Elvi Mad
Inka sucht
Ihr Gefühl weiß besser,
was sie sucht, als ihre Worte
Erzählung
Ailleurs n'est jamais loin quand on aime
Als Jugendliche verlieren sie sich,
aber das Unbewusste vergisst es nicht.
Inka weiß selbst nicht richtig, was sie sucht,
aber es drängt sie,
und sie findet es,
auch ohne genaues Wissen und viele Worte
in weitester Entfernung.
Inka sucht - Inhalt
Inka sucht 4
Ein Leben ohne Schlachte? 4
Gemächliches Rotieren 4
Fernweh Toronto 5
Sohn der Sarazenin 5
Klarissa in Indianapolis 6
Verzweifelte Suche 7
Warum Thomas? 8
Auf nach Toronto 8
Anruf in Atlanta 9
Ich will hier raus 9
Inka, ich will dich sehen 10
Ankunft in Indianapolis 10
Sind wir denn auch verliebt? 11
Bleibst du jetzt hier? 12
Abschied in Atlanta 13
Thomas immer sehen können 14
Neues Leben – Neuer Raum 14
Feier ohne Namen 15
Nur zwei Worte an der Schlachte 16
Eine Münsteraner Studentin erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend in Bremen und das hat Konsequenzen.
Die größten und bedeutendsten Städte dieser Welt liegen dort, wo Flüsse ihr Wasser mit dem des Meeres verbinden, oder wo das Meer selbst tiefe Einbuchtungen macht. Wo der Jangtsekiang das Meer erreicht, liegt Shanghai, in New York verbinden sich Hudson und East River, um ihre Wasser ins Meer zu ergießen. Eine der bekanntesten Brücken dieser Welt überspannt die Hafenbuch von Sydney, in die der Parramatta River sich ergieß. Alte oder große Brücken überspannen das Goldene Horn in Istanbul oder den Tejo in Lissabon. Nicht anders ist es in Bremen.
Würde man sagen, dass hier alles von geringer Bedeutung sei, täte man Bremen unrecht. Sicher, der SV Werder hat noch nie die Champions League gewonnen, aber kann das ein Kriterium sein. Bremen hat bereits von Karl dem Großen das Marktrecht erhalten, und New York? An Sydney und dergleichen wollen wir gar nicht denken. Aber das Prahlen liegt den Bremern sowieso nicht. Es stört sie nicht, das Hunderttausende jährlich nach Bethlehem und Jerusalem pilgern, aber der Weserdeich, von dem aus ihre Ahnen die neue Welt erreichten, den meisten noch nicht einmal bekannt ist, geschweige denn besucht wird. Trotzdem sind die Bremer so generös und setzen ihnen ein Denkmal. Imposante Größe lässt den Betrachter staunen, aber die Liebe zu einer Stadt vermittelt sie dem Bewohner nicht. Das können nur Mitgefühl und Verständnis der Bürger untereinander bewirken, auch wenn die Bremer die als „Engel von Bremen“ bezeichnete Gesche Gottfried öffentlich hinrichten ließen. Manche Bremer sehen es auch so, dass sie Bremen nur deshalb lieben, weil die Menschen draußen alle so anders sind, was aber ihrer kosmopolitischen Selbsteinschätzung keinen Kratzer zufügen kann. Ich liebe Bremen ja auch, sage deshalb und deshalb, in Wirklichkeit wird es aber so sein, dass ich mir ein Leben ganz ohne Schlachte nicht als wünschenswert vorstellen kann.
Auch wenn es mir jetzt in Münster absolut gut gefällt, von Bremen nur zu sagen: „Ich bin dort geboren.“, das passt nicht. Ob es mein Zuhause, meine Heimat ist, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich dort zu dem Menschen geworden bin, zu dem ich „Ich“ sage und der Inka heißt. Es ist sicher Unsinn als Studentin vom Unterschied einer bremischen und münsterländischen Mentalität zu sprechen. Die Kommilitoninnen und Kommilitonen sind ja zum überwiegenden Teil keine Münsterländer, aber vielleicht ist es das Leben hier, die Atmosphäre, das soziale Klima, das einen langsam aber unerbittlich in den Strudel der Gemächlichkeit reißt. Das alles dominierende Fahrrad, stellt wohl nicht nur eine andere Art der Fortbewegung dar. Auf dem Rad bist du ein anderer Mensch als der Insasse der hochtechnisierten Maschine Auto. Die Sinnenfreude des gemächlichen Rotierens der Pedale lässt dich nicht unberührt und wird auch im übrigen Leben nach korrespondierenden Erfahrungen suchen. Eine sanfte Ausgeglichenheit zeigt sich dir als wünschenswert und kein Bedürfnis nach Exaltiertheit, Nonkonformismus und Widerspenstigkeit.
In Bremen sind die Menschen ja auch mit Sicherheit nicht alle crazy, aber Weser, Schiffe, Meer lassen eben auch schon mal andere Gedanken aufkommen. Mich plagt nicht das große Fernweh. Ich bin kein Seemann, der aufs Meer hinaus muss, aber zum Ontariosee, nach Toronto und den Niagarafällen hätte ich als Schülerin schon mal gern gewollt. Warum ausgerechnet dorthin, und nicht nach Afrika, Australien oder Indien, lag daran, dass ein Mitschüler jetzt in Toronto lebte. Sein Vater hatte dort bei der Kanadazentrale der Firma ein Angebot bekommen, das er nicht ablehnen konnte. Ein üblicher Vorgang, nichts Besonderes, dass Schüler die Klasse verließen, weil ihre Eltern fortzogen. Bei Thommy muss das für mich wohl nicht so selbstverständlich gewesen sein. Mit ihm war ich seit dem ersten Tag zur Schule gegangen. O. k. da gab es auch noch andere, aber mit Thomas hatte ich mich immer gut verstanden. Wenn du morgens in die Schule kommst, gibt es drei Kategorien von Mitschülern. Bei den einen denkst du, „Warum sind die heut' nicht krank und zu Hause geblieben?“, damit sie dir den Anblick ersparen. Die zweite Kategorie, bilden die nicht Wahrgenommenen. Als ob sie für mich zu den unvisible folks gehörten. Die anderen sind die, deren Anblick mir den Tag versüßt, wegen denen ich mich auf die Schule freue. Als erste ist da natürlich meine Freundin Sybille zu nennen, aber Thommy gehörte auch dazu. Fast direkt vom ersten Schultag an hat er mich interessiert, weil er Thomas Becker hieß. Meine Mutter hatte mir zwar auch Märchen vorgelesen, aber viel lieber hörte ich Balladen. Eine Oper zur Nacht waren sie für mich. Wie gesprochene Lieder, die meinen Körper mitschwingen ließen. Ebenso, wenn nicht noch mehr, beeindruckend war der Inhalt, den ich ja auf Anhieb fast nie verstand. An den 'Füssen im Feuer' lernte ich die Grausamkeit kennen, zu der Menschen fähig sein können. Archibald Douglas konnte ich immer wieder hören, nicht nur weil meine Mutter dabei immer weinen musste. Sie erklärte mir natürlich auch die Hintergründe und Zusammenhänge, und so wusste ich, dass die Sarazenin, die nur zwei Worte kannte, ihren Gilbert Becket in London gefunden hatte, ihr Sohn Thomas hieß, höchster Bischof von England war, von Rittern ermordet wurde und jetzt heilig ist.
Als ich Thomas Becker hörte, fiel mir natürlich sofort die Sarazenin mit den zwei Worten ein. Ich musste grinsen. Becker habe ich ihn, glaube ich, nie mehr genannt, aber ich sagte ja auch sowieso immer nur Thommy zu ihm. Ich habe ihn natürlich sofort gefragt, ob sein Vater Gilbert hieße. Nein Christian, war seine Antwort. Na ja, ein Alias konnte sich ja jeder zulegen. Als ich nämlich seine Mutter zum ersten Mal sah, stand für mich felsenfest, dass sie die Sarazenenprinzessin sein musste. Solche Frauen gab es in Bremen nicht. Wunderschön war sie mit dunklerem Teint und pechschwarzem Haar, sie musste aus dem Morgenland stammen. Wie sich schnell herausstellte, lag das in Portugal, denn Thommy konnte auch portugiesisch sprechen. Sein Vater hatte seine Mutter als Student in Portugal kennengelernt. Ihre Eltern waren unter Salazar im Gefängnis. Eine Tante hatte sie mit durchgefüttert, aber für Schule war kein Geld da. Sie kannte Rudimente in Englisch, so dass sie die Gäste im Hotel bedienen konnte. Thommys Vater und seine Mutter verliebten sich, und sind einfach nach Deutschland geflüchtet. Aber die Sarazenenprinzessin blieb sie für mich doch, wenn auch eine portugiesische. Bei Geburtstagsfeiern, zu denen Thommy und ich uns gegenseitig einluden, unterhielt ich mich fast nur mit seiner Mutter, nicht weil sie so schön war, sondern weil ich sie für eine wunderbare Frau hielt. Wenn ich mir noch eine Mutter hätte wünschen können, selbstverständlich wäre sie es gewesen. Portugiesisch gefiel mir. Ich hörte es gern, wenn Thomas etwas auf Portugiesisch sagte, auch wenn er mich oft damit necken und ärgern wollte. Seine Mutter hatte im Deutschen einen portugiesischen Akzent, der noch einmal für sich wunderbar klang. Als Kinder hatten wir relativ viel miteinander zu tun. Wir liebten es, uns gegenseitig zu necken und gemeinsam zu albern. Er wollte unbedingt wissen, was es zu bedeuten hätte, wenn ich ihn schelmisch anschaute und „London?“ fragte. Seine Mutter könne ihm das erklären, hatte ich gesagt, aber die wusste auch nichts damit anzufangen. „Das verstehst du noch nicht, Thommy. Dazu musst du ein bisschen älter sein.“ vertröstete ich ihn. Es hatte ja tatsächlich auch nichts mit ihm zu tun, es war ja nur meine Spinnerei, die auf der Assoziation seines Namens mit Thomas Becket basierte. Später stand es im Lesebuch, aber wir behandelten es im Unterricht nicht. Er hätte es ja auch alleine finden können. Ich wartete. Und dann verschwand er nach Toronto. Aber in den letzten Jahren hatten wir sowieso weniger miteinander zu tun. Mit der Pubertät verliert sich auch die kindliche Unbefangenheit. Ich mochte Thomas gern, aber als Freund, dass ich in ihn verliebt sein und ihn küssen sollte, das wäre kurios gewesen. Auf solche Gedanken konnte ich nicht kommen. Für mich hatte er eher die Bedeutung eines Cousins oder Bruders, den ich mir gewünscht hätte. Bei Miteinander gehen und Verliebtsein schwebte mir etwas anderes vor.
Auch wenn ich mir einen Bruder gewünscht hatte – kleine Jungs empfand ich wohl als knuffig und drollig - , liebte ich meine vier Jahre jüngere Schwester und sie mich. Irgendwelche Rivalitäten hat es zwischen uns nie gegeben. Ich freute mich, ihre Frisöse sein zu können und sie war glücklich, meine Kundin sein zu dürfen. Nach dem Prinzip Frisörsalon funktionierte es auch im weiteren Leben zwischen uns beiden immer ausgezeichnet.
Jetzt war sie für ein Jahr in Indianapolis. Das hatte ich bewirkt, weil ich es selber auch gern gewollt hätte, es aber zu spät war, als ich mich darum kümmerte. Alles war toll und aufregend, besonders ihre Gastfamilie und deren Tochter Heather. Sie hatten mich eingeladen und ich wollte Klarissa, meine Schwester, bei ihren Gasteltern besuchen. Puh, war das weit. Bislang war ich immer nur in Europa geflogen, und da kam mir Athen schon so weit vor. Ihre Gasteltern, das war Victoria Decastro, die überglücklich war, wie gut Heather und Klarissa sich verstanden. Bei meiner Ankunft war Klarissa ganz außer sich und scherzte übermütig. Heather ließ sich davon anstecken und Victoria bestaunte das Glück. Sie war Professorin für English am Institut für Liberal Arts and Sciences der Butler University und machte sich Sorgen um Heather, da sie jetzt schon über vier Jahre allein mit ihr lebte, und davor war's ja noch schlimmer gewesen. Sie hatte sich an den AFS gewandt, um eine Austauschschülerin aufzunehmen und so für Heather mehr Leben ins Haus zu bringen. Dass es sich so hervorragend zwischen den beiden entwickeln würde, hätte sie nicht zu träumen gewagt. Jetzt wollte Heather natürlich nicht mehr wie geplant für ein Jahr nach Frankreich, sondern selbstverständlich zu Klarissa nach Bremen. Das war gar nicht so einfach, denn der ASF wollte sich nichts vorschreiben lassen. Selbst bei Alfred Biolek hatten meine Eltern schon angerufen, aber der konnte sich auch nicht direkt in die Verwaltungspraxis einmischen. Erst als Victoria über Bekannte von Bekannten erfuhr, dass es vor Jahren in San Diego mal einen Fall gegeben hatte, bei dem es genehmigt worden war, stimmte man Heathers Wunsch zu. Victorias Augen wurden feucht, als wir etwas zu essen vorbereiteten, und sie mir erklärte, wie sehr sie sich für Heather freue. Auch wenn sie im nächsten Jahr allein sei und auf Heathers Anwesenheit verzichten müsse, zu wissen dass sie glücklich sei, wäre ihr wichtiger, als sie bei sich zu haben. „Wissen sie, Inka, ein Kind, das geboren wird, verlässt deinen Uterus, aber viel umfänglicher hat es schon in deinem Herzen gelebt, und das verlässt es nie. Heather wird immer ein Teil von mir selbst bleiben, ein Teil den ich immer aufs Neue bewundern und bestaunen kann, und dessen Unberechenbarkeit mich fasziniert. Ich arbeite viel und es macht mir Freude, aber mein Leben das ist Heather.“ sagte sie. Ich hätte sie umarmen können, aber gleich am ersten Abend?
Die nächsten Tage waren damit angefüllt, das die beiden sich über meinen Jetlag lustig machten, vor allem aber darüber, dass ich mal eben nach Toronto wollte, weil es doch hier in der Nähe liegen müsse. Ich musste natürlich erklären, warum und das fand auch Victoria 'so sweet', dass alle der Ansicht waren, mir dabei helfen zu müssen. Heahter meinte, wir seien gegenüber der Sarazenenprinzessin im Vorteil, da wir ja schon im Vergleich mit ihr über drei Worte verfügten. Die Internet Suchsysteme sind in den USA wesentlich ausgebauter und effektiver als bei uns. Aber die Beckers, die in Toronto zu finden waren und einen Christian oder Thomas ermöglichten, hatten alle mit meinen Beckers nichts zu tun. Na ja, verstecken konnte man sich schon, wenn man Wert darauf legte, nicht gefunden werden zu können. Aber sein Vater war doch bei Coca Cola beschäftigt. Ich vermutete, ihn bei den im Internet aufgeführten Personen zu finden, wenn er doch eine höhere Position bekleiden würde. Fehlanzeige. Bei einem Anruf erklärte man mir, dass es grundsätzlich keine Auskunft zu Personen gebe, aufgelegt. Victoria schaffte es weiter zu kommen. Die Frau, mit der sie sprach, wusste direkt auch nichts, wollte sich aber kundig machen und zurückrufen. Was sie natürlich nicht tat. Victoria hatte sich ihre Durchwahl geben lassen und rief sie nach einigen Tagen wieder an. Ja, sie wisse Bescheid und könne etwas dazu sagen, aber nicht am Telefon.
Was veranstaltete ich da für einen Zirkus? Was ich mir dabei dachte? Viel konnte es wohl nicht sein. Ich hatte gedacht, wir würden sicher Ausflüge machen und dabei könnte man ja auch mal kurz nach Toronto fahren. Ob ich damit rechnete Tommy Becker sicher auf der Straße zu treffen, weiß ich nicht, aber so ähnlich musste es wohl schon sein, denn ich wusste ja nur, dass er in Toronto lebte. Mir lag ja nichts daran, Thommy wieder zu sehen, aber da ich schon mal hier war, hätte es doch ganz nett sein können. Wie er wohl aussah, jetzt mit einundzwanzig? Ob er immer noch der nette Junge oder ein kanadisches Raubein geworden war? Es liebte mit dem Eishockeyschläger auf seine Gegner einzudreschen? Vielleicht sprach er ja jetzt neben Deutsch und Portugiesisch auch noch Französisch und Englisch. Getroffen hätte ich ihn schon mal ganz gern. Aber warum eigentlich? Andere die ich ganz in Ordnung gefunden hatte, studierten in Oldenburg oder Dortmund. Ihre Adresse hätte ich leicht erfahren können und in weniger als einer Stunde wäre ich bei ihnen gewesen, nur was sollte ich da? Sie waren eben nicht Thomas Becker, der Sohn der Sarazenin. Etwas Herausgehobenes war er für mich schon gewesen, auch als er nach Toronto zog. An einem der großen Amerikanischen Seen zu leben war ja nicht etwas Banales. Auch wenn es mehrere gab und ich ihre verschiedenen Namen kannte, aber emotional blieben sie für mich alle Erieseen mit einer Hafenstadt die Buffalo hieß und einen Grabstein für John Maynard hatte, auf dem stand: „Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.“ Darüber hatte ich als kleines Kind in meinem Bettchen viel gegrübelt.
Selbstverständlich flogen wir alle nach Toronto. Spannend musste es ja schon sein, was die Frau einem zu sagen haben würde. Wenn er noch einer der Bosse in der Firma gewesen wäre, hätte sie es ja sofort gewusst. Irgendetwas musste passiert sein. Vielleicht hatte er ja etwas Kriminelles veranstaltet, saß im Gefängnis und war deshalb in keinem Verzeichnis zu finden. Völlig gespannt erwartete ich, was sie mir jetzt offenbaren würde. Zurückhalten musste ich mich, als ich es erfuhr. Wie gern hätte ich sie auf der Stelle verdroschen. Dafür ließ sie mich nach Toronto kommen, um mir mitzuteilen, was für niemanden ein Geheimnis gewesen wäre. Christian Becker war nicht mehr in Toronto, sondern in der Zentrale in Atlanta. Indem sie mir seine Firmentelefonnummer gab, kam sie sich noch wohl besonders generös vor. Was sollte ich die dämliche Zicke ausschimpfen, aber von Coca Cola würde in meinem Leben nie wieder ein Tropfen die Barriere meiner Lippen überwinden. Zu den Niagarafällen wollten wir zuerst, weil die Kraft der Natur besänftigend auf mein Gemüt wirken würde. Ob es das Wasser war oder doch mehr der Touristenjahrmarkt, was mich auf andere Gedanken brachte, konnte ich nicht genau ausmachen, aber enttäuscht blieb ich schon. Ich konnte ja nicht ahnen was die Colafrau mir sagen würde, aber es existierte einfach eine Erwartungsspannung, die befriedigt werden wollte. „Er ist nicht mehr da.“ sagte mir auch: „Du bist ein dummes Huh. Was willst du eigentlich?“. Das traf ja völlig zu. Ab jetzt kein Gedanke mehr an Thomas Becker, nur seinen Vater in Atlanta anrufen, das würde ich schon noch.
Der war total happy über die Erinnerung an Bremen. Ich solle sie besuchen kommen. Das konnte ich ja gar nicht. Dafür reichte mein Geld nicht. Ich solle mit seiner Frau sprechen, die würde sich bestimmt noch viel mehr freuen. Caterina Becker war ganz außer sich über meinen Anruf. Bremen sei immer ihre Heimat geblieben. Da sei sie Deutsche geworden, und bis heute sei sie Portugiesin und Deutsche. In der ganzen Welt seien sie gewesen, aber für Bremen habe die Zeit nie gereicht. „Inka, komm, wann du willst, aber kommen musst du.“ befahl sie kategorisch. „Ich kann nicht. Ich bin Studentin und habe kein Geld mehr.“ reagierte ich. Victoria sprach auch noch mit Caterina Becker. Sie stritten, wer meinen Flug bezahlen durfte. Aufdringlich pompös war es nicht, wie die Beckers jetzt lebten, aber ihre Villa war ein Traum. Es stellte sich erst in Atlanta heraus, dass mein Thommy gar nicht zu Hause war. Am Telefon hatten wir darüber nicht gesprochen. Er hatte eine brasilianische Freundin und studierte mit ihr in Belo Horizonte. Aber mit Caterina und Christian war's ja auch interessant. Was sollte mir denn daran nicht passen. Ja natürlich hatte ich in Toronto Thommy gesucht und jetzt hatte ich den weiten Weg nach Atlanta gemacht und traf ihn doch nicht. Aber das war ja kein Problem. Seine Eltern konnten mir doch alles erzählen, aber den undefinierbaren Frust konnten sie nicht beheben.
Eine Reise, wie ich sie mir nicht hätte vorstellen können, war mein USA Besuch gewesen. Alles war toll nur das größte Kuriosum war die Suche nach dem Phantom Thomas, die ich zwar initiiert und betrieben hatte, in meinen Planungen aber überhaupt nicht vorgekommen war. Ich lachte über mich selber und gab die vertrackte Story auch bei Bekannten zum Besten, aber so völlig abgeschlossen war sie doch wohl für mich noch nicht. Ich malte mir aus, wie Thommy jetzt Brasilianer würde und das Aussehen seiner Freundin erreichte die Grenzen dessen, was ich mir an Schönheit einer Frau vorstellen konnte.
Die Sanftmut und Ausgeglichenheit der Münsteraner ging mir auf die Nerven. Ich wollte raus. Wollte mich auch in den Metropolen dieser Welt bewegen. Nicht London, Rom, Paris, das war mir zu muffig und alt. Sao Paulo, L. A. Und Sydney das lag eher in meinem Blickfeld. Aber ich war nicht nur in Münster gefangen, sondern am meisten in mir selbst. Ich schien etwas zu suchen, von dem ich nicht wusste, was es war. Dass es woanders war, außerhalb von mir, so sah ich es.
Caterina Becker rief mich aus Atlanta in Münster an. Sie habe Thommy davon erzählt, dass ich bei ihnen gewesen sei. Er sei richtiggehend böse mit ihr geworden, weil sie ihn nicht vorher informiert habe. Ich solle ihn doch mal anrufen. Nur das könne ihn besänftigen. Eine Frauenstimme meldete sich, wahrscheinlich seine Freundin. Zum ersten mal hieß er jetzt Thomas Becker, ich konnte ja nicht sagen, dass ich Thomas Becket sprechen wollte. „Olá“ sagte er nur. „Ja, hier ist Inka aus Bremen. Kennst du mich noch?“ reagierte ich. Thomas lachte:“Inka, was denkst du? Meinst du ich könnte dich vergessen haben? Ich will dich sehen.“ „Ja o. k.,“ antwortete ich, „kommst du mal schnell nach Münster, oder soll ich kurz nach BH jetten?“ „Nein, Inka, ich muss dich sehen. Du bist ein Teil von mir. Ich kann nicht an meine Kindheit denken, ohne dass du darin vorkommst. Wir werden einen Weg finden, der es ermöglicht. Du hast mich doch auch gesucht, wie meine Mutter erzählte.“ erklärte Thomas. „Ja, aber nur, weil ich dir die Erklärung für 'London' geben wollte. Du bist ja damals zu schnell abgehauen.“ erläuterte ich. Thomas lachte und schien sich zu erinnern. „Und die wäre?“ fragte er lachend. „Nein, am Telefon geht das nicht, und außerdem scheinst du das nicht ernst genug zu nehmen.“ erwiderte ich. Er schlug vor, dass wir doch skypen könnten, da sähe man sich doch auch. Ich mochte das aber nicht und Thomas fand es auch besser, sich life zu treffen. Nur wie. Bestimmt würden seine reichen Eltern ihm einen Flug spendieren. Davon erwähnte er aber nie etwas. Letztendlich lief es darauf hinaus, dass ich meine Schwester und Heather abholen wollte und wir uns dann in Indianapolis treffen könnten. Ich bettelte mir Geld zusammen und jobbte, um den Flug bezahlen zu können. Das Abholen war ja eine Fake, nur um Tommy zu treffen wollte ich doch nach Indianapolis. Aber was das sollte, so viel Geld und solche Umstände, nur um Thomas Becker wieder zu sehen, das brauchte ich mich nicht zu fragen, denn eine Erklärung war dafür sowieso nicht zu finden.
Ein eigenartiger Moment am Flughafen in Indianapolis. Wir standen uns gegenüber, lächelten uns an und musterten uns. Natürlich würden wir uns umarmen, nur da gibt es ja eine Vielzahl von Formen und Graden an Intensität, aber wir blieben eher im Bereich von freundlich reserviert. Bei Decastros beim Kaffee redeten wir über alles Mögliche. Tomas regte sich über den am italienischen orientierten Kaffeehype auf. Brasilien sei das Kaffeeland Nummer eins mit einer wundervollen Tradition und Kaffeekultur. Für die Leute die in Brasilien auf der Straße das Gemix von Starbucks aus Plastikbechern schlürften, müsse eigentlich die Prügelstrafe wieder eingeführt werden. Ich wollte wissen, ob seine Forderung schon erstes Anzeichen einer Wandlung zum brasilianischen Macho darstelle, worüber wir uns dann ausführlich unterhielten. Es sprachen fast ausschließlich Thomas und ich. Die anderen drei starrten uns immer nur an. Sie wollten offensichtlich etwas erkennen, denn meine Versicherungen, dass es keine Art von Liebelei oder Beziehung zwischen uns gäbe, konnten sie einfach nicht verstehen und vermuteten doch etwas. Ich konnte es gut nachempfinden, denn verstehen konnte ich es ja auch nicht.
Nach dem Supper zogen die andern sich bald zurück und ließen uns allein. Da saßen wir jetzt, hatten uns ja getroffen, aber was wollten wir denn voneinander? Thomas fiel ein, dass ich ihm die Auflösung für London geben musste. Wir lachten, aber Thomas wurde wieder ernst. „Dass ich dein Erzbischof von Canterbury war, wusste ich ja immer schon, aber warum hast du mir das mit den Eltern verheimlicht?“ „Genau weiß das nicht, aber es machte Spaß, etwas von dir zu wissen, was du selber nicht wusstest, auch wenn's nur meine Spinnerei war.“ antwortete ich. „Jetzt bist du die Sarazenin, die mich in Toronto gesucht hat und nur meinen Namen wusste. Aber die wirkliche Sarazenin und ihr Gilbert waren doch ineinander verliebt. Sind wir denn auch ineinander verliebt?“ fragte Tommy. „M, m.“ schüttelte ich den Kopf. „Wir wollen nur beieinander sein, nicht wahr?“ fragte er weiter. Jetzt war mein „M,m.“ mit einem zustimmenden Nicken verbunden. „Wir haben ja nichts miteinander zu tun gehabt. Meinst du denn es ist zwischen uns genau wie damals in der Schule?“ wollte ich wissen. Tommy schaute mich an und meinte dann: „Schon, es ist genauso aber gleichzeitig auch ganz anders.“ „Und was ist das andere daran?“ fragte ich weiter. „Das sehe ich in deinem Gesicht.“antwortete er. „Aha, was kannst du denn da lesen?“ wollte ich beantwortet haben. Thommy grinste, dann antwortete er: „Dein Gesicht sagt mir zum Beispiel, dass es gern von mir geküsst werden möchte.“ und grinste wieder. „So“ ließ ich mich erstaunt vernehmen, „und würdest du's denn mal versuchen wollen?“ Sehr sonderbar war es schon, dass wir beide uns küssten. Derartiges war in meinen Bildern auch nie aufgetaucht, aber was hatte sich mir schon offenbart. Deshalb konnte ich Tommy auch gar nichts dazu sagen, warum ich ihn gesucht hatte. „Es war einfach so, dass ich es nicht vergaß und spürte, wie es mich irgendwie drängte. In meinen Worten gab es dafür keine Namen. Deshalb wollte ich es ja auch selbst nicht wahrhaben. Die Sarazenin hat ihren Gilbert ja auch nicht mit vielen Worten gefunden, sondern mit der Stärke ihres Bedürfnisses und Verlangens, dass sie zäh und ausdauernd alle Widerwärtigkeiten und Rationalitäten überwinden ließ. Ja, und jetzt hab' ich dich gefunden, und wir haben uns geküsst, obwohl wir nur beieinander sein wollten.“ stellte ich es dar. Thommy erklärte, dass er gar nicht auf die Idee gekommen sei, mich zu suchen. Er habe überhaupt nicht daran gedacht, dass es mich ja auch jetzt noch geben müsse. „Du warst immer nur in den Träumen meiner goldenen Kindertage. In Bremen schien immer die Sonne und dein Anblick machte mir immer ein Wonnelächeln. Ich habe nur gedacht, das war die schöne Zeit in Bremen, an die ich mich gern erinnerte. Jetzt ist sie auf einmal wieder Realität, du bist ganz lebendig hier, und das ist unfassbar für mich.“ erläuterte Thomas seine Situation. Bis tief in die Nacht redeten wir noch, küssten und streichelten uns oft. Das wir jetzt auseinander gingen, und jeder allein in einem anderen Zimmer schlief, war nicht vorstellbar. Wir mochten uns schon sehr, aber erotische Ambitionen über das Küssen hinaus waren nicht aufgetaucht. Trotzdem war es selbstverständlich, dass wir auch im Bett zusammen blieben. Victorias Frage, ob wir zusammen schlafen wollten, hatte ich entrüstet zurückgewiesen. So war es eben ein wenig enger. Manchmal schien meinem Bewusstsein allerdings sehr viel vorbehalten zu werden, so auch die Perspektive, wozu es führen würde, wenn ein Mann und eine Frau, die sich lieben, nackt zusammen im Bett liegen. Diese Körperlichkeit mit Thomas war völlig neu und ungewohnt. Nicht als ob ich zum ersten Mal einen Jungen berührte und er mich, aber ich fühlte zum ersten Mal Thomas Haut und spürte zum ersten Mal seine Hand auf meiner. Gleichgültig wo, wir schauten uns immer an, als ob uns gerade ein Streich gelungen sei. Dann küssten wir uns, doch dieser Kuss war anders. Kein Tasten, mehr, das Zärtlichkeit vermitteln wollte, kein Spielen mit den Lippen und der Zunge. Der Kuss war Forderung und Hingabe zugleich. Er hieß: „Ich will dich.“ Natürlich war es ficken, lieben, vögeln wie immer du's bezeichnen willst, doch ich empfand es wie eine Begegnung für die unter meinen Wörtern auch die passenden Benennungen fehlten. Es war ein neues anderes Erleben. Ich sah mein Gesicht in vielen Bildern. Ernst waren sie, sie lachten nicht, doch Traurigkeit und Sorgen kamen auch nicht vor. Ihr Ernst war milde, freundlich, fest. Zu einem zarten Lächeln waren sie bereit. Das war ich ganz allein und ganz authentisch. Sonst ist jeder Ausdruck immer von ein einer Vielzahl von Gedanken und Empfindungen, von einer Equipage aus schmückendem Beiwerk begleitet, so hatte ich mich selbst noch nie erkannt. Als ob ich erwachsen geworden sei,kam ich mir vor. „Jetzt sind wir raus geflogen.“ bemerkt Thom. „Woraus?“ fragte ich. „Aus der Schule.“ seine Antwort. „In der Tat.“ bestätigte ich ihn, „und direkt in den Himmel.“ Thom lag mit dem Kopf auf meiner Schulter und ließ die Kuppen von Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand kitzelnd auf meinem Körper spielen. Das störte jetzt. Ich wollte ihn noch mal küssen und mit meinem glücklichen Bild selig in den Schlaf hinüber gleiten. Jetzt hatte ich nicht nur Thomas gefunden, sondern viel mehr von ihm, als meine Seele oder mein Unbewusstes gesucht hatte. In unserer Begegnung hatte ich aber auch etwas von mir gefunden, von dem ich bislang nicht gewusst hatte, dass es mir fehlte.
Am nächsten Morgen mussten wir nicht nur beieinander sein, sodass wir uns gegenseitig sehen konnten, sondern es schien fast unabdingbar, das Zusammensein so zu interpretieren war, dass die Körper sich auch gegenseitig spüren konnten. Es reichte nicht mehr, dass wir uns mit der Seele suchten und fanden, für die Körper galt ein Gleiches. Klarissa, Heather und Victoria sahen sich in ihren Vermutungen bestätigt und grinsten öfter, als ob sie sagen wollten:“Ich hab's ja gewusst.“ Ich hielt es für müßig, darauf zu reagieren, sondern lächelte lieber, vielleicht ein bisschen überlegen. Heather machte darauf aufmerksam. „Und bleibst du jetzt hier, Inka?“ fragte sie mich. Natürlich musste ich in knapp einer Woche wieder mit den beiden zurück. Und dann? Ein kurzes Glück, von dem ich würde träumen können? So würde es zwangsläufig kommen. Ich wäre wieder mit Jan, meinem Freund, zusammen und würde von Thommy träumen, und Thommy wäre wieder Maria zusammen. Würde er auch von mir träumen? Das würde er, da war ich mir ganz sicher. Aber Thomas sah alles ganz anders. „Du kannst doch jetzt nicht einfach verschwinden. Wir müssen doch zusammen sein. Das haben wir doch gesagt. Nicht mal für eine Nacht, wir müssen zusammen sein, weil wir zusammengehören. Als kleine Kinder haben wir es gewusst, da war es selbstverständlich, aber das Leben kann so unverschämt sein, dass es einen zum Vergessen bringt. Aber jetzt wissen wir es doch wieder.“ erklärte er entrüstet. Ich musste lachen. „Thommy, ich wünsche mir nichts lieber, aber wie soll das gehen?“ wollte ich wissen. Für Thommy musste es gehen, eine Alternative dazu gab es nicht. Ich mit ihm nach Bello Horizonte, das wäre absoluter Schwachsinn. Also musste er mit nach Münster kommen, obwohl seine Eltern das auch für absoluten Schwachsinn hielten. Sie möchten mich sehr und es mache sie glücklich, dass wir uns liebten, aber in Münster studieren? Er ruiniere seine Perspektiv und sein Leben, meinte seine Mutter. Bremen war ja keine Weltstadt, aber Münster war nach ihrer Vorstellung ein westfälisches Dorf. Obwohl ich ja manchmal selbst auch ihrer Ansicht war, musste ich ihr jetzt die ganze münstersche Grandeza exemplifizieren und die weltweite Wirkung und historische Bedeutung der Universität erläutern. Dass Münster in der Welt kein größeres Renommee fand, wunderte mich selbst. Aber das half alles nichts. Ständig telefonierten wir. Ware Liebe sei geduldig und könne auch warten bis wir fertig seien, meinte Caterina. Thommy erklärte ihr, das jeder Tag, der ein glücklicher werden solle, erfordere, dass wir uns sehen könnten. Das hätten wir in der Schule über Jahre jeden Tag trainiert. Es sei uns nur aus aus dem Blick geraten, habe sich aber so fest eingebrannt, dass es nicht wieder zu löschen sei. Sie fand unsere Liebe zauberhaft aber ihren Widerstand gab sie erst auf, als Thommy zufällig nebenbei die Geschichte von den zwei Worten erzählte und dass ich sie immer als eine Sarazenenprinzessin angesehen hätte. Sie müsse uns aber noch unbedingt sehen. Wir könnten nicht von Indianapolis aus fliegen. Ja, die Kosten spielten keine Rolle, wir sollten kommen und einige Tage bleiben.
Caterina kamen immer die Tränen vor Rührung und Glück und Christian Becker lachte sich tot, als er erfuhr, dass ich Thomas schon in den ersten Schultagen gefragt hatte, ob er Gilbert hieße. „Ja, ja, eine Sarazenenprinzessin ist Caterina schon. So habe ich das auch immer gesehen. Ich habe sie nur nicht nach mir suchen lassen, sondern sie gleich geraubt und als politisch Verfolgte über die Grenzen geschmuggelt.“ erklärte er. Caterina versuchte uns zu überreden, doch in Atlanta zu bleiben. Einen größeren Wunsch könne man ihr in ihrem Leben nicht mehr erfüllen, als sie an unserem Glück teilhaben zu lassen. Ich musste an Victorias Worte zu Heather denken, denn viel anders schien es sich für Caterina mit Thommy wohl auch nicht zu verhalten.
Sein Verhältnis zu Maria brachte Thomas in einem langen Brief schon in Atlanta in Ordnung. Sie sah nicht nur gut aus, sondern musste auch eine tolle Frau sein. Ihre Antwort machte Thomas betreten. „Es tut weh, sie zu verlieren und ihr das antun zu müssen. Sie schreibt, dass sie sich ihr Leben mit mir ausgemalt hätte. Das hatten wir ja beide. Trotzdem äußert sie Verständnis für mich. Hält mich für einen guten Menschen und ist mir nicht böse. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe immer gedacht, sie mag mich vorrangig, weil mir der Machismo fehlt, aber Maria ist eine wunderbare Frau.“ sinnierte Thomas. Ich sah bei Jan keine großen Probleme, wir mochten uns gut leiden und schliefen miteinander, aber gemeinsame Lebensperspektiven hatten wir uns nicht ausgemalt. Er würde es akzeptieren müssen, was denn sonst? Ein netter Junge war er ja schon, und ein wenig bedauern könnte ich ihn auch, aber mehr war da nicht.
Dass ich heute, morgen und übermorgen mit Thomas zusammen sein, ihn nicht nur für einige Stunden sehen, sondern die ganzen Tage, Abende und Nächte mit ihm verbringen würde, erlebte ich ja jetzt schon, aber dass ich auch im nächsten Monat und den folgenden und Weihnachten und im Sommer, immer mit ihm zusammen sein würde, ich ihn immer sehen und anfassen könnte, war eine Vorstellung, die mich überwältigte. Warum hatte ich nicht gewusst, dass ich das wollte. Warum hatte sich mir nicht gezeigt, für wie bedeutsam meine Seele sein Anwesenheit hielt. Was sah sie denn überhaupt darin? Weshalb war es mir denn wichtig, mit Thomas Becker zusammen zu sein. Jetzt gingen wir zusammen ins Bett, aber das konnte ja dabei keine Rolle gespielt haben. Ich denke, dass es sich mir über Jahre meiner Kindheit eingeprägt hatte, dass zu einem glücklichen Tag sein Gesicht gehörte, mit ihm reden und scherzen zu können und eine freundliche Beziehung zu haben. Ich hatte meiner Kindheit nicht in Träumen einen Glorienschein verpasst und sie als abgeschlossene Episode betrachtet. Ich hatte mich schon daran erinnert, aber deine Erfahrungen und was du lernst, sind ja keine abgeschossenen Veranstaltungen, es lebt ja immer in dir weiter und bleibt Teil deiner Persönlichkeit, und je früher es dich emotional tief bewegt hat, um so prägender wird es für dein ganzes Leben sein. Ob Thomas in meinem Herzen gewohnt hatte, wie Victoria Decastro es von ihrer Tochter formulierte, weiß ich nicht, aber da, wo es um Beziehungen zu anderen Menschen geht, und wo es darum geht, sie als Glück zu erfahren, musste Thomas ein wichtiger Teil von mir sein. Jetzt konnte ich meine Kindheitserfahrungen nicht nur auf andere übertragend anwenden, sondern hatte den Urheber selber wiedergefunden. Mit Thommy war meine glückliche Welt, wie sie für mich zu sein hatte, wieder direkt in Ordnung.
Den Brasilianer in Münster bei mir in meiner engen Kemenate zu haben, ließ uns öfter lachen und spotten, aber wenn man den Körperkontakt nicht suchen muss, sondern ihn zwangsläufig fast immer hat, kann es leicht ein wenig schwer fallen, sich frei zu fühlen. Wir waren ja unendlich beschäftigt. Dass Thomas hier studieren konnte, stellte grundsätzlich kein Problem dar, nur vieles aus seinem Medizinstudium musste er wiederholen, weil es hier nicht anerkannt wurde. Wir hatten eigentlich gar keine Zeit, uns intensiv um eine neue Wohnung zu kümmern, und irgendetwas in den Dörfern auf dem Lande wollten wir ja auch nicht. Thommy ließ sich ein T-Shirt bedrucken mit: „Brasilianer sucht Wohnung“. Er dachte alle Fußballfans damit anzusprechen, die es nicht ertragen könnten, wenn ein Freund von Ronaldinho unter Brücken schlafen müsste. Ich hielt ihn für verrückt, aber es kam ganz anders. Eine ältere Frau sprach ihn an. Sie sei ja auch fast halbe Brasilianerin. Drei von ihren Tanten seien als Missionsschwestern nach Brasilien ausgewandert. Und dann erzählte sie. Thomas dachte, sie sei nur froh, jemanden zu haben, der ihre ganzen Brasiliengeschichten verstehen könne, aber dann ließ sie so nebenbei fallen, dass ein befreundetes Ehepaar jetzt in ein Seniorenhaus ziehen wolle und ihre Wohnung frei werde. Sie könne ja mal mit ihnen sprechen, aber billig sei es bestimmt nicht, weil es an der Promenade und damit in der Innenstadt liege. Unbelievable, sechs Zimmer, Küche, Bad und großes Foyer; hohe Räume mit Stuck und Parkett. Was sollten wir damit? Und vor allem, wie sollten wir so etwas bezahlen? Na ja, wenn Thomas Eltern kämen, würden wir sie ja schließlich nicht in Dachkämmerchen unterbringen können. Thomas gelang es schließlich, seine Mutter zu überzeugen. Kein Wort über die Ausmaße der riesige Wohnung, nur dass in Münster eben alles außergewöhnlich teuer sei und der arme Thomas ja alles mit dem Rad erreichen müsse. Aber von dort konnten wir ja fast überall hin laufen. Jetzt mussten sich unsere Körper wieder suchen zum Tanz in allen Räumen, die trotz unseres Mobiliars so gut wie leer erschienen. Dass ich Thomas fand, veränderte mich. Es hatte die Studentin Inka erwachsen werden lassen. Hatte ihrem Empfinden einen weiten Raum verschafft, Jugendlichkeit, die nicht nur unbekümmert sondern auch einengend unwirsch sein kann, war vergangen. Die münstersche Gemächlichkeit konnte dieses Empfinden des weiten Raumes nicht mehr irritieren. Unsere neue Wohnung stand wie eine Metapher dafür, wie eine Metapher für mein neues Leben mit Thomas.
Auch wenn wir sicher kein Leben im Überfluss führten, aber unsere Wohnung stand schon dafür. Alle kamen uns besuchen. Meine Eltern, Klarissa und Heather sowieso, aber auch Victoria Decastro, die ganz angetan war von Münster und der Universität. Man müsse doch ein anderer Mensch sein, wenn man hier lebe. „Die Geschichte ist in der Kultur ja auch Teil von dir, und hier begegnest du ihr, lebst mit und in ihr, wundervoll. So müsste jeder Mensch die Welt erfahren können. In Indianapolis ist die Welt eine geschichtslose Maschine, die immer weiter zu funktionieren hat, hier ist sie Leben.“ meinte sie. Sie wünsche sich, dass Heather es auch so sehen könne. Sie wusste nicht, dass die beiden Münster absolut funny gefunden und schon einen Beschluss gefasst hatten, gemeinsam hier studieren zu wollen.
Nach einem halben Jahr kündigten sich auch Beckers an. Caterina hatte es trotz permanenter Telefonate nicht mehr ausgehalt. Sie musste es einfach selber sehen. Thomas hatte Geburtstag. Sollten wir ihn einfach beschaulich mit Caterina und Christian feiern? Aber beschauliche Momente würde es sicher öfter geben. Eine Fète bei uns oder draußen und wo dann? Es sei doch nicht nur sein Geburtstag. Wir hätten doch unser Leben gefunden, und es noch nie gefeiert. Jetzt seien seine Eltern da und für meine sei es ja auch kein Problem zu kommen, meinte Thomas, aber Schloss-Wilkinghege war das nicht ein wenig sehr üppig? Für das, was wir zu feiern hätten, könne es gar nicht üppig genug sein, reagierte Thomas. Das sah ich wohl auch so. Es wurde zwar offiziell eine Geburtstagsfeier, aber wir feierten etwas, für das Hochzeit oder Vermählung nur schale Worte sind. Für das, was dein tiefstes inneres Empfinden betrifft, existieren meistens keine allgemeingültigen treffenden Vokabeln. Es ist dein Persönliches, dein Individuelles und du verstehst es ohne Worte oder gar nicht. Unsere Sprache ohne Worte hatten Thomas und ich über viele Jahre als Kinder gelernt. Es war die Muttersprache unserer Beziehung, die wir nie wieder verlernen würden und in der wir am liebsten miteinander kommunizierten.
„Bremen ist schön und ich liebe es.“ konstatierte Caterina, „Doch das liegt auch an mir und wie ich es erlebt habe. Aber Münster, das ist wie eine geschichtsträchtige Mutter. Münster ist lieb und schön. Du hast mir viel erzählt, und ich konnte mir ja auch einiges vorstellen, aber du musst es erleben, damit du weißt, dass dein Junge allen Grund hat, sich wohl zu fühlen.“ Nach Bremen mussten wir natürlich auch. Wenn ich an den Feiertagen oder am Wochenende nach Hause, nach Bremen kam, musste ich wenigstens einmal mit Familienmitgliedern oder alten Freunden an der Schlachte, am Weserstrand, entlang laufen, eins der Cafés oder Restaurants auf den alten Schiffen besuchen oder einfach nur auf einer Bank sitzen und auf's gegenüberliegende Ufer mit der großen Brauerei starren. Da kommst du auf ganz andere Gedanken. Paula Modersohn-Becker war sicher jedes mal hier, wenn sie aus Worpswede nach Bremen kam. Das spürst du in ihren Bildern viel deutlicher, als dass sie in Paris war. Aber Paula in Paris finden sie alle geil, nur Paula an der Schlachte, davon will niemand etwas hören. Vater Christian wollte selbstverständlich die alten Kollegen besuchen, aber Thommy und ich mussten wenigstens einmal allein zur Schlachte. Auf einer Bank sitzend brachte Thommy Conrad Ferdinand Meyers Ballade „Mit zwei Worten“ in die richtige Fassung:
An der alten Bremer
Schlachte, auf und nieder, Tag um Tag,
"Toronto?" frug
die blonde Inka, wo ein Schiff vor Anker lag.
"Toronto!"
bat sie lang vergebens, nimmer müde, nimmer zag,
Bis zuletzt an
Bord sie brachte eines Bootes Ruderschlag.
"Thomas?" fragt
die blonde Inka im Gedräng der grossen Stadt,
Und die Menge lacht
und spottet, bis sie dann Erbarmen hat.
"Tausend Thomas
gibt's in Toronto!" Doch sie sucht und wird nicht matt.
"Labe
dich mit Trank und Speise!" Doch sie wird von Tränen
satt.
"Thomas!" "Nichts als Thomas Weißt du keine
andern Worte? Nein?"
"Thomas!" ... "Hört, das
wird der weiland deutsche Thomas Becker sein -
Den gebräunten
Saft in Flaschen schenkt sein Vater Chrischan ein
Der einst kam
vom Weserstrande, mit dem Sohn ohn' Töchterlein"
"Thomas Becker!"
dröhnt es, braust es weit im Coca Cola Land.
Sieh, da kommt er
ihr entgegen, von Atlantas Mund genannt,
Über seine Schwelle
führt er, die das Ziel der Reise fand.
Liebe wandert mit zwei
Worten gläubig über Meer und Land.
Ich hatte Thommy immer die nächsten Zeilen vorsagen müssen, damit er sie bearbeiten konnte, aber manche gefielen ihm nicht. Ob die neue Version so trotz ihres aktuellen Bezugs zu Coca Cola Eingang in die deutschen Schulbücher finden würde, war eher zu bezweifeln. Aber das war ja auch nicht direkt unser Ansinnen. Seine Mutter war für mich immer wegen meiner Ballade und wegen Äußerlichkeiten die Sarazenin gewesen, aber Thommy sah die Saranzenenprinzessin trotz meiner blonden Haare absolut in mir, weil ich ihn auch fast ohne Worte gesucht und gefunden hatte. Sara nannte er mich öfter liebevoll, wenn er besonders zärtlich zu mir sein wollte.
FIN
Ailleurs n'est jamais loin quand on aime
Als
Jugendliche
verlieren sie sich,
aber das Unbewusste
vergisst
es nicht.
Inka weiß selbst nicht richtig, was sie sucht,
aber
es drängt sie,
und sie findet es
auch ohne genaues Wissen
und viele Worte
in weitester Entfernung.
Inka sucht – Seite 16 von 16
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2011
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