Evimad
Veras Gewohnheiten
L'habitude, la coutume et l'usage
sont plus forts que la vérité.
Voltaire
Wenn wir uns gegenseitig massierten,
weil es uns gut gefiel, war das nicht verboten?
Bestimmt empfand Vera es so, denn ihre Wänglein
erschienen stärker durchblutet, aber
versuchen wollte sie's doch gern mal.
Veras Schultern zu kneten? Berauschend.
Dass sie mit Stoff bedeckt waren,
wollten meine inneren Augen nicht erkennen.
Veras Gewohnheiten - Inhalt
Veras Gewohnheiten 4
Anstarren 4
Alles falsch gemacht 5
Paketpost 5
Lona, das bin ich 6
Weihnachtseinkäufe 7
Veras Gewohnheiten 8
Sich selbst leben 11
Liebe auf den ersten Blick 13
Frau mit hergebrachten Gewohnheiten 14
Harmonie mit der Tarte flambée 17
Es wir sich einrichten 20
Alles ist leben mit Marc 21
Der Mensch ist primär ein Liebender 23
Liebe überall suchen 25
Weinen in der Oper 25
Klare Verhältnisse 26
Jeder für sich 28
Der größte Coup 30
Anstarren
„Du siehst mich immer so an.“ unterbrach sich Vera selbst im Gespräch. „Was soll ich tun? Unter die Decke schauen, auf die Bücher starren, wenn du mit mir sprichst?“ fragte ich ironisch und lächelte. „Nein, es ist ja auch o. k., nur es gibt doch ganz verschiedene Blicke. Du kannst die Totale sehen, mir auf den Busen starren, es gibt viele Möglichkeiten.“ Vera darauf. „Und mein Blick? Welche von den vielen Möglichkeiten habe ich gewählt?“ wollte ich wissen. „Dein Blick hat etwas Kontrollierendes, als ob er mich bewacht wie ein Polizeihund den Übeltäter.“ erläuterte Vera. Ich platzte lachend los. „Oh, Vera, das kann nicht sein. Scharf und gefährlich soll ich dich anblicken? Das kann ich doch überhaupt nicht. Dazu bin ich viel zu mild und gutmütig.“ meinte ich erklärend. „Rau und böse ist dein Blick ja auch nicht, du hast schon Recht, eher sanft und milde, aber genau und durchdringend ist er schon. Es stört mich auch nicht. Dein Blick ist nicht der, mit dem ein Mann eine Frau taxiert, und das empfinde ich sehr angenehm.“ sah es Vera. „Tun das nicht alle Männer in ähnlicher weise? Haben das nicht alle in ihrem Rollenverhalten so erlernt, wie man eine Frau anzuschauen hat und welche Assoziationen bei der Wahrnehmung angesprochen werden?“ wand ich ein. „Im Prinzip gebe ich dir schon Recht, aber bei Frauen ist es nicht viel anders, da ist auch die Geschlechterrolle beim ersten Blick von dominierender Bedeutung. Das wird gewiss in der Regel so sein, aber bei deiner Mutter oder deiner Schwester kannst du zum Beispiel die Wahrnehmung, dass es sich um Frauen handelt, nicht ausblenden, aber ihr Geschlecht spielt nur eine völlig sekundäre Rolle. So empfinde ich deinen Blick auch. Er ist zwar prüfend und genau, aber ihm fehlen die typisch männlichen Attitüden.“ interpretierte es Vera. „Ich prüfe und kontrolliere nichts, Vera, aber du vermittelst viel mehr als die Bedeutung, die deine Worte enthalten. Völlig anders ist es, wenn ich sie als geschriebenen Text lesen würde, oder ob du sie mit deiner gesamten Person sprechend an mich adressierst. Um das wahrzunehmen, reichen die Ohren allein nicht aus.“ erläuterte ich. Jetzt musterte Vera mich. Mit ihrer Mimik formte sie ein Lächeln, das nicht ganz frei von skeptischen Zügen war und auch einen leichten Anflug von Überheblichkeit zeigen sollte. „Das ist doch nichts Neues, Marc. Das sehen doch alle Menschen bei jedem Gespräch, aber anstarren? Das ist schon sehr ungewöhnlich.“ bemerkte Vera. Ich hätte noch viel zum Unterschied zwischen unbewusster Wahrnehmung und bewusster Beobachtung sagen können, aber ich hatte keine Lust, jetzt dieses Thema zu erörtern. Ich wollte nur möglichst ungestört Vera betrachten. Ich kann mich vielleicht nicht erinnern, aber so aufreizend wie Vera hat mich wohl noch nie eine Frau angesprochen. Ich konnte mich nicht verstehen und mir selbst nicht glauben. Eigentlich sprach alles dagegen, aber ich konnte nicht leugnen, wie ich spürte, dass ich sie begehrte. Dabei kannte ich sie so gut wie gar nicht. Recht gepflegt war sie schon, aber sie war eben eine alte Frau, eine pensionierte Studienrätin, und ich war verrückt. Warum sie meinen Blick wie den eines Bruders interpretierte, war mir unverständlich. Entweder konnte ich meine Lüsternheit so gut kaschieren, oder Vera wollte es gern so sehen, wollte mit mir sprechen können wie mit einem, dem sie vertraute, wollte keine Angst vor mir und Unsicherheit verspüren. Aber warum?
Alles falsch gemacht
Meine Frau und ich hatten uns schon vor vielen Jahren getrennt. Die Beziehung war tot, wir lebten in verschiedenen Welten unser eigenes Leben nebeneinander her. Unser Gleise hatten sich getrennt. An Begehrlichkeiten war nicht mehr zu denken, Bedürfnisse nach Intimität unvorstellbar. Unser Zusammenleben ergab keinen Sinn mehr. Ich habe nachträglich die vielen Fehler gesehen, die zum Scheitern unserer Ehe geführt hatten, aber in der Folge habe ich auch immer alles falsch gemacht, hatte jedes mal Frauen kennengelernt, die im Grunde gar nicht zu mir passten. So wie Vera, die ich doch überhaupt nicht kannte, war mir keine erschienen. Es gab immer etwas an jeder Frau, das mir gefiel, das ich benennen konnte und was sie für mich interessant erscheinen ließ. Die Beziehung entwickelte sich, wir meinten uns zu lieben, stellten aber nach kurzer Zeit fest, dass wir völlig unterschiedliche Menschen, beziehungsweise Charaktere waren und im Grunde andere Lebensvorstellungen hatten. Mal ging das Bedürfnis, sich zu trennen mehr und zuerst von mir, mal mehr und früher von der Frau aus. Es waren zwar jedes mal ganz unterschiedliche Beziehungen, aber aber vom Prinzip her war es es immer so ähnlich verlaufen. Resigniert hatte ich, dachte, ich könnte nur die falschen Frauen kennenlernen, sei unfähig, ein neues Leben mit einer anderen Frau zu beginnen. Damit hatte ich mich abgefunden und lebte jetzt schon vier Jahre alleine, ohne mich nach einem neuen Verhältnis mit einer Frau zu sehnen.
Paketpost
Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, in Vera eine Frau zu sehen, zu der es eine Beziehung geben könnte. Das lehnte ich grundsätzlich jetzt noch ab, auch wenn ich mein unerklärliches Verlangen spürte. Ein kurioser Zufall hatte uns erst gegenseitig bekannt gemacht. Vera wohnte in der gleichen Straße drei Häuser weiter. Angeblich hatte mich der Paketzusteller nicht erreicht, mir einen Zettel in den Briefkasten gelegt, dass ich das Paket bei Vera abholen könne. Als ich es abholte, regte ich mich auf: „Den ganzen Morgen war ich zu Hause. Der Briefträgerin habe ich die Tür geöffnet, nur der Paketzusteller kann mich angeblich nicht erreichen und belästigt andere Leute. Ich werde mich beim Paketdienst beschweren.“ „Ne, das tun sie mal lieber nicht.“ meinte Vera, „Das war so ein netter junger Mann, der hätte ihnen das Paket sicher gern selbst gegeben.“ Ich lächelte nur und bedankte mich nochmal. Beschwert habe ich mich nicht, aber dass Paketzusteller gerne den Empfängern die Pakete überreichen, der Gedanke lies mich nochmal schmunzeln. Vielleicht wählte man bei der Einstellung ja solche jungen Männer aus, die in ihrer Psyche Affinitäten zum Weihnachtsmann aufwiesen, und für die Pakete verteilen nicht eine mühsame Arbeit war, sondern die jungen Männer Lust am Beschenken der Empfänger verspüren ließ. Wo sollte sonst beim Paketzustellen der Lustfaktor liegen, und ohne befriedigte Libido funktioniert schließlich nichts. Schon wieder musste ich ein Paket bei Vera abholen, und wieder regte ich mich auf, weil ich den ganzen Morgen zu Hause gewesen war. „Ich habe es selbst schon ausprobiert. Die Klingel funktioniert. Soll ich einen Techniker bestellen? Was soll der denn reparieren, wenn die Klingel funktioniert. Alle erreichen mich, nur Paketzusteller nicht. Ob sie nicht wissen, dass man auf Klingeln drücken muss und nicht nur das Feld mit den Fingerkuppen sanft touchieren?“ Vera starrte mich grinsend an. „Was soll ich ihnen dazu sagen?“ fragte sie lächelnd rhetorisch. „Ach, Entschuldigung, mein kleines Herz scheint voll von Klingelanlage und Paketpost zu sein.“ antwortete ich, lachte und Vera lachte auch. „Ist schon alles in Ordnung. Mich stört das nicht, ich mach es gern.“ sagte Vera noch. Vorher hatte ich sie noch nie gesehen, aber ich wohnte auch erst seit vier Jahren hier. Um Nachbarn hatte ich mich nicht gekümmert, mir auch keine Gesichter gemerkt. Nur die junge Frau aus dem Copy-Shop, einige Häuser weiter in der anderen Richtung, kannte ich, weil Pakete für mich sonst hier abgegeben wurden. Mit tiefer sandiger Stimme kassierte sie die Groschen für's Kopieren und nicht für den Whiskey, was viel besser gepasst hätte. Vielleicht tat sie das ja abends oder nachts auch noch in einer Bar, wer weiß. Etwas Verwegen-Geheimnisvolles verkörperte sie schon. Bestimmt fanden sie viele Männer attraktiv und erotisch interessant. Wahrscheinlich ließ sie nur mich völlig kalt. Bei ihr hätte ich auch keinen Fehler machen können, weil es niemals zu einem engeren Kontakt gekommen wäre.
Lona das bin ich
Bei Vera dachte ich schon an Perversität. Einen Ödipuskomplex nach all den Jahren ohne konnte ich mir ja jetzt im Alter wohl kaum angeeignet haben. Ich überlegte und suchte nach einer älteren Frau, zu der ich in meiner Kindheit freudige, einprägsame Beziehungen gehabt hätte. Aber da gab es extrem wenig. Ich hatte intensivere Kontakte zu meinen Großvätern, wahrscheinlich weil ich in ihnen Ersatz für meinen Vater suchte, der sehr früh verstorben war. Nur zu unserer Putzfrau hatte ich ein inniges Verhältnis. Hatte das mit Vera zu tun? Ganz unmöglich war es nicht. Meine Freundinnen hatte ich immer im Intellektuellenmilieu gesucht. Dass Vera keine Putzfrau war, stand wohl fest, aber ihr Kriterium, als ich sie kennenlernte war nur, Nachbarin zu sein. Eventuell korrelierte es auch deshalb mit dem schlichten Bild meiner geliebten Putzfrau so gut. Vera war auch eine ganz durchschnittliche, ältere Frau, die durch nichts auffiel. Erst als wir uns beim Einkaufen trafen und noch längere Zeit mit gefülltem Einkaufswagen draußen zusammenstanden, erfuhr ich, dass sie eine pensionierte Studienrätin war. Natürlich kann man an der Sprache die Schichtzugehörigkeit erkennen, aber was sie redete entsprach im Allgemeinen Smalltalk von Frauen in ihrem Alter. Nur manchmal brach sie aus. Zum Beispiel als sie von ihrer Enkelin erzählen wollte, erzählte sie von sich. „Ich habe mich schon öfter gefragt, woran es wohl liegt. Wenn ich Lona nur sehe, überfällt mich ein Glücksgefühl. Sie ist so direkt und originär, an ihr ist noch alles absolut echt. Sie freut sich, mir etwas geben zu können, was ich gern mag. Was diese kleine wie selbstverständlich zeigt, ist doch Liebe im Ursprung. Neulich hat sie mir gesagt: „Omi, du bist eine gute Frau.“ Als ich ihr antwortete: „Müssen nicht alle Frauen auf der Welt zu guten Frauen werden, wenn sie dich sehen?“ hat sie kräftig überlegt und meinte dann, zwar nicht originell, aber ich fand es unübertrefflich lustig von der kleinen: „Die Welt ist schlecht.“ Ich umfing sie, wir stolperten und kugelten uns auf dem Teppich vor Lachen. Lona, das bin ich. So möchte ich sein, kann aber nicht so leben, kann mein Leben nicht so einrichten, dass sich die Lona in mir verwirklichen lässt.“ erzählte Vera. Irgendwelche Sätze über Politisches oder Kulturelles folgten. Unsere Einkaufsunterhaltung zog sich hin. Dass wir auch Eingekauftes im Wagen hatten, das eines Kühlschranks bedurfte, schien keine Rolle zu spielen. „Wollen sie nicht mal auf einen Kaffee vorbei kommen? Da haben wir's warm und können bequem sitzen.“ fragte Vera plötzlich. Was mich zögern ließ, weiß ich nicht genau, aber was hatte ich mit dieser völlig fremden Frau zu tun? Bevor ich antwortete, schaltete sich Vera schon ein: „Ich versuche mir vorzustellen, was ihnen im Moment wohl alles durch den Kopf geht.“ „Nichts, nein nichts, überhaupt nichts, selbstverständlich komme ich. Ich freue mich darauf, zum Kaffee zu ihnen kommen zu dürfen.“ reagierte ich hastig, und Vera ließ es schmunzeln.
Weihnachtseinkäufe
„Es ist zum aus der Haut fahren.“ beklagte ich mich direkt nach der Begrüßung zum Kaffeebesuch, „Das Alter ergreift jeden Tag in anderen Bereichen stärker Besitz von mir. Zweimal habe ich ihren Namen auf dem Paketpostzettel gelesen, zweimal habe ich ihn auf ihrem Klingelschild gesehen, und trotzdem musste ich mich jetzt nochmal vergewissern, dass ich auch nichts Falsches erinnert hatte.“ Ich sei ihr nicht wichtig genug, sonst hätte ich ihren Namen schon behalten, scherzte Vera. „Aber ich weiß ihren Namen auch nicht mehr. Sollen wir uns als Nachbarn nicht lieber einfach mit Vornamen anreden. Mir gefällt es viel besser, wenn sie mich Vera anstatt Frau Pössel nennen. Und Vornamen vergisst man schließlich auch nicht so leicht.“ schlug Vera vor. „Ich finde es auch schöner, zu hören, dass ich für sie, nein dich ja jetzt, der Marc bin.“ antwortete ich. Wir unterhielten uns weiter übers Älterwerden. „Marc, dieser körperliche Abbau ist sicher entsetzlich, lästig und quälend, aber es erscheint mir, dass ich den schon akzeptieren könnte, nur Alzheimer, sonstige Demenz und Schlaganfall mit schlimmen Folgen davor habe ich entsetzliche Angst. Wenn dieses Wesen, zu dem man auch Vera sagt, nichts mehr mit meiner heutigen Identität gemein hat, dann bin ich das nicht mehr und will es auch nicht sein.“ erklärte Vera. „Beschäftigt dich das häufig? Denkst du oft daran?“ erkundigte ich mich. „Es ist so entsetzlich, so grässlich, du kannst es nicht verdrängen.“ reagierte Vera. „Aber dass du morgen auf dem Weg zum Einkaufen von einem Auto überfahren, getötet oder entsetzlich zugerichtet werden könntest, das verdrängst du.“ meinte ich dazu, „Wenn du vor allem Angst hättest, was geschehen könnte, lebtest du in der Psychiatrie. Ängste haben immer etwas Irrationales. Denk mal an die Flugangst. Dabei ist das Flugzeug der sicherste Ort im Verkehr. Angst kann ja berechtigt und wichtig sein und vor Gefahren schützen helfen, wenn es konkrete Hinweise gibt. Empfindest du dich denn manchmal ein wenig senil? Sonst handelt es sich um deine Spinnerei.“ Vera lachte. „Na, das mit den Paketen bekomme ich ja immerhin noch geregelt. Da kann es so ganz schlimm doch noch nicht sein, oder?“ scherzte sie. Wir sprachen über Weihnachten, wie wir's mit den Geschenken hielten und den ganzen Kitsch und die widerlichen Romantizismen der Vorweinachtzeit. „Ich kann das nicht ertragen. Maximal zwei Stunden, dann muss ich unbedingt nach Hause.“ erklärte Vera zur Belastung während der Weihnachtseinkäufe. „Stimmt, du kannst dich gar nicht schützen, bist der süßlichen Musik, dem visuell Romantisierenden und dem ganzen Kitsch in seiner vollen Härte ausgeliefert.“ bestätigte ich sie. Wir kamen auf die kuriose Idee, unsere Weihnachtseinkäufe gemeinsam zu tätigen. Mit einem anderen zusammen seien wir niemals schutzlos. „Sich gemeinsam über Idiotisches zu amüsieren oder über Verrücktes beklagen zu können, wirkt wie ein Panzer. Du fühlst dich nicht mehr allein ausgeliefert und bist es ja auch nicht.“ meinte Vera. Wir lachten über uns selbst, aber stellten es uns sehr lustig vor. Um genau abzusprechen, was wir wann wo einkaufen wollten, trafen wir uns heute bei mir.
Veras Gewohnheiten
„Kaufst du Bücher hier, oder lässt du dir alles schicken?“ fragte Vera. „Leider lass ich mir das meiste schicken. Früher liebte ich Buchläden. Ich sah sie gar nicht als Geschäfte, sondern hielt sie eher für so etwas Ähnliches wie Bibliotheken, aber da hat sich auch sehr vieles geändert.“ erläuterte ich. „Die Buchläden sind aber in der Vorweihnachtszeit noch am erträglichsten.“ kommentierte Vera. „Ich lese nur noch im Liegen.“ erklärte ich „Fast ständig sitze ich am Schreibtisch. Dabei muss ich mich wohl verspannen, dass ich nicht selten Kopfschmerzen bekomme.“ berichtete ich. „Hier, in den Schultern wahrscheinlich.“meinte Vera und wies dabei auf eine ihrer eigenen. „Lass mal fühlen.“ sagte sie, und ich drehte mich mit dem Rücken zu ihr. Sehr heftig griff sie mir in die Schultermuskulatur und meinte: „Ja, alles ganz hart.“ und begann meine Schultern zu massieren. „Au!“ hätte ich aufschreien müssen, aber „Oh, tut das gut.“ ließ ich mich leicht stöhnend vernehmen. Sie hätte mich foltern können, was ich nur wahrnahm, waren Veras Hände, die mich berührten. Ich lobte sie immer für ihre wundervollen Massagekünste und wie erquicklich es für mich sei. „Nicht aufhören, Vera. Ich könnte das immer vertragen, jeden Tag.“ wünschte ich. Was da in Veras Lächeln enthalten war, als ich mich wieder umdrehte, konnte ich nicht interpretieren. Ich nahm ihre linke Hand, gab einen Kuss auf die Fingerkuppen und erklärte dazu: „Noch schöner wäre es, wenn deine Hand mich sanft streicheln würde.“ und führte dabei ihre Fingerkuppen demonstrierend über meine Wange. „Das werden wir aber nicht tun, mein lieber Marc.“ bekam ich zur Antwort und Veras Finger zogen mir symbolisch am Ohrläppchen. „Aber die Schultern massieren möchte ich dir auch gern.“ erklärte ich. Eigentlich hätte ich sagen müssen: „Ich will dich küssen und möchte mit dir ins Bett.“ Wie Vera wohl darauf reagiert hätte? Natürlich würde sie es zurückweisen, aber unsere Beziehung deshalb beenden, das hätte sie wahrscheinlich nicht getan. „Warum denn,“ sagte Vera, „bei mir ist doch nichts verspannt.“ „Es fühlt sich einfach sehr gut an. Ich mach es gern und du könntest es genießen.“ begründete ich. Jetzt schien Vera doch wohl an etwas anderes als den Bruder zu denken. Wenn wir uns gegenseitig massierten, weil es uns gut gefiel, war das nicht verboten? Bestimmt empfand Vera es so, denn ihre Wänglein erschienen stärker durchblutet, aber versuchen wollte sie's doch gern mal. Veras Schultern zu kneten? Berauschend. Dass sie mit Stoff bedeckt waren, wollten meine inneren Augen nicht erkennen. Wenn ich etwas anderes machte, ihr zum Beispiel mit einem Finger über's Rückgrad fuhr oder ihren Nacken streichelte, bekam ich immer ein mahnendes „Marc!“ zu hören, aber Vera brach es nicht ab oder drehte sich um. Als es genug war, griff ich ihr kitzelnd in die Seiten. Sie zuckte zusammen, fuhr auf und lachte. Was hatten wir gemacht? Nichts. Uns gegenseitig die Schultern massiert. Was bedeutete das schon? Wer tat das nicht alles. Für uns schien es aber schon etwas zu bedeuten, dass wir uns gegenseitig angefasst hatten. Nicht nur meinen lüsternen Wünschen war ein kleines bisschen entsprochen worden, auch in Veras Wahrnehmung musste ich mich wohl leicht verändert haben. Sie fragte mich, warum ich nicht verheiratet wäre, und als ich ihr die Gründe vom Ende meiner Ehe nannte, sagte sie: „Wie schön, wenn es noch darum geht.“ Ich erschrak fast. In ihrer Ehe ging es also nicht mehr um Lust aufeinander und Liebe. Wissen wollte ich es schon, aber direkt fragen mochte ich auch nicht, tat es aber doch. „Wie läuft es denn in eurer Ehe?“ erkundigte ich mich. Ihre Mimik sagte schon alles, obwohl sie die Lippen dabei breit gezogen hatte, als ob sie darüber lache. „Es ist wie es ist.“ antwortete sie schließlich, und lachte selbst, als ich über ihre Antwort lachte. „Hattest du gedacht, mir irgendeine Art von Information mit deiner Aussage zukommen zu lassen?“ fragte ich immer noch lachend. „Ich dachte, du könntest auch das verstehen, was in den Worten nicht enthalten ist.“ reagierte Vera ebenfalls noch belustigt. „Schon, aber es war doch recht kurz. Ein klein wenig glaube ich auch, verstanden zu haben.“ antwortete ich. „Mein Mann ist Präsident vom Sportverein „Danuvia“, dem größten glaube ich. Das schon seit Jahren. Darin, davon und dafür lebte er. Ich habe dazu überhaupt keinen Bezug, will davon nichts hören und wissen und mein Mann hat auch schon lange aufgehört, mir davon etwas zu erzählen zu versuchen. Mein Leben im Zusammenhang mit der Schule schien für ihn ebenso auf einem andern Stern stattzufinden. Wir haben uns ja auch mal geliebt, dabei spielten unsere unterschiedlichen Welten keine Rolle.“ erläuterte Vera. „Was hat dabei denn eine Rolle gespielt?“ fragte ich blöd nach. „Das weißt du doch auch. Das ist doch immer das Gleiche bei der Liebe. Der andere spricht als Mensch etwas in dir an, das dich Glück empfinden lässt. Wenn er das nicht mehr tut, oder du es nicht mehr empfinden kannst, ist es mit der Liebe dahin.“ antwortete Vera. „Ja, natürlich.“ dachte ich. Darin hauptsächlich hatte mein wiederkehrender Fehler gelegen. Was war es denn, das Evelyn als Mensch in mir angesprochen hatte? Sie war ein sehr intelligenter Mensch, eine kluge Frau und sah zu dem sehr ansprechend aus. Ich war stolz, sie meine Freundin nennen zu können. Darin lag das Glück, das ich empfand. Ich hatte mich immer von Äußerlichkeiten faszinieren lassen und die Begeisterung dafür als Liebe interpretiert. Liebe hatte ich im Grunde gar nicht gesucht, sondern nur Begeisterung und Faszination. Und jetzt bei Vera, wie war es denn da? Liebe, wo sollte die bloß entstanden sein? Aber Veras Anblick befriedigte nicht nur meine mir selbst peinliche, unverständliche Geilheit, ich liebte einfach ihre Anwesenheit. Ich freute mich auf die gemeinsamen Weihnachtseinkäufe, weil allein die Vorstellung, mit Vera zusammen zu sein, mir ein Wohlgefühl bereitete. War da doch so etwas wie Liebe zu einer Schwester? „Jetzt liebt ihr euch nicht mehr, jeder lebt sein Leben für sich, und das spielt gar keine Rolle?“ wollte ich von Vera hören. „Wo lebst du denn, Marc? Liebe, das spielt doch bei den länger Verheirateten in der Regel keine Rolle mehr. Es sind ihre Gewohnheiten, die sie Liebe nennen, und die wollen sie auch nicht verlieren. Wenn Tom stirbt, ist Eva traurig. Sie hat ihre Gewohnheiten verloren, das macht auch traurig, und sie nennt es Tom.“ erläuterte Vera. „Das hört sich aber äußerst trübe an. Ich möchte so nicht leben. Natürlich habe ich meine Gewohnheiten, die mir lieb und teuer sind, aber Beziehungen zu anderen Menschen als Gewohnheit zu leben, das erscheint mir unerträglich.“ meinte ich dazu. „Du bist ein Fantast, Marc. Was glaubst du denn, wie meine Sozialisation abgelaufen ist. Ich habe mich nicht jeden Tag gefragt, ob die Schule Spaß macht, ob es mir gefällt, es war so beschlossen und ich ging jeden Tag hin, weil ich es so gewohnt war. Immer verlief es so ähnlich. Du machtest es, wie man es so machte, wie es gewöhnlich und üblich ist, es wird dir zur Gewohnheit. So verläuft das Leben für ein biederes Mädchen, du lebst so wie sie alle leben und machst es dir zur Gewohnheit. Dabei bleibt es, Ausbruchsversuche machen dir Angst, du denkst sie nicht einmal. Du nimmst es hin, so hat es das Leben mit dir gemacht. So ist es eben, wie es ist.“ klärte mich Vera auf. Ich schwieg und Vera sagte auch nichts. Wie kann eine kluge Frau einfach so ihr Leben als schicksalhaft gegeben hinnehmen? „Du hast gesagt, du möchtest nicht das kranke menschliche Wesen sein, das man Vera nennt, aber ich frage mich, wo du denn heute noch persönlich zu erkennen und zu finden bist.“ reagierte ich darauf. „Das ist etwas ganz anderes, aber völlig Unrecht hast du auch nicht. Ich bin eine Frau von denen es viele gibt, Hunderte, Millionen vielleicht. Auch wenn sie sich alle am Mainstream orientieren und leben, wie man so lebt, ist doch keine aus der Masse der Gleichen mit einer anderen völlig identisch. Jede hat schon ihre kleine persönliche Eigenart, eine eigene Identität, auch wenn sie die nur in den Petitessen des Alltags auslebt.“ sah Vera es. „Ja, deine Begründung, mich nicht zu beschweren, war lustig und einzig, seulement Vera. Aber ich denke auch, dass darin oft etwas von dir anklingen kann, was du selbst gar nicht mehr kennst, nicht mehr wahrnimmst, was dir gar nicht bewusst wird. Jede und jeder hat doch Wünsche, Gefühle und Träume, die dich wirklich selbst betreffen und nicht nachgebetete Wunschvorgaben der Allgemeinheit sind. Dass er sich nicht danach sehne, glücklich zu sein, kann mir niemand erzählen. Wer sagt, keine Liebe zu wünschen, lügt ebenso. Nur die Vorstellungen, wie wir zu leben und zu denken hätten, können unser innerstes menschliches Verlangen verkümmern lassen und töten. „
Durch unsere Art zu denken und unser Verhalten, gestalten wir unser Glück oder Unglück.“ hat vor sehr langer Zeit schon ein französischer Schriftsteller gesagt, und daran hat sich bis heute kein bisschen geändert.“ war meine Meinung dazu. „Ich glaube, wir sind sehr unterschiedliche Menschen, Marc. Du nimmst dein Leben in die Hand, sagst: „Es gehört mir. Ich will darin bestimmen und das tun, was mir passt. Es ist
mein Eigentum und gehört niemandem sonst.“ So leben die meisten Menschen aber nicht. Sie übernehmen das, was ihnen gesagt und vorgemacht wird. Sie leben im Grunde gar nicht ihr eigenes Leben, sondern ein nachgemachtes. Ihr eigenes haben sie abgegeben, verschenkt. Nicht anders ist es bei mir auch immer gewesen, habe mich immer an dem Vorgegebenen orientiert. Heute sehe ich es ein, kann es bedauern, aber nicht mehr ändern.“ erklärte Vera. Sie
müsse nach Hause, weil Torsten, ihr Mann, gleich kämme und es Abendbrot gebe. „Jetzt haben wir überhaupt nicht unsere Einkäufe geregelt. Da müssen wir uns nochmal treffen.“ meinte Vera. „Schlimm ist das doch auf keinen Fall. Ich freue mich darauf, wenn wir uns wiedertreffen.“ antwortete ich. Vera grinste und fragte nach kurzem Zögern leise: „Du magst mich, Marc, nicht wahr?“ „Ach, Vera, wenn du wüsstest, wie sehr ich dich mag.“ klagte ich. Erstaunen und überraschtes Lachen komponierten Veras Mimik. „Marc, was ist in dich gefahren? Spinnst du?“ reagierte sie. „Verstehen kann ich es doch selbst nicht, Vera. Als ich dich zum ersten mal traf, warst du mir sympathisch, eine kleine Freude, ein kleines Licht, wie ein Streichholz, das gerade angezündet wurde. Beim zweiten Treffen kam es mir schon vertrauter vor, das Streichholz suchte den Docht der Kerze, beim Gespräch am Einkaufswagen sprang die Flamme über und entzündete den Docht. Beim Kaffeetrinken brannte die Kerze schon mit voller Flamme und Leuchtkraft.“ versinnbildlichte ich das Entstehen der Beziehung für mich. „Und jetzt, was macht die Kerze jetzt?“ wollte Vera wissen. „Jetzt verzehrt sie sich selbst, ihr Wachs schmilzt in dem glühenden Verlangen und ihre Reste sind von heißer Sehnsucht durchglüht.“ erklärte ich und lachte. Vera sinnierte: „Über mich lustig machen wollen, wirst du dich nicht, aber was soll das denn, Marc. Ich habe gute Freunde und Bekannte, wir mögen uns, aber von dir, das kam ja einer Liebeserklärung gleich. So etwas habe ich schon seit Äonen nicht mehr erlebt. Was findest du denn an mir, erkläre es, damit ich es selbst erfahre.“ forderte mich Vera auf. „Das weiß ich doch auch nicht, Vera. Ich habe Ähnliches bei mir auch noch nie erlebt. Liebe? Ich weiß gar nicht, ob es die zwischen uns gibt. Wie und wodurch soll sie denn entstanden sein. Ich weiß nur, dass ich verrückt nach dir bin.“ erläuterte ich. „Vielleicht sind es mehr deine Hormone, die dich drängen als ich.“ gab Vera zu bedenken. „Nein, Vera, das ist Quatsch. Da habe ich nie Probleme mit und außerdem will ich doch nicht irgendeine Frau, sondern dich, nur dich.“ reagierte ich. Vera sagte nichts, zeigte nur ein Lächeln, in dem sich Unsicherheit und Erstaunen mischten, vor allem aber schien sie völlig perplex. Gern hätte ich all die Gedanken gesehen, die jetzt auf den neuronalen Autobahnen ihr Gehirn durchrasten. Ihr Lächeln veränderte sich zu einem sehr freundlichen und wohlwollenden. Sie strich mir langsam über die Wange und sprach dabei sanft: „Du bist auch ein guter Mensch, Marc, nicht wahr? Ich freu mich auch darauf, dass wir uns nochmal treffen. Nicht nur wegen der interessanten Gespräche. Ich mag dich auch, das ist schon so.“
Sich selbst leben
Ich grübelte immer wieder, was es wohl sein könne, das mich an Vera reizte. Eine gute Frau, ein guter Mensch, das war sie bestimmt, soviel glaubte ich schon erkennen zu können. Das war gewiss bedeutsam und wichtig und freute mich auch, aber Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Verständnis waren das Eigenschaften, die mein Verlangen begründen konnten. Was konnte denn überhaupt bei mir Verlangen auslösen? Ganz früher bei meiner Frau war das schon mal so gewesen, aber danach immer nur noch bei fortentwickelter Beziehung und im Bett, wenn's ohne dem nicht weiter geht. Woher kam dieser irre Wunsch, mit Vera im Bett zu liegen, ihre Haut zu spüren und sich zu streicheln und zu lieben. Offensichtlich hatte ich doch außergewöhnliche sexuelle Vorlieben, die mir jedoch bislang noch in keiner weise aufgefallen waren. Sexuelle Begehrlichkeiten entwickelten sich immer erst, wenn wir uns sehr gut kannten und mochten, erst dann begann auch das Körperliche an Interesse zu gewinnen. So etwas wie jetzt bei Vera hätte ich vor mir selbst auch immer zurückgewiesen, zum Glück war es nie aufgetreten. Das tat ich ja jetzt bei Vera im Grunde auch, nur konnte es sich ebenso dem Lächerlichen nicht ganz entziehen. Wie selbstverständlich begrüßten wir uns nicht mit Handschlag als Vera kam, sondern mit Umarmung und Kuss. Wenn ich es auch völlig bemerkungslos mit vollzog, leicht erstaunt war ich doch. Hatte ich bei Vera schon gewonnen, war ihr nicht nur sympathisch? Würde ich sie heute schon im Verlauf des Nachmittages fragen können, ob sie mit mir ins Bett ginge. Ich ärgerte mich selbst über mein Irresein, aber solche Gedanken kamen, ob ich wollte oder nicht. Die Regelung der Weihnachtseinkäufe war eine Farce. In fünf Minuten hätte man es am Telefon klären können. Das alles so unkompliziert war, lag vielleicht auch an der wundervollen Stimmung. Vera schien auf einer Wolke von Hochgefühl zu schweben. Warum ich auch so empfinden sollte, wusste ich nicht, aber Vera hob von selbst meine Stimmung an. Ständig lachten wir und hatten Spaß an Albernheiten. „Du bist glücklich, Vera, nicht wahr? Gibt es einen besonderen Grund?“ wollte ich wissen. „Ja, doch,“ sagte sie mit breitem Grinsen und stummem Lachen, „Ich war heute morgen einkaufen, und da gab es diese leckeren Zwiebeln wieder, die ich so gerne mag. Ich habe mich richtig gefreut. So etwas Banales. Um wie viel mehr muss ich mich freuen, wenn ich einen geliebten Menschen treffe. Das ist doch die allergrößte Freude, die es für einen Menschen überhaupt geben kann.“ Ich blickte diese Frau, die ich begehrte, nicht wusste, ob ich sie liebte wieder so an, dass sie es bestimmt als Anstarren empfand. Aber ich musste Vera doch besser kennenlernen. „Heute heißt Vera auch Lona. Deine Enkelin lebt jetzt in dir, das empfinde ich als wundervoll.“ äußerte ich mich. Vera selbst war darauf wohl noch nicht gekommen. „Du meinst so echt, so direkt und wirklich?“ sagte sie, machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Du hast Recht. Die gewöhnliche Frau Pössel hätte dir heute brav die Hand gereicht, „Guten Tag, Marc.“ gesagt und vielleicht noch hinzugefügt: „Schön dich zu sehen.“ Dass sie sich freute, hätte sie vielleicht noch nicht einmal wahrgenommen. Ist das nicht entsetzlich, zu toten Menschen, zu Seelenlosen lassen uns unsere Gewohnheiten werden.“ interpretierte Vera. „Ja, genau, zu toten Seelen, die noch zählen, aber nicht mehr leben.“ bestätigte ich sie. „Wie herrlich ist es jetzt, seine Freude zu empfinden und sie auszuleben. So werde ich es demnächst in allem halten, nur noch leben, was ich wirklich selbst bin. All diese Papp- und Blechschablonen, auf denen mir gezeigt wird, was ich zu denken und wie ich zu leben habe, werde ich zum Müll geben, jeder Zirkus, der mir vorführen will, wie mein Leben abzulaufen hat, erhält Auftrittsverbot. Ich werde nur noch mich selbst leben.“ erklärte Vera apodiktisch. Zunächst schmunzelte ich, umfing sie und lachte mit ihr. „Wundervoll hört sich das an, Vera. Es könnte mein Traum sein. Wenn du es machtest, würde ich dich gern ständig dabei erleben. Du gefällst mir heute und beeindruckst mich, aber so wichtig wie das Erkennen und Ausleben deiner Gefühle heute auch sein mag, es ist doch nur ein Sandkörnchen in der großen Burg deines Lebens. Alles an dir ist von anderen, alles hast du gelernt.“ erklärte ich. Wir hatten unsere Umarmung gar nicht gelöst und sprachen direkt vor dem Gesicht des anderen. Jetzt war Vera aber empört und stieß mich zurück. „Fast alles, das gestehe ich dir zu, aber es gibt auch Vera den Menschen, der sehr vieles hat, ohne es je gelernt zu haben. Dass ich mich freuen kann oder traurig sein, habe ich von niemandem gelernt. Vera kann ganz allein von sich aus weinen oder lachen. Meine Mutter hat mich zwar von Anfang an geliebt, aber es ist ein Wesensmerkmal jedes Mensch, Liebe zu geben und geliebt werden zu wollen. Du hast es ja selbst gesagt, dass wir uns durch die Vorgaben unser Leben so verbauen können, dass wir unsere wirklichen Gefühle und Bedürfnisse gar nicht mehr erkennen können. Damit ist jetzt Schluss bei mir.“ machte Vera deutlich. „Wie schön.“ mit langem Ö und einem verhaltenen Lachen kommentierte ich. „Im Ernst, Vera, ich finde es großartig, was du sagst und dir vornehmen willst. Nur bei der Realisierung wirst du feststellen, dass dein Leben aus Myriaden von Details besteht, bei denen du nicht immer fragen kannst, ob du das jetzt selbst bist. Es wird unverzichtbar sein, vieles Herkömmliche zu übernehmen oder fortzuführen.“ meinte ich. „Na klar, wenn ich zum Beispiel eine Gurke schneide, werde ich mich nicht fragen, ob ich mich dabei jetzt selbst verwirkliche. Ich werde es so machen, wie ich es immer getan habe, wie man eben Gurken so schneidet, wie es alle tun, werde meiner Gewohnheit folgen.“ Vera dazu. „Aber deine Kleidung zum Beispiel. Das ist doch nicht wie Gurken schneiden. Du kennst Volkesmeinung über das Outfit einer pensionierten Studienrätin, so kleidest du dich automatisch. Mit dir hat das nichts zu tun, außer dass du nicht auffallen möchtest. Gibt es denn Kleidung, die dich so darstellt, wie du dich selbst gerne sehen möchtest, die dein Selbst repräsentiert, in der du dich verwirklichst? Hast du überhaupt schon mal darüber nachgedacht? So wird es bei den meisten Angelegenheiten sein. Du wirst gar nicht wissen, wer Vera ist, was sie selbst will und wie sie sich denn verwirklichen könnte.“ vermutete ich.
Liebe auf den ersten Blick
Einen Augenaufschlag bekam ich in einem Gesicht, das nachdachte mit einem breit lächelnden Mund, der ihr Grübchen in der Wange formte und dessen Mimik über eine unendliche Vielzahl an Variationen zu verfügen schien, von denen ich sehr viele nicht verstand. Trotzdem bezauberte mich Veras Blick. Fest und selbstbewusst war er schon, aber Veras Blick war auch milde und warm. Wiederspruch würde sie bestimmt akzeptieren. Verlockend war es, ihr Gesicht zu betrachten. Das hatte ich gesehen, Veras Gesicht, was sonst? Irgendwelche sekundären Geschlechtsmerkmale, die mich aufgeregt hätten? So ein Unfug. Mag sein, dass sich im Unbewussten kein Mann davon völlig frei machen kann. Natürlich fand ich es prima, dass Evelyn Brüste hatte, aber auf die Idee, wie schön es wäre, wenn Evelyn größere Brüste hätte, war ich noch nie gekommen. Für derartige Gedanken standen die Bahnen meines Gehirns nicht zur Verfügung. Ich kannte keine Reize, die mich sexuell verrückt machen könnten und Vera verfügte über keine, mit denen sie mich locken könnte. Mit Sex hatte das wohl offensichtlich nichts zu tun, auch wenn ich träumte, mit ihr ins Bett zu gehen. Sexuelle Vorstellungen hatte ich dabei auch gar nicht, ich wollte Vera nur so nahe wie möglich sein. Und wenn du unbedingt mit einer Frau zusammen sein willst, die du dreimal kurz gesehen hast, was kann es anders sein als sexuelles Verlangen. Verlieben, in eine Frau, die du gar nicht kennst? Das ist doch nicht möglich. Offensichtlich musste es aber bei Vera wohl so sein. Ich liebte den freundlich, warmen Blick ihres leicht rundlichen Gesichtes mit seinen vielen mimischen Ausdrucksvariatiationen. Er musste schon direkt etwas ganz Bedeutsames in mir angesprochen haben. Vera war Maria. So musste es sein. Maria mein Kindermädchen, Maria die ich abgöttisch geliebt, und der ich mit vier Jahren schon die Ehe versprochen hatte. Sie war zwar sehr jung und hatte pechschwarze Haare, aber sie trug eine ähnliche Frisur wie Vera, halblanges Haar mit einem Pony. Leicht rundlich war ihr Gesicht auch, sie lachte immer und ihre Grübchen in den Wangen, machten das Lachen doppelt so schön. Sie freute sich genauso wie ich, wenn wir uns morgens trafen. Ihr Gesicht, ich würde es jederzeit wiedererkennen, als ob es nur zu Freude geschaffen sei. Maria war fast jeden Morgen da, auch am Wochenende. Meine Eltern haben bestimmt gut bezahlt, denn ohne Maria, das waren keine lebenswerten Tage für mich, und ich musste wohl nicht gut zu genießen sein. Mein Leben, mein intensives und extensives Leben bestand im Zusammensein mit Maria. Wenn Maria am frühen Nachmittag gegangen war, begann der Alltag, der laut Vera so ist wie er ist. Natürlich erinnerte ich mich an die Zeit mit Maria, auch wenn ich noch sehr klein war, aber es war nicht mehr als eine Erinnerung an die wunderschöne Zeit meiner Kindheit, die schon sehr lange zur Geschichte gehörte. Offensichtlich beendet sich in deiner Geschichte aber nichts, alles bleibt virulenter Bestandteil von dir, der du heute bist. Wenn der Vorhang fällt, ist die Aufführung der Oper zu Ende, nicht so in dir. Das Gehörte und Erlebte bleibt von jetzt ab ständig in dir. Du lebst damit, es gehört zu dir. Dass für mich meine Kindheit mit Maria je irgendwann eine Rolle spielen könnte, wäre mir unvorstellbar vorgekommen, aber Maria hatte mich wohl für mein Leben gelehrt, was glücklich sein ist. Veras Ähnlichkeit mit Maria, weckte das unbewusst in mir, versprach das außergewöhnlich große Glück. Das hatte mich süchtig und verrückt gemacht. Wahrscheinlich funktionierte so Liebe auf den ersten Blick, von der man immer wieder hörte, die ich aber selbst für Unsinn hielt.
Frau mit hergebrachten Gewohnheiten
Jetzt teilte ich bestimmt Veras Hochgefühl, aber lachen hätte ich auch ständig können. Zuerst habe ich Sehnsucht nach dieser unbekannten Frau Pössel, jetzt liebe ich Frau Pössel, weil sie Maria, mein Kindermädchen ist. Aber das trifft ja nicht genau zu. Ich liebe in ihr nicht Maria, sondern das Glück, dass sie durch ihre Ähnlichkeit mit Maria heute neu beleben würde. So unbeschwert glücklich wie in Marias Welt bin ich nie wieder gewesen, dachte man könnte nur als Kind so sein, allein Vera würde es heute wieder ermöglichen. Ich fühlte mich so wonnig, legte mich auf die Couch mit dem Kopf neben Vera. Sie beugte sich über mich und schaute zu mir herunter. „Dir geht es aber anscheinend heute auch gut.“ meinte sie, „Worüber freust du dich denn? Machst du dich vielleicht über etwas von mir lustig?“ „Genauso wie du, Vera. Ich freue mich, dass du hier bist.“ gab ich zur Antwort, worauf Vera mich aber sehr skeptisch anblickte. „Lüg nicht so. Du amüsierst dich über etwas anderes. Sag es!“ monierte sie. Lachend sagte ich:„Nein, Vera, das kann ich nicht erzählen, niemals.“ „Du denkst etwas Böses über mich, los, rück raus mit der Sprache.“ forderte sie mich auf und kitzelte mich. „Vera! Wie kannst du nur so denken? Das absolute Gegenteil ist der Fall, das Allerliebste denke ich über dich, so lieb und glücklich, dass ich es nicht sagen kann.“ antwortete ich, wobei ich ihren Kopf zu mir herunter zog. Sie beugte sich mehr freiwillig zu meinem Gesicht, aber verkehrt rum küssen funktioniert nicht gut. Ich richtete mich schräg auf, und Vera lag schräg über mir, während wir uns zunächst vorsichtiger aber dann richtig leidenschaftlich küssten. Vera strich mir sanft über die Augenbrauen, meine Stirn und die Linke Wange. Ihre Geste und die Mimik ihres Gesichtes sagten alles, wie sie fühlte und was sie für mich empfand. Worte konnten das nicht ausdrücken, hätten gestört. Was wir fühlen und empfinden scheint nicht die beste Beziehung zu unserem Sprachzentrum zu haben. Durch Gesten, Mimik und unseren Blick können wir uns genau verstehen, Wörter vermittelten es nur trivial, holprig und grob. Wir lagen noch schräg aneinander gelehnt auf der Couch. „Was meinst du, Marc, empfinden alle Menschen das Küssen gleich?“ wollte Vera wissen. „Nein, um Himmels Willen!“ fuhr ich entsetzt spielend auf und Vera spielte erschrocken, „Wenn hundert Menschen ein Konzert besuchen, werden zweihundert Ohren mit den gleichen Klängen beschallt. Alle hundert werden den gleichen Namen des Komponisten und der gespielten Stücke nennen, aber bei jedem hat sich hinter den Ohren mit den Klängen etwas anderes abgespielt. Jede und jeder hat es auf seine Weise, wie nur sie oder er es verarbeiten kann, aufgenommen. Im Grunde hat jeder etwas anderes gehört. Beim Kuss ist es kein bisschen anders. Auf jeden wirkt Küssen immer ganz unterschiedlich. Du bist ein sehr gefühlsbetonter Mensch, ich nehme an, du wirst es sehr intensiv erlebt haben.“ argumentierte ich. Das hatte Vera bestimmt, intensiv und erstaunt hatte sie es erlebt. Das hatte ihr Gesicht nicht verbergen können. Vera grinste und ich bekam einen Knuff. „Ich weiß nicht wie lange das her ist. Ich kann mich gar nicht erinnern.“ erklärte sie sinnierend. „Lass es uns doch gleich nochmal machen, damit du es nicht wieder vergisst.“ meinte ich scherzend. „Marc, so geht das nicht. Da bin ich auch noch die Frau mit ihren hergebrachten Gewohnheiten. Ich bin nicht die Frau, die sich einfach in ihren Nachbarn verliebt und ihn küsst. Das ist schon alles sehr außergewöhnlich zwischen uns. Wir haben uns dreimal kurz getroffen und sind mehr als gute alte Freunde. So wie heute dich zu sehen, habe ich mich noch nie über den Besuch einer Freundin gefreut. Und geküsst? Ich bin nie auf die Idee gekommen, einen anderen Mann zu küssen, habe nie irgendeine Art von Verlangen danach gespürt. Das ist alles sehr ungewöhnlich, und wir sind uns schon äußerst nahe, Marc.“ erläuterte Vera. „Aber geträumt, geträumt haben wirst du doch davon. Alle träumen doch von der Liebe und erfülltem Liebesglück. In allem geht es doch nur immer um die Liebe, da kannst du dich doch gar nicht entziehen.“ gab ich zu bedenken. „Ja, natürlich, aber das ist doch außerhalb von mir selbst. Soll ich etwa Sehnsucht danach entwickeln, Elvis zu küssen, weil er es jetzt oder nie braucht, und einen Ozean voll Tränen weint, wenn es nicht geschieht?“ Vera dazu. „Vera!“ was redest du für einen Unsinn, hätte ich anfügen müssen, sah es aber in der Betonung ihres Namens schon enthalten, „Über Liebe gibt’s nur Kitsch und Schnulzen, wenn's dich nicht selbst betrifft? Ein Wesensmerkmal jedes Mensch sei Liebe, hast du gesagt. Ich stimme dir zu. Und viele Menschen haben seit ewigen Zeiten etwas sehr Gescheites dazu gesagt und geschrieben, vor allem aber sich in wundervollen Gedichten und Liedern dazu geäußert. Manches ist zur Redensart geworden, zum Beispiel von Goethe: „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide.“ Sehr viele Gedichte sind vertont worden. Liebe ist eben das stärkste aller Gefühle, und Frau und Mann genießen es, diesen Wunsch nach Liebe ansprechen zu lassen. Nicht von Elvis, das ist Schund, aber zum Beispiel von Goethe:
„Ja, die Augen waren's, ja, der Mund,
Die mir blickten, die mich küssten.
War sie da? Wo ist sie hin?
Ja! sie war's, sie hat's gegeben,
Hat gegeben sich im Fliehn
Und gefesselt all mein Leben.“
Klingt das nicht wundervoll?“ fragte ich. „Die Welt ist voller schöner Dinge. Ich weiß es wohl, aber das meiste ist meinem Leben versagt geblieben. Nicht weil ich arm bin, ich habe es mir selbst verbaut.“ sagte Vera, machte eine sinnierende Pause, und ich sah, wie sich ihre Augen befeuchteten. „Ich gehe in die Oper, habe ein Abo, weil eine Frau wie ich ein Opern-Abo zu haben hat. Was hat das mit mir zu tun? Bekommt Veras Persönlichkeit dadurch eine Nähe zur Oper? Das Gegenteil ist der Fall. Ich lese Bücher, weil sie auf der Bestsellerliste stehen, wenn sie alle lesen, können sie doch nicht schlecht sein. Absolut falsch, es ist das schlechteste Argument für dich, zu sagen: „Wenn es alle tun, kann es doch nicht schlecht sein.“ Ein schlechteres und falscheres Argument gibt es für dich nicht. Ich habe aber immer so gelebt, brauchte es mir gar nicht vorzusagen. Meine Gedanken waren so programmiert, dass ich automatisch das für richtig hielt, was sie alle taten. Ich habe es nicht gemerkt, aber im Nachhinein ist es doch ein sehr trauriges Leben.“ erklärte sich Vera.
„Das Leben wenig ist. Schlürft es in vollen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müsst!“
So hast du nicht empfunden, danach hast du bisher also nicht gelebt, Vorgegebenes nachgemacht, das Leben der Anderen gelebt. Aber du hast gesagt, dass du es ändern wirst. Keinen Tag, keine Minute solltest du verstreich lassen, ohne damit zu beginnen. Du hast es ja auch schon gemacht, dein wirkliches Gefühl gelebt, und unser Kuss war gewiss ein großer Sprung in diese Richtung.“ meinte ich, ging zum Regal und holte eine Sammlung mit Liebesgedichten. „So etwas solltest du zum Beispiel lesen. Das bringt eine Bereicherung für dich persönlich und gibt dir und deinem Gefühlshaushalt mehr als ein Verkaufserfolg auf der Bestsellerliste.“ erklärte ich, während ich das Buch an einer beliebigen Stelle aufschlug. Wir saßen wieder eng aneinander gelehnt und schauten gemeinsam hinein. Brechts „Erinnerung an die Marie A.“ lasen wir. „Ein bisschen wehmütig, aber schön, die Erinnerung an ein kurzes, fast vergessenes Glück.“ kommentierte Vera, „Die Wolke steht für das Glück, nicht wahr, das flüchtige Gefühl, das nur nur kurz ist, und nur solange existiert, wie du es wirklich erlebst?“ meinte Vera. „Die Marie A. hat es aber wirklich gegeben. Sie war eine Jugendliebe von Brecht.“ erläuterte ich. „Sag mal, Marc,“ wollte Vera plötzlich wissen, „das Gedicht von Goethe, das du so schön fandest, war das deine große Liebe?“ Ich musste stumm lachen. „Nein, nein, das hat sich Goethe schon selbst ausgedacht, und geflohen ist bei mir auch niemand. Mit den Augen und dem Mund, das könnte aber schon stimmen, und dass sie all mein Leben gefesselt hat auch. Das weiß ich aber erst jetzt.“ erklärte ich, dachte an Vera und Maria und lachte. „Da hätte ich die Sybille befragen können. Nachbarn kommunizieren gewöhnlich nicht in Rätseln.“ meinte Vera und lachte ebenfalls. Wir lasen noch zwei weitere Gedichte. Anheimelnd und vertraulich war es zwischen uns beiden auf der Couch geworden. Wir lasen, beschrieben unsere Eindrücke und die Gefühle, die ein Gedicht oder Passagen daraus bei uns erweckten. „Vera, glaubst du eigentlich an Liebe auf den ersten Blick?“ fragte ich plötzlich unvermittelt. Als wenn ich Vera aufgeschreckt hätte, drehte sie ihren Kopf zu mir. Jetzt war sie es, die mich anstarrte und prüfte. Langsam entspannte sich ihr Blick und ihre Mimik. „Willst du eine vernünftige, ehrliche Antwort, Marc?“ fragte sie. „Ich kenne das nicht und kann es nicht nachempfinden, aber für viele ist Liebe auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Dass du beim ersten Blick viel mehr siehst, als dein Bewusstsein dir erklären kann, glaube ich allerdings auch. Was du siehst, stellt Assoziationen zu allem in dir Verfügbaren her, besonders zu deinem Unbewussten, zu Erfahrungen, an die du dich gar nicht erinnern kannst. Wenn der Blick dich dann tief berührt und Glück empfinden lässt, kann es doch schon sein, dass du so etwas wie Liebe empfindest. Aber du liebst das Bild in dir, und nicht den Menschen, den du gar nicht kennst.“ „Aber ist es nicht immer so? Du kannst doch nichts anderes lieben als das Bild, das du in dir trägst.“ gab ich zu bedenken, „Deine Vorstellung von Marc war es doch, die dir Freude bereitete, mich zu sehen.“ „Bist du denn sehr betroffen davon?“ fragte Vera. Der Tonfall sagte schon das meiste. Die Fältchen um ihre Augen grinsten und ihre Mimik zeigte mehrere Komponenten, bei denen die schelmische überwog. Dass ich von der Liebe auf den ersten Blick betroffen war, daran schien es keine Zweifel zu geben, Vera interessierte nur das Ausmaß. „Überhaupt nicht betroffen bin ich davon. Von nichts bin ich betroffen. So ein Unsinn.“ reagierte ich auf Veras Informationsbedürfnis. Vera umschlang meinen Kopf und zog ihn zu sich, sodass ich wie ein kleiner Junge an ihrer Brust lag. Sie strich mir über die freie Wange und erklärte: „Marc, mit dem Schummeln hast du bei mir ganz schlechte Karten. Jahrzehnte lange Erfahrung habe ich damit, so etwas zu durchschauen.“ „Vera, ich habe das auch alles für absoluten Blödsinn gehalten. Wie soll man jemanden lieben, den man nicht nur wenig, sondern überhaupt nicht kennt. Aber mein Verlangen, meine Sehnsucht nach dir, das konnte ich nicht einfach leugnen. Das spürte ich doch. Ich habe es sexuell zu interpretieren versucht, bis mir etwas einfiel, das vielleicht Liebe auf den ersten Blick erklären könnte.“ antwortete ich Vera. „Ich möchte gern noch weiter mit dir lesen, mich mit dir unterhalten, aber jetzt muss ich nach Hause. Ich komme in den nächsten Tagen wieder, wenn es dir Recht ist.“ sagte Vera liebevoll lächelnd, holte ihren Mantel und wir umarmten uns. Zum Abschied gab es jetzt den Kuss, der vorher nicht mit den Gewohnheiten der Durchschnittsfrau korreliert hatte.
Harmonie mit der Tarte flambée
Ebenso zur Begrüßung, als Vera zwei Tage später wieder kam. Wir hätten uns ja jeden Tag dreimal besuchen können, aber ein wenig musste schon auf Contenance geachtet werden. Vera lachte immer. „Marc,“ sagte sie, „ich habe dir doch von den leckeren Zwiebeln erzählt, und dass es mich glücklich macht, wenn mein Kaufmann sie anbietet. Ich muss es mit dir teilen, dieses Glück.“ Weil sie immer lachte, dachte ich schon, sie führe etwas im Schilde. „Ich habe dir einen Kuchen gebacken. Alles voller Zwiebeln. Das heißt, ein richtiger Kuchen? Na, wie eine Torte sieht er jedenfalls nicht aus, sondern eher wie ein viel zu dicker Pfannkuchen, eine
tarte flambée. Im Elsas macht man so etwas, aber die Zwiebeln kommen aus der Bretagne, direkt vom Meer. Früher hat die englische Königin sie bekommen. Also schon etwas Besonderes, muss es für dich ja auch sein.“ erläuterte Vera. „Natürlich, ein einfacher Tortenboden hätte mich verstimmt.“ bestätigte ich Vera. „Was für einen Wein trinken wir denn dazu?“ erkundigte ich mich. „Bestimmt einen weißen, aber das ist mir gleichgültig. Ich bin keine übliche Weinkennerin, ich weiß nur dass der Wein meine Freund sein muss.“ erklärte Vera. „Verrätst du mir, wie du feststellst, ob der Wein dein Freund ist?“ bat ich amüsiert. „Beim Wein bin ich sicher auch ich selbst. Die herkömmlichen Kriterien kenne ich größtenteils gar nicht, sie sind mir wurscht.
Ob mich der Geschmack an Brombeere, Wallnuss oder Maiglöckchenduft erinnert, interessiert mich überhaupt nicht. Nach solchen Fragen kann ich nicht entscheiden, ob der Wein zu mir passt, ob er mein Freund ist, oder ob es mit uns nichts werden kann. Der Wein sollte mich freudig stimmen. Ich trinke ihn, wenn ich froh sein will. Dann will ich nicht schmecken, dass das Leben schwer und voller Lasten ist. Flatterhaft albern, wie ein unreifes Früchtchen soll er er mir aber auch nicht vorkommen, ernst möchte ich ihn schon haben. Er soll nicht den Eindruck erwecken, dass er alle Arbeit, die man im Boden, bei der Lese und Reife mit ihm gehabt hat, scherzhaft übertüncht. Vor allem aber will ich spüren, dass er lebt, lebendig ist, ein gewachsenes Wesen der Natur, das mit mir kommuniziert, das mich spüren lässt, ich habe dir etwas zu sagen, und zwar mehr als dass ich nach Himbeere, Kirsche oder Holunder schmecken könnte. Sein Geschmack sollte mir Anregungen vermitteln, aber keine dominanten Befehle. Dass seine vielfältigen Aspekte miteinander harmonisieren, ein gemeinsames Klangbild hervorrufen ist die besondere Auszeichnung des Weines, nicht des Weines, der mir gut schmeckt, sondern den ich mag, weil er mich zu lieben scheint, weil er spürt, wodurch er mich glücklich macht. Meine eigenen, Veras persönliche Assoziationen und Imaginationen bestimmen, ob der Wein für mich zum Genuss wird, er mehr als ein Getränk, sondern etwas Lebendiges verkörpert, das Anteil hat am Gesprächsverlauf oder dem Wesen der glücklichen Stunde, in der ich ihn genießen kann.“ erläuterte Vera. „Wundervoll, du lebst viel mehr dich selbst, als du glaubst. Du musst mal schauen, vielleicht findest du einen von deinen Freunden bei meinen Weinen.“ reagierte ich.
„Marc, da war es auch schon wieder. Ich bin es gewohnt, regelmäßig zu kochen, aber heute bei der Zubereitung der Quiche habe ich gesungen, ich hätte auch tanzen können. Du kannst dich also doch beim Kochen selbst verwirklichen, vielleicht auch beim Gurkenschneiden, wer weiß?“ sagte es und lachte wieder. „Tut mir leid, Marc, dass ich so albern bin und ständig lachen muss, aber das vergeht gleich. An den Zwiebeln wird es liegen. Zwiebeln sind ganz nah an dir und deinen Gefühlen. Wenn du sie schälst musst du weinen und beim Verzehr kannst du dich nicht halten vor lachen.“ meinte Vera. „Das
wird die der Zwiebel innewohnende Harmonie sein. Weinen und Lachen, die
beiden Kräfte gleichen sich aus.“ alberte ich. „Bei der Zwiebel ist es ein Witz, sie ist bestimmt kein
Yin und Yang Gewächs, aber Harmonien scheinen uns hier im Westen überhaupt nicht zu interessieren. In der Musik, da wissen wir genauestens, was sie bedeuten, nur sollte das auch für alles andere gelten. Nicht nur für das Visuelle, auch für Literatur, für Kultur insgesamt und besonders für das soziale Leben. Ich brauche kein Daoist zu sein, um zu spüren, dass Disharmonien stören und sogar krank machen können.“ erklärte Vera. „Dass Harmonie keine Rolle spielt, sehe ich nicht so. In der gesamten Ästhetik sind Harmonien bedeutsam, aber unabhängig davon sind die Menschen doch zum Teil richtig süchtig nach Harmonie.“ meinte ich. „Ästhetik natürlich, aber Harmoniesucht ist etwas ganz anderes und hat mit wirklicher Harmonie nichts zu tun, ist Oberflächenkitsch wie Weihnachten oder zeugt von mangelnder Selbstsicherheit.“ Vera dazu. „Bist du selbst denn ein harmonischer Mensch und wirst Weihnachten auch harmonisch verbringen?“ wollte ich von Vera leicht provokativ wissen. „Du Naseweis, ich überschütte dich mit meinen Harmonien, und du fragst so etwas. Aber im Grunde weiß ich es nicht. Bestimmt nutze ich öfter Gelegenheiten, meine eigenen wirklichen Gefühle zu leben, widerspenstig dem Mainstream nicht zu folgen. Zum Beispiel Mathe und Physik habe ich nicht studiert, weil ich eine neue Lise Meitner werden wollte und auch nicht wegen feministischer Gedanken. Es war einfach unüblich für ein Mädchen, und das hat mich wohl gereizt und mir Spaß gemacht. Ein Prinzip habe ich daraus aber nicht gemacht, es kam nur schon mal etwas Ähnliches vor. Auch beim Wein, da stanken mir die ganzen Finessen der
Dégustateurs
. „Ich bin es doch, die den Wein trinkt, was macht er denn mit mir?“ habe ich mich gefragt. Das hätte ich bei allem tun sollen.“ Vera zu ihren Harmonien. „Unsere Liebeslyrik ist die nicht auch Harmonie fördernd?“ fragte ich sie. „Bestimmt, aber mehr Harmonie erzeugt noch, dass wir sie gemeinsam lesen.“ sagte sie und schmunzelte. „Dass du eine Tarte gebacken hast und wir sie gemeinsam verspeisen, ist gewiss auch ein Ausbund an Harmonie.“ fügte ich hinzu. „Ja, und wenn wir die Reste aufteilen, tun wir das nicht wegen der Gleichheit, sondern wegen des Gleichklangs. Wenn ich meine Tarte esse, denke ich an dich, wie du deine isst und dabei an mich denkst. Kann es Harmonischeres geben?“ wollte Vera wissen. „Unmöglich. Denkst du denn auch ohne Tarte öfter an mich?“ fragte ich sie. Nach Veras grinsender Mimik musste sie wohl öfter an mich denken, es ließ sie einen kurzen Moment die Lider schließen und die Augenbrauen dabei anheben. „Mit der Liebe, das sehe ich genau wie du, Marc. Man müsste sich tief kennen und ausgezeichnet verstehen. Woher soll das bei uns kommen? Aber ich denke viel zu oft an dich, im Grunde fast ständig. Vielleicht sprichst du in mir auch Erinnerungen an, ein Bild vom Glück. Mein Leben lief immer so dahin. Die Liebe zu Torsten stellte schon eine außergewöhnliche Situation dar, aber mein Leben, das Glück, was ich daran liebe, waren die zwanzig Jahre mit Luisa, meiner Tochter. Da war die Welt anders für mich. Schon vor der Geburt hat sie sich ja nicht nur in deinem Bauch eingenistet, sondern vor allem in deinen Gefühlen, in deinem Herzen, wie du willst. Da bleibt sie immer, auch nach der Geburt. Du kannst dich fragen, wie eine Mutter ihr Baby zu versorgen hat und alles richtig machen wollen, aber das hat mich nicht bewegt. Mit Luisa habe ich auch mich selbst
gelebt. Alles andere musste erledigt werden, es war viel Arbeit, aber was
spielte das für eine Rolle bei dem Glück, das ich mit Luisa erleben konnte. So etwas hatte mein Mann mir nicht zu bieten. Ich glaube, in den Jahren habe ich ihn langsam innerlich vergessen. Ähnlichkeit mit Luisa hast du nicht, aber du bist ebenso ein guter, freudiger und auch lustiger Mensch. Vielleicht träumt mein Unbewusstes davon, dass mein Glück mit Luisa durch dich neu erblühen könnte. Ein Bild, ein Wunschbild vielleicht, wie bei dir.“ Vera zu ihren Gedanken an mich. „Das heißt, wenn wir uns treffen, freuen wir uns gar nicht direkt über den anderen, sondern unsere Wunschbilder sind glücklich, sich zu begegnen. Können Wunschbilder sich denn auch umarmen, küssen und zärtlich zu einander sein?“ befragte ich Vera, die grinsend schwieg. „Im Prinzip viel besser.“ sagte sie dann, „Sie sind doch noch frei, wissen noch gar nicht, wie weit sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen, ob sie sich auch wirklich lieben.“ Mit breitem Lachgesicht saßen wir uns gegenüber. „Sollten wir dann noch zögern?“ konnte ich noch fragen, bevor unsere breit lachenden Lippen aufeinander trafen. „Das war aber doch Realität, Vera. Da haben sich doch nicht unsere Wunschbilder und Imaginationen geküsst. Bestimmt müssen sie erkunden, ob sie auch mit der Wirklichkeit übereinstimmen.“ überlegte ich scherzend. „Nein, nein, da wird nichts überprüft. Ungewissheit, Zaudern und Zögern gibt es da nicht. Du musst felsenfest überzeugt sein, es wissen, sonst stellt sich das Glücksgefühl nicht ein. Hat dich dein Verlangen etwa gefragt? Dein Unbewusstes hat es einfach als sicher und unwiderruflich beschlossen. Nur so siehst du das Glück und glaubst daran.“ klärte mich Vera auf. „Trotzdem gefällt mir die reale Praxis sehr gut. Bist du nicht auch der Ansicht, dass wir vermehrt üben sollten, um sicherer und versierter zu werden?“ suchte ich Veras Zustimmung. „Hier, in der Küche?“ reagierte sie entrüstet. „Wie du möchtest. Alle Räume gehören dir. Wir tun, was dir gefällt und wo es dir gefällt. Auf der Couch bei mir war es doch nett. Da liegt auch noch unser Buch mit den harmonischen Versen. Wir könnten weiter darin lesen. Ich lege mich zum Lesen immer auf's Bett.“ erklärte ich. Veras Mimik um Augen und Mund, aus der ich auch „Du spinnst wohl.“ lesen musste, ließ mich schnell hinzufügen: „Auf's Bett, ich lege mich dabei auf's Bett und gehe nicht zum Lesen ins Bett.“ Jetzt grinste Vera zwar, aber eine Zustimmung war darin nicht zu erkennen. „Du möchtest lieber auf die Couch, nicht wahr. Dann tun wir das, da hat es uns doch auch gefallen.“ meinte ich. „Ich muss es sehen.“ erwägte Vera. „Na, gemütlicher könnte eine Liegelandschaft schon gestaltet sein, aber es ist ja meine Bibliothek hier und nicht primär das Schlafzimmer.“ erklärte ich. Grinsend stieß Vera mich auf's Bett und setzte sich selbst auf die Kante, um die Schuhe auszuziehen. „Das Buch, wir haben das Buch liegen gelassen.“ bemerkte ich.
Es wird sich einrichten
Vera sprang auf und holte es. Sie schlug es irgendwo auf und legte es vor uns hin. Ich spürte Veras Hand auf meinem Rücken. „Marc, weißt du,“ begann sie in ernstem, nachdenklichen Tonfall, „wie ich mich freue, wenn wir uns sehen, darüber brauche ich dir nichts zu sagen. Dass sich eine Beziehung wie unsere für die brave Frau Pössel nicht ziemt, darüber bin ich lange hinweg. Aber es
betrifft mich nicht nur an der Oberfläche, es berührt mein tiefstes Inneres,
stellt sehr bedeutsame Fragen an mich selbst. Im Grunde geschieht ja nichts, wir treffen uns und freuen uns. Trotzdem kommt mir meine Persönlichkeit im Moment wie eine Großbaustelle vor. Vera soll kernsaniert werden, weil zu dem, was bislang alles zueinander passte, etwas Neues hinzukommen will, das mit dem Vorhandenen überhaupt nicht korreliert. Es beschäftigt mich ständig, macht mich nicht durcheinander, aber ich bin verwirrt. Kannst du das nachempfinden?“ fragte Vera. Wir lächelten uns an, und ich gab den Hinweis: „Für jemanden, der nicht du selbst bist, könnte es sehr hilfreich sein, wenn du es zur Erläuterung ein wenig konkretisieren würdest.“ „Als ich jung war, interessierte ich mich für Männer, wie alle anderen Mädchen auch. Ich hatte einen Freund, bis ich später meinen Mann kennenlernte. Ich habe nie daran gedacht, was mir Männer bedeuten könnten und mit Luisa erst recht nicht. Aber es kam auch hinterher nicht mehr wieder. Als Luisa studierte, war ich oft unzufrieden und knatschig. Ich brauche einen neuen Freund, meinte man. Ich bekam aber keinen neuen Mann, sondern einen Hund. Ich war dumm und naiv, mein Freund konnte er nicht werden, sondern war schon nach sehr kurzer Zeit der einzige Feind, den ich auf dieser Welt hatte. Es konnte mich aggressiv machen, wenn er mich anstarrte, mit hechelnder Zunge und wedelndem Schwanz meine Befehle erwartete. Du bist niemals sein Freund, so etwas kennt er nicht. Er ist glücklich, dass sein Oberbefehlshaber, sein Alpha-Wolf, wieder da ist und ihm neue Anweisungen erteilt. 'Treue Hundeaugen', wenn ich so etwas schon höre, submissives Glotzen ist es, das deine Befehle erwartet. Die Psyche des Hundes ist im Wolfsrudel angesiedelt und nicht in den Wertvorstellungen der Menschen.“ echauffierte sich Vera über eine unglückliche Beziehung. „Das Submissive sagt dir also nicht so zu. Zur Domina hättest du keine Veranlagung?“ scherzte ich. „Bei dir weiß ich es nicht. Du bist ja ein Mensch und dazu noch ein Mann. Genau das ist es, was mich so verwirrt. Bedürfnis nach einer Beziehung zu einem Mann? Nicht vorstellbar bislang. Und dann auch noch Empfindungen und Gedanken mit Liebe. Liebe, das war für mich Luisa und ihr Töchterchen. Etwas anderes gab es nicht. Ich hätte es mir gar nicht vorstellen können, und ein Bedürfnis hatte ich natürlich allemal nicht. Plötzlich soll jetzt alles völlig anders werden, soll sich ins Gegenteil verkehren. Warum? Unglücklich war ich doch bislang nicht. Ich brauche für mich selbst ein neues Bild von mir, aber ich sehe es nicht.“ erklärte sich Vera. „Emotional bist du absolut sicher, aber zu deinem Selbstbild passt es nicht, eine Disharmonie, oder? Du willst es ändern, aber, ich glaube, das Bild von dir ist nicht ein fertiges Produkt, hängt in einem Museum, du schaltest das Licht an und kannst es dir anschauen. Es ist ein Prozess, den du gestaltest und der Zeit braucht. Du kannst es nicht von deinen Gedanken beschließen lassen, und natürlich erst recht nicht, von heute auf morgen ein anderer Mensch, eine andere Frau zu sein.“ lautete meine Ansicht. „Mehr Gelassenheit wäre besser, meinst du. Veränderungen benötigten eben Zeit, ich brauchte nur zuwarten, dann würde sich schon alles einrichten?“ verstand mich Vera.
Alles ist leben mit Marc
In der Wirklichkeit unserer Beziehung richteten sich Veränderungen aber so schnell ein, dass Veras Entwicklung ihres neuen Selbstbildes dem kaum folgen konnte. Vera kam in der Regel jeden zweiten Tag gegen Mittag und ging am späten Nachmittag. Weil das Wetter uns nicht animierte, das Haus zu verlassen, verbrachten wir die Stunden in meinen Räumen. Meistens auf dem Bett liegend, lasen gemeinsam Gedichte, oder einer las vor, und der andere konnte ihm dabei Wohltaten zukommen lassen. Nicht nur lesen, alles machten wir auf dem Bett. „Das ist nicht selbstverständlich, dass man auf Stühlen oder in Sesseln sitzt. Unsere abendländische Kultur schreibt uns das vor. Anderswo sitzt man gewöhnlich auf weichen Unterlagen oder Teppichen.“ wusste Vera dazu. „Dann ist das nicht ein Bett, sondern unser Teppich. Ob er auch mit uns fortfliegen wird und wohin? Weißt du da Näheres?“ erkundigte ich mich. „Na klar doch, wohin soll er mit Verliebten sonst fliegen als ins Paradies, wo ihnen ungeahnte Freuden offen stehen?“ erläuterte Vera. Nach drei weiteren Besuchen hatte es sich schon so eingerichtet, dass wir nicht mehr auf der Bettdecke lagen sondern darunter. Eine weitere Ungeheuerlichkeit für Vera, die sie aber selbst initiiere hatte. Wenige Tage vorher lautete ihre entschuldigende Erklärung noch, dass ich verstehen müsse, dass sie dazu leider nicht in der Lage sei. Am meisten war Vera immer erstaunt über sich selbst. Aufgewühlt beschrieb sie ihre Gefühle und neuen Empfindungen und versuchte sie zu deuten. „Das ist doch keine andere Frau, die jetzt glücklich ist.“ Vera erstaunt, „Das muss doch immer in mir gewesen sein. Wo war es denn? Warum konnte ich die Frau nicht sehen, die höchste Glücksgefühle empfindet, einen Mann liebt und selig ist, wenn sie mit ihm im Bett liegt und Zärtlichkeiten genießt. Diese Vera hat offensichtlich immer geschlafen, hat sich vor mir selbst versteckt. Warum nur? Ich trug eine Brille mit Gläsern, die stark filtern, sah nur das, was sie alle für richtig hielten, wer ich nach ihrer Meinung zu sein hatte, mich selbst konnte ich nicht sehen und erkennen, ich blieb mir selbst verborgen, mir selbst fremd.“ „Erwecken wir die schlafende Prinzessin Vera zu neuem Leben?“ fragte ich nach. „Bestimmt, aber trägt Liebe das nicht immer in sich, Dornröschen aus einem tiefen Schlaf erwecken? Als sie einschlief, von da ab an geht’s weiter. Dann müsste ich ja jetzt ganz jung sein. So empfinde ich mich auch. Also, Marc, du weißt Bescheid, wenn auch mein Körper täuscht, aber innerlich sprichst du mit einer Frau von fünfundzwanzig Jahren.“ wies mich Vera hin. Völlig falsch lag sie damit gewiss nicht, denn im Hochgefühl über unser jetzt auch körperliches Zusammensein scherzte, lachte und alberte sie ständig. „Dass mein Körper nicht mehr mit der Schönheit von fünfundzwanzig gesegnet ist, damit komme ich für mich ganz gut zurecht. Das bin ich, so viele Jahre habe ich schon gelebt, das ist so. Eine ästhetische Augenweide für andere ist er natürlich nicht und mit Sicherheit kein bisschen attraktiv mehr. Ich ertrage mich, aber du hättest mich niemals sehen dürfen. Wovor schämte ich mich? War ich eitel, wollte dir als attraktive Blondine erscheinen oder so etwas. Als wir zusammen ins Bett gingen, sind mir solche Gedanken überhaupt nicht gekommen. Es war nur das Empfinden, dass wir uns liebten und zusammen sein wollten. Absolut sicher fühlst du dich dann auch. Dass es etwas an dir geben könnte, was dein Liebster ablehnt oder auszusetzen hat, solche Gedanken kommen dir gar nicht. Ja, Marc, Liebe macht nicht nur die wärmsten Gefühle, sie macht dich auch sicher und gibt dir großen Raum für Freiheiten.“ so Vera zu ihrer Körperlichkeit. Über Sex sprach keiner. Da hatte Vera schon im Rahmen ihrer Lebensbeschreibung erklärt, dass sie damit nichts mehr zu tun habe, schon seit etwa zwanzig Jahren nichts mehr empfinde. Wir schmusten, küssten, drückten unsere Körper aneinander. Und kosteten dabei unsere haptischen und taktilen Sinnenfreuden aus. „Das brauchst du doch, Marc, nicht nur ein liebend Herz, das für dich schlägt, auch eine liebende Hand, die deinem Körper sagt, dass es nicht nur Gedanken sind, die uns verbinden. Wo mich auch immer deine Hand berührt, es kommt mir vor, als ob sie mich dort küssen würde. Ich streichelte Vera an Po und Beinen und ihr schien es heute außergewöhnlich gut zu gefallen. Wonnestrahlend blickte sie mich an und berührte mich mit ihren Fingern. Ich merkte, wie Veras Atmen langsam intensiver zu werden schien. Vera, die seit zwanzig Jahren nichts mehr empfand, erregte jetzt mein Streicheln? Tatsächlich, Veras Erregung schien sich zu steigern. Sie spreizte ihre Beine, atmete immer tiefer und manchmal war ein leichtes Stöhnen zu hören. Ich wusste nicht, was ich erlebte. „Marc, mein Liebster, komm zu mir. Lass uns lieben.“ wünschte Vera plötzlich leise und in einem fast weinerlich dringenden Tonfall. Es musste auf einem anderen Stern stattfinden, mit unserer Realität konnte es nichts zu tun haben. Zwei erschöpfte, wonnig lachende Gesichter, aber es sagte niemand etwas. Bestimmt wollten wir die Gefühle durch Reden nicht zerstören, aber mit Sicherheit fehlten uns auch vor Staunen die Worte, mir jetzt nicht weniger als Vera. Zärtlichkeiten konnten nicht vermittelten, wie tief wir für einander empfanden. Öfter mussten wir uns ganz fest drücken, wie eine Mutter, die ihrem Kind mehr sagen will, als dass sie es liebt, sondern dass es ihr alles bedeutet. Bestimmt empfanden wir so ähnlich. Nach geraumer Zeit flüsterte Vera: „Es muss wirklich eine völlig neue Frau sein. Zum ersten mal in meinem Leben habe ich gefickt.“ Trotz der vertrauten und heimeligen Stimmung platzte ich los. Vera erklärte es: „Ja, normalerweise wollen die Männer doch immer, und dann müssen sie sich um die Frau kümmern, bis die auch will. Aber jetzt wollte ich doch. Du bist lieb zu mir gewesen, immer weiter und plötzlich wollte ich, dass wir's zusammen machen. Das hat's noch nie gegeben. So habe ich das noch nie erlebt, da bin ich ganz sicher. Zum ersten mal in meinem Leben habe ich gefickt, ich persönlich und das in meinem Alter.“ Stolz und gewonnen reckte Vera mehrmals eine Siegerfaust hoch. Ich lachte mit ihr, hielt es aber nicht für angebracht, jetzt über ihre Sexualerfahrungen zu sprechen, dachte mir nur, dass ihre erstorbenen sexuellen Bedürfnisse gut erklärbar sein müssten. Dass auch Veras Lust am Sex neu erwacht war, hielt sie für das Ungeheuerlichste überhaupt. „Aber es ist ja auch alles ganz anders. Alles ist neu, als ob ich es noch nie erlebt hätte, vom ersten Kuss bis zum Sex. Mit früher, meinen früheren Erfahrungen hat das alles nichts zu tun. Unsere Liebe bringt ein neues Leben, wer weiß was da noch alles geschieht?“ staunte Vera. „Meinst du, wenn ich es gemeinsam mit dir mache, wird alles immer ganz anders sein, als ich es je erlebt habe? Wenn wir zusammen Kartoffeln kochen, wird das auch so sein, wie ich es bislang nicht kannte?“ Vera lachte zwar, aber es war ihr durchaus ernst, „Es wird daran liegen, dass nicht das Materielle Freude schafft und Glücksgefühle entwickeln lässt, sondern entscheidend ist immer die soziale Komponente, der kommunikative Gehalt. Wenn dich dein neues Auto glücklich macht, dann ist es nicht das bunte Blech, sondern die Anerkennung, die du dafür erhalten wirst und derer du dir gewiss bist. Wenn das Soziale das Entscheidende ist, muss Kartoffeln kochen mit dir, Luisa oder Torsten natürlich jedes mal etwas völlig anderes sein. Alles ist leben mit Marc, und nur das schafft bei allem das Glück.“ deutete es Vera. „Aber wenn du deinen Wein genießt, ist es da auch die soziale Komponente, weil der Wein dein Freund ist, oder bist du es ganz allein, die sich über die Wahrnehmung des Weines mit all deinen Assoziationen freut?“ wollte ich wissen. „Stimmt schon, ich lasse mich ja auch durch die Klänge in einem Konzert beglücken. Wenn ich nicht allein bin, ist das zwar schön, aber da ist nicht die Gemeinsamkeit zentral für die Freude. Wohltuendes für deine Sinne bereitet auch Freude, Sinnenfreude.“ sagte Vera und lachte. „Aber für viel Geld und ein dickes Auto hast du keine Sinne. Du hast auch kein spezielles Sinnesorgan für das Soziale, es bildet seine Wahrnehmung aus der Zusammensetzung anderer Sinnesorgane und dem bereits Vorhandenem in deinem Unbewussten, aber ich denke, dass in der Kommunikation dein zentraler Sinn angesprochen wird, er macht dich aus, von ihm lebst du seit dem Tage deiner Geburt.“ ergänzte Vera. „Liebe hieße also, die Sinnenfreuden seines Sozialsinns auskosten, wenn ich dich richtig verstanden habe.“ scherzte ich und musste mich Veras Liebkosungsbedürfnis ergeben.
Der Mensch ist primär ein Liebender
Bei weitem sprachen wir nicht nur über Liebe und die Veränderungen, die sie bewirkte. Wir konnten ja auch jetzt über Sex reden. Vom evolutionär bedingten Geschlechtstrieb bis zur libidinösen Implikation, die in jeder Begegnung von Frau und Mann anzutreffen ist. Wir hatten immer mehrere Stunden für unsere Treffen, hätten sie allein mit Gesprächen über Sex füllen können, aber die Zeit kam uns immer schrecklich kurz vor. Unendlich viel Wichtiges und Interessantes hatten wir uns mitzuteilen und zu besprechen. Aber worum es sich auch handelte, es war allein schon dadurch interessant, dass der andere zu einem sprach. „Was?“ fragte Vera dann plötzlich. Wache, Liebe schenkende Augen waren versunken in dich, schienen mehr von dir zu sehen, als du selbst kanntest. Da konnten die intellektuellen Funktionen des Textverstehens schon mal beeinträchtigt werden. Oder Vera sagte plötzlich „Süß“ oder „Mein Süßer“ mitten in den ernsthaftesten Diskussionen. „Ich glaube, bei Lona weiß ich es, was mich beglückt, wenn ich sie nur sehe. Sie zeigt dir noch den unverbogenen wirklichen Menschen, zeigt immer ganz sich selbst. Wird ihr das genommen, gibt es das später bei ihr nicht mehr? Nichts geht verloren, es bleibt für immer in ihr, du wirst es nur nicht mehr erkennen können, weil es mit den Vorgaben eines Teenagers, einer jungen Frau überdeckt ist. Es liegt aber auch an dir. Du kannst es gar nicht erkennen. Für tausende von Gesten und Mimiken hast du die Interpretationen, die Deutungsmuster erlernt, offen kannst du nicht mehr sein. Aber die Liebe kann dir den Blick wieder öffnen, schiebt alle üblichen und gewohnten Erklärungen beiseite und lässt mich Marc direkt selber sehen. Erst dann kannst du alles verstehen und siehst den wirklichen Menschen. Da ist es dann genauso herrlich, dich anzuschauen wie Lona, zu erleben, wie du Formulierungen suchst, um mich verstehen zu lassen, was du siehst und denkst. Wundervoll bist du dann, ein einzigartiges Kunstwerk, und für jedes deiner Worte könnte ich dir einen Kuss geben.“ erläuterte Vera. „Du meinst, nicht das Dargestellte ist entscheidend, sondern der Blick des Betrachters.“ verstand ich Vera. „Das allemal, das ist bei allem so, aber zwischen Menschen ist die Liebe das Entscheidende. Nur der liebende Blick ermöglicht dir, den anderen wirklich zu erkennen.“ ergänzte Vera. „Liebet eure Feinde, dann werdet ihr sehen, dass sie im Grunde auch wunderbare Menschen sind.“ scherzte ich. „So lustig sehe ich das gar nicht. Mit dir habe ich ja auch erfahren, dass die Liebe Unglaubliches möglich machen kann.“ meinte Vera. „Dann wäre es für dich doch wichtig, in allem nicht nur dich selbst zu suchen, sondern auch den Gehalt an Liebe zu beachten.“ lautete meine Ansicht. „Ja, natürlich, wir sollten dem Prinzip der Liebe in allen Bereichen größeren Raum schenken. In der Liebe kalkulieren wir nicht, sondern erfreuen uns am selbstlosen Geben, ohne an einen Gegenwert zu denken. Das Prinzip der Liebe ist mit Sicherheit evolutionär viel älter im Menschen. Das jetzt alles dominierende ökonomische Denken ist bestimmt später hinzugekommen. Der Mensch an sich ist also primär ein Liebender.“ erläuterte es Vera. „Ich würde dir gern zustimmen, nur wirst du nicht mit vielen herben Enttäuschungen zu rechnen haben? Beim nächsten Einkauf zum Beispiel wirst du feststellen müssen, dass man vom selbstlosen Geben ohne Gegenwert nicht viel hält. Man wird dein Geld und nicht deine Liebe wollen.“ argumentierte ich scherzend. „Du Schlauberger, beim Einkauf werde ich mich auch nicht selbst zu verwirklichen versuchen. Einkaufen ist eine Subkategorie der Arterhaltung und nicht des libidinös besetzten Soziallebens.“ bekam ich zu hören.
Liebe überall suchen
Auf die neuen Errungenschaften unseres libidinös besetzten Soziallebens waren wir stolz und machten ständig Gebrauch davon. „Vera, befürchtest du nicht, dass es für uns zur Gewohnheit, zum Ritual werden könnte. Was wir tun ist sehr ungewöhnlich, aber wir tun es jedes mal, wenn du kommst. Wir reden über Don Giovanni, dazu brauchen wir nicht im Bett zu sein, während dein Kopf auf meiner Brust liegt und deine Hand an meinen Genitalien spielt. Ich kann es mir genauso anregend vorstellen, am Küchentisch über Don Giovanni zu sprechen.“ monierte ich. „Was soll daran ungewöhnlich sein? Andere Paare gehen jeden, und nicht jeden zweiten Abend gemeinsam ins Bett und bleiben es die ganze Nacht über.“ entgegnete Vera. „Ja, aber doch nicht mittags.“ versuchte ich mich zu rechtfertigen. „Was soll sich denn ritualisieren? Wo erkennst du denn da Gefahren? Unsere Liebe ist jedes mal einzigartig und nur jetzt und diesmal so, wie sie ist. Wiederholen lässt sich da nichts. Ritualisierte Liebe gibt es nicht, dann ist es keine Liebe.“ machte Vera mir klar, „Aber wenn du meinst, dass anderes zu kurz käme, da würde ich dir schon zustimmen. Wir sollten auch mehr verschiedene Dinge tun. Nur wenn ich bei Don Giovanni am Küchentisch die Geste deiner Hand sehe und denke, wie schön es wäre, wenn diese Hand jetzt deinen Rücken oder deine Brust streicheln würde, was mach ich denn da? Wie soll ich solche Gedanken denn verhindern?“ „Du wolltest doch die Liebe überall suchen. In deinem Körper hast du sie schon hinreichend gefunden. Vielleicht solltest du sie in der Musik suchen, zum Beispiel in der Arie „Deh Vieni Alla Finestra“, Oh Liebste, komm ans Fenster. Du wolltest die Liebe ja suchen. Gewiss wird die Oper dir dann näher kommen. Durch Liebe wirst du einen anderen Zugang finden, wirst die Musik anders hören, dich selbst für sie öffnen und nicht in der Oper sitzen, dich beschallen lassen, weil du ein Abo haben musst.“ verdeutlichte ich.
Weinen in der Oper
„Ihr könntet ja gut mal für eine Woche zu uns kommen.“ meinte Veras Tochter Luisa als sie mich Weihnachten besuchten, „Das Problem ist nur Lona. Für sie ist alles in Ordnung. Um es ihr zu verheimlichen ist sie zu alt und um es zu verstehen zu jung. Sie hat mich gerade schon gefragt, ob du Omis Liebling wärst.“ Luisa hatte immer ein breites Grinsen im Gesicht und blickte mich mit wohlwollenden Augen an. „Ich freue mich für sie fast genauso wie Mutter selbst.“ sagte sie beim Abschied, als sie mir die Hand gab und mich mit der anderen über den Arm strich. Unvorstellbar, dass Vera nicht am Spätnachmittag ging, sondern dann auch am Abend da war und die ganze Nacht über blieb. Es war ja günstig. An drei Tagen hatten wir jeweils etwa fünf Stunden für uns, aber es gab keinen Abend mit Vera, keine Nacht und auch kein Wochenende. Davon konnte ich nur träumen. Was machte sie die ganze Zeit zu Hause? Sie hat mir mal eine typische Unterhaltungsszene mit ihrem Mann vorgespielt. Wir haben uns schief gelacht. Dass Vera mich öfter besuchte und mich gut leiden konnte, wusste er, aber was wirklich zwischen uns geschah, konnte er nicht denken. Ich war eben ein guter Bekannter, und Vera sollte mich doch auch mal einladen. Dass sie es einfach überhörte und keine Notiz davon nahm, war in der Kommunikation zwischen den beiden nicht ungewöhnlich. „Weißt du, Marc, wir akzeptieren uns nicht, wir lassen uns einfach gegenseitig in Ruhe. Auch eine Art von Toleranz, nicht wahr? Negativ-Toleranz, bloß nicht über irgendetwas von dem anderen reden. Im Grunde sind es Nonsensgespräche, wenn wir miteinander sprechen. Niemand geht auf den anderen ein, sondern erzählt einfach eine eigene Geschichte.“ erläuterte Vera. So eine Situation hielte ich nicht aus. Dazu war gewiss eine große Gewohnheitsmacht erforderlich, um so seinen Alltag leben zu können. In diesem Jahr war ich zum ersten mal in der Silvesternacht draußen gewesen. Lärm sagt mir nicht zu. Lauter Krach ist immer unangenehm und schadet den feinen Härchen im Innenohr, gleichgültig wann, an Silvester nicht minder. Als ich Kind war, gab es diese Feuerwerke noch nicht, und jetzt kann ich selbst den großartigsten von ihnen nichts abgewinnen. Die Pyrotechniker mögen handwerkliche Kunststücke vollbringen, aber ihre leuchtenden Produkte sind und bleiben aus ästhetischer Sicht immer nur Kitschbilder. Jetzt war ich wegen Vera, Luisa und Lona, die extra geweckt worden war, draußen. So lernte ich auch Veras Schwiegersohn kennen und konnte ihren Mann in seiner absolut präsidialen Statur in Augenschein nehmen. Früher hatte Veras Mann häufiger Kongresse und Tagungen besucht, jetzt hatte er einen Kongress an einem Wochenende im März. Wir tanzten vor Freude, hatten uns schon lange vorher immer wieder neu überlegt, wie wir das Wochenende am wundervollsten gestalten könnten. Zu klären, dass wir nicht die ganze Zeit nur im Bett verbringen wollten, stellte kein Problem dar. Fest stand auch sehr bald, dass wir Donizettis „Lucia di Lammermoor“ besuchen und anschließend essen gehen wollten. Für alles andere hatten wir immer wieder neue und bessere Einfälle. Leben mit Vera, ein ganzes Wochenende lang. Die ganze Nacht mit ihr verbringen, mit ihr aufwachen, mit ihr frühstücken, so sollten all unsere Tage sein. Wir platzten vor Glück. Beim Abschied am Sonntag sah ich Veras feuchte Augen und mir kamen selbst die Tränen. In der Oper hatte Vera auch geweint. Warum? Sie konnte es nicht erklären. „Es kommt alles zusammen, Marc. Wenn wir nicht lachen und exaltierte Späße machen, ist alles so ergreifend und berührt mich so tief. Dass wir jetzt gemeinsam diese wundervolle Arie hören, wird nur der Auslöser sein, der meinen starken Empfindungen auch den Weg zu Tränen ermöglicht. Mit Traurigkeit haben sie nichts zu zu tun. Vielleicht liegt in ihnen ein bisschen Wehmut nach einem Glück, das ich erst jetzt erfahre, und das meinem bisherigen Leben versagt geblieben ist.“ versuchte Vera ihre Tränen zu deuten. „Lucia di Lammermoor“ war unsere Oper, vor allem aber gehörte sie Vera, die noch beim Einschlafen Melodien aus ihr summte. Dieses Wochenende durfte kein singuläres Erlebnis bleiben.
Klare Verhältnisse
„Was geschähe denn, wenn dein Mann davon erführe?“ wollte ich von Vera wissen. Es wäre doch gut denkbar, dass er nichts dagegen hätte, wenn zwischen den beiden sowieso nichts mehr lief, und ihre Beziehung aus gegenseitiger Nichtbeachtung bestand. „Er könnte es nicht glauben.“ antwortete Vera lapidar. „Und wenn du es ihm sagtest, dass wir uns liebten, und du auch gern mal eine Nacht oder ein Wochenende bei mir verbringen würdest?“ fragte ich nach. Vera strich sich übers Kinn und meinte mit ernster Mine: „Wenn er wüsste, was sich zwischen uns abspielte, das könnte er nicht ertragen.“ „Wieso, was würde er denn tun? Mich umbringen?“ wollte ich scherzen. „Nein, er würde sagen, dann sei ich nicht mehr seine Frau, sondern deine. Und das geht nicht, da würde er klare Verhältnisse fordern.“ Vera darauf. Klare Verhältnisse, Vera nicht mehr seine Frau, alles stünde uns offen. Auf den Gedanken, dass die beiden sich trennen könnten, war ich noch nie gekommen. Na ja, ernsthaft war unsere Beziehung ja schon, aber dass Herr und Frau Pössel meinetwegen ihre Ehe auflösen könnten, war doch überwältigend bislang nicht gedachte Vorstellung. „Und du selbst? Sogenannte klare Verhältnisse sagten dir nicht zu?“ wollte ich von Vera wissen. „Wieso? Die Verhältnisse sind doch klar. Du bist mein Allerliebstes auf der Welt, und Torsten ist mein Mann. So ist es und ich möchte, dass es so klar bleibt.“ Vera darauf fast strikt, sodass ich zunächst mal nichts sagte. „Dein Mann interpretiert klare Verhältnisse aber doch wohl anders?“ meinte ich. „Klar, er würde sich von mir trennen, aber das will er nicht und ich auch nicht.“ antwortete Vera. Immer wieder wurde es thematisiert, warum sie keine Trennung von ihrem Mann wollte, obwohl ich beim ersten mal schon an ihrem Tonfall gehört hatte, dass es sich dabei um ein unabänderliches Verdikt für sie handelte. Wir redeten viel, aber im Grunde verweigerte sich Vera der Kommunikation darüber. Ihre Erklärung und Begründung konnte ich nicht verstehen und nachvollziehen. Es sei ihr Leben, dass sie mit Torsten verheiratet sei, und das zerbreche und zerstöre sie nicht. Vera hatte geweint, als unser Wochenende vorbei war, aber alle Verlockungen eines gemeinsamen Lebens, die sie keineswegs bestritt, konnten an ihrem Ehewahn mit Torsten etwas ändern. Die Widersprüchlichkeit zu ihren Vorsätzen verdeutlichte ich ihr, aber alles ohne jeden Erfolg. Rational war Vera nicht zu begreifen, und das Irrationale konnte sie nicht verständlich vermitteln. Sie sagte strikt nein, zu etwas, wonach wir uns im Grunde beide sehnten. Es war sinnlos, weiter darüber zu reden. Förderlich für unsere Beziehung war es keinesfalls. Grundlegend hatte sich zwar zwischen uns nichts geändert, aber der Glanz strahlte nicht mehr so intensiv. Der Freude bei unseren Treffen war die sonst auch immer vorhandene Hoffnung abhanden gekommen. Wir sahen unsere Liebe als einen sich immer weiter entwickelnden Prozess. Der schien jetzt zum Stillstand gekommen zu sein. Die Blume öffnete sich nicht weiter. Wenn ich über uns sinnierte, lag ein Anflug von Tristesse auf meinen Gedanken. Warum nur? Unserer Liebe war doch nichts abhanden gekommen. Ein Traum, den ich selber fantasiert hatte, sollte nicht Wirklichkeit werden, mehr nicht. Hatten wir bislang ständig im Rausch eines von der Liebe beschwingten Hochgefühls gelebt und waren jetzt mit der Realität konfrontiert worden? Offensichtlich hatte uns aber die exaltierte Begeisterung für unsere Liebe besser gefallen. Nur sie war dahin, wir lachten weniger, und der bisherige Zustand ließ sich nicht per Beschluss wiederbeleben. Ich musste es mir vorsagen, dass ich nicht so töricht sein sollte, und von einem gemeinsamen Leben träumen. Das hatte ich vorher auch nicht getan und war trotzdem glücklich gewesen. Die Liebe sei erst vollkommen, wenn ich auch mit Vera zusammenleben könnte, durch so unsinnige Gedanken wollte ich mich nicht weiter beeinträchtigen lassen. Das größte Glück hatte ich darin gesehen, mit Vera im Bett liegen zu können, als es noch völlig undenkbar war, und hatte mich an diesen Gedanken erfreut. Wie viel mehr sollte ich mich darüber freuen, wie es sich tatsächlich zwischen uns entwickelt hatte, und nicht unrealisierbaren Hirngespinsten nachtrauern. Aber der Traum war geträumt und nicht wieder aus Gedanken und Gefühlen zu vertreiben.
Jeder für sich
Im Spätsommer, zum Ende der Ferien kam es bei Pössels zu einer großen Auseinandersetzung. Luisa, die gewöhnlich auch dem Prinzip der Nichtbeachtung folgte, hatte sich mit ihrem Vater angelegt. Sie hatte sich echauffiert und ihm vorgeworfen, in ihrer Kindheit und Jugend in seiner Vaterrolle versagt zu haben. Natürlich wollte Herr Pössel sich verteidigen und bestritt alles, steigerte aber dadurch nur Luisas Wut immer weiter. Sie machten sich gegenseitige Vorwürfe und suchten nach Fehlern, die sie sich vorwerfen konnten. Luisa kam auf die gesamte Familiensituation und die Ehe zwischen ihm und ihrer Mutter zu sprechen. Nichts verstehe er, unfähig sei er in allem, was die Beziehung zu anderen Menschen betreffe. „Du bist selbst zu doof, um zu merken, dass Mutti sich das, was du ihr nicht geben kannst, bei jemand anders holt, weil ein Mensch so etwas braucht.“ hatte Luisa gesagt. Verstanden hatte ihr Vater es nicht, aber es hatte ihn neugierig werden lassen. Luisa erzählte es gerne, weil sie merkte, wie es ihren Vater kränkte. Am folgenden Tag fuhr Herr Pössel zu seinem Bruder. Wann er zurück komme, wisse er noch nicht. Als er nach einer Woche wieder nach Hause kam, stand für ih fest, dass er die Trennung von Vera wollte. Sie hätten nichts mehr miteinander zu tun und außerdem habe Vera ihn betrogen. Dass sie auch vorher schon nichts mehr miteinander zu tun gehabt hatten, war ihm zwar von Luisa erklärt worden, aber solange alles nach den gewohnten Ritualen ablief, gab es für ihn nichts auszusetzen. Vera war schon sicher, dass es dazu kommen würde, als er zu seinem Bruder fuhr. „Es kommt mir oft so vor, als ob ihm jegliche Flexibilität im Denken fehlt. Verstanden hat er das alles nicht, was Luisa ihm vorgeworfen hat. Torsten lebt und denkt absolut an der Oberfläche. Er verkörpert die Show der vorgegebenen Rollenerwartungen wie kein zweiter, und bei seinen Sportkameraden kommt er damit offensichtlich gut zurecht.“ erläuterte Vera. Ihr Mann zerbrach ja jetzt, was Vera so unendlich wichtig gewesen war, aber eine Träne verlor Vera darüber nicht, selbst jeglicher Anflug von Traurigkeit wollte sich bei ihr nicht einstellen. „Nein, Vera, das möchte ich nicht. Du hast nichts geändert.“ antwortete ich auf ihre euphorische Verkündigung, dass unserem Zusammenleben jetzt nichts mehr im Wege stehe. Ihren erstaunt fragenden Blick beantwortete ich erläuternd: „Du bist keine andere geworden. Nicht eine Vera, der unser gemeinsames Leben wichtiger ist, als die Angst vor dem Verlust ihrer gewohnten Lebenszusammenhänge. Du willst es nicht von dir aus, sondern hast nur nichts mehr zu verlieren, weil Torsten entschieden hat, dass er dich nicht mehr will. So möchte ich es nicht, du kannst ja weiter von deinem verloren gewohnten Leben träumen.“ Darauf reagierte Vera nicht. Ohne Abschied, nur mit einem kurzen „Tschüss“ lief sie zur Tür und ließ diese heftig hinter sich ins Schloss fallen. Sie kam nicht zu mir und meldete sich nicht. Ich wollte warten, bis Vera von sich hören ließ, aber nach einer Woche machte ich mir so krause Gedanken, dass ich es nicht mehr aushielt. Vera machte einen verwirrten Eindruck. „Was hast du mir angetan? Marc, wie kannst du mir so etwas antun?“ sagte sie immer wieder und „Ist das alles nicht mehr so? Habe ich alles falsch verstanden?“ Ich versuchte, sie zu beruhigen und ging zu ihr. Sie weinte immer nur, zeigte mir alle Stationen unserer Liebe auf und bat mich jedes mal eindringlich, das doch nicht zu vergessen. Das jemand wie ich ihr jetzt so weh tun könne, sei ihr völlig unverständlich. Sie habe Freudensprünge von mir erwartet, und ihr wichtigster und liebster Mensch auf der Welt habe sie zurückgewiesen. Die ganze Woche habe sie geweint und gegrübelt. „Marc, ich dachte, ich sei eine gestandene Frau, aber es macht mich verrückt, ich halte das nicht aus, ich bin völlig fertig. Wie konntest du, ausgerechnet du, mir, deiner Liebsten, nur so etwas tun?“ fragte sie. Im Moment konnten nichts mehr als meine Brust, an der Veras Kopf lag, und meine Hand, die Haar streichelte, erklären, wie sehr ich sie doch liebte. „Ich weise dich nicht zurück, Vera, ich kam mir damals zurückgewiesen vor, als du es ablehntest, dich ernsthaft auf eine Diskussion über ein gemeinsames Leben einzulassen. Ich sei zwar für dich das Wichtigste auf der Welt, hast du gesagt, aber offensichtlich gab es etwas, das unverbrüchlich darüber stand, dein gewohntes Leben. Das tat weh und ließ mich viel über unsere Liebe nachdenken. Bedeute sie in Wirklichkeit nur eine schöne, lustvolle Bereicherung deines Lebens, war ein Anhang und nicht dein Leben selbst? Glichen unsere Treffen für dich eher einem bunten Nachmittag als der Verwirklichung von Veras neuem Leben? Es konnte nicht sein. Deine Verweigerung stand im Widerspruch zur Liebe und zu allem, was du dir vorgenommen und gesagt hattest. Eine Diskussion darüber war nicht möglich. Ich durfte alles Erdenkliche erzählen, aber von dir kam nur immer das strikte „Nein“. Wenn du mich liebtest, hättest du nicht sehen müssen, was es für mich bedeutete, aber das schien dich gar nicht zu interessieren. Du sahst nur dich, und was du wolltest. Wo ist da die Liebe? An all dem hat sich nichts geändert, Vera. Aber es hatte auch einen hilfreichen Aspekt. Mir ist in dir das Andere wieder deutlich geworden, was sich in unserem Gemeinsamkeitsrausch fast verwischt hätte, das Andere, das nicht ich bin, das mir fremd ist und das ich nicht verstehen kann. Nach wie vor liebe ich es, wenn wir zusammen sein können, aber ich liebe es trotz allem nicht, von dir zu hören, unsere Liebe sei dir das Wichtigste auf der Welt, wenn es gar nicht stimmt.“ erklärte ich mich. „Du hast schon Recht. Ich bin eine Lügnerin, nicht wahr?“ sagte Vera und konnte schon wieder schmunzeln, „Es ist so widersprüchlich, ich sehe es ja ein, aber meine Gewohnheiten haben mich offensichtlich absolut im Griff, ich kann mich nicht dagegen wehren, als ob sie sich bei mir eingebrannt hätten, scheinen sie mein Denken und Handeln zu dominieren. Es durfte nicht sein, dass Torsten und ich uns trennten. Jetzt ist es einfach geschehen, und ich habe kein Wort dagegen gesagt, aber selbst beenden, das konnte ich nicht, dazu war ich nicht in der Lage. Du kannst dir nicht einfach rational etwas vornehmen, und dann folgst du dem Beschluss deines Willens. Aber nichts bedeuten sie, diese Gewohnheiten, wertlos und schädlich sind sie, nur du bist von ihnen wie gefesselt. Bevor ich zu mit selbst finden werde, muss ich unbedingt lernen, die Macht der Gewohnheiten über mich zu brechen.“ „Wo ist Torsten jetzt?“ erkundigte ich mich. „Er lebt bei einem Freund und sucht sich eine Wohnung. Allem Anschein nach konnte er es bei seiner Frau keinen Tag länger mehr aushalten.“ erklärte Vera scherzend. „Und du, wirst du dir auch eine neue Wohnung suchen?“ wollte ich von ihr wissen. „Ich weiß nicht. Bezahlen könnte ich diese schon allein, da gibt es kein Problem. Aber ...“ Vera stockte und sprach nicht weiter, „ich möchte nicht allein sein in der großen Wohnung.“ wobei sie mich erwartungsvoll anschaute. „Woran denkst du, Vera? Doch wohl nicht daran, dass ich zu dir ziehe.“ reagierte ich. „Ich dachte daran, dass deine Wohnung ja fast genauso groß ist, und Raum genug für uns beide gäbe es da allemal.“ meinte Vera zögernd und leicht unsicher. „Vera, an unserer Liebe hat sich nichts gerändert, aber auch dein Verhalten in der Diskussion hat sich real ereignet und ist nicht ungeschehen gemacht worden, es ist auch ein fester Bestandteil unserer Beziehung. Es war eine sehr bittere Enttäuschung, aber sie hat mich zusätzlich wach gemacht. Auch wenn ich gelernt habe, dich und deine Eigenständigkeit tiefer und umfänglicher zu respektieren, möchte ich das trotzdem nicht noch einmal erleben. Du hast es damals selbst gesagt, dass unsere Leben sehr verschieden seien, lassen wir ihnen die Chance dazu. Wir werden unser Leben finden, aber jeder für sich, und wir werden zusammen sein, wenn es uns gefällt.“ stellte ich meine Sicht dar. Ich hatte es doch ganz vernünftig und ohne jeden Affront gesagt, aber Vera weinte. „Was mache ich nur für ein Geschrei? Mein Leben gleicht einem Paradies, das ich nicht erträumen konnte, und ich jammere weil es das nicht geben wird, worauf ich mich freute? Jetzt wirst du strikt sein und dich auf keine Diskussion mit mir einlassen, aber mit dir zusammenleben, wenn du es nicht selbst willst, das will ich auch auf keinen Fall. Ich habe es mir ja letztendlich selbst verbaut, wie so vieles in meinem Leben.“ erklärte Vera immer noch weinend.
Der größte Coup
Wenn Vera jetzt am Mittag kam und bis zum übernächsten Mittag blieb, war allerdings von Traurigkeit nichts mehr zu spüren. Zusammensein, solange und so oft wie wir es wollten, darauf brauchten wir nicht mehr zu hoffen und zu warten. Einfach war es da. Wir konnten tun und lassen, was wir wollten, jeden Tag, jeden Abend, jedes Wochenende. Das war allerdings ein neues Leben für uns. War es der größte Coup, der größte Fortschritt in unserer Beziehung? Die Blüte musste sich wieder geöffnet haben, von trübsinnigen Dunstschleiern war nie mehr etwas zu spüren. Vergessen konnten und wollten wir ja auch nicht, was geschehen war, aber unser neues Glück ließ sich dadurch nicht beeinträchtigen. Dass wir jeder eine eigene Wohnung hatten, warum sollte das stören? Im Gegenteil es unterstützte das Empfinden der Eigenständigkeit und war dem Selbstbewusstsein förderlich. Die Gefahr, sich in der Gemeinsamkeit zu verlieren, war so gebannt. Auch wenn Vera ihre Wohnung nach einiger Zeit hauptsächlich zum Putzen und Briefkasten entleeren benutzte, besaß sie doch einen ideellen Wert, den sie sogar mittlerweile gar nicht mehr missen wollte. Ob die Liebe wegen der zwei Wohnungen auch doppelt stark war, musste eher bezweifelt werden, aber man konnte immer von der Sehnsucht träumen, die man hätte, wenn man allein in seiner Wohnung sein müsste. Luisa lachte nur, und hielt es für einen verrückten Gag von uns, der nur überflüssig Geld verschlinge, und Lona hatte es letztes Jahr Weihnachten schon gewusst, dass wir ein Liebespaar wären. „Das sieht man doch sofort.“ sagte die kleine Fünfjährige, „Wie die sich angucken und wie die miteinander sind. Immer ein Lachgesicht zeigen sie, wenn sie ihre Liebsten anschauen.“ Bestimmt war sie den Ursprüngen der Liebe noch sehr nahe und ihre Wahrnehmung unverfälscht. Elias, Luisas Mann, liebte es auch mehr, sich mit Vera und mir zu unterhalten, als Torstens endlosen, heroischen Sportgeschichten lauschen zu müssen, zumal Vera über spannendste Vorgehensweisen, Erfolge und Misserfolge in ihrer Gewohnheitsbekämpfung zu berichten wusste. Wurde unser getrenntes Wohnen auch zu einer Gewohnheit? Ja, aber zu einer die wir beide liebten. Ein Nachteil allerdings bestand darin, dass Vera, wenn sie trotz der zwei Wohnungen morgens nie zu Hause war, auch keine Pakete mehr für mich annehmen konnte. Die musste ich jetzt wieder im Copy-Shop abholen.
FIN
L'habitude, la coutume et l'usage sont plus forts que la vérité.
Voltaire
Wenn wir uns gegenseitig massierten, weil es uns gut gefiel, war das nicht verboten? Bestimmt empfand Vera es so, denn ihre Wänglein erschienen stärker durchblutet, aber versuchen wollte sie's doch gern mal. Veras Schultern zu kneten? Berauschend.Dass sie mit Stoff bedeckt waren, wollten meine inneren Augen nicht erkennen.
Veras Gewohnheiten – Seite 31 von 31
Tag der Veröffentlichung: 17.03.2013
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