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Im Vorübergehen

Sie saß in dem kleinen Café, an dem Platz, der fast schon ihr eigener genannt werden könnte. Jeden Tag zur selben Zeit konnten die Menschen, die ihren Kaffee trinken gehen wollten, sie sehen.

Die Frau, die kaum ein Lächeln auf ihre Lippen bekam, weil sie viel zu sehr in ihren eigenen Gedanken vertieft war um das hektische Treiben im Café zu bemerken.

Ihr Blick war meistens auf das große Fenster gerichtet, vor dem sie saß. Das Foto in ihrer linken Hosentasche war an seinen Rändern schon ganz abgenutzt, so oft hatte sie es in ihren zerbrechlichen Händen gehalten, nur um sich sein Gesicht ein weiteres mal einzuprägen.

Sie hatte Angst, furchtbare Angst sogar, sie könne sein Gesicht vergessen, sein Lachen, wenn er als kleines Kind durch ihren Garten gerannt war, seine vor Freude strahlenden Augen, wenn sie ihm eine Tafel Schokolade gekauft hatte oder wenn er ein neues Spielzeug bekam.

Sie war alt, das wusste sie genau. Normalerweise sollte sie viele dieser kleinen Momente schon vergessen haben, aber sie klammerte sich mit ganzer Kraft an ihnen fest, an dem einzigen, das ihr nach seinem Weggehen noch geblieben war.

Er hatte sie nicht mehr ausgehalten, diese leere, leblose Hülle, die sie nach dem Tod seines Vaters geworden war. Das konnte sie ihm nicht verübeln. So sehr sie ihn auch gerne für seine Tat hassen würde, sie konnte es nicht. Denn er war immer noch ihr Sohn und tief in ihrem Inneren wusste sie doch, dass sie nicht von dieser Welt gehen würde, ohne zu wissen, dass es ihm gut ging und er glücklich war.

Während sie in ihren Gedanken versank, lief ein junger Mann mit seiner Tochter an einem Fenster vorbei, das zu einem kleinen Café gehörte. Er lachte, als sie ihm erzählte, was sie alles mit ihrer Großmutter und ihrem Großvater gespielt hatte, während sie bei ihnen war.

Im Vorübergehen bemerkte er den Schatten einer älteren Frau, der aus dem Café glitt und nie mehr dorthin zurückkehrte.

Der Kampf

Missmutig betrachtete sie sich im Spiegel.

Die Haare waren in Stirnnähe plattgedrückt und aus ihrem mühselig erarbeiteten Zopf hingen Strähnen wirr heraus. Die Augen glänzten zwar, doch nicht durch Freude, sondern aufgrund der Tränen, die sich den Weg in die Freiheit zu erkämpfen versuchten, aber nun von ihr gewaltsam verdrängt wurden. Unter ihren Augen liefen die letzten Spuren ihres Mascaras, auf der Suche nach einem schnellen Weg zur Erde, geleitet von den letzten Tränen, die ihr noch kurz vorher entflohen waren. Die Schwerkraft half ihnen dabei. Die Nase war schon rot, da sie immer wieder den Drang hatte zu laufen. Die Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst, um dem gesamten Kiefer nicht die Gelegenheit zu geben, sich selbstständig zu machen.

Eine letzte Träne hing an ihrem Kinn, sie versuchte sich so lange an ihm festzukrallen wie nur möglich.

Doch sie verlor diesen Kampf.

Die Wanne

Der Boden auf dem sie saß war ziemlich kalt. Für ihren Geschmack zu kalt. Aber heute, heute war ihr das egal. Es war egal, ob sie krank werden würde, denn das würde sie nicht mehr können.

Benommen sah sie auf die Tür vor ihr. Durch den kleinen Schlitz darunter drang das einzige Licht. In ihrem Rücken spürte sie die Wanne.

Die Wanne, die gleich nicht mehr kalt sein würde, denn das Wasser, das in sie hineinlief, war warm. Sie wollte ja nicht in die Kälte steigen, es würde auch so schon unangenehm werden. Und das wollte sie ja nicht.

Sie hatte es sich als Erlösung vorgestellt, als Befreiung. Da passte Kälte nicht. Vom kalten Boden in die warme Wanne, das schien ihr perfekt.

Von der Tür kamen Geräusche. Ein Klimpern, wahrscheinlich von Schlüsseln. Weg!, ging ihr durch den Kopf. Geh schon weg! Nach all dem wollte sie niemanden mehr um sich haben.

Allein. Allein auf den kalten Fliesen.

Als sie eine Tür hörte, hob sie ihren Blick von den Fliesen unter ihr auf die Tür. Dann fiel er auf die Wand, die, wie alle anderen Wände des Raumes, auch aus Fliesen bestand.

Sie wusste nicht mehr, wie lange sie schon dort saß, aber als das Licht immer mehr nachließ, fand sie es an der Zeit, in die nun volle Wanne zu steigen.

Ihr Blick fiel auf die Tür. Sie würde sich nicht öffnen, nein, es gab niemanden, der ihr jetzt wieder aus der Wanne helfen würde. Niemand, der sie jetzt noch retten könnte.

Ihr letzter Blick fiel auf die Tür. Nein, niemanden.

Als das Zimmer ganz in schwarz versank, machte sie ihren letzten Atemzug. Dann glitt sie hinein in die dunklen Wogen.

Sie hörte nicht mehr, wie er zurück kam.

Der Augenblick

Nur ein kurzer Augenblick, der dein Leben prägt.

Ein Herzschlag, in dem alles andere unwichtig ist.

Eine Sekunde, eine Stunde so scheint es.

Ein Wimpernschlag, wichtiger als alles andere.

Denn alles andere hat keine Bedeutung mehr.

Alles andere ist unwichtig.

Alles andere gibt es nicht mehr.

Noch ein Wimpernschlag und der Zauber des Momentes ist vorbei.

Noch einer und Du bist gefangen in deiner selbst.

In deiner Welt, so scheint es.

In einer Welt, in der man dich nicht versteht.

In einer Welt, in der dieser kurze Augenblick,

der mit einem Herzschlag anfängt,

eine Sekunde lang anhält

und mit einem Wimpernschlag aufhört

keine Bedeutung hat.

Killer

Zum wiederholten male verbirgt sie ihr Gesicht in ihrem Kopfkissen.

Schon zu oft hat sie das hier erlebt.

Schon zu oft jemanden verloren.

Schon zu oft wurde sie so erniedrigt.

Doch eines bleibt immer gleich: Sie zeigt ihre Gefühle nicht vor ihren Mitmenschen, sondern spart sich die Tränen für die Nacht auf. Oder zeigt sie erst gar nicht. Was ihr immer am liebsten ist.

Manchmal jedoch kommt es auch über sie.

Dann kann kein Gedanke sie aufhalten.

Diese leisen Killer, die eigentlich nicht so schlimm sind.

Doch wenn sie kommen, zerstören sie alles, was da ist.

Egal, welche Gefühle man vorher hatte, sei es Enthusiasmus, Freude, Harmonie. Alle Gefühle, die es gibt.

Wenn sie kommen, ist alles egal.

Alles was zählt, ist die Trauer.

Diese unendlich tiefe Trauer. Dieser unendlich tiefe Schmerz.

Wenn es die nicht gäbe, dann auch die Killer nicht.

Die Killer -   

       auch Tränen genannt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.03.2013

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