Cover

Titel

 

Fred Kruse

Lucy

Besuch aus fernen Welten

(Lucys 1. Abenteuer)

1. Kapitels

 

 

Jugendbuch

Weltraumabenteuer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2011 Fred Kruse

URL: www.lucy-sf.de

 

3. Vollständig überarbeitete Auflage

 

Umschlaggestaltung, Illustration: Udo Kruse-Schulz

Lektorat: Doris Mischke

 

 

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

 

 

 

 

 

Für meine Kinder

 

 

 

 

 

 

Danksagung

Ich danke meinen Kindern, Schwiegerkindern und Gastkindern, die sich als Probeleser zur Verfügung gestellt haben und deren positive Kritik mir Mut zur Veröffentlichung des vorliegenden Werkes gemacht haben.

Ganz besonderer Dank gilt meiner Cousine Doris Mischke für die fantastische Lektoratsarbeit und meinem Bruder Udo Kruse-Schulz für das wunderschöne Cover.

Nicht zuletzt danke ich meiner Frau Annemarie, dass sie mich während der Entstehung des Buches ertragen hat.

 

Fred Kruse

Ferienfreizeit

Gelähmt starrte sie auf zwei hellgrüne Augen mit winzigen Pupillen, die sie bewegungslos beobachteten. Es geschah nichts und doch schnürte ihr die Angst die Kehle zu.

Dämmerlicht hüllte sie ein. Der Raum strahlte Kälte aus. Die Wände bestanden aus grob behauenem, feuchtem Felsgestein. Allein und vor Angst gelähmt lag sie in dieser Felshöhle.

Mit einem Ruck setzte Lucy sich in ihrem Bett auf. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Was hatte sie für einen bescheuerten Unsinn geträumt? Sie atmete tief durch. Endlich beruhigte sie sich so weit, dass sie wieder denken konnte. Glücklicherweise sah sie niemand. Lucy ärgerte sich. Normalerweise gehörte sie nicht gerade zu den ängstlichen Typen, zumindest zeigte sie ihre Angst nicht. Sich so in einen derart dämlichen Traum hineinzusteigern, war albern.

Erschöpft rieb sie sich die Augen. Sie musste wieder eingeschlafen sein, nachdem ihre Mutter sie geweckt hatte. Das wunderte sie nicht, die letzte Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Alle Glieder und besonders der Kopf fühlten sich bleischwer an. Mit diesem Gefühl wachte sie seit Monaten jeden Morgen auf, sie hatte einfach keine Lust aufzustehen.

Ihr Blick fiel auf den Wecker. Es konnten nicht mehr als zehn Minuten gewesen sein, die sie gedöst hatte, nur um in diesen schrecklichen Traum zu fallen. Besser sie stand jetzt auf. Die vorwurfsvolle Stimme, mit der ihre Mutter sie zum zweiten Mal wecken würde, konnte sie am heutigen Morgen vor dem Frühstück nicht ertragen.

›Lucy‹ wurde sie nur gerufen. Eigentlich hieß sie Lucinda. Allerdings nannte sie niemand bei ihrem richtigen Vornamen. Seit ihrer Geburt oder zumindest seit sie sich erinnern konnte, wurde sie Lucy genannt. In den letzten Monaten hatte sie überlegt, ob sie in Zukunft nicht doch ihren richtigen Vornamen benutzen sollte. Lucinda hatte sie sich in einem Chat genannt, um auszuprobieren, wie sich ihr richtiger Name anfühlte. Aber über solche Spielereien hinaus konnte sie sich bisher nicht mit einer Änderung ihres Rufnamens anfreunden.

Lucinda passte zumindest besser zu der Musik, die sie am liebsten hörte. Gothic Metal, diese dunklen, harten Klänge, mit denen sie ihre Eltern entweder zur Weißglut brachte oder in tiefe Besorgnis stürzte. Sehnsüchtig sah sie zu ihrer kleinen Anlage hinüber. Wie gerne würde sie sich jetzt wieder ins Bett legen und Musik hören.

Sie griff zur Fernbedienung und stellte die Anlage an. Ihr Lieblingsstück erklang. Streicher, ein Orchester bildeten die Einleitung. Endlich setzten die Gitarren ein und der Bass. Eine helle Frauenstimme übertönte alles. Als das tiefe Growling des Sängers erklang, schaltete sie die Anlage wieder ab. Jetzt würde nur noch fehlen, dass ihre Mutter in der Tür stand.

Lustlos stand sie auf und trottete ins Bad. Und das um diese Zeit, am ersten Tag der Ferien! Sie hätte ausschlafen können. Den ganzen Tag hätte sie machen können, was sie wollte. Nach niemandem hätte sie sich richten müssen. Stattdessen hatte sie sich auf diese Sache eingelassen. Womöglich war das sogar der Auslöser für diesen albernen Albtraum.

Lucy zog sich aus und stieg unter die Dusche.

Alles fing mit diesem blöden Prospekt an. Er lag auf dem Küchentisch herum und zog sie magisch an. Als wäre sie hypnotisiert worden. Das war es, irgendwer musste sie hypnotisiert haben! Wie wäre sie ansonsten auf die Idee gekommen, an einer Sportfreizeit für Jugendliche teilzunehmen? Sie, das garantiert unsportlichste Mädchen der ganzen Schule.

Ihre Eltern zu überreden hatte viel weniger Mühe gekostet, als vorgestellt. Als einzigen Einwand stellte ihrer Mutter die Frage:

„Eine Ferienfreizeit, die am ersten Tag der Ferien beginnt und fast bis zum Ende geht, wo gibt es denn so etwas?“

Auf diese rhetorische Frage hatte Sie keine Antwort erwartet. Schließlich stand es so in diesem Prospekt. Woher sollte Lucy wissen, was die Veranstalter sich dabei gedacht hatten? Letztendlich war dieser Punkt kein Hindernis für ihre Eltern gewesen, der Reise zuzustimmen. Lucy hatte das Formular auf der Rückseite des Prospektes ausgefüllt und abgeschickt.

Die Theorie mit der Hypnose gefiel ihr. Sie erklärte wenigstens ihre Umnachtung, sich zu so einer bekloppten Freizeit anzumelden. Allerdings gab es da einen Haken: Wer um alles in der Welt sollte ausgerechnet sie hypnotisieren, um sie bei einer Sportfreizeit dabei zu haben?

Nachdenklich vor dem Badezimmerspiegel stehend rubbelte sie sich trocken. Sie setzte ihre Brille auf, um das Elend, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, besser erkennen zu können.

Im letzten Schuljahr hatte sie sich fest vorgenommen abzunehmen. Das Ergebnis sah sie im Spiegel in Form eines furchtbaren Schwimmrings um Bauch und Taille. Von den Oberschenkeln ganz zu schweigen. Selbst richtiges Hungern nutzte nichts. Jedes Mal, wenn sie ein Kilo abnahm und sich daraufhin zur Feier des Tages etwas Leckeres gönnte, zeigte die Waage gleich wieder zwei Kilo mehr an.

Als sie einen Artikel über Magersucht gelesen hatte, dachte sie, endlich die Lösung gefunden zu haben. Sie steckte sich den Finger in den Hals, bis sie sich übergeben musste. Das war so ekelig, dass sie beschloss, lieber mit einem Schwimmring um den Bauch herumzulaufen, als mit einem Geschmack nach Erbrochenem im Mund. Überhaupt, wenn jemand sie mochte, sollte er sie wegen ihrer inneren Werte lieben und nicht wegen ihres Körpers.

Das Bild im Spiegel verschwamm. Oh Gott, nicht schon wieder! Das war erledigt. Sie würde nicht mehr heulen, nicht wegen so eines Idioten.

Wie konnte man auch so dämlich sein? Nur weil dieser Kerl, Olli aus der Parallelklasse, sich einmal eine Stunde oder so mit ihr unterhalten hatte, hatte sie sich in ihn verliebt. Und was war passiert? Eine Woche später – sie hatte die ganze Woche überlegt, wie sie ihn wiedertreffen könnte – läuft er mit Laura, einem Mädchen aus der zehnten, also einer Klasse unter ihr, herum. Natürlich ist die so ein totaler Hungerhaken. An der ist absolut nichts dran, kein Fett am Körper und kein Hirn im Kopf.

Lucy wusste, dass sie ungerecht dem Mädchen gegenüber war. Sie kannte sie überhaupt nicht, aber allein vor dem Spiegel würde man ja auch mal etwas Gemeines denken dürfen.

Egal, wegen so eines Kerls würde sie nicht heulen. Sie würde überhaupt nicht mehr aus Schmerz heulen. Die Tränen flossen aus reiner Wut. Dieses Problem verfolgte sie, seit sie denken konnte. Wenn irgendetwas schrecklich ungerecht und sie völlig hilflos war, musste sie vor Wut heulen. Ihre Hände verkrampften sich um das Waschbecken.

Auch auf dieser blöden Freizeit würde sie sich nicht unterkriegen lassen. Sollten die anderen doch lachen, wenn sie sich wieder einmal besonders ungeschickt anstellte oder die Aufgaben nicht schaffte. Sollten sie doch lästern, weil sie nicht mit einer Model-Figur im Bikini herumlief.

Vielleicht traf sie dort einen Jungen, der sich mehr für ihre Persönlichkeit interessierte. Klar, davon konnte man natürlich mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit ausgehen, auf so einer Sportfreizeit! Lucy streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus.

Sie zog sich an. Wie gewöhnlich kleidete sie sich in weite, dunkle Sachen. Die versteckten besonders gut die Stellen, die Lucy an sich hasste. Außerdem passten sie zu ihrem Musikgeschmack. Nicht dass sie sich dieser Szene zugehörig fühlte, sie fand diese schwarzen Kutten albern, die einige Jugendliche trugen. Sich irgendwelche Löcher an empfindliche Stellen im Gesicht stechen zu lassen, kam schon gar nicht infrage. Überhaupt schreckten Jugendcliquen sie ab, besonders dann, wenn sie sich an Äußerlichkeiten orientierten.

Das Ankleideprogramm war beendet. Sie konnte es nicht mehr hinauszögern, an den Frühstückstisch zu gehen. Ihr Zimmer lag im ersten Stock eines Einfamilienreihenhauses in einer norddeutschen Kleinstadt.

Vergeblich suchte sie nach dem am Vorabend gepackten Koffer. Im Flur neben ihrem Zimmer stand er nicht mehr. Ihre Eltern hatten ihn sicher hinuntergetragen und irgendwelche unnützen Dinge eingepackt, von denen sie dachten, Lucy würde sie dringend brauchen.

»Na, da bist du ja endlich«, begrüßte ihre Mutter sie, als Lucy die Küche betrat. Sie bestrich gerade ein Brötchen.

»Morgen Lucy, na bist du fit?«, fragte ihr Vater. Er sah sie über seine Zeitung hinweg an.

Lucy setzte sich auf ihren Platz. Auf dem Teller vor ihr lag eine mit Käse belegte Brötchenhälfte. Lucy starrte sie an. Sie hasste es, auf diese Weise bevormundet zu werden. Aber wie jeden Morgen fehlte ihr die Kraft, sich zu streiten.

»Nun fang schon an zu essen«, forderte ihre Mutter sie auf. »Papa hat heute Morgen extra Brötchen für dich geholt.«

»Ich habe gar keinen Hunger«, maulte Lucy.

»Bist schon ganz schön aufgeregt, was? Ja, das ist dein erster Urlaub ohne Mama und Papa.« Ihr Vater grinste sie freundlich an.

Oh, wie peinlich! Sie war schließlich kein Kind mehr und natürlich hatte sie schon alleine Reisen unternommen. Sie hatte schließlich an Klassenfahrten teilgenommen und die Großeltern hatte sie schon mit acht Jahren ohne Eltern besucht. Nur war sie noch nie auf die Idee gekommen, sich für etwas so ausgesucht Dämliches wie diese Sportfreizeit freiwillig zu melden.

»Lucy, nun iss endlich! Weißt du eigentlich, wie lange die Fahrt bis zum Mittelmeer dauert?«, fragte ihre Mutter. »Ich finde nach wie vor, dass so eine Reise viel zu weit ist, um mit dem Bus zu fahren.«

»Das haben wir doch schon alles besprochen«, antwortete ihr Vater resigniert. »Schülergruppen fahren fast immer mit dem Bus, weil das die billigste Art zu Reisen ist. Außerdem macht den Jugendlichen so eine Fahrt lange nicht so viel aus, wie alten Leuten wie uns.«

»So alt sind wir nun auch wieder nicht!«, gab Lucys Mutter leicht beleidigt zurück. »Hoffentlich fährt der Fahrer vorsichtig. Es werden doch wohl zwei Busfahrer mitfahren.«

Vater schnaufte. »Das sind Profis. Die fahren jeden Tag Bus.«

»Warum bist du eigentlich heute Morgen da, Papa?«, wechselte Lucy schnell das Thema, bevor ihre Eltern sich weiter streiten konnten.

»Ich habe mir heute freigenommen«, antwortete Vater und legte sogar einen Moment seine Zeitung beiseite.

»Mama und ich fliegen morgen auch in den Urlaub. Das erzählen wir dir doch schon seit Wochen. Gestern Abend das letzte Mal, wenn ich mich nicht irre. Hörst du uns eigentlich gar nicht zu?«

Lucy sah schuldbewusst auf die geschmierte Brötchenhälfte, die vor ihr auf dem Teller lag. Daran, dass ihre Eltern auch in den Urlaub fahren würden, hatte sie nicht mehr gedacht. Sie beschäftigten viel zu sehr ihre eigenen Probleme.

»Wo fliegt ihr hin?«, fragte Lucy gleichgültig, nur um etwas zu sagen. Ihre Eltern hatten ihr das schon mindesten dreimal erzählt, aber sie hatte es gleich wieder vergessen. Wen interessierte schon, wohin die Eltern ihre »interessante« Städtereise mit »viel Kultur«, alten Kirchen, Museen und, was es noch an langweiligem Zeug gab, machten. Man stelle sich vor, eine Städtereise mitten im Sommer! Gut, dass sie nicht mitfahren brauchte. Schlimmer konnte es auf dieser Ferienfreizeit auch nicht werden.

»Das haben wir dir doch schon x-mal erzählt«, antwortete der Vater mittlerweile kopfschüttelnd. »Besonders interessieren scheinst du dich nicht für uns. Es geht nach Italien, aber das hast du ja sowieso gleich wieder vergessen.«

»Ist Nils noch im Bett?«, fragte Lucys Mutter. »Der könnte seiner Schwester auch ruhig ›tschüss‹ sagen.«

»Lass ihn doch schlafen. Heute ist schließlich der erste Ferientag«, erwiderte Lucy ungewohnt fürsorglich. Gut, dass die Nervensäge von jüngerem Bruder heute Morgen hier nicht auch noch herumsprang.

»Also, was ist? Isst du dein Brötchen noch oder soll ich es dir einpacken? Der Bus wird jeden Moment da sein«, drängelte die Mutter.

Bevor Lucy etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür. Die Mutter sprang sofort auf und öffnete. Lucy konnte von der Küche aus nicht verstehen, was gesagt wurde, aber es musste sich um den Busfahrer, Reiseleiter oder was er sein mochte, handeln.

Betont lässig erhob sich Lucy von ihrem Stuhl. Sie ignorierte alle Zweifel, die sie zurückhalten wollten. Entschlossener als sie sich fühlte ging sie zur Tür. Ihr Vater folgte ihr.

In der Haustür stand ein Mann, der merkwürdig wirkte. Er war für das kühle und diesige Wetter, das in diesem Frühsommer in Norddeutschland herrschte, unpassend gekleidet, fand Lucy. Neben kurzen, dünnen Shorts trug er ein kurzärmliges T-Shirt und Sandalen. Vielleicht sollte das motivierend für einen Strandurlaub wirken.

»Da ist ja unsere Urlauberin«, sagte er zu den Eltern.

»Hallo Lucy!«, begrüßte er sie.

Er lächelte, aber es wirkte kalt. Etwas stimmte nicht. Das Lächeln war auf eine undefinierbare Weise unecht.

»Na ja, so ein komischer Pädagoge«, dachte Lucy, nickte aber in seine Richtung.

»Sehr schön. Ich nehme dann mal den Koffer. Das ist doch der dort drüben?«, fragte er und ergriff ihn, nachdem die Mutter genickt hatte.

Lucy fiel auf, dass ihre Eltern diesen Reiseleiter oder was er sein mochte, ebenfalls etwas verwundert betrachteten. Die Eltern begleiteten sie bis zur Gartenpforte. Lucy nahm beide noch einmal steif in den Arm. Sie ließ sich von niemandem gern berühren und in ihrem Alter von den Eltern geherzt zu werden, empfand sie als peinlich. Wer wusste schon, wer sie gerade beobachtete.

»Das ist ja ein Kleinbus! Ich dachte, wir fahren mit einer ganzen Jugendgruppe«, sagte Lucy zu dem Fahrer, nachdem die Verabschiedung beendet war.

»Ich habe das den anderen schon erklärt. Ihr werdet von eurem Städtchen aus zu einem Sammelpunkt gebracht. Ab dort beginnt die eigentliche Reise«, erwiderte der Reiseleiter kühl, bei dem es sich dann wohl doch eher um den Busfahrer handelte.

Er öffnete die Seitentür des Fahrzeugs.

»Hier geht es hinein«, sagte er.

Lucy hatte sich während des Frühstücks davon überzeugt, dass diese Freizeit das Beste war, was diese Ferien zu bieten hatten. Schon im nächsten Moment verflog dieser Optimismus.

»Hallo Lucy, ich hätte nicht gedacht, dass du mitfährst«, begrüßte sie der Junge schüchtern, der direkt hinter dem Sitz des Fahrers saß. Es handelte sich um den Jungen aus ihrer Klasse, den sie am Allerwenigsten auf so einer Freizeit erwartet hätte. Er galt als der absolute Oberstreber.

»Hi Christoph, was willst du denn auf 'ner Sportfreizeit? Da gibt’s keine Bücher und keinen Computer«, antwortete Lucy abweisend.

»Na ja, das Gleiche wie du, denke ich«, erwiderte Christoph unsicher und schob seine Brille die Nase hoch.

Der Kerl konnte einem mit seiner ewigen Besserwisserei zwar fürchterlich auf die Nerven gehen, aber einen Vorteil gab es bei dieser Konstellation, man würde auf dieser Freizeit nicht nur über sie lachen.

Lucy ließ sich auf den Platz hinter dem Beifahrersitz plumpsen. Sie spürte Blicke in ihrem Nacken und drehte sich um.

»Hallo Lucy!« Die widerlich süße Stimme von dem Platz hinter Christoph gehörte einem Mädchen aus der Parallelklasse.

Lucy sah ihr direkt in die Augen. Jetzt ganz cool bleiben! Sie senkt zuerst den Blick, nicht du. Lucy zwang ein kühles Lächeln auf ihr Gesicht.

»Hi Kim«, erwiderte sie kalt. Nur mit Mühe gelang es ihr, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Dass sich solche Mädchen für so eine Freizeit anmeldeten, hätte sie sich denken können, aber das es gleich dieses … dieses Häschen sein musste, das machte die Reise schlimmer als all ihre Albträume.

Warum war die Welt bloß so ungerecht? Die hatte alles! Diese schönen, großen, braunen Augen, nicht solche null-acht-fünfzig grünblauen wie sie selbst. Natürlich hatte sie auch nicht diese durchschnittlichen, straßenköterblonden, langweilig glatten Haare, sondern lustige, braune Locken, die ihr Puppengesicht umrahmten.

Sie trug genau die Sachen, auf die die Jungs gerade abfuhren. Das stellte für sie allerdings auch keine Kunst dar. Wenn man so einen Körperbau besaß, brauchte man ja nur in den nächsten Laden zu gehen und das zu kaufen, was wieder mal irgendeine zweitklassige Pop-Sängerin zur Mode gemacht hatte. Lucy traute sich bei ihrer Figur mit solchen Klamotten nicht auf die Straße und bei den Jungen wäre sie damit schon gar nicht angekommen.

Das Einzige, was dieser Kim fehlte, war das Hirn. Im letzten Schuljahr, also der elften Klasse, war sie an Fasching doch tatsächlich mit ihren genauso dämlichen Freundinnen, verkleidet wie eines dieser Häschen aus einem Männermagazin in der Schule aufgetaucht. Karneval wurde in ihrem Städtchen normalerweise nicht gefeiert, aber am Rosenmontag richtete man für die Kleinen in der Schule Fasching in den Klassen aus. Natürlich wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, dass sich ältere Schüler daran beteiligen könnten.

Kim und ihre Freundinnen erreichten mit Ihrem Auftritt genau das, was sie wollten. Die Jungen, auch die aus den älteren Klassen, fanden es lustig und cool, und die Lehrer regten sich furchtbar auf.

Seit diesem peinlichen Vorfall – zumindest hatte Lucy ihn schrecklich peinlich gefunden – hatte sie Kim in Gedanken nur noch ›das Häschen‹ genannt. Nein falsch, Kim ist seitdem das Oberhäschen, dem die anderen Häschen hinterherlaufen.

Mit einem lauten Rollgeräusch, gefolgt von einem blechern klingenden Knall, schloss sich die Schiebetür des Kleinbusses.

»Oh Mann, hoffentlich hält die Kiste bis zum Treffpunkt durch«, tönte es vom Sitz hinter Lucy.

Sie drehte sich automatisch um. Lars, der Junge hinter ihr, hob lässig die Hand zum Gruß.

»Hi«, brachte Lucy weniger kalt hervor, als sie es sich gewünscht hatte. Schnell drehte sie ihren Kopf wieder nach vorn. Ausgerechnet dieser Kerl fuhr mit.

Er gehörte zu den Typen, die alle Mädchen ab der dritten Klasse anhimmelten. Kein Wunder, dass er scheißarrogant war, dabei sah er unverschämt gut aus. Die blonden Haare hatte er modisch geschnitten. Im Gegensatz zu vielen anderen Jungen ihrer Schule stand ihm dieser Haarschnitt sogar gut. Lucy würde im Leben nicht zugeben, dass sie besonders seine frechen blauen Augen faszinierten und sie ein Kribbeln spürte, wenn er sie nur ansah.

Lars hatte leider den gleichen Fehler, mit dem alle halbwegs akzeptablen Jungen ihrer Schule herumliefen. Sie interessierten sich ausschließlich für Mädchen wie diese Häschen. Was es viel schlimmer machte, es fehlte ihm, wie den anderen auch, an Hirn.

Automatisch fragte Lucy sich, ob er und Kim ein Paar waren und sich gemeinsam angemeldet hatten. Sie wusste nicht warum, aus irgendeinem Grund würde sie das noch mehr ärgern. Hoffentlich war dieses Ferienlager groß genug, um den beiden aus dem Weg zu gehen.

Lucy schnallte sich an. Christoph beobachtete sie neugierig.

»Schön, dass du auch mitkommst«, sagte er und lächelte sie an. Im nächsten Moment merkte er offensichtlich, dass diese Äußerung auch falsch verstanden werden könnte.

»Ich meine, weil wir uns ja kennen und so«, stammelte er und wurde rot.

Lucy wusste nicht, was sie davon halten sollte. Einerseits gehörte er zu den wenigen Jungen ihrer Klasse, mit denen sie sich überhaupt unterhielt, andererseits tat er sich als der absolute Streber hervor und konnte einem furchtbar auf die Nerven fallen mit seiner Besserwisserei. Deshalb nannten ihn alle ›Professor‹.

Auch optisch konnte man ihn nicht gerade als Hit bezeichnen. Auf seiner Nase saß eine Nickelbrille mit so dicken Gläsern, dass seine Augen ganz klein wirkten. Er besaß einen spindeldürren Körper, dessen Bewegungen steif und ungelenk wirkten. Im Sportunterricht gehörte er zu den schlechtesten unter den Jungen. Dass er nicht zu den großen Sportlern zählte, fand Lucy allerdings sympathisch. Sie galt in diesem Fach schließlich auch als eine der Nieten ihrer Klasse.

Auch wenn sie es als ein bisschen peinlich empfand, sich mit jemandem wie Christoph blicken zu lassen, so war es tausendmal besser, als mit diesen beiden Trotteln auf der Rückbank reden zu müssen.

Der Fahrer hatte sich unterdessen ans Steuer gesetzt. Er drehte sich nach den vier Jugendlichen um, die auf den beiden Sitzbänken hinter dem Fahrersitz saßen.

»Auf geht’s!«, rief er mit einem Lächeln, das nicht zum Rest des Gesichts passte. Lucy konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas stimmte nicht. Sie merkte, wie sich die kleinen Härchen auf ihren Armen aufstellten.

»Wir werden eine ganze Zeit gemeinsam verbringen. Ihr könnt mich ›Jonny‹ nennen«, redete er weiter und stieß etwas aus, das sicher ein Lachen sein sollte. Lucy beschloss, dass sie den Kerl nicht mochte.

Der Bus schlängelte sich durch die Straßen der kleinen Stadt und fuhr dann über die Landstraße.

»Wie lange dauert es, bis wir an der Sammelstelle ankommen? Bei dem Tempo kann das ja ewig dauern!«, kam es lässig von hinten.

Lars musste wieder den großen Rennfahrer herauskehren. Das war nur noch peinlich, zumindest für alle, die Bescheid wussten, und dabei handelte es sich mindestens um alle Jugendlichen in diesem Bus. Lars hatte es vor Kurzem fertiggebracht, den Wagen seines Cousins zu stehlen. Die tolle Fahrt endete an einem Baum. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich nicht stärker verletzt hatte, als die paar Schürfwunden und leichte Quetschungen, die er davon getragen hatte.

Wie blöd konnte man eigentlich sein? Jetzt hatte er neben dem Ärger noch eine Führerscheinsperre und würde als Letzter von ihnen allen ein Auto fahren dürfen. Seine Eltern besaßen immerhin genug Geld, um den materiellen Schaden zu regeln. Wäre Lucy so etwas passiert, hätte sie die nächsten Jahre nur noch für ihre Schulden jobben können.

Auch das war so eine Ungerechtigkeit. Sie besaß nicht mal genug Taschengeld für diesen Urlaub. Hätte ihre Mutter ihr nicht zu guter Letzt noch etwas zugesteckt, hätte sie nur eine kleine Spende von Oma und Opa in der Tasche gehabt. Sie wollte ja jobben, aber das hatte nicht geklappt, wie nichts in den letzten zwei Jahren. Gut, das stimmte nicht ganz. Immerhin war sie am Ende der letzten zwei Schuljahre versetzt worden, obwohl ihre Klassenlehrerin meinte, dass ihr das eigentlich nicht zustand bei ihrer Faulheit.

»Professor, du wolltest uns noch erzählen, wie ausgerechnet du auf die Idee gekommen bist, dich zu dieser Freizeit anzumelden«, tönte Lars von hinten. Lucy stieg kalte Wut in die Wangen, dieser arrogante Widerling. Aber Christoph begann, brav zu erzählen:

»Ja, du hast recht. Eigentlich bin ich nicht so ganz der Typ für so eine Sportfreizeit.« Er schob seine Brille bis zur Nasenwurzel hoch. Das machte er auch in der Schule, wenn er nervös war. »Aber es war komisch. Als ich diesen Prospekt gesehen habe, dachte ich, da müsste ich unbedingt hin. Ich weiß auch nicht, was in dem Moment über mich gekommen ist, aber ich konnte nicht anders, ich musste das Anmeldeformular ausfüllen.«

»Das ist komisch. So ging es mir auch«, sagte Kim mit ihrer widerlich sanften Stimme.

Trotzdem wurde Lucy hellhörig. Sie war davon ausgegangen, dass es sich bei Kim mit ihrer Figur um eine super Sportlerin handelte. Nun erinnerte sie sich, dass sie beim Sportunterricht fast immer mit irgendeiner Ausrede fehlte. Die beiden gingen zwar in Parallelklassen, hatten aber den Sportunterricht gemeinsam.

Lucy lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie wusste bis heute nicht, was sie auf dieser Freizeit sollte und warum sie dieses Anmeldeformular ausgefüllt hatte.

»Na gut, dass wir wenigstens einen dabei haben, dem die ganze Sache Spaß machen wird«, sagte sie so cool wie möglich.

»Meinst du etwa mich?«, rief Lars wütend. »Ich hatte mich zu einem viel spannenderen Urlaub angemeldet, mit Strand, Party und coolen Leuten. Keine Ahnung, was mich da geritten hat. Ich könnte mich heute noch in den Hintern beißen. Wenn die glauben, ich lass mir von denen sagen, was ich den Tag über zu tun habe, werden die sich noch wundern. Den ganzen Tag irgendwelche Kinderspiele machen, ich glaube, es geht los!«

Von Kinderspielen stand im Prospekt nichts, dachte Lucy. Viel schlimmer, es ging um Ballspiele, Surfen und all solche Sachen, die sie nicht konnte und bei denen sie immer eine lächerliche Figur abgab.

»Habe ich das richtig verstanden, ihr befürchtet, es könnte euch zu langweilig werden?«, rief der Fahrer von vorne. »Keine Angst, es wird der spannendste Urlaub eures Lebens. Das ist versprochen.«

Er grinste und gab ein weiteres Mal sein merkwürdig klingendes Lachen von sich.

Sie fuhren auf die Autobahn. Erstaunlicherweise war sie leer. Der Motor heulte auf und der Wagen zog mit einer Beschleunigung an, die keiner der vier Mitfahrer diesem Modell zutraute. Die vier Jugendlichen wurden in ihre Sitze gepresst. Beängstigend nahm die Geschwindigkeit von Minute zu Minute zu.

Lucys Hände verkrampften sich automatisch um die Sitzlehnen. Das war einfach zu schnell für solch ein Auto.

»Ähm, hallo da vorne«, meldete sich Christoph. »Ist dieser Wagen überhaupt für eine so hohe Geschwindigkeit ausgelegt? Bei so hohem Tempo verliert man nämlich schnell die Kontrolle.«

Seine Hände hatten ebenfalls krampfhaft die Sitzlehnen umfasst. Er starrte wie ein paralysiertes Kaninchen gerade aus.

»Wir müssen uns ein wenig beeilen. Wir wollen doch die anderen auf dem Sammelplatz nicht verpassen«, antwortete der Fahrer sachlich.

Lucy sah, dass er in der gleichen Haltung am Steuer saß wie vorher. Sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Ihm schien diese Geschwindigkeit nichts auszumachen.

»Also, schnell fahren, finde ich ja gut. Aber haben Sie dafür eine Ausbildung. Das sollte man schon können«, mischte sich Lars ein. Er gab sich große Mühe cool zu klingen, aber Lucy hörte jetzt auch bei ihm Angst heraus.

»Du musst es ja wissen«, höhnte Kim.

Schade, dass Lucy jetzt nicht Lars‘ Gesicht sehen konnte. Die beiden schienen doch kein Paar zu sein, fies, wie Kims Stimme geklungen hatte. Lucy wusste nicht warum, aber es beruhigte sie ein bisschen.

»Also mir reicht’s!« Christophs Stimme klang entschlossener als normalerweise. »Ich steige jetzt aus, und zwar sofort!«

Er fummelte an seinem Sicherheitsgurt.

»Hey, was ist das denn? Der geht nicht mehr auf!«, schrie er.

»Meiner auch nicht«, stimmte Lars ein. »Was soll das? Was machen Sie mit uns?«

Lucy versuchte jetzt ebenfalls, ihren Sicherheitsgurt abzuschnallen. Es ging nicht. Langsam wurde sie unruhig. Hier stimmte etwas nicht oder besser gesagt, hier stimmte überhaupt nichts.

Hinter sich hörte sie Lars wild fluchen. Christoph versuchte, seinen Gurt mit Ziehen und Zerren zu lösen. Dann fummelte er wieder am Verschluss. Es schien alles nicht zu helfen.

Immer schneller flog die Landschaft an ihnen vorbei. Der Motor dröhnte, das Laufgeräusch der Reifen nahm an Lautstärke zu. Lucy wurde so stark in ihren Sitz gedrückt, wie sie es bisher noch von keiner Autofahrt kannte.

Sie kämpfte die aufsteigende Panik nieder. Um sich abzulenken, betrachtete sie das Gesicht des Fahrers, das sich im Rückspiegel abzeichnete. Seine grünen Augen waren starr auf die Straße gerichtet. In diesem Moment wurde ihr bewusst, was nicht stimmte. Die Augen! Sie hatte diese Augen in diesem kurzen schrecklichen Albtraum gesehen. Eine extrem helle Iris umrundete extrem kleine Pupillen. Das machte seinen Blick so stechend. Auch der Rest des Gesichts trug zu dem Eindruck bei. Es wirkte steif, ja unbeweglich.

»Hey da vorne, sind Sie verrückt? Wir heben ja gleich ab!« Jetzt klang Lars eindeutig ängstlich. Dennoch konnte Lucy sich nicht darüber freuen, diesen Großkotz zittern zu sehen, ihr ging es nicht besser.

Dann passierte es. Das Laufgeräusch der Räder verstummte. Man hörte nur noch den Motor brummen. Die Schnauze des Wagens stieg nach oben und der Kleinbus gewann an Höhe. Lucy und die anderen lagen jetzt mehr in ihren Sitzen, als sie saßen. Langsam entfernte sich der Boden, die Bäume die Landschaft und alles andere. Sie flogen.

Für einen Moment herrschte absolute Stille in der Fahrzeugkabine, abgesehen von dem Geräusch des Motors.

»Das gibt’s nicht!«, flüsterte Christoph. Er klang vollkommen entsetzt.

»Hey Mann, sind Sie völlig übergeschnappt? Sie können mit so einer Kiste doch nicht fliegen! Sie bringen uns ja um!«, schrie Lars. Der Ausspruch war nicht gerade sonderlich intelligent und klang bei Weitem nicht so cool, wie der Junge es sich gewünscht hatte. Die Panik schwang deutlich in der Stimme mit.

»Autos können nicht fliegen. Ich träume!« Mit großen Augen und offenen Mund starrte Christoph aus dem Fenster.

Lucy sah stumm auf die Landschaft, die immer kleiner wurde. Die Straßen, die Autos, die darauf fuhren, die Häuser, alles sah nur noch wie Spielzeug aus. Sie hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Was ging hier vor? Was hatte dieser komische Kerl da vorne mit ihnen vor?

Lucy fiel auf, dass im Gegensatz zu dem ängstlich bibbernden Christoph und dem wütend an seinen Gurten zerrenden und fluchenden Lars, Kim noch nichts gesagt hatte. Neugierig blickte sie sich zu ihr um. Das Mädchen sah mit ihren großen, braunen Augen fasziniert, ja träumend, aus dem Fenster. War dieses Häschen selbst in so einer Situation zu blöd, um Angst zu haben, fragte Lucy sich ärgerlich.

Sie befürchtete komischerweise nicht, abzustürzen. Es ging weit über ihre Vorstellungskraft hinaus, dass dieses Gefährt fliegen konnte. Sie befanden sich in einer derart irrealen Situation, dass Lucy davon ausging, dass so ein komischer Wagen schon weiterfliegen würde, wenn er sich erst mal in der Luft befand. Dagegen konnte sie kaum die Panik niederkämpfen, wenn sie diesen merkwürdigen Kerl am Steuer sah, den sie über den Rückspiegel betrachtete.

»Na, ist euch das jetzt spannend genug?« Jonny grinste die drei im Rückspiegel an. Nur sein Mund verzog sich, der Rest des Gesichts blieb steif.

»Spannend? Sind Sie vollkommen übergeschnappt? Ich will hier raus! Sofort!«, rief Lars. Er hatte sich soweit gefangen, dass er jetzt wütend und entschlossen klang.

»Siehst du Junge, deshalb habe ich euch angeschnallt. Du würdest glatt auf die Idee kommen auszusteigen und ich habe keinen Fallschirm dabei.« Der Fahrer lachte dröhnend. Wie vorhin klang das Lachen unpersönlich, kalt und mechanisch.

Lucy merkte, wie sich eine Gänsehaut vom Nacken über ihre Arme ausbreitete. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass er recht hatte. Sie waren ihm in dieser Situation hilflos ausgeliefert. Sie konnten nicht aussteigen. Wenn sie es schaffen würden, sich aus diesen Gurten zu befreien, hätten sie keine Chance. Was sollten sie tun? Den Fahrer überwältigen? Damit hätten sie nichts gewonnen. Sie wussten nicht, wie man dieses komische Gefährt flog und schon gar nicht, wie man es landete.

»Wissen Sie, wer ich bin? Wer mein Onkel ist? Mein Onkel wird Sie verklagen! Das ist Menschenraub! Das ist Entführung!«, schrie Lars. Jonny ließ erneut dieses zu laute und zu monotone Lachen hören.

Während Lars noch lauter und wütender wurde, sah Christoph aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Der Wagen flog mittlerweile so hoch, dass sie die Wolken durchstießen. Es war eine helle, dünne Wolkenschicht. Als das Gefährt sie durchbrach, tauchte die Sonne alles in einen gleißenden Schein. Lucy und die anderen konnten den Boden nicht mehr sehen, sondern starrten von oben auf die weiße Wolkendecke, die an einzelnen Stellen aufriss und dort einen Blick auf Felder und Berge freigab.

»Oh Mann, sind wir hoch! Ich darf nicht daran denken, dass wir in einem Kleinbus und nicht in einem Flugzeug sitzen.« Christoph hatte ein leichtes Zittern in der Stimme. Hilfe suchend sah er zu Lucy herüber. Lucy wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte auch Angst, große sogar, aber sie so deutlich zu zeigen, fand sie peinlich.

Die Beschleunigung hatte nicht nachgelassen. Das merkwürdige Gefährt, das wie ein normaler Kleinbus aussah, stieg weiter und weiter. Nach einigen weiteren Minuten konnten sie am Horizont die Krümmung der Erde sehen. Über ihnen erstreckte sich die Dunkelheit des Universums, die durch unzählige Sterne durchbrochen war.

Noch nie hatte Lucy die Sterne so klar gesehen. Mit jeder Minute wurde die Atmosphäre dünner und die Sicht klarer. Ihr wurde bewusst, dass sie im Begriff waren, die Atmosphäre zu verlassen. Sie flogen an einem Satelliten vorbei. Er sah genauso aus wie die Dinger, die sie in unregelmäßigen Abständen im Fernsehen zeigten. Er besaß Sonnensegel aus Solarzellen und Antennen und wirkte kompliziert und technisch.

Lucy kam der Blick auf das Gerät, wie es an ihnen vorbeischoss, vollkommen unwirklich vor. Sie war so fassungslos, dass sie nicht einmal mehr Angst verspürte. Christoph sagte ebenfalls nichts mehr und starrte mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen auf dieses Kunstwerk menschlicher Technik. Nur Lars fluchte noch immer auf dem Rücksitz und zerrte an seinem Gurt.

»Da ist es!« Kim meldete sich das erste Mal zu Wort. Sie zeigte auf etwas vor ihnen, das anders aussah als alles, was Lucy bisher gesehen hatte. Es ähnelte weder einem natürlichen Meteoriten oder anderem Himmelskörper noch einem künstlichen, von Menschenhand gebauten Satelliten oder Raumfahrzeug. Es handelte sich auch ganz sicher nicht um die Internationale Raumstation, die Lucy aus dem Fernsehen kannte.

Das Gebilde, das dort in einer Umlaufbahn um die Erde schwebte, erinnerte an eine unregelmäßig gewachsene Kartoffel. Es besaß eine annähernd ovale Form, die aber nicht symmetrisch verlief, sondern unterschiedlich große Dellen und Beulen aufwies. Zusätzlich überzogen einzelne kleinere Ausbuchtungen unterschiedlicher Größe das Gebilde, die sich völlig unregelmäßig, keinem Muster gehorchend über die Oberfläche verteilten.

Aus Tausenden, einzelnen Punkten, die wahllos über die Oberfläche verteilt schienen, schimmerte es geheimnisvoll. Das Gebilde wirkte durch die unterschiedlichen Grautöne, in denen es gehalten war, farblos.

»Ich wette, dorthin fliegen wir«, flüsterte Kim und starrte das Ding mit großen, neugierigen Augen an.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Lars ärgerlich.

»Was glaubst du, was gerade passiert? Wir sitzen hier mit Garantie in keinem irdischen Auto. Dies ist so etwas wie ein Raumschiff, und zwar ein außerirdisches. Und wir, wir werden zum Mutterschiff gebracht, dem da!« Kim zeigte auf das Gebilde.

Lars‘ Gesicht verlor jegliche Farbe. Endlich hielt er den Mund und vergaß, an seinem Gurt zu zerren.

»Unglaublich, wir haben tatsächlich ein intelligentes Mädchen an Bord. Herzlichen Glückwunsch!« Jonny stieß wieder sein monotones Lachen aus.

»Dann, dann sind Sie ein Außerirdischer, ein Alien«, stieß Christoph hervor.

Der Fahrer lachte noch lauter. Es klang grausam. Lucy kroch langsam die Panik von den Fußspitzen in den Nacken. Sie wusste nicht, was sie bis zu diesem Zeitpunkt erwartet hatte. Jetzt stand es in aller Deutlichkeit vor ihr, sie wurden entführt, und zwar von Außerirdischen. Über solche Geschichten hatte sie bisher geschmunzelt oder, je nach Stimmung, die Vorstellung spannend gefunden. In diesem Moment spürte sie in erster Linie Angst und die wuchs mit jeder Minute.

Das Geräusch des Motors erstarb. Die Beschleunigung ließ abrupt nach und damit das Eigengewicht der Mädchen und Jungen. Sie schwebten schwerelos in ihren Sitzen, nur noch gehalten durch die Sicherheitsgurte, die sich nach wie vor nicht lösen ließen.


Wie geht es weiter?

Das ganze Buch »Lucy – Besuch aus fernen Welten« ist in diversen eBook-Formaten und als Taschenbuch erschienen.

Die ganze Weltraumabenteuer »Lucy« besteht aus sieben Romanbänden.

Welche Bände bereits wo erschienen sind, sowie aktuelle Informationen zur Serie findet ihr unter:

 

www.lucy-sf.de

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.12.2010

Alle Rechte vorbehalten

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