entschuldigte sich Charly. „Kön­nen wir dir denn nicht irgendwie helfen?“ schlug Lee Aang vor. Charly überlegte und meinte: „Na klar doch.“. Alle Frauen wollten dem Wirt am Hochzeitsabend in der Küche helfen. Ob das familiär wurde? Ich musste viele Gerichte erklären. Charly war weit in der Welt herum gekommen und seit einigen Jahren wieder zu Hause. Seine ganzen lukullischen Erfahrungen hatte er auf der Speisekarte verewigt. Es gab auch etwas Chinesisches, aber Charly riet Frau und Herrn Wang ab, es zu bestellen. Nach dem Essen erklärte Charly: „Ich würde gern mit der Braut tanzen, aber zuerst muss das Brautpaar doch selber.“ „Und nach welcher Musik?“ wollte ich wissen. Charly sinnierte kurz, ging nach hinten und kam mit zwei Walzer CDs zurück. An Lee Aangs Mimik konnte man erkennen, für wie brauchbar sie den Titel hielt. „Au ja, das kenn ich, das ist gut.“ erklärte sie erfreut. „Können wir das denn tanzen? Das ist doch Ballett.“ befürchtete ich. „Nö, Walzer eben.“ lautete Lee Aangs lapidare Reaktion. Also wurde der „Blumenwalzer“ aus dem Nussknacker von Tschaikowski unser Hochzeitstanz. Mit der simplen Walzerschrittfolge funktionierte es nicht immer so ganz, dann schmusten die Zuckerfee und ich. Aber was bedeutet denn die Schrittfolge, die Musik nahm uns in ihren Bann und ließ uns Glück empfinden. Eine Stimmung aus Lyric-Time, Sentimentalität und Liebe kam auf, so dass wir uns zum Schluss innig umarmen und küssen mussten. „War das jetzt der Hochzeitskuss?“ erkundigte sich meine Mutter schnippisch und Frau Wang war ganz beseelt, dass wir den Blumenwalzer getanzt hatten. Anschließend tanzte man weiter die üblichen Donauwellenwalzer. Mein Vater und Lee Aang benahmen sich unanständig. Den ganzen Tanz über lachten sie. Einer sagte dem anderen irgendetwas und dann bogen sie sich vor Lachen. Charly war mittlerweile zum voll integrierten Mitglied der Hochzeitsgesellschaft geworden. Alle redeten mit ihm, als ob sie ihn schon genauso lange kennen würden wie ich, und einige Frauen wollten mit ihm tanzen. Professor Sing umarmte mich, als er sich verabschiedete. „Es ist schon sehr lange her, dass ich auf einer deutsch-chinesischen Hochzeit war, aber mit so vielen Überraschungen, in so wundervoller Stimmung, so unkonventionell und ohne falschen Pomp und Glitter das habe ich noch nicht erlebt. Es war ein wundervoller Tag. Ich danke ihnen dafür.“ sagte er zu mir und zu Lee Aang sagte er noch mehr. Frau Sing drückte mir die Hand. „Es war herrlich, es hat mir sehr gut gefallen, danke schön.“ sagte sie nur.


Bis Wangs Abschied


„Ich bin kein Freund von Heiraten und Hochzeiten, aber nach eurer sollte ich es mir vielleicht doch nochmal überlegen. Hat Lee Aang keine Freundinnen, die einen deutschen Studenten suchen?“ fragte er scherzend. Es war keine große Hochzeitsfeier gewesen und wir hatten keinen besonderen Stress gehabt, aber ein Gefühl ständig unter Strom gestanden zu haben, wie Vater sagen würde, gab es schon. Wir wollten die nächsten Tage ruhig und entsannt verbringen wollen, viel spazieren gehen und Dergleichen. Dabei hatten wir überhaupt nicht bedacht, dass Lee Aangs Eltern ja noch die Woche über bei uns sein würden. Also, Sightseeing. Der Dom war selbstverständlich. Von der Loreley und dem Drachenfels riet Lee Aang ab. Sie hatte beides schon gesehen. Was denn mit Beethoven und Bonn sei, erkundigte sich Frau Wang. „Der hat seine ganze Musik doch in Österreich geschrieben.“ wusste die kundige Lee Aang. „Er hat in Bonn gewohnt. Da steht auch noch sein Haus und ist heute ein Beethoven-Mu­seum. Ich würde das schon empfehlen.“ war meine Ansicht. Nach kurzer Erläu­terung stand fest, das auch das Römisch-Germanische Museum besucht wer­den sollte. Und dann mussten wir noch unbedingt nach Düsseldorf. Dort gab es ein Museum von einem ganz bedeutenden deutschen Dichter, das eigentlich je­der Chinese gesehen haben sollte, Lee Aang und ihr Familie dürften es aber keinesfalls versäumen. Heinrich Heine war zur Zeit Lee Aangs neuer Favorit. Durch ihre Lieder war sie darauf gekommen. Den untergründigen Spott und die Ironie, die vielfach in seinen Gedichten zu finden waren, musste ich Lee Aang erklären. Auch die Loreley, die sie schon vorher kannte, und abfällig als Schnulze bezeichnet hatte, gehörte jetzt zu ihren liebsten Gedichten. Das Lied mochte sie trotzdem nicht.


„Piet, es war alles wunderbar. Es gab nichts Falsches oder Unangenehmes, al­les war o. k. wie es gelaufen ist. Trotzdem bin ich froh, wenn wir jetzt wieder unter uns sein werden.“ erklärte Lee Aang am Abend vor der Abreise ihrer El­tern. „Ich verstehe es nicht. Mit Papa und Mama sind wir doch auch ständig zu­sammen und da kommen solche Gefühle nicht auf.“ „Du bist eben schon zu sehr Deutsche und da kann man irgendwann diese Chinesen nicht mehr ertra­gen.“ reagierte ich mit ernster Mine. „Du bist ein Arschloch, ich habe es ernst gemeint. Sag etwas Vernünftiges dazu.“ Lee Aang leicht ärgerlich. „Ich denke, es besteht ein anderes Verhältnis zwischen dir und deinen Eltern und meinen Eltern. Biologisch sind deine Eltern Vater und Mutter und werden es immer bleiben, aber für dich entscheidend ist doch, wie sich das soziale Verhältnis ge­staltet. Davon haben die Eltern Bilder, wer sie dir gegenüber als Vater und Mut­ter sind. Entweder haben sie die selber zusammen gestrickt oder sie leben nach den üblichen Rollenvorgaben. Wenn die Brutpflege zu ende ist, brauchst du aber diese sozialen Eltern nicht mehr. Junge Menschen brauchen gute Freunde, aber nicht Erwachsene, die weiterhin Papa und Mama spielen wollen. Die meisten Eltern behalten diese Rollen aber ihr Leben lang bei. Das beinhal­tet auch eine gewisse Distanz. Gleiche können sie nicht werden, sie bleiben im­mer Eltern und Kinder. Wenn das bei uns auch so gelaufen wäre, wohnte ich jetzt bestimmt nicht mehr hier. Warum meine Mutter das verändert hat, weiß ich nicht. Bestimmt intuitiv, weil sie mich irgendwann lieber als gleichberech­tigten Freund haben wollte. Dass mein Vater mich als seinen Jungen sieht, das kann ich mir nicht vorstellen. Er wird seine Rollenvogaben genauestens über­prüft haben. Papa und Mama sind in Wirklichkeit längst nur noch alte Namen. Ich empfinde mich wie in einer WG mit drei gleichberechtigten Partnern. Ja, und da haben wir eben noch jemanden gesucht und dich genommen.“ stellte ich meine Sicht dar. „Und fragen, ob ich überhaupt wollte, brauchtet ihr mich nicht?“ Lee Aang schelmisch. „Doch, haben wir ja, aber du hast ja nix verstan­den. Da haben wir es eben so beschlossen und mit zwei Küssen besiegelt.“ antwortete ich. „Aha, so war das.“ kommentierte Lee Aang schmunzelnd.


Die Verabschiedung am Flughafen gestaltete sich melodramatisch. Als ob Freunde für immer sich für endlos lange Zeit voneinander trennen müssten, auch wenn man dabei ständig „We'll see in Nanjing” oder „Soon in Nanjing.” re­petierte. “Ich habe es ihnen gesagt.“ so Lee Aang später. Mein fragender Blick ließ sie näher erklären. „Ja, ich habe ihnen gesagt, dass ich keinen Vater und keine Mutter mehr gebrauche, sondern sehr gute Freunde. Ich habe es jedem einzeln gesagt. Mein Vater hat es sehr schnell verstanden und seine neue Freundin umarmt. Meine Mutter war zunächst konsterniert, verstand es dann aber doch und fand meine Gedanken auch richtig.“ erklärte Lee Aang. „Ich weiß nicht, ob ein rationaler Beschluss da viel ändern kann. Es sind doch Ein­stellungen und Empfindungen, die stark mit Emotionen verbunden sind.“ äu­ßerte ich meine Bedenken. „Du Griesgram, willst mir nur meinen Stolz und meine Freude verderben. Mit Sicherheit werden meine Eltern untereinander darüber reden und nach neuen Wegen suchen. Unberührt hat es jedenfalls kei­nen von beiden gelassen. Dass sich etwas ändert, da bin ich mir ziemlich si­cher.“ Lee Aang dazu.


Deutsch Frau oder China Mädchen


Verheiratet und alle Probleme sind gelöst, dachten wir. Nur leider war es bei weitem nicht so. Lee Aang war ja noch chinesische Staatsbürgerin, hatte einen chinesischen Pass. Wir hatten schon eine Kopie unserer Heiratsurkunde in eine Folie eingeschweiß, aber überall half die auch nicht. Für die Uni zum Beispiel reichte das nicht. Professor Sing wollte sich um eine Sonderregelung für diesen Ausnahmefall bemühen und würde wohl Erfolg haben. Aber überall gab es Pro­bleme. Alle rieten ihr zu einem Wechsel der Staatsbürgerschaft. „Ich will das nicht. Ich bin keine Deutsch-Frau. Ich bin in China geboren, dort aufgewach­sen, dort zur Schule gegangen. Ich bin eine Chinesische Frau und will es auch bleiben. Alles an mir ist chinesisch, und das soll auf einmal nicht mehr stim­men, plötzlich alles deutsch? Hier und hier und hier,“ wobei sie immer ein Stück Gesichtshaut zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, „ist das etwa deutsch? Das ist alles chinesisch und soll es auch bleiben. Piet, bitte, sag mir, dass ich ein chinesisches Mädchen bin. Ich muss es hören.“ „Das kann ich dir so auch nicht sagen.“ reagierte ich, „Dass du eine chinesische Frau bist, das sag ich dir gerne, und das wirst du auch immer bleiben. Niemand kann oder will das ändern. Es geht um etwas anderes, ob du als chinesische Staatsbürge­rin der Bundesrepublik Deutschland werden oder der Volksrepublik China blei­ben willst, ob du in Zukunft Frau Merkels Gesetze oder weiterhin die von Herrn Hú Jǐntāo zu beachten hast. Eine chinesische Frau bleibst du so oder so.“ Lee Aang konnte sich nicht direkt entscheiden. „Es drängt ja auch nichts. Lass dir Zeit und frag andere nach ihrer Meinung.“ war meine Ansicht. Alle rieten ihr, Deutsche zu werden. Selbst ihr Vater war der Ansicht, dass es doch vieles ver­einfache und erleichtere, wenn sie sowieso für immer hier bleiben wolle. Die rationalen Gründe waren deutlich, aber diese Vorstellung, keine Chinesin mehr zu sein, an China zu denken, und nicht mehr 'mein Land' sagen zu dürfen, war unangenehm, bereitete sogar ein schmerzliches Empfinden. Es kam ihr vor, als ob sie damit 'ihr China' abgeben müsse. Fröhlich trällernd kam Lee Aang zum Frühstück. Ich habe es mir überlegt. Sentimentale Gefühlskonstrukte sind das. Ich bin reifer geworden. Wo denn China in letzter Zeit für mich? In meinen Ge­danken und Erinnerungen. Da hatte es einen guten Platz, da soll es bleiben und wird es auch, wenn ich einen deutschen Pass bekomme. Ich umarmte Lee Aang, wofür eigentlich? Ich weiß es nicht, jedenfalls versprach ich ihr einen Empfang von Frau Merkel, damit sie die neu Bürgerin aus China begrüßen kön­ne.


Musikalisches Urerlebnis im Urlaub mit guten Freunden


Menschen, die unmöglich und unerreichbar Scheinendes wünschen oder wol­len, gibt es sicher viele. Lee Aangs Besonderheit bestand darin, dass sie es aber trotzdem meistens auch erreichte. Dass Professor Sing und ich gute Freunde sein sollten, hatte sie schon sehr früh gewünscht. Längst waren wir es

natürlich. Sings hatten uns eingeladen, wir sie wieder, da begann die Beziehung schon näher zu werden. Kristina Sing konnte längst Pekingente zubereiten, machte es aber allein zu Hause nicht, und Mutter hatte einige chinesische Kuriositäten kennengelernt. Das wäre mit Lee Aang nicht denkbar gewesen. Mittlerweile luden wir uns nur noch selten zum Essen ein, aber sich zum Kaffeetrinken besuchen war selbstverständlich. Prof. Sing rief an, sie kämen gerade vom Spaziergang. Wenn wir Lust hätten, würden sie vorbei kommen und ein paar Stückchen Kuchen mitbringen. Wann man ein guter Freund ist, weiß ich gar nicht so genau, jedenfalls lief alles bei uns so selbstverständlich. Wir saßen bei Sings, sprachen über Musik und Lee Aang fragte sich, warum so viele Komponisten in um Wien gelebt und dort ihre Musik verfasst hätten. Wir sprachen noch weiter über Kunst und Kultur in Wien und

Lee Aang meinte: „Alle rationalen Argumente mögen ja ihre Berechtigung haben, aber als Künstler brauche ich doch auch eine Atmosphäre, eine Umgebung, die mir Anregungen gibt und mich inspiriert. Ich würde das gern mal erleben, vielleicht verspüre ich ja auch etwas.“ Natürlich, wenn Lee Aang durch den Wienerwald lief, würde sie überall die Melodien hören. Sie hatte mir von den unterschiedlichen musikalischen Harmonien, mit denen sie aufgewachsen war erzählt. Als Kind habe sie die europäische immer als die höherwertige angesehen aber später die Ansicht vertreten, dass die chinesische ein anderes Empfinden vermittle, das von höherer Sensibilität ausgehe. Aber ob in europäischen Wäldern Klänge nach chinesischen Harmonien zu vernehmen sein würden, sollte man das nicht eher anzweifeln? In Wien war noch niemand außer mir gewesen, und ich hatte auch fast nur den Stephansdom gesehen. Interessant fanden es alle aus den unterschiedlichsten Motiven. „Warum fahren wir nicht alle zusammen im Urlaub hin?“ schlug Lee Aang vor. Nach kurzer Diskussion stand es fest. Wie sollte man sich auch dem dringenden Bedürfnis, die Albertina sehen zu wollen widersetze? Wir wohnten in einer Pension in einer kleinen Stadt bei Wien. Zufällig hatte hier auch Beethoven gelebt und Arnold Schönberg die 12-Ton-Musik entwickelt. Die meiste Zeit verbrachten wir in Wien, aber Lee Aang wollte auch etwas von der Stimmung im Wienerwald erleben. Wir besuchten Landgasthäuser und Heurige, sahen uns einiges an und Lee Aang meinte: „Idyllisch ist ein falsches Wort, aber eine gewisse Harmonie vermittelt die Gegend schon. Ich kann mir

durchaus vorstellen, dass sie von Komponisten als anregend empfunden wird. Was Lee Aang im Stift Heilgenkreuz empfand, hat sie uns nicht genau wissen lassen. Natürlich mussten wir die Mönche singen hören. Lee Aang machte es verrückt. Nochmal oder Zugabe hätte sie am liebsten gerufen. So etwas hatte sie noch nie gehört. Wundervoll, umwerfend und dabei völlig außerhalb ihrer bisher bekannten Musikerlebnisse sah sie den Gesang der Mönche. Dass die CD


„Die Frau Langenbach
wäre heut sehr gern bei uns gewesen,
aber leider muss sie zu Hause in der Küche stehn
und ihrem Männe die Pfannkuchen braten.“


wollte ich als Beleg anführen. „Du lügst.“ Lee Aang direkt, „Das ist nicht die normale Umgangssprache. Du hast sie dir beim Singen rhythmisch zurecht ge­legt. Und außerdem hast du so kleine Chorkapriolen eingefügt, wie kommst du darauf. Ich denke, du hast gregorianischen Gesang sehr früh gehört. Er liegt dir im Blut.“ „Vielleicht? Aber es ist wirklich nicht schwer. Du kannst es auch. Versuch's doch mal.“ Grinsend überlegte Lee Aang, sammelte sich, grinste nochmal und legte los:


Die Frau Sing möchte gerne Choräle singen können,
nur sie will und will nicht dafür üben.


Applaus und Lachen für die Sängerin. Die fuhr fort:


So herrliche Anlagen hat der Herr Sing dafür,
Nur leider macht er seinen Mund nicht auf.


Wir lachten und Lee Aang war ganz stolz. „Man könnte also den ganzen Tag al­les singen? „Guten Morgen, Piet, ich hoffe du hast schön geschlafen.“ demons­trierte Lee Aang und ich komplettierte: „Jetzt und in alle Zeit und in Ewigkeit, Amen.“ Lee Aang mach das bloß nicht. Deine Stimme ist eine viel schönere Musik als gregorianischer Gesang.“ In der Pension musste die CD sofort ge­spielt werden. Die Wirtsleute freuten sich, sie waren stolz auf „ihre Mönche“. Immer wieder versuchte sich Lee Aang bei allem in gregorianischen Gesängen, dass ich sie stoppen musste. „Lee Aang, du nervst mit deinen permanenten Kirchenliedern.“ erklärte ich. „Mein Liebster, nenn mich 'La Gregoriana'.“ alber­te sie. Es war sowieso oft sehr lustig und albern. Kristina Sing und Lee Aang liebten es Nonsensgespräche zu führen. In ihren Augen sah man, dass ihr Zwerchfell bibberte. „Wie kommst du im Leben damit klar, als chinesisches Mädchen nicht in China geboren zu sein. Belastet es dich sehr stark?“ fragte Lee Aang und Kristina musste erst schlucken, damit sie nicht losplatzte. Das chinesische Mädchen war häufiges Objekt ihrer absurden Unterhaltungen. Herr Sing fand die Gespräche der beiden auch amüsant. Sings waren längst zu Kris­tina und Feng Cheng geworden. Kristina hatte gesagt, es störe sie jedes mal, wenn sie von Lee Aang „Frau Sing“ höre. Man solle den Quatsch doch lassen. „Ich erlebe meine Frau ganz anders als zu Hause.“ sagte Herr Sing. „So lacht sie zu Hause nicht. Sie muss glücklich sein. Hier kann sie offen leben unter Freunden, zu Hause ist alles strukturiert durch die Anforderungen der Alltags­routine. Es ist zu vieles vorgegeben, ein freies gefühlsbetontes Leben wie hier stört da eher.“ Die Erfahrungen und Erlebnisse stellten Vorstellungen, die unse­re Motivation ausgelöst hatten, völlig in den Schatten. Die musikalisch kreative Atmosphäre spüren, wollte Lee Aang und hatte ihr musikalisches Urerlebnis. Meinen Eltern war diese Art zu singen etwas Gewohntes, sie kannten es aus ih­rer Kinder- und Jugendzeit. Lee Aang musste ihnen natürlich in zahlreichen Beispielen ihre Künste präsentieren. „Du hast doch gelogen.“ meinte Lee Aang, „Die Gesänge sind nämlich schon alle ganz verschieden. Zehn Jahre muss man üben, bis man alles kann.“ Meine Mutter machte noch eine Messe aus, in der gregorianisch gesungen wurde und damit war Lee Aangs Erkundungsbedürfnis gregorianischer Musik genüge getan. Sie mochte sie auch weiterhin und ab und zu sang sie auch, wenn ihr danach war, aber eine weitere Beschäftigung damit fand nicht statt.


Abendländische Kultur


Dazu hatten wir auch gar keine Zeit. Lee Aang und ich waren beide voll invol­viert in unser Studium. Zum Abendbrot war jedoch der Arbeitstag beendet. An­schließend war unsere Zeit. Wir brauchten sie dringend. Wenn Lee Aang auch hervorragend Deutsch gelernt hatte, fehlte ihrem historischen Bewusstsein der europäische kulturgeschichtliche Hintergrund. Sie war nicht hier aufgewachsen und in ihrer bisherigen Lektüre wurde das auch nur sekundär angesprochen und veranlasste Fragen. Einfache Tatsachenberichte reichten Lee Aang aber nicht, sie wollte die Bedeutung und Auswirkung für unser jetziges Leben erläu­tert haben. Das wusste ich doch oft selber nicht. „Sonst sind das nur Kinderge­schichten.“ argumentierte sie. Immer wieder kam auch etwas zur Sprache, das im Zusammenhang mit der christlichen Religion stand. Als Lee Aang immer weiter fragte, erklärte ich leicht genervt: „Nein, Lee Aang, den ganzen zweitau­sendjährigen Sermon erzähle ich dir nicht.“ „Aber die abendländische Kultur basiert doch auf der christlichen Religion.“ wand Lee Aang ein. „Das ist richtig, aber unendlich viele Menschen sind froh, dass ihr heute die frühere Bedeutung genommen ist. Es ist keine glückliche, menschenfreundliche Geschichte. Alle Übel dieser Welt sind in ihrem Namen begangen worden. Sie hat den Menschen bis ins Kleinste Vorschriften gemacht, alles reguliert, sie kontrolliert und ihnen gedroht, selbst in den Geschlechtsverkehr von Paaren hat sie sich eingemischt. Eine schlimme Sünde wäre unser Verhalten gewesen. Mit ewigen Feuerqualen in der Hölle hätten wir rechnen müssen. Ich will davon nichts mehr hören.“ er­läuterte ich. Lee Aang der meine Echauffiertheit aufgefallen war, wollte mich necken. „Aber ist es in deiner Kultur denn nicht gefährlich, ohne einen Gott zu leben?“ fragte sie unschuldig. Grinsend antwortete ich: „Nietzsche, „Der Anti­christ“ kann ich nur empfehlen, und auch dein geliebter Heine hat etwas nicht gerade Freundliches zur Religion geschrieben, finde ich gut, sollten wir unbe­dingt lesen.“ Alles sollten wir tun. Unser Tag hätte aus dreien bestehen kön­nen, und wir hätten keine Probleme gehabt, ihn zu füllen. Am intensivsten beim Aufspüren neuer Aktionsfelder beteiligte sich Lee Aang, die eigentlich am wenigsten Zeit hatte.


Gemeinsamer Abend


Die Zeit nach dem Abendbrot war sakrosankt, dafür wurde die Zeit, die Lee Aang vorher mit Mutter in der Küche verbracht hatte immer kürzer, bis sie schließlich ganz weg fiel. Lee Aang paukte nur noch. Mutter ging manchmal zu ihr rein, brachte ihr ein wenig Obst mit, sprach ein paar Worte, drückte sie oder streichelte ihr über's Haar. Eine Geste der Verbundenheit, sie wollte zei­gen, dass sie bei ihr war, auch wenn sie nicht mehr zusammen in der Küche ih­ren Spaß haben konnten. Eine Welt nach Lee Aangs Wunschvorstellungen und Lebensgewohnheiten war das nicht. Sie brauchte mehr Freiräume für sich, in denen sie ihre Interessen und Bedürfnisse verwirklichen konnte. Der Gesang mit Mutter kam auch zum Erliegen, außer Studium gab es fast nichts mehr, aber es gab eben nichts, was Lee Aang wichtiger gewesen wäre, als die Anfor­derungen des Studiums zu erfüllen. Jedoch zum Abendbrot war der Studientag zu Ende, gleichgültig wie stark die Belastung war. Beim Abendbrot stellten wir uns schon um auf unsere anschließende gemeinsame Zeit. Dann begann ein Leben in einer anderen Welt. Alles was tagsüber wichtig gewesen war, existier­te nicht mehr. Es gab nur noch uns beide. Nicht irgendwelche Anforderungen oder Verpflichtungen waren bedeutsam, sondern nur unsere Gefühle füreinan­der. Lee Aang und ich bildeten den Mittelpunkt der Welt in unserer gemeinsa­men Zeit. Wenn die wirklichen menschlichen Bedürfnisse und Gefühle erkennen und leben, den Menschen an sich, wie mein Vater es nannte, charakterisiert, dann waren wir sonst nie so 'Mensch an sich' wie abends in der Brother-Sister-Time. Hier fand unser eigentliches Leben statt. Ohne sie hätten wir alles ande­re nicht bewältigen können. Dich selbst leben und deine Beziehung zu deinem Liebsten in den Mittelpunkt stellen ohne störende Einflüsse von außen, das brauchten nicht nur Lee Aang und ich, für jeden Menschen wäre es von großer Bedeutung. Es sei die Zeit unserer dritten gemeinsamen, imaginären Person, meinte Lee Aang. Eine Zeit, in der bei allem was wir reden und tun unsere Be­ziehung im Mittelpunkt steht. Wir verbrachten die Zeit nicht ausschließlich bei mir im Zimmer, auch wenn das meistens der Fall war. Wir gingen ins Konzert, ins Kino oder zu Feiern, nur tat eben keiner von uns beiden in dieser Zeit etwas allein für sich. Wir würden bestimmt unser Leben lang tagsüber arbeiten und abends unsere gemeinsame Zeit haben. Einen Tag an dem sie ausfiel, gab es nicht. Selbst wenn wir am Wochenende den ganzen Tag miteinander verbracht hatten, war das kein Hinderungsgrund für unser Gemeinsames am Abend, es hatte seine spezielle Qualität, die es sonst nicht gab. Bestimmt hatte unser zir­kadianer Rhythmus schon entsprechende neuronale Festlegungen im Gehirn getroffen, so dass wir krank werden würden, sollte die Zeit wirklich einmal aus­fallen.


Verzweifelt


Man würde sagen: „Sie träumt.“, wenn man Lee Aang sah. „Ich habe immer so viel zu sortieren. Da muss ich ganz bei mir sein und kann nicht in der Gegend

herumschauen.“ erklärte sie es und lächelte. Lee Aang lächelte häufig, aber nicht ein stupid, starres Dauerlächeln. Wenn sie etwas gesagt hatte, lächelte sie. Sie benutzte es wie einen Bestätigung suchenden Partikel, wie Menschen

hier „Gell“ oder „Woll“ oder „Nicht wahr“ sagen. Da macht sich ein Lächeln doch wesentlich besser, vor allem wird es nicht nervig wie die regionalen Ge­wohnheiten, sondern erweckt meistens Sympathie. Immer machte sie es nicht, zum Beispiel, wenn wir angestrengt Wichtiges diskutierten, und bei der Liebe gab es dieses Lächeln auch nicht. Was sie unter Sortieren verstand, erklärte sie mir so: „Bei mir kommen alle Eindrücke auf einer anderen Basis an als bei dir. Du bist hier aufgewachsen, ich in China und lebe jetzt erst hier. Da muss ich alles synchronisieren, damit ich es auch wie eine deutsche Frau verstehen kann.“ „Träumst du nicht manchmal von zu Hause? Hast du nie Heimweh?“ fragte ich Lee Aang. Jetzt lächelte Lee Aang schon vorher. „Weißt du, ich habe mich zu Hause sehr wohl gefühlt. Mir ging es ausgesprochen gut. Nur dieses Deutschland, von dem ich so viel wusste, ließ mich nicht in Ruh. Du musst es

gesehen haben, musst es persönlich erlebt haben. Deine Vorstellungen sind letztendlich doch nur chinesische Bilder und keine realen Erfahrungen. Mehr wollte ich nicht. Dann habe ich hier erkannt, dass zu Hause etwas anderes ist als die Häuser, die Bäume, die Straßen, wo du bisher gelebt hast. Dein Zuhau­se sind die Menschen und deine Beziehung zu ihnen. Warum soll ich Sehnsucht nach der Erde haben, wenn ich im Himmel lebe?“ sagte sie und lächelte noch einmal. Als ich mal zu ihr ins Zimmer kam schaute sie sinnierend zum ihrem Schreibtisch gegenüber liegenden Fenster. Ihre Mimik deutete nicht auf Sortie­ren, sondern zeigte sehr ernste Züge. „Was gibt'? Woran denkst du, Lee Aang?“ erkundigte ich mich. Ein langgezogenes stöhnendes „Ach“ brachte sie hervor. Dann schwieg sie. „Piet, ich schaff das nicht. Es wird einfach zu viel. Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende.“ sagte es und zog mich zu sich runter, damit sie auf meiner Schulter weinen konnte. „Es wir einfach zu viel.“ erklärte sie nach einiger Zeit. „Lesen, behalten, nichts vergessen, zuhören, behalten nichts vergessen, lesen, behalten, nichts vergessen, immer und immer wieder. So geht es den ganzen Tag, heute und morgen und jeden Tag. Du kennst das ja. Manchmal entdecke ich, dass ich gar nicht mehr mitbekomme, was ich ge­rade lese. Mein Kopf streikt. So geht das nicht mehr weiter. Ich hör auf. Es geht nicht mehr.“ Mir fiel nichts Gescheites ein. „Absolut ungerecht ist es. Wenn du sportliche Höchstleistungen vollbringst, schüttet dein Körper Glücks­hormone aus, bei Höchstleistungen deines Gehirns lässt er dich weinen.“ er­klärte ich. „Meinst du, ich sollte auch mal joggen oder so etwas?“ fragte Lee Aang. „Bloß nicht. Keinesfalls noch etwas Zusätzliches.“ wehrte ich ab, „Komm zu mir, entspann dich ein wenig, hol dir ein bisschen Liebe.“ „Oh ja, das ist gut. Ein bisschen Liebe holen, das hilft immer, nicht

wahr? Ich glaube, Mutter bringt mir manchmal auch ein bisschen Liebe. Das tut sehr gut.“ stimmte Lee Aang ein. Ich konnte ja nicht wissen, wie es wirklich mit ihrer Studiensituation be­stellt war, aber wenn Lee Aang sich etwas in den Kopf gesetzt hatte und es un­bedingt erreichen wollte, war sie in der Regel durch nichts davon abzubringen, und das Philosophiestudium in Deutschland war doch ihr Allerheiligstes. Das psychische Trauma, wenn Lee Aang es tatsächlich aufgeben müsste, wollte ich mir nicht ausmalen. Außerdem war verzweifeln und sich beklagen können ja schon selbst ein Stück Hilfe. Mutters

Methode, sie zu bedauern und gleichzeitig zu bewundern, schien ein erfolgreiches Konzept zu sein.


Größter Coup ihres Lebens


Im Sinologiestudium reichte es keinesfalls, dass sie Chinesin war. Hier gab es auch einiges zu lernen, aber dafür schien sie empfangsbereite Rezeptoren zu haben. Gegenüber dem Philosophiestudium komme es ihr wie Spielerei vor. Ich machte ja nur Philosophie, hatte mich schon immer dafür interessiert und hat­te eine deutsche Geschichte. Ich hatte kein Zusatzfach und trotzdem war es auch für mich hart und oft unendlich viel. Dass so viele abbrachen, konnte ich gut versehen. Sie habe auch das Herz einer Tigerin vom Amur, hatte Lee Aang mal erzählt. Offensichtlich hatte sie es nicht nur in der Liebe, sondern auch in ihrem Kampf mit den Widrigkeiten das Studiums. Die Examensarbeit stellte noch einmal eine besondere Herausforderung dar. Wenn sie auch alles lesen und verstehen konnte, so bereiteten ihr angemessene deutsche Formulierun­gen aber zum Teil Probleme. Auch schon bei den Referaten hatte ich die Funk­tion ihres Lektors. Ein viel größeres Problem aber formulierte Lee Aang so: „Die deutsche Sprache zu lernen, ist nicht schwierig,“ in gezielter Untertrei­bung, „aber es ist unmöglich, sie richtig schreiben zu können.“ Die mündlichen Prüfungen, vor denen sie sich so gefürchtet hatte, empfand sie als nette Unter­haltungen. Ihr kommunikatives Vermögen hatte sicher dazu beigetragen. Sie hatte schreckliche Angst davor, das etwas angesprochen würde, bei dem sie sich wegen fehlender Kenntnisse unsterblich blamieren würde. Aber versuche mal jemandem klar zu machen, wie gut er ist, wenn er felsenfest davon über­zeugt ist, die anderen wüssten alles. Jetzt war Lee Aang eine deutsche Lehrerin und konnte deutschen Kids Philosophie und Chinesisch beibringen. Nach der letzten Prüfung zeigte ihr Mund ein breites Lachen. Ihre Augen lachten zwar auch, aber sie waren ganz feucht. Lee Aang weinte vor Freude und Glück. Das hatte ich noch nie gesehen und hätte es mir auch nicht vorstellen können. Aber das war eben der Coup ihres Lebens, und sie hatte es geschafft. Nach Deutsch­land zu kommen, dafür hatte sie nur ihren Vater überreden müssen, und dann hatte sie unbeschreibliches Glück gehabt, aber diesen Erfolg hatte sie sich über Jahre qualvoll erarbeitet, ihre Leistung ihr selbst geschaffenes Werk. Alle hat­ten ihr schon zu Studienbeginn abgeraten, dass sie es nicht schaffen könne, davon war man ausgegangen. Am meisten freuten sich ihre Eltern, wie ver­rückt musste eine Idee denn sein, dass Lee Aang es nicht doch schaffen würde sie zu realisieren.


Europatrip


Als Geschenk bekam Lee Aang einen Europatrip mit allen gemeinsam. Meine Eltern bestanden aber darauf, ihren Anteil selber zu bezahlen. Keine Reise­agentur oder geplante Touren, wir wollten so reisen, wie es uns gefiel. Dass wir mal keinen Flug nach unseren Wünschen fanden oder die Hotelsuche mühsam war, was machte das schon aus? Dass kein Bus zu den Besichtigungsobjekten zur Verfügung stand war doch herrlich. Wir waren eben keine Touristen und wollten es auch nicht sein, wie Pfadfinder kamen wir uns eher vor. Einfach so über die Champs-Élysées spazieren, wie wirs gerade wollten, ohne dass einem irgendjemand etwas vorschrieb oder Anweisungen gab. Wir hatten natürlich auch niemanden, der uns etwas erklärte. Lee Aang machte das, sie war unsere Reiseführerin. Sie erklärte alles auf Englisch, was sie mittlerweile zwangsläufig wesentlich besser konnte. Es gestaltete sich sehr lustig, aber keineswegs albern. Lee Aang gab sich große Mühe. Aktiv zu handeln, lag ihr ja auch mehr als stummes Zuschauen. Mit

“Is it true what I say?” oder “Is that correct?”


Gedanken über die Zukunft


Bis Lee Aang als Lehrerin völlig selbständig unterrichten durfte, musste sie noch ein Referendariat absolvieren. Die Menschen im Studienseminar gefielen ihr überhaupt nicht. Von den Schülerinnen und Schülern wurde sie geliebt und bewundert, was die Männer aus dem Studienseminar aber überhaupt nicht in­teressierte. „Piet, deine Dissertation wird ja bald fertig sein, hast du dir eigent­lich schon mal Gedanken über die Zukunft gemacht?“ fragte Lee Aang eines Abends. „Wir haben ja schon öfter darüber gesprochen. In Fachkreisen genieße ich ja schon durch meine Artikel eine gewisse Anerkennung, aber wer braucht einen Doktor der Philosophie mit dem Schwerpunkt politische Philosophie? Ich wollte es ja gemeinsam mit Germanistik machen, da hätte es Möglichkeiten gegeben. Zwei Semester habe ich ja schon, aber das jetzt wieder anfangen? Oder sich habilitieren, aber da brauchst du Auslandserfahrung oder musst schon eine anerkannte Kapazität sein, sonst bekommst du keine Professoren­stelle und bleibst Privatdozentin wie Kristina Sing. Ich weiß nicht was wird, schau mal in die Glaskugel.“ erklärte ich. Lächelnd sagte Lee Aang: „Ich habe in die Glaskugel geschaut und gesehen, wir werden wie immer alles schaffen. Aber da hatte ich nicht dran gedacht. Ich meine etwas ganz anderes. Wir kön­nen uns überlegen, ob wir in Zukunft immer weiter bis wir alt sind als Piet und Lee Aang leben wollen, oder ob wir wollen, dass da auch noch Kinder sein soll­ten. Zwei Möglichkeiten, bei denen wir uns für eine entscheiden müssen. Wenn wir alt sind, ist es dafür zu spät.“ „Lee Aang, ich kann da gar nicht direkt drauf antworten. Papa zu sein, da habe ich noch nie dran gedacht. Ich mag Kinder schon, ich glaube, sehr sogar, aber unser Leben würde sich dadurch sehr verändern. Mit unserer gemeinsamen Zeit zum Beispiel, das würde dann überhaupt nicht mehr hinhauen. Gerade dann müssten sie gewickelt, ins Bett gebracht oder sonst was werden. Ich kann es mir noch nicht vorstellen, habe kein Bild davon, das müsste ich noch erst mahlen.“ reagierte ich. „Ich bin nicht scharf auf Mutterfreuden und brauche das jetzt dringend. Wenn wir sagen: „In zwei Jahren“ ist es auch gut, nur ich würde schon gern mit Kindern leben, sie beim Aufwachsen erleben. Aber Piet, wenn wir ein Baby hätten, dann wäre es doch nicht ein Außenseiter, der uns stören würde. Unser Kind gehörte doch mit zu uns, es wäre der Dritte in unserem Kreis. Wir wären nicht mehr nur zu zweit, wie könnte es denn anders sein?“ Lee Aang darauf. Ich konnte mich jetzt nicht entscheiden, aber nach einigen Tagen beschlossen wir, dass Lee Aang keine Pille mehr nehmen sollte.


Eine chinesische Kunoichi Kämpferin


Es dauerte, bis Lee Aang von der Frauenärztin zurückkommend verkünden konnte, sie habe das kleine Mäuschen mit seinem dicken Kopf in ihrem Bauch gesehen. Voraussichtlich würde es ein Mädchen, hatte die Ärztin gesagt. „Wir bekommen Verstärkung.“ jubilierte sie an Mutter gewandt. „Sie soll wie alle an­deren Mädchen hier leben, durch nichts auffallen. Sie wird kein Wort Chinesisch lernen, ein deutsches Mädchen wird sie sein.“ forderte Lee Aang. Dazu einigten wir uns natürlich auf Langenbach als Familienname. Louisa Anna Langenbach sollte sie heißen. Ich hatte gefordert, das eine Art von Verbindung zu Lee Aang im Namen erkenntlich sein solle, und Lee Aang fand es gut so. Eine kleine Louisa würde ihr gefallen. „Bis sie später ihre Wurzeln entdeckt, Chinesisch lernt und Sinologie studiert.“ scherzte Kristina Sing, bei der es sich selbst so zugetragen hatte. „Was soll's, wenn sie es gerne möchte. Ich habe doch nichts gegen China. Ich möchte nur verhindern, dass sie sich in Kindergarten, Schule und unter Freunden anders empfindet und das Gefühl entstehen kann, nicht dazuzugehören.“ meinte Lee Aang. „Also mir hat das nichts gemacht. Dazu hieß ich ja noch mit Nachnamen Zhang. Das war eben so, und so wurde es ak­zeptiert.“ Kristina dazu. „Na ja, du bist auch eine harte chinesische Kunoichi. Die ist dazu geboren, sich überall durchzukämpfen.”

kommentierte es Lee Aang lachend.


Mutter mit vier Augen


Louisa Anna tat sich äußerst schwer, unabhängiges, selbständiges Mitglied un­serer Gemeinschaft zu werden. Es war abzusehen, und man hatte Lee Aang einen Kaiserschnitt nahegelegt. Das wollte sie aber nicht. Ich denke, dass ich ein ruhiger Mensch bin, der einiges erträgt und sich nicht leicht aufregt, aber hilflos mit ansehen zu müssen, wie ein anderer gequält wird, und dazu noch der der dir am liebsten ist, dann nützen alle Begründungen und Erklärungen nichts mehr. Es ist einfach unerträglich. Wenn mir beim Anblick meiner Mutter stets das Bild gegenwärtig gewesen wäre, welche Schmerzen sie für mich erlit­ten hat, bestimmt wäre ich ihr mit viel mehr Respekt und Hochachtung begeg­net. Bei Lee Aangs Folter sollte man vermuten, sie wolle anschließend sieben Wochen nichts mehr von dieser Welt wissen, aber als die kleine Louisa ihr auf die Brust gelegt wurde, lächelte sie und tat es fortan immer. Sicherlich hatte sie noch länger große Schmerzen. Wenn Louisa das bewusst miterlebt hätte, würde sie später bestimmt keine Kinder haben wollen. Leber, Galle, Herz und Nieren meiner Tochter waren sicher vollgestopft mit meinen Genen, in ihrem äußeren Erscheinungsbild ließ aber nichts darauf schließen, dass ein Verwandt­schaftsverhältnis zwischen ihr und mir bestehen könne. Wir lachten uns krumm. Das Kind, das mal ein deutsches Mädel werden sollte, schien seine Wurzeln ausschließlich in China zu haben. Wie alle anderen Kinder sollte es später zu seiner Peer Group gehören und durch nichts auffallen. Das hatten wir offensichtlich nicht in der Hand. Kristina Sing war der Ansicht, es sei eine sträf­liche Vernachlässigung, einem Kind, das so aussehe, nicht von Anfang an Chi­nesisch beizubringen, und Till erklärte, ohne DNS Beleg nehme er mir die Va­terschaft nicht ab. Manche Kinder wachsen mit zwei Sprachen auf, sie haben zwei Muttersprachen, Louisa hatte zwei Mütter. Lee Aang waren in der Schwan­gerschaft tatsächlich Brüste gewachsen, aber ihre Milch reichte nicht aus, um Louisa zu ernähren. Man riet ihr vom Stillen ab, weil es zu umständlich sei. Das gefiel Lee Aang nicht. „Sonst war ich keine Frau, jetzt bin ich eine Kuh.“ ver­kündete sie stolz. Nach dem Stillen bekam Louisa von mir das Fläschchen. An den Augen der Mutter lernen die Kinder das Sehen, sagt man. Louisa schaute Lee Aang lange in die Augen, dann drehte sie ihr Köpfchen, und blickte mir ebenso lange forschend in die Augen. Sie drehte sich zur Mitte, machte eine zufriedene Miene und klappte die Äuglein zu. Was in ihrem Kopf vorging hat sie nicht verraten. Vielleicht meinte sie als Mensch habe man mehrere Mütter, oder Mütter hätten vier Augen, wer weiß? Anderen exakt prüfend in die Augen zu schauen, blieb aber immer eine ihrer Spezialitäten. Wenn in den Augen des an­deren ehrliche Freude zu erkennen war, schenkte sie ihm ein Lächeln. Der An­dere freute sich umso mehr und bezeichnete Louisa von nun ab als seine Freundin. Vielleicht lag darin ja schon die Basis des auf Gegenseitigkeit beru­henden Aktes von der Erkenntnis des guten Menschen im anderen. Bestimmt würde Louisa später mal das klischeehafte Verhalten der Deutschen im Um­gang miteinander aufbrechen. Ob sie den guten Menschen erkennen und ihm ein Lächeln schenken würde? Wer weiß? Jedenfalls hatte sie jetzt schon sehr bald einen ansehnlichen Freundeskreis.


Blind für das eigentliche Wunder


„Wenn wir unsere Wohnung freundlicher gestalten wollen, gehen wir in ein Blu­mengeschäft und kaufen einen Strauß bunter Blumen.“ erklärte Lee Aang, “Wir erfreuen uns an der farbigen Pracht ihrer Blüten. Ein äußerer Schein ist das nur. Das eigentliche Wunder ist die Pflanze, die sich aus einem Samenkorn ent­wickeln konnte, Gestalt annahm und diese herrlich Blüte hervorbrachte und sie ernähren kann. Nur das sehen wir nicht, dafür sind wir blind. Ich denke, viele sehen Louisa ähnlich wie eine wundervolle Blüte, das süße Gesicht, die pech­schwarzen Haare, der Anblick schmeichelt ihren Augen und ruft freundliche As­soziationen wach. Natürlich ist Louisa ein süßes Baby, das finde ich ja auch, aber das ist nicht entscheidend. Wenn wir uns anschauen, dann sehe ich den eigenständigen, den vollständigen, fertigen Menschen, der mit mir auf einer Ebene kommuniziert. Louisa ist für mich kein unvollkommener, noch minderwertiger Mensch, dem erst nach der Pubertät seine Eigenständigkeit zusteht. Louisa hat sie für mich jetzt schon. Dass ist das wirklich Wundervolle, dass sie trotz aller Abhängigkeit doch schon eine vollständige eigene Person ist.“ Natürlich war es vernünftig und richtig, Louisa ernst und für voll zu nehmen, und nicht das niedliche Püppchen in ihr zu sehen. „Nur daran vorbeikommen, unsere Rollen als Vater und Mutter zu spielen, werden wir wohl nicht.“ gab ich zu bedenken. „Darum geht es auch nicht. Das wird Louisa suchen, wollen und brauchen, aber wie du es ja auch erzählt hast, nehmen Eltern ihre Kinder erst für voll, wenn sie die Pubertät hinter sich haben. Das soll es bei uns nicht geben dürfen, Louisa ist immer ernst zu nehmen, auch heute schon.“ Lee Aang dazu.


Bea gehört auch zu uns


„Wie könnt ihr denn so etwas tun?“ äußerte sich Mutters Freundin Bea vor­wurfsvoll erbost, als ob wir von einer bösen Hexe gesprochen hätten. Ihre Kin­der waren schon lange aus dem Haus und sie hatte nur mal kurzfristig in der Firma ihres Mannes gearbeitet. Alle liebten das freundliche Chinesenkind, aber Bea war ganz vernarrt. „Ihr gebt Louisa einer wildfremden Frau in die Arme, während ich zu Hause sitze und Däumchen drehe?“ fuhr Bea in entrüstetem Tonfall fort. Sie wurde also unsere Kinderfrau. Zu Anfang trank sie anschlie­ßend nur noch mit Mutter einen Kaffee, aber nach und nach blieb sie immer länger und kam früher. Bea beteiligte sich an allem und gehörte einfach mit dazu.


Louisas Klangwelten


Von Anfang an hatten wir Louisa Kinderliedchen vorgesäuselt, aber als Lee Aang sie zum ersten mal beim Gesang mit Mutter auf dem Arm hatte, geschah etwas Ungeheuerliches. Die Kleine sperrte Mund und Augen auf, als ob es eine Wahrnehmung aus einer anderen Welt sei, Klänge und Töne, zu denen es in ih­ren bisherigen Assoziationen keinerlei Bezüge gab. Vielleicht schwang in Lee Aangs Timbre ja auch etwas von den interstellaren Sphärenklängen mit, ohne die keine kosmische Harmonie zu erreichen ist. Auch wenn es später das um­werfend neue Erlebnis nicht mehr war, aber ganz andächtig aufgepasst und in­tensiv zugehört wurde immer. Das Lied Peters aus Zar und Zimmermann, das Lee Aang ihr häufig in abgewandelter Form vorsang, kannte sie bald recht gut und freute sich jedes mal, wenn sie es hörte.


Sonst spielt ich mit Zepter, mit Krone und Stern,
Das Schwert schon als Kind, ach ich schwang es so gern.
Gespielen und Freunde erfreute mein Blick,
Froh kehrt ich zum Schoße der Mutter zurück,
Und liebkosend sprach sie: Louisa bist mein.
O selig, o selig, ein Kind noch zu sein.



Neu erwachtes Leben


Natürlich war Louisa das neue Leben, unser liebstes, aber das neue Leben in unserem Haus war schon viel früher erwacht. Damals hatte es den Anschein erweckt, als ob das alte Leben begonnen hätte, zu vergehen. Am stillsten und ruhigsten für den Menschen ist es, wenn selbst sein eigenes Leben nicht mehr existiert. Immer ruhiger und stiller werden die Tage auf dem Weg dorthin. Das Leben mit seinen Aktivitäten schwindet langsam fortschreitend. Das war Mut­ters Panik. Sie war siebenundvierzig und jetzt begann es schon ruhiger zu wer­den. Irgendwelche Ersatzhandlungen schienen ihr lächerlich. Vorher hatte sie auch nichts Spezielles gemacht, das Leben war einfach da gewesen, und jetzt erschien es ihr, als ob es sich aufgemacht hätte, den Weg zu beschreiten, der über Jahre und Jahrzehnte zu dessen Ende führen sollte. Auf solche Gedanken war sie sonst nicht gekommen, das Leben war ständig aktiv präsent. Die Um­stände jetzt legten Mutter nah, ans Älterwerden zu denken, und das sollte ich verhindern. Ans Älterwerden dachte ich nicht, nur etwas gestorben war in mir auch schon. Ein Arbeiter war ich geworden, der sich an seinen gestellten Auf­gaben und Anforderungen abmühte. Ein politisch denkender Mensch? Ja, ja das war ich für mich privat immer noch, nur während der Schulzeit hatte es den Kern meiner Identität und den Impetus für mein Handeln gebildet. Ich weinte dem nicht nach, aber ich war ein anderer Mensch geworden. Philosophie und Germanistik, das wollte ich studieren, und dafür nahm ich alles in Kauf. Mein Vater war einfach selig, wenn er zu Hause war. Beim Anblick meiner Mutter wurde offensichtlich nicht nur der Strom der technologisierten Alltagswelt bei ihm abgeschaltet, sondern sie ließ auch die Sonne des glücklich liebenden Menschen aufgehen. Unser Family Life bildete für ihn die Welt, in der er sehr viel von den wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen des Menschen leben konnte. Über's Älterwerden und die damit vielleicht einhergehende Zunahme von Ruhe und Stille im Haus, machte er sich keine Gedanken. Nur Mutter dachte ernst­haft daran und war nicht zufrieden. Sie war es aber nicht direkt, die das neue Leben initiiert hatte. Den Anstoß hatte sicher Lee Aang gegeben. Den guten Menschen hatte sie in jedem von uns erkannt, und bewirkt, dass wir uns an­ders, aufgeschlossener, lebendiger verhielten. Gesagt hatte sie es nicht, aber das spürt man ja, wenn der andere dich für einen guten Menschen hält. Mutter hatte schon Recht, ein neues Zeitalter hatte begonnen, in dem uns neues Le­ben gewachsen war. Lee Aang hatte es nicht hereingetragen, das neue Leben liegt in dir selbst, du oder ein anderer muss es nur entdecken, und es mit ei­nem Funken zum Wachsen und Aufblühen bringen. Das geht überall und jeder­zeit. Das Alter spielt dabei keine Rolle.



FIN





Liebe ist die Kraft, die allen Wesen Leben schafft.

Cinesisches Sprichwort



Liebe, Liebe, ist ein Scheißwort.“ erklärte Lee Aang, „Was sagt es aus über die Beziehung, die zwischen uns besteht?“ „Du meinst also, wir haben eine sehr tiefe gemeinsame Beziehung, dürfen aber nicht Liebe dazu sagen? Also mon amoure, oder meine Liebste wäre völlig falsch? Nur sich gegenseitig in die Augen schauen?“ erkundigte ich mich.
Eine Antwort gab's nicht.
Stattdessen wurde ich auf's Bett geworfen.




Lee Aang - China Girl – Seite 42 von 42

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.04.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen verrückten chinesischen Mädchen

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