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Prolog - Ein Niemand

»Wir sind alle ein "Niemand", ein "Niemand" mit dem Streben ein "Jemand" zu sein. Doch jeder versteht darunter etwas anderes. Der eine strebt nach Beliebtheit, der andere nach Respekt, manche nach Ruhm und manche nach Geld. Doch das einzige wonach ich strebe, ist das Leben. Heraus kommen aus der Gefühlslosigkeit, aus dem "tot sein". Es ist schräg, denn ich mache mir solche Gedanken obwohl ich erst 16 bin. Können Sie sich das vorstellen, Sir? Ich bin 16 und fühle mich tot. Ich kann mich auch nicht aus diesem Gefühl der Leere befreien, ich bin wie ein Insekt im Eis, unfähig auch nur einen Finger zu rühren. Und das alles hat mit dieser einen Begegnung angefangen.«

Amber streicht sich eine Strähne ihres nachtschwarzen Haares aus dem Gesicht und blickt starr, aus eisblauen, blutunterlaufenen Augen, gegen die kahle Wand vor ihr. Überall auf der Wand befinden sich Risse und oberflächlich betrachtet, sieht diese Wand aus als würde sie gleich einstürzen. Neben Amber sitzt Dr. Shaffer, der Psychologe ist gefesselt an einem Stuhl und blickt die Schwarzhaarige an, wie ein verschrecktes Reh. Amber zittert. Auch ihre Stimme hatte eben gezittert. Ihr Körper war kalt geworden von dem kühlen Kellerboden. Und ihr Kreislauf ist auf dem Nullpunkt angelangt. Wie lange hatte sie nichts mehr gegessen? 5, 6 Tage? Oder waren es Wochen? Amber weiß es nicht mehr.

»Sie fragen sich sicher warum ich Ihnen das alles erzähle, nicht? Nun, ich brauche jemanden der mich versteht. Der weiß, wie ich mich fühle. Obwohl. Das weiß wohl niemand. Aber das tut nichts zur Sache, Sir, noch nicht. Warum habe ich Sie gewählt? Nun, warum habe ich Sie entführt und hierher geschleppt? Ich hätte sie auch einfach bezahlen können, um Ihnen alles zu erzählen. Aber Sie haben sicher schon mit Ihrem analysierenden Psychologenblick festgestellt, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe.«

Amber lacht, und ihr Gelächter erfüllt den ganzen Keller. Sie lacht so laut und heftig, dass der zierliche Körper der 16 Jährigen wackelt und ihr schon bald die Luft ausgeht. Dieses Lachen geht Dr. Shaffer durch Leib und Seele. Als würde ihm jemand die Eingeweide zerquetschen.

»Aber das ist nicht der einzige Grund Sir. Sie sind ein Niemand. Ich meine nicht ein gewöhnlicher "Niemand", sondern ein "Niemand" von der erbärmlichen Sorte. Nur in die Arbeit vertieft, keine Frau mehr, keine Kinder, Ihre Eltern sind tot, Sie sind über 50 und haben niemanden mehr. Niemand der nach Ihnen guckt wenn sie mal alt und gebrechlich sind, niemand der Sie in den Arm nimmt wenn es Ihnen schlecht geht, Sir.

...Niemand der sich um Sie sorgt wenn Sie mir... nun ja... abhanden kommen. Genau der Richtige also. Ein Nichts.«

 

Valentinstag

Amber steht auf und betrachtet den nun weinenden Psychologen.

»Hat Sie das etwa verletzt?«

Sie setzt sich vor ihm im Schneidersitz auf den Boden und betrachtet den älteren Mann starr. Seine Haut ist unrein und von Rasiernarben geprägt, er hat einen Drei-Tage-Bart und grau meliertes Haar. Seine Augen sind mattbraun und er hat einen Bierbauch, welcher zittert wenn er schluchzt.

»Kommen Sie Sir, ich habe Ihnen nur die Wahrheit gesagt. Nicht mehr und nicht weniger.«

Dr. Shaffer ist kurz vor einem Nervenzusammenbruch und krallt sich an den wackeligen Holzstuhl.

»Sind Sie nun bereit meine Geschichte zu hören, Sir?«

Der Mann rührt sich nicht.

»Ich nehme das mal als "Ja". Nun fangen wir an, es war Valentinstag und - oh Sir Sie müssen wissen ich habe Valentinstag damals geliebt, ich war eine Woche vor Valentinstag 16 geworden und beschloss mein Geburtstag an Valentinstag zu feiern. Weil ich es irgendwie...süß fand, mit den ganzen Herzen und so. Sie wissen schon. Wie man als Mädchen halt ist. Meine beste Freundin Chanty organisierte eine Party und lud fast die ganze Highschool ein. Sie meinte es würde die größte Party des Jahres werden, und ich freute mich riesig. Ich hatte einen süßen Freund, war 16 und feierte eine riesen Party. Was gab es besseres, Sir? Nun ich schätze nichts. Chanty und ich waren auf dem Weg mir ein Kleid zu besorgen und auf dem Weg dorthin trafen wir Luke. Chanty's Bruder. Er war ein ziemlich mieser Typ, Drogendealer und einer dieser Jungen welche ihre Probleme mit der Faust lösten. Ganz ehrlich? Ich fand ihn abartig, war 25 und hatte nicht den Hauch einer Chance einen Job zu kriegen. Chanty jedoch fand es geil, ihr Bruder war der beste Weg für sie an Drogen zu kommen.
»Hey Luke! Hast du ein paar Joints?? Amber feiert eine Party!«
Ich, als Frieden liebendes Mädchen, packte sie am Arm und schüttelte den Kopf:
»Nein!«
»Och Amber komm schon. Sei nicht so zugeknöpft.«
Ich schluckte und... nickte. Also gab uns ihr Bruder ein paar Joints die wir auf der Party verteilten.Ich wusste das Drogen scheiße sind, Sir. Ich selbst habe auch keine Drogen genommen, aber die Anderen, und die Sache eskalierte. Mein Freund rauchte ein paar Joints und machte mit  Jennifer rum und ich armes Mädchen, welches doch nur seinen Geburtstag nachfeiern wollte, machte mit ihm Schluss und gab mir die Kante. Während die Anderen feierten, war ich traurig und während die anderen lachten, weinte ich.«

Amber lächelt, dabei ist ihr Gesicht einer Grimasse ähnlich. Dr. Shaffer versucht aus ihren leeren Augen zu lesen was in ihr vor geht. Es war teil seines Jobs Gefühle aus den Augen zu lesen und eigentlich ist er gut darin, nur jetzt scheitert er. Ambers Augen sind monoton.

»Natürlich, Sir, wusste ich dass das Fremdgehen meines Freundes größtensteils an den Joints lag. Doch es war mir egal. Noch viel egaler war mir allerdings er selbst. Die Wahrheit war, dass ich es bloß nicht ertragen konnte, das er mich an Valentinstag betrug. Deswegen gab ich mir die Kante und verschanzte mich im Wald. Ja, ganz alleine um Mitternacht im Wald mit einer Flasche Jim Beam und einem Stück Torte. Ich neigte dazu etwas Süßes zu essen wenn ich Stress hatte oder ich traurig war. So wie in dem Fall. Es war ein Wunder das ich noch normalgewichtig war. Ich saß auf einem alten Holzstamm und betrachtete den Himmel als ich Schritte hinter mir wahrnahm.«

Dr. Shaffer zieht an seinen Fesseln, doch es bereitet ihm einzig Schmerzen, also lässt er locker und sieht Amber vor sich gequält an. Er hofft inständig er würde diesen Keller lebendig wieder verlassen, doch momentan steht es schlecht für ihn.

»Die Schritte waren nicht leise, Sir. Sie waren laut. Extra laut, damit ich angst bekam. Das tat ich auch. Ich ließ meine Jim Beam Flasche und den Kuchen einfach fallen und rannte los. Eine ziemlich primitive Reaktion, ich weiß. 

Sie hätte genauso gut aus einem Horrorfilm stammen können. Aber genauso endete es ja auch. Ich wog mich in Sicherheit als ich an einer Landstraße ankam. Sie war nicht beleuchtet, also war es stockfinster. Nicht mal der Mond schien am Himmel. Das Ganze war ziemlich diabolisch, finde ich.

Ich sog hektisch Luft in meine Lungen, denn ich musste feststellen, dass ich ziemlich untrainiert war. Ich atmete sogar noch schneller...als ich bemerkte das ich nicht wusste wo ich mich befand. Die Straße kam mir nicht bekannt vor, und es gab auch keine Autos die an mir vorbei fuhren. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben vollkommen alleine, ohne eine Chance auf Zivilisation. Und es gefiel mir nicht. Zitternd von der Kälte die, die Nacht nun mal mit sich brachte, schlurfte ich orientierungslos gerade aus. Mein Atem hatte sich wieder beruhigt, aber meine Gefühle nicht. Angst, Traurigkeit und eine Wut auf diesen beschissenen Tag sorgten dafür das mir Tränen über die Wangen liefen. Ich fing an unkontrolliert zu Schluchzen, als ich ein erneutes Geräusch wahr nahm.

Klack.

Klack.

Klack.

Es war ein Geräusch welches von Cowboystiefeln stammen könnte, oder etwas höheren Schuhen. Das Geräusch kam näher und ein Gedanke bahnte sich in meinen Gedankenfluss: Du wirst verfolgt Amber. Renn.

Und das tat ich, erneut rannte ich so schnell ich konnte, dabei stolperte ich jedoch und schlug auf dem Asphalt auf. Meine Knie kamen dabei hart auf und fingen an zu bluten, mein Kleid riss, doch die Schritte hinter mir, dieses fürchterliche Klacken, interessierte das nicht, sie wurden unerbittlich lauter...kamen näher. Schwer atmend rappelte ich mich auf, lief einfach weiter. Dabei biss ich mir auf meine Lippe, welche schon bald anfing zu bluten. Das Blut lief mir in den Mund, hinterließ einen metallischen Geschmack...und sorgte dafür das mir immer mehr klar wurde das das hier, die Realität war. Kein gruseliger Alptraum, wie ich ihn sonst immer hatte wenn ich einschlief.

Ich kniff die Augen zusammen, dennoch lief ich weiter, ignorierte meine schmerzenden Glieder einfach. Doch dann ertönte eine Stimme:

»Amber! Bleib doch stehen!«

Mit groß aufgerissenen Augen blieb ich ohne zu zögern stehen.

Es war die Stimme meines Ex-Freundes Mike, Sir, dem der mit Jennifer rumgemacht hatte. Trotz seines Fremdgehens war ich froh, dass er in diesem Moment da war. Doch als ich mich umdrehte, stand nicht Mike vor mir, wie erhofft. Sondern ein riesiger, breiter Typ, dessen Haarfarbe, sowie Augenfarbe von der Dunkelheit versteckt wurde, das Einzige was ich erkannte war eine riesige Narbe die sich durch sein Gesicht zog. Ein grausamer Anblick. Er lachte.

»Wie leicht man Menschen mit dem Verändern der Stimme täuschen kann.«

Er klang immer noch wie mein Ex-Freund. Ich schluckte und mein Atem ging schneller. Ich ging ein paar Schritte rückwärts und stieß gegen eine Straßenlaterne, deren Licht bereits erloschen war.

»W-Woher wissen Sie meinen Namen?!«

»In meiner Welt kennt jeder deinen Namen.«, wich er aus.

»In Ihrer Welt?!«

»Ja«

Er kam dichter und ich wollte gerade wieder weglaufen, als er mich packte und mich hart auf den Boden schmiss. Mein Kopf kam dabei hart auf und ich sah alles nur noch verschwommen.

»Ich werde dich umbringen, Amber.«, flüsterte er sacht.

Seine Hand fuhr über mein Gesicht.

»Aber vorher«, er lachte, »werde ich dich vergewaltigen.«

Sofort wurde meine Sicht wieder klar und ich trat ihm in die Weichteile. Dann rannte ich los, wieder so schnell ich konnte und den Schmerz ignorierend der in meinem Körper wütete. Dabei schrie ich immer wieder »Hilfe«. Doch es war vorhersehbar, das keiner meine Stimme wahrnahm. Hier war ja auch niemand gewesen.

Wieder hörte ich das Klacken und wusste er kam näher. Doch ich hatte nicht einschätzen können wie nah. Denn schon wurde ich wieder zu Boden geschmissen und ein Messer wurde an meinen Hals gehalten.

»Dachtest du wirklich du könntest entkommen, Amber?«

Mein Atem ging stoßweise.

»Ich denke ich werde dich erst umbringen und dann ficken. Alles andere wäre zu viel Arbeit!«

Sein Messer schnitt in meinen Hals. Dann knallte es. Es war wohl ein Schuss von einem Jäger, ein Feuerwerkskörper oder ähnliches gewesen. Aber egal was es war, es rettete mein Leben und nahm ein anderes. Denn in dem Moment lenkte es diesen großen Kerl ab, sodass ich ihm sein Messer aus der Hand riss und es in seine Brust stach. Es war so ein befreiendes Gefühl, als sein Blut über meine Hand lief und langsam das Leben aus seinen Augen wich. Er röchelte, dann fiel er um.«

Ambers Atem geht stoßweise.

»Und wissen Sie was, ich habe es sogar noch bereut diesen Mistkerl umgebracht zu haben. Ich wollte das die Bullen mich dafür einsperren. Doch diese Loser haben gesagt es ist Notwehr gewesen und mein schlechtes Gewissen beweist Moral. Idioten. Sie wussten wahrscheinlich am Wenigsten über Moral. Wie dem auch sei, seit diesem Tag veränderte ich mich total. Ich färbte mein blondes Haar schwarz, schminkte mich heftig und zog mir diese Sachen an die man nur in Online Shops bekam. Zerrissene Jeans, Bandshirts, Creepers und vieles mehr eben. Außerdem wurde ich mega schlecht in der Schule. Vorher schrieb ich Dreien und Zweien, fort an waren es Vieren und Fünfen. Ich wurde auch total unbeliebt, niemand mochte mich mehr. Meine Mom nahm mich immer in Schutz. Sie sagte immer das es nur an dem Unfall lag und das ich ein Recht darauf hatte so zu sein. Mein Dad meinte ich müsse endlich damit klar kommen. Damit klar kommen das mich jemand töten und vergewaltigen wollte?! Damit klar kommen das ich jemand umgebracht hatte und das mit 16! Was sagen Sie dazu, Dr. Shaffer?«

Der Doktor sieht Amber mit großen Augen an. Weiß nicht so recht was er sagen kann und was er lieber nicht sagen soll.

»Ich stimme dir vollkommen zu.«

Amber lächelt.

»Wenigstens einer.«

Sie kratzt sich an der Stirn und blickt ihn aus eisblauen Augen lange an.
»Ich kam gerade von der Schule nach Hause als mein Dad austickte. Meine Lehrerin, meiner Meinung eher eine fette, unglückliche Versagerin, hatte ihn angerufen und ihm gesagt, das ich nicht versetzt werde. Daraufhin wurde mein Dad unheimlich wütend. Er schrie rum und schmiss ein paar Sachen gegen die Wand. Als er sich beruhigt und mir über den Kopf gestrichen hatte, kam er zu dem Schluss es gebe nur eine Lösung für mich und mein Verhalten. Ein Internat, Sir. Wahrhaftig ein Internat.«

Amber lacht.

»Wissen Sie wo sie sich befinden? In dem Keller dieses Internats. Aber das ist irrelevant.«

 

Ankunft

Dr. Shaffers Gedankenfluss wird angeregt, wenn er in einem Internat war...muss es doch auch Leute hier geben! Immerhin ist ein solches Gebäude doch nicht leer! Irgendwo muss es Menschen geben oder wenigstens einen Ausgang. Er fragt sich bloß wie er sich aus dem Stuhl befreien soll.

Amber setzt sich auf und starrt ihn an, als könne sie seine Gedanken hören. Ihre Augen sind merkwürdig verengt und ihr Mund ist zu einem Strich verzogen.

»Wie ist ihr Vorname, Sir?«

Er schluckt schwer, soll er seinen richtigen Namen sagen? Er entscheidet sich dagegen. Warum auch?

»James«, kommt es leise aus seinem Mund, er hat nicht lange gebraucht um einen Namen zu finden. Er nimmt einfach den Namen seines verstorbenen Katers.

Amber legt ihren Kopf schief und sieht ihn aus eisblauen Augen wütend an.

»Wissen Sie, was ich gar nicht mag, Sir?«

Dr. Shaffer schnappt verängstigt nach Luft und schüttelt vorsichtig den Kopf.

»Wenn mich jemand anlügt.«, haucht sie und nimmt zögernd etwas aus ihrer Hosentasche.

Dr. Shaffer schließt die Augen und betet. Er ist eigentlich kein gläubiger Mensch, aber solche Situationen halfen Menschen bekanntlich ihren Weg zu Gott wieder zu finden.

In Ambers Hand liegt ein Messer.

»Ihre letzte Chance, Sir.«, sie wiegt das Messer in ihrer rechten Hand, »Wie ist ihr Name?«

Dr. Shaffer schluckt und öffnet vorsichtig seine Augen wieder.

»Mein Name ist Jonathan.«

Amber runzelt die Stirn.

»Ihre Eltern hatten wohl einen schlechten Geschmack. Jonathan ist ein übler Name. Sind ihre Eltern gläubig? Er klingt irgendwie biblisch.«, murmelt sie und steckt ihr Messer zurück in ihre Hosentasche.

Jonathan atmet zitternd aus.

»Ja, mein Vater war Pastor.«

Amber lacht.

»Pastor Shaffer und sein Sohn Dr. Shaffer. Welch Ironie, finden Sie nicht.«

Nein, das findet Jonathan ganz und gar nicht. Trotzdem nickt er eilig.

»Wissen sie was mal mein Berufswunsch war, Sir? Krankenschwester. Ich weiß, ziemlich niedrig gestecktes Ziel, aber ich fand den Gedanken gut kranken Menschen zu helfen. Mein Dad allerdings war der Meinung, ich solle lieber Anwalt werden. Oder etwas womit man viel Geld verdiente. Deswegen sollte ich auch immer gut in der Schule sein. Aber ich hatte nie vor das zu machen was er sagte. Ich weiß, das es sein Wunsch war, aber es war doch mein Leben, oder? Es war doch meine Entscheidung. Und trotzdem war es für meinen Vater einzig wichtig das mein Lohn hoch war. Genau deswegen wollte er auch, dass ich gut in der Schule war. Und deswegen kam ich auch in das Internat. Eine Eliteschule. Wissen Sie, Sir, ich hätte kotzen können. Schon bei der Fahrt dort hin, welche ich übrigens in einem Taxi machen musste, weil keiner meiner Eltern Zeit für mich hatte, hatte ich Magenschmerzen weil ich nicht dort hin wollte.

Wer wusste schon was mich dort erwartete, Sir.

Das Taxi hielt auf einem Platz, welcher wie ein Park wirkte. Mit perfekt geschnittenen Bäumen, ein paar Bänken und ein paar Parkmöglichkeiten. Hinter diesem parkähnlichen Platz, lag ein riesiges Gebäude. Es war unheimlich eindrucksvoll, schien ziemlich alt und hatte große Fenster.«  

Amber seufzt.

»Schon als ich das Gebäude betrat, glotzten mich alle an. Wie immer blickte ich so lange böse zurück, bis sie ihre Blicke wieder abwandten. Ich hasste Menschen in meinem Alter. Komisch, es war erst so, seitdem ich mich verändert hatte. Sie waren so...arrogant und intolerant und es viel mir erst auf, seitdem ich so wurde. Niemand von diesen Leuten würde mich und mein Leiden verstehen. Sie konnten die Schuld die auf mir lag nicht wahrnehmen. Aber es war wohl gut so. Ersteinmal suchte ich das Büro in diesem riesigen Gebäude. Doch zwischen ganz vielen Wandgemälden, Türen, Spinden und Schülern, war das Büro nicht auffindbar. Ich war ziemlich genervt.

Plötzlich fasste mir jemand an die Schulter. Es war ein Junge, seine Haare waren schwarz, seine Augen schwarz umrandet, er hatte Snakebites, war ziemlich blass und war dunkel gekleidet.

»Ich bin Chester«, murmelte er tief, »Du scheinst neu zu sein. Lass mich dir das Büro zeigen.«

Ich war dankbar, ehrlich, aber irgendwie schien mir dieser Junge wahrlich gruselig! Es lag nicht an seinem Gothic-mäßigen Äußeren, sonder an seiner Art. Seiner Ausstrahlung. Aber ich dachte mir einfach, das ich mich irrte und folgte ihm.

Angekommen machte mir eine fette Frau mit unpassend roten Lippen die Tür auf. Sie lächelte, was gelbe Zähne entblößte und murmelte:

»Sie müssen Amber Davidson sein!«

Ich nickte misstrauisch.

»Kommen Sie rein.«

Ich wollte mich gerade umdrehen, um mich bei diesem Chester zu bedanken, ich war ja kein undankbarer Mensch, Sir, doch Chester war nicht mehr da.

Stirn runzelnd betrat ich den Raum. Die dicke Frau setzte sich hinter ihren Schreibtisch. Wirklich, Sir, ich war nicht etwa intolerant oder oberflächlich, aber diese Frau nannte ich nicht zu unrecht dick. Sie war mindestens 300 kg schwer. Und sie schwitzte, sie schwitzte so sehr, das es mir unangenehm war, sie anzusehen. Sie gab mir ein paar Bücher und den Stundenplan, dann kam ein Mädchen in den Raum.

Das Mädchen war klein, zierlich, was ihr etwas Elfenhaftes gab und hatte platinblonde, fast weiße Haare ohne jeglichen Gelbstich. Doch das was mir am Meisten auffiel, waren ihre lila Augen. Wahrscheinlich Kontaktlinsen, dachte ich mir, doch es gab ihr was sehr mysteriöses.

»Oh, das ist Violette Chevalier, deine Zimmergenossin. Ihre alte Zimmergenossin, ist seit dem Anfang von diesem Schuljahr verschwunden.«

Ich hatte bloß die Stirn gerunzelt, das ihre Zimmergenossin verschwunden war, interessierte mich nicht, ich fand es nur lustig das, das Mädchen mit den lila Augen ausgerechnet Violette hieß.«

 

 

 

Selbsthass

»Und wie gefällt Ihnen mein Leben? Recht langweilig, nicht wahr?«

Wieder überlegt Jonathan, was er sagen kann...was Amber hören will...

»Es ist doch nicht langweilig.«, murmelt er schnell.

»Ja, vielleicht haben Sie recht.«

Eine Weile herrscht schweigen. Amber starrt ihn an, doch sieht ihn nicht an, es ist als würde sie durch ihn hindurch starren. Sie fummelt an ihren Fingern herum und fängt plötzlich an zu Summen.

Es hört sich wie irgendeine Titelmelodie an, doch Jonathan kennt sie nicht.

»Kennen sie diese Werbungen in denen Hilfsorganisationen einen Auffordern zu spenden?«, fragt sie leise.

Dr. Shaffer nickt schnell.

Sie lacht.

»Wissen sie was ich denke, wenn sie so etwas sagen wie: »Tamara muss auf der Straße leben, sie hat weder Eltern noch eine Zukunft!«

Ich denke mir dann: Sagt doch gleich: Wenn ihr nicht spendet kommt ihr in die Hölle und bekommt Aids.

Ich weiß, Sie denken jetzt ich bin böse.«

Ja, das trifft es, Jonathan denkt genau das.

»Aber ich bin sogar für das Spenden! Nur was bringt es, wenn nur ein kleiner Teil zu diesen Kindern kommt? Wir müssten schon große Beiträge spenden, doch das macht niemand! Und warum? Weil Menschen geldgeile Schweine sind, Sir! Ich selbst kenne das von Dad. Er spart, obwohl er so viel Geld hat, er ist geizig, obwohl er das nicht sein muss. Ja, er spendet auch. Aber das nur zu Weihnachten. Und meistens nur 5 Dollar. Dabei könnte er so viel mehr spenden!«

Amber rauft sich die Haare.

»Verstehen Sie was ich meine?«, schreit sie.

Jonathan nickt schnell. Anscheinend ist Amber ziemlich in der Psyche geschädigt und auf Gerechtigkeit aus, seit dem Mord den sie begangen hatte. Jedenfalls ist das Jonathans Theorie.

»Wie dem auch sei, Sir.«

Sie zieht ihre Beine an ihren Körper.

»Ich für meinen Teil werde in meinem weiteren Leben viel spenden, Sir. Dann hat es wenigstens einen Grund falls ich Anwalt oder so werde.«

Amber senkt den Blick.

»Wollten Sie schon immer Psychologe werden?«, fragt sie leise.

Jonathan überlegt kurz.

»Ja, seit ich klein war.«

»Ich beneide sie dafür. Als ich klein war, wollte ich Prinzessin werden. Ich war wie alle anderen Mädchen in meinem Alter. Normal, langweilig...pink. Ich dachte sogar ich würde irgendeinmal einen Prinzen heiraten. Und es gibt doch tatsächlich Frauen die sowas mit 30 auch noch denken. Hirnverbrannt.«

Sie betrachtet ihre langen, zierlichen Finger, sie sind schwarz lackiert, doch der Nagellack bröckelt schon an manchen Nägeln ab.

»Sie sagten Ihr Vater war Pastor, Sir?«

Jonathan nickt vorsichtig.

»G-glauben Sie denn an Gott?«, sie flüstert die Frage nur, es ist als würde ihre Stimme federleicht durch den Raum schallen.

Jonathan hat Schwierigkeiten sie zu verstehen, doch es gelingt ihm.

»Nein, eigentlich nicht.«

Ambers Gesichtsausdruck wird monoton.

Sie nickt und kratzt sich am Kopf.

»Naja, wir weichen von dem Wesentlichen ab. Mein erster Tag im Internat begann also mit Violette.«, fuhr sie unbeirrt fort, »Sie führte mich durch viele Gänge in ein Zimmer. Die Gänge waren ziemlich edel, die Wände waren in einem dunklen rot gehalten und der Boden bestand aus Eichenholz, an den Wänden hingen Gemälde und die meisten der Gänge waren komplett leer. Vor unserem Zimmer machte Violette halt. Sie kicherte.

»Erschrecke dich nicht. In meinem Zimmer herrscht Chaos. Aber mein Dad sagt immer nur Narren verschwenden ihr Leben mit aufräumen.«

Ich blickte sie stirnrunzelnd an, doch sie nahm es nicht wahr.

Sie öffnete die Tür und lächelte.

Das Zimmer war wahrlich ein Ort des Chaos gewesen, überall lagen Klamotten, CD-Hüllen, ja anscheinend besaß Violette noch CDs, und Kosmetik-Artikel. Violette trat neben mich. Sie zupfte ein Haar aus meinen Gesicht und murmelte:

»Ich habe jetzt unheimliche Lust auf einen Schokoladen-Milchshake.«

Sie drehte sich um und verschwand im Flur. Sie schien mir ziemlich verrückt zu sein, und? Denken Sie das Selbe, Sir? Sie sind ja der Experte.

Naja, wie dem auch sei. Ich fing an meine Seite des Zimmers einzurichten, denn die Seite wo ein leeres Bett stand, hatte Violette ordentlich hinterlassen. Ich schmunzelte darüber. Das war das erste Mal, seit dem Überfall, das ich zu so etwas fähig war.

Das Zimmer war groß, die Fenster waren es auch, und die Betten und das Bad ebenso. Alles hatte gigantische Ausmaße. Es war auch hübsch, Wände und Boden bestanden aus Holz, außer im Badezimmer.

Seufzend setzte ich mich auf mein Bett, und wissen Sie was ich dachte, Sir?

Verschissenes Snob-Zimmer.

Eine unheimliche Wut flammte in mir auf.

Ich hätte am liebsten alles umgeschmissen, zertreten und verbrannt. Doch ich riss mich zusammen, stolperte in das Badezimmer und setzte mich in die Dusche, die ich auf Kalt stellte. Nackt, zitternd und frierend, schloss ich die Augen.

Ich war 16, und dieser Abschluss würde 2-4 Jahre dauern, je nachdem was ich erreichen wollte. Ich würde es schon noch durchhalten. Ich würde es schaffen.

Ich war stark und unabhängig.

Schluckend fing ich an, bei letzteren Gedanken zu weinen.

Nein, das war ich nicht. Eher gegenteilig. Es half nicht mich selbst belügen zu wollen, denn man konnte sich selbst nicht belügen, das war nicht machbar. Man konnte jeden belügen, aber nicht sich selbst.«

Scheitern

Gespannt hört Dr. Shaffer ihr zu. Nie hat er etwas so Wahres gehört. Schluckend sieht er sie an, seine Gedanken an eine Flucht sind wie weggeblasen. Sie sind in den hinteren, unwichtigen Teil seines Gehirns geschwunden. Sein Mund öffnet sich ein Spalt und er blinzelt. Seine Neugier erwacht, er will unbedingt wissen, was in ihrem Kopf vor sich geht, was sie wirklich denkt.

»Kennen Sie Marilyn Manson?«, fragt sie und lehnt sich gegen die kahle Wand hinter sich.

Er nickt still und wartet was sie nun zu sagen hat, doch sie schweigt bloß.

Sie legt einzig ihren Kopf schief und atmet ein paar Mal die muffige Luft hier unten, tief in ihre Lungen.

»Er ist ein großartiger Künstler, nicht?«

Jonathan stellt sich den gruseligen Sänger, der einst als gruseligster Mann Amerikas galt, bildlich vor. Sein schwarzes, dünnes Haar, das blasse Gesicht und das eine Augen mit der blauen Kontaktlinse.

Er kommt zu dem Schluss, das er selbst ihn auch ziemlich gruselig findet. Dennoch beantwortet er Ambers Frage mit einem Nicken.

Sie lächelt.

»Oft identifiziere ich mich mit ihm und seinen Texten und Ansichten. Er sagt von sich selbst er sei Satanist. Ich selbst weiß nicht, welche Religion zu mir gehört. An irgendwas muss man ja glauben können, oder? Vielleicht ist der Islam ja etwas für mich? Oder das Judentum? Vielleicht ja auch Spiritismus oder Buddhismus? Oder das Christentum? Wissen, Sie, es läuft doch auf das Selbe hinaus, man glaubt an eine Illusion, nur um sich besser zu fühlen. Und genau das will ich! An irgendwas glauben, um mich besser zu fühlen...

Aber an was? Was soll ich wählen, Sir?«

Jonathan starrt sie unentschlossen an.

»Am Besten du glaubst einfach an dich selbst, Amber.«, murmelt er leise.

Sie lacht.

»Genau das habe ich, und es ist gescheitert, jedes Mal. Jedes gottverdammte Mal. Sir, ich werde nicht mehr scheitern. Nie wieder.«

Nach diesen Worten herrscht schweigen, keiner der Beiden sagt etwas.

»Wollen Sie meine Geschichte weiter hören?«, fragt sie schließlich und durchbrach die Totenstille.

Dr. Shaffer nickt nur.

»Die Nacht im Internat war der blanke Horror gewesen. Ich konnte nicht schlafen, lag die ganze Zeit wach und hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Dieses Gefühl hatte ich öfters. Aber ich meine, es gab da ja auch mal einen Typen der meine Leiche gnadenlos vergewaltigen wollte, ich hatte das verdammte Recht paranoid zu werden. Und wissen Sie, Sir, was mich die ganze Zeit an seine widerliche Visage erinnerte? Eine Narbe die meinen Hals zierte. Sie war bloß zwei Finger breit, aber sie war da. Erinnerte mich an das Gefühl als er mir kurz in den Hals schnitt.«

Amber deutete auf eine blassrosane Narbe, auf der rechten Seite ihres blassen Halses.

»Ohja aber Narben zeugen von Stärke...oder von Verrücktheit, das kann man ja sehen wie man möchte, nicht wahr?

Jedenfalls wachte ich am nächsten morgen müde auf und stellte fest das Violette bereits wach war. Sie saß komplett angezogen, im Schneidersitz auf ihrem Bett und starrte mich an. Dabei hatte sie eine weiße Katze auf ihrem Arm, welche sie stillschweigend streichelte.

»Wie kommt eine Katze in unser Zimmer?«, fragte ich müde, »Ist das deine? Ich dachte hier sind keine Tiere erlaubt?«

Sie murmelte mit ruhiger Stimme:»Hier gibt es in der Nähe ein Tierheim. Manchmal lassen mich die Leute dort mit den Katzen spielen. Das hier ist Zuckerwatte. Ich habe mir den Namen ausgesucht, er ist schön oder?«

»Zuckerwatte?«, meinte ich verblüfft und ungläubig, »Und wie nennst du deine anderen Haustiere? Regenbogen, Unicorn und Schleifchen?!«

Meine Stimme strotzte nur so vor Verachtung, Ironie, Arroganz und Sarkasmus. Doch Violette blieb ernst und wurde nicht mal ein winziges bisschen wütend.

»Regenbogen ist ein toller Name.«, meinte sie ernst.

Ich schüttelte bloß stirnrunzelnd den Kopf.

Alle sagten immer ich hätte nicht mehr alle Nadeln an der Tanne, doch bei Violette war es viel extremer, Sir! Aber es hatte einen Vorteil! Sie war echt verrückt, also fielen ihre meine charakteristischen Fehler gar nicht auf. Sie war die perfekte Freundin für mich! Ich setzte mich auf und wollte gerade ins Bad, als sie plötzlich aufsah und ihre Hand hob.

»Ich würde da jetzt nicht rein. Alles ist noch voller Blut!«

Mein erster Gedanke war: Hoffentlich hat sie jemanden getötet den ich hasse.

Aber dann dachte ich realistisch und fragte ironisch: »Hast du etwa deine Tage?«

Ich lachte darüber, sie allerdings blieb still.

»Nein, nein, aber ich gebe Zuckerwatte immer frisches Fleisch vom Schlachter. Über der Badewanne hängt ein Lamm.«

Meine Gesichtszüge entglitten mir. Sie war doch mehr als verrückt. Sie war ein verdammter Freak!

»Ach ja? Und wie soll ich jetzt duschen und mich fertig machen?!«

Sie sah mich unschuldig an.

»Ich könnte Ash fragen ob er dich in seinem Bad duschen lässt.«

Etwas säuerlich sah ich sie an.

»Schön.«

Plötzlich blickte sie traurig drein.

»Entschuldige, ich bin es nicht mehr gewohnt das noch jemand in meinem Zimmer wohnt.«

Sie ließ Zuckerwatte runter und bedeutete mir ihr aus der Tür zu folgen. Schnell schnappte ich mir mein Badezeug, Make-up und ein paar Klamotten. Ich schämte mich ein bisschen, mit verwuschelten Haaren und müdem Gesicht, an ein paar Frühaufstehern vorbei zu gehen. Nach einer Weile kamen wir an einem Zimmer an, dessen Tür die Zahl 18 aufwies. Violette klopfte leise und sofort wurde die Tür von einem großen Jungen geöffnet.

Er war vielleicht ein Jahr älter als ich, hatte karamellfarbene Haare, ein blasses schönes Gesicht und trug eine an seinem Bein völlig zerrissene Bluejeans, dazu hatte er ein schwarzes T-Shirt an. Der Junge musterte mich abschätzend und lächelte dann leicht.

»Amber das ist Ash, Ash das ist Amber.«

Ash nickte mir zu, dabei lag sein Blick starr auf mir. Es hatte schon beinahe etwas gruseliges.

»Ich habe ein Lamm im Badezimmer, für Zuckerwatte, du weißt schon, sie soll es gut haben. Naja aber das Bad stinkt jetzt und ist voller Blut, also habe ich Amber vorgeschlagen bei dir zu duschen. Wäre das in Ordnung?«, fragte Violette fröhlich.

Ashs Mund öffnete sich ein Spalt, er schwieg eine Weile. Dann packte er mich plötzlich am Arm und zog mich zu sich ins Zimmer.

»Geht klar.«, meinte er, als er die Tür vor Violettes Nase zu schlug.

Er zeigte auf eine Tür.

»Da ist das Bad. Ich hoffe du brauchst nicht zu lange, mein Zimmergenosse kommt gleich vom Training, ich schätze er will danach duschen.«

Er sprach das Wort Zimmergenosse aus, wie ich das Wort Dad, Schleim oder Intoleranz aussprechen würde. Anscheinend, konnte er ihn nicht leiden.

»Passt schon.«, murmelte ich.

Waren hier denn alle verrückt? Erst Chester, dann Violette und er schien mir auch komisch. Aber wenigstens war ich nun nicht mehr die einzige Verrückte. Das war doch ein Vorteil, nicht wahr, Sir?«

 

Pseudorealität

»Kommen wir zu meinem restlichen ersten Tag, Sir. Nachdem ich bei Ash geduscht hatte, ging ich mit Violette zum Unterricht. Ash folgte uns und ich hatte das Gefühl er würde sich gedanklich über mich lustig machen. Aber das hatte ich bei vielen Menschen, ich war schon paranoid gehasst zu werden. Viele aus meiner alten Schule hatten das getan weil ich mich so verändert hatte und ihrer Meinung nach arrogant wurde. Denken Sie ich bin arrogant?«

Amber sieht Dr. Shaffer mit flehendem Blick an. Dabei strahlen ihre Augen pure Verzweiflung aus.

»Ich...ich denke du bist bloß ein verletztes Mädchen, was mit ein bisschen Arroganz versucht ihren Schmerz zu verstecken.«

Sie schnauft und kommt ganz nahe an den Doktor heran. Bald passt nur noch ein Finger zwischen ihre Gesichter.

»Ich bin nicht verletzt.«, flüstert sie.

Ihre Augen schauen unverwandt in seine. Jonathan traute sich nicht zu blinzeln, er starrt einfach zurück, während sich sein Magen schmerzlich zusammen zieht.

»Ich fühle rein gar nichts.«

Sie spricht diese Worte so eindringlich, das Jonathan zusammenzuckt und versucht zurückzuweichen, doch es gelingt ihm nicht. Der Stuhl und die Fesseln halten ihn auf.

Amber weicht von ihm zurück und setzt sich wieder auf den Boden, dabei starrt sie ihn an ohne zu blinzeln und wippt hin und her.

»Ich hatte ganz schön angst vor meiner ersten Stunde. Nicht weil ich angst vor den anderen Schülern hatte, ich hatte angst vor dem Gefühl welches man hat, wenn man neu ist. Dieses Unbehagen einen neuen Raum zu betreten und neue Leute kennenzulernen.

Ich setzte mich neben einen dicken Freak mit fettigen Haaren und einem Geruch nach alten Sportsocken der lautlos schrie: Ich bin Computer süchtig.

Wie weit kann die Menschheit eigentlich noch sinken, Sir?

Ich schätze wir haben das unterste Niveau schon erreicht, aber man sagt ja »Schlimmer geht immer«, nicht wahr?

Jedenfalls hatte ich in meiner ersten Stunde Mathe und oh, ich hasste Mathe. Beziehungsweise hasse ich Mathe immer noch, es gibt nichts unkreativeres als zu rechnen und sich Formeln zu merken. Unser Lehrer sah dabei aus wie ein Pädophiler, welcher aus dem Knast entkommen ist. Mich sollte es aber nicht stören, ich sah ihn kaum an und kritzelte kleine Kreuze auf meinen Block. Das machte ich bis es klingelte. Dann stand ich als Erstes auf und ging dann den Flur lang, bis ich das Mädchenklo fand. Ich ging hinein und stellte fest das es äußerst sauber war, in meiner alten Schule war dies nicht der Fall gewesen. Ich schloss mich in einer der Kabinen ein und holte mein iPod heraus, um Musik zu hören. Plötzlich hörte ich ein Klopfen, es muss laut gewesen sein, denn ich hörte es obwohl ich laut Musik hörte.

Ich steckte meinen iPod zurück in meine Hosentasche und öffnete die Tür der Klokabine. Vor mir stand Chester. Er grinste.

»Kannst du nicht lesen? Vorne auf der Tür steht ein dickes, fettes »Mädchen«. Was wohl darauf schließen lässt, wenn man ein Gehirn besitzt, dass das hier eine Mädchentoilette ist.«

»Oh ich weiß wo ich mich befinde«

Er lacht.

»Ich höre Mädchen nur gerne beim Pinkeln zu, es erregt mich irgendwie.«

Anzüglich begann er zu grinsen und ich dachte ich würde gleich kotzen.

»Bitte was?«

»Du hast schon richtig gehört.«

Kopfschüttelnd und angeekelt verließ ich das Klo.

Doch Chester folgte mir.

»Das ist krank, das weißt du oder?«, fragte ich ihn genervt.

»Klar. Meine Mom hat mich schon oft deswegen geschlagen.«

Ich runzelte die Stirn.

»Wie liebevoll.«, murmelte ich sarkastisch.

»Tja, Mom war noch nie liebevoll, nur Karriere geil.«

»Sie hat viel Geld?«

»Natürlich, hier haben jede Eltern der Schüler Geld. Sonst wären sie nicht hier.«

Ich nickte. Ich hatte doch tatsächlich vergessen dass das hier eine Eliteschule war.

»Wohin gehst du eigentlich?«, fragte Chester nach einer Weile.

»Oh. Äh ich weiß nicht.«, meinte ich geschockt und blieb stehen.

Er fasste mich an den Schultern und wollte mich um meiner eigene Achse drehen. Ich wich sofort zurück.

»Fass mich nicht an! Du hörst Mädchen beim Pinkeln zu, das ist ekelhaft.«, fauchte ich.

Doch eigentlich lag es nicht an seinem fragwürdigen Fetisch, sondern daran das ich es hasste berührt zu werden, besonders von Jungen. Es war seitdem der Kerl mich umbringen wollte so. Aber man konnte es mir auch nicht verdenken, nicht wahr? Sir?«

Hass

Amber lehnt sich an die alte Kellerwand hinter sich und kramt eine Zigarettenschachtel aus ihrer zerrissenen Jeans. Sie scheint nicht wirklich da zu sein, starrt einfach Löcher in die Wand und ihr Herz schlägt gleichmäßig.

Jonathan wagt es nicht zu atmen, als ihr Blick an ihm hängen bleibt.

»Wissen Sie was? Ich hab es gehasst.«

»Was?«, krächzt Jonathan leise.

»Na alles. Das komplette verdammte Leben. Und wissen Sie auch warum? Alles ist eine Farce, und man ist eingesperrt in der Verklemmtheit anderer Leute und warum? Weil es einem vorgelebt wird! Wissen sie eigentlich wie schlimm Menschen sind?«

»Menschen sind doch nicht schlimm! Es gibt Unmengen an guten Menschen.«, protestiert der Doktor leise.

»Alle Monster die es gibt sind menschlich, Sir. Da habe ich keinen Zweifel und in jedem guten Menschen steckt auch etwas Böses. Kein Mensch ist wirklich rein.«

Dr. Shaffer schweigt einen Moment und meint dann:

»Mein Vater hat früher immer gesagt: Es reicht wenn Gott für uns rein ist.«

»Dann war Ihr Vater ein Idiot. Es gibt keinen Gott. Gott ist eine Illusion.«

»Wahrscheinlich. Aber warum glaubst du es so sehr?«

»Die Bibel verrät sich doch selber. Außerdem ist alles sehr widersprüchlich, wenn Gott so ein guter Kerl ist, warum ist das Leben dann so schrecklich?«

Jonathan blickt sie analysierend an.

»Naja, ich will Sie ja nicht langweilen, Sir. Wo war ich stehen geblieben? Ah, ja. Mein erster Tag. Es ging damit weiter das Chester beleidigt weg ging und mich im Gang stehen ließ. Wohl gemerkt wusste ich immer noch nicht wo ich war.

Genervt ging ich den Gang entlang und suchte nach irgendjemanden oder irgendwas was mir bekannt vor kam. Als es dann klingelte wurde ich leicht panisch. Beruhigte mich aber. Ich meine ich konnte ja durchaus sagen das ich mich verlaufen hatte, immerhin war ich ja neu.

Als ich Stimmen wahrnahm entspannte ich mich gänzlich. Horchte aber auf als ich ein Knurren hörte. Ich versteckte mich hinter ein paar Schließfächern und sah zu dem Geschehen was sich knapp 3 Meter vor mir abspielte.

Vor mir stand Violette und neben ihr stand ein riesiger blasser Kerl. Seine Haut war käsig und ziemlich fahl, außerdem waren seine Augen blutunterlaufen und er schrie. Er schrie sie an, Sir. Als wäre er Godzilla und sie ein kleines Mädchen welches sich kaum vor ihm schützen konnte. Er schrie so laut das ich die Worte die er schrie kaum verstand.

Doch ohne sie zu verstehen, war mir klar das dieser gruselige Typ echt wütend war. Dann geschah es, der Kerl holte weit aus und schlug ihr mitten ins Gesicht. Man konnte das Klatschen was seine Hand auf ihrem Gesicht verursachte durch den ganzen Flur hören, so doll war es.

Ich hielt mir die Hand vor das Gesicht, als Blut aus Violettes Nase lief.

Und was tat ich, Sir? Ich tat rein gar nichts. Ich drehte mich um und lief feige in die entgegengesetzte Richtung.«

 

 

Nathan

Dr. Shaffer sieht Amber schweigend an.

»Nun kommt die gloreiche Frage, warum bin ich einfach wegegangen, Sir? Besitze ich kein Gewissen mehr? Sagen sie es mir schon, bin ich ein durch und durch schlechter Mensch?«

Jonathan schüttelt schnell den Kopf.

»Ich glaube...du hattest einfach angst.«

»Angst«

Amber lacht.

»Das letzte was ich in dieser Situation empfand war angst, Doktor.«

Dr. Shaffer rüttelt unbewusst an seinen Fesseln und räuspert sich.

»Nun, vielleicht wusstest du einfach nicht was du tun solltest? Menschen neigen zur Hilfeunterlassung, wenn diese angst haben durch unkoordiniertes Verhalten eine Situation zu verschlimmern.«

Amber runzelt die Stirn.
»Vermutlich haben Sie recht.«, meint sie und fuhr mit ihrer Geschichte fort, »Holen Sie das Popkorn heraus, Sir, denn nun kommt er. Er den ich hasse und gleichzeitig liebe.

Er dessen Name Nathan war, Ashs Zimmergenosse. Er hatte die tollsten, blauen Augen die ich je gesehen habe und er war der erste Mensch bei dem ich sogleich das Gefühl empfand ihm die Augen mit einem Messer entfernen zu wollen, ihm Schmerzen bereiten zu wollen. Aber das nur weil Nathan so unglaublich hassenswert war.

Sie kennen doch sicherlich diese Typen, die sich für obercool halten und deswegen andere Leute schikanieren, nicht? Ja genau so einer war Nathan und er war obendrein Ashs Bruder. Man, ich hatte Ash dafür so bemitleidet.

Ich traf Nathan das erste Mal beim Schwimmen, wir mussten uns im Internat drei Pflichtkurse aussuchen, die etwas mit Sport zu tun hatten und ich hatte Schwimmen, Volleyball und Tennis ausgesucht. Die drei Sportarten von denen ich dachte sie wären am Wenigsten anstrengend.

Jedenfalls hatte ich Schwimmen und irgendwie bereute ich es bereits in der Umkleide Schwimmen gewählt zu haben. Denn so wie jedes Mädchen in meinem beschissenen, phasendepressiven Alter, hatte ich ein Problem mit meinem Körper. Ich hasste meinen nicht ganz flachen Bauch, hasste meine Oberschenkel, obwohl die eigentlich völlig in Ordnung waren und ich hasste meine Brüste.

Jedenfalls war deshalb Schwimmen eigentlich nicht so vorteilhaft gewesen.

Als ich aus der Umkleide trat war die erste Person die mir auffiel Nathan gewesen.

Er sah allerdings auch unheimlich gut aus, Sir. Einen beachtlichen Sixpack, schöne Beine, ein perfektes Gesicht und er war groß. Um die 1,90m etwa.

Und ich hasste ihn sofort deswegen.

Zu meinem Glück, oder vielleicht gar Unglück, hatte Violette auch den Schwimmkurs gewählt und stand nun in einem blassrosanen Badeanzug, der von meiner Oma hätte stammen können, und mit einer ebenso rosanen Badekappe neben mir und meinte:
»Das ist Ashs Bruder, er ist auch sein Zimmergenosse. Ziemlich fieser Typ.«
»Warum sagst du mir das?«, fragte ich wütend, »Mich interessiert es nicht.«
Sie lächelte.

»Na du hast ihn so angeschaut.«

»Kennst du das wenn man jemanden anschaut, ihn aber nicht wirklich anschaut sondern eigentlich nur nachdenkt und dabei irgendwas anschaut?«, versuchte ich mich wirr heraus zu reden.

»Ja das kenne ich. Aber so hast du nicht geschaut.«

»Wie du willst«, grummelte ich und blickte dann zu dem alten Lehrer der uns die Sicherheitshinweise vorlas.

Der Typ sah so zerbrechlich, alt und krank aus, das ich mich wunderte warum ausgerechnet er den Schwimmkurs leitete. Er sah mir danach aus, das wenn ein Schüler zu ertrinken drohte, er der Letzte war der diesen aus dem Wasser ziehen konnte.

Als dieser Nathan mich zum ersten Mal wirklich sah, war es komisch Sir. Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Er sah mir fest in die Augen und es war kurz so, als würde er mich mit in eine völlig neue Welt reißen, mir wurde sogar schwindelig. Dabei trat ein merkwürdiger Ausdruck in sein schönes Gesicht.

Im nächsten Moment sah er weg und schrie dann:
»He, wir haben ja eine Neue. Sieht gruselig aus dein Blick!«

Alle lachten.

Ich muss schon sagen, Sir, mich hat das schon ein wenig verletzt, weil er mich davor eben so...so vertraut, fast liebevoll angesehen hatte und nun entpuppte er sich als ein Arsch.

Aber ich hatte ja von Anfang an angefangen ihn nicht zu mögen.

»Mach dir nichts draus«, meinte Violette immer noch fröhlich zu mir, »So was ist bei dem normal.«

Fröhlich hüpfte sie zum Wasser und ich folgte ihr.

Plötzlich klatschte etwas gegen meinen Arsch, es war eine Hand Sir, und sie machte mich verdammt wütend.

»Geiler Arsch«, meinte Nathan monoton und sein Kumpel neben ihm lachte sich einen ab.

Ich konnte ein kleines Zischen meinerseits nicht unterdrücken.
Ehrlich gesagt wäre ich am Liebsten in Tränen ausgebrochen. Ich mochte es nicht mehr wenn ein Junge mich berührte und dann auch noch an so einer Stelle.

Ich klatschte ihm eine.

Und in dem Moment blickte er mich so wütend, so hasserfüllt an, dass ich etwas zurück wich.

»Das wirst du bereuen«, knurrte er und sogar sein Kumpel wich etwas vor ihm zurück.

Ja, so hat alles angefangen, Dr. Shaffer, so hat alles angefangen...«

Ambers Blick huscht auf einen Punkt über Jonathans Gesicht.

 

Sie schweigt.

Impressum

Texte: Alles meins und falls jemand auf die Idee kommen sollte mir auch nur ein bisschen meines Textes zu stehlen, kenne ich meine Rechte.
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Widmung geht an alle die mich unterstützen.

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