Das Buch
Ellas Welt stürzt ein, als ihre Beziehung zu dem charismatischen Philosophieprofessor Marco in die Brüche geht. Doch sie erfährt von unerwarteter Seite überraschend Hilfe und Unterstützung.
Eine neue berufliche Perspektive lässt sie wieder Hoffnung schöpfen, auch ihre eigentlich aussichtslose Suche nach einem geheimnisvollen, verschollenen Maler führt zu erstaunlichen Ergebnissen.
Doch dann schlägt das Schicksal wieder zu und nimmt Ella erneut alles, was sie sich mühsam erkämpft hat.
Kapitel 1
Ella hatte vor ihrer spontanen Flucht aus Marcos Landhaus nicht einen Augenblick darüber nachgedacht, wohin sie nun gehen sollte. Sie wollte nur fort – weit weg von allem, was mit Marco zu tun hatte. Beim Gedanken an ihre eigene, einsame, für sie bereits reichlich leblos gewordene kleine Wohnung wurde ihr beinahe schlecht. Doch wohin sonst konnte sie fliehen; wo konnte sie untertauchen, um ihre Wunden zu lecken?
Also fuhr sie einfach drauflos, ohne besonderes Ziel, ohne auch nur an irgendetwas zu denken. Sie achtete nicht im Mindesten darauf, wohin sie ihren Wagen lenkte, und fand sich schließlich mit ziemlicher Verwunderung an einem der Küstenorte wieder. Es wimmelte von Menschen, die den Sommer in den Strandbädern genossen, so wie sie und Marco es vor einer Woche selbst auch noch getan hatten.
Obwohl es ihr unerträglich erschien, sich unter diese fröhliche, lärmende Samstagnachmittags-Menschenmenge zu mischen, parkte sie das Auto und stieg aus. Aufatmend und wie in Trance folgte sie dem gepflasterten Fußweg über die Düne hinweg ins Bagno.
Es war irgendeines. Eines der vielen, die für sie untereinander austauschbar waren, weil die Menschen hier überall gleich waren: in Urlaubsstimmung, laut und gut gelaunt, schwitzend und um ihr eigenes kleines Universum kreisend. Eine sonderbare, vollständig bekleidete Frau mit Sonnenbrille auf der Nase, die steif und unnahbar den Nachmittag unter einem Sonnenschirm auf der Terrasse sitzend verbrachte, würde nicht im Geringsten auffallen.
Oder doch?
Es war Ella egal. Sie kaufte sich an der Bar einen Drink und starrte blicklos über die sonnenbadende Menge hinweg aufs offene Meer hinaus. Die blassgelbe Flüssigkeit in dem Glas vor ihr wurde langsam warm, die Eiswürfel darin schmolzen und das Kondenswasser lief außen am Glas hinunter und bildete auf dem Tisch eine etwas unrunde Pfütze.
So war das also! Alle ihre Befürchtungen waren wahr geworden. Marco brauchte eine Frau, mit der er sich unter seinesgleichen sehen lassen konnte – das war sie gewiss nicht. Wann war ihm das klargeworden? Wann hatte er beschlossen, sie fallenzulassen? Und warum hatte er dann noch vorgestern so getan, als wäre er eifersüchtig auf ihren Zeichenlehrer? Um sie über seine eigentlichen Absichten im Unklaren zu lassen? Nur – warum das alles?
Sie war ja so leichtgläubig gewesen! Sie hätte auf ihre eigenen Bedenken hören und mit ihm sprechen sollen. Dann wäre sie wenigstens nicht so eiskalt erwischt worden.
Allerdings hätte das nichts an der Tatsache geändert, dass sie seinen Lügen und Manipulationen ohne den geringsten Widerstand aufgesessen war. Er hatte sie nur benutzt, hatte nur seine Jagdleidenschaft befriedigt und war ihrer auch schon wieder überdrüssig geworden. So einfach war das.
Patrizias alarmierte Frage klang ihr noch in den Ohren nach.
»Er war doch hoffentlich nicht gewalttätig?«
Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Sie erinnerte sich an ihre eigene Beklemmung angesichts seiner finsteren Miene bei ihrer letzten Begegnung. Obwohl er selbst keine ernsthaften Absichten hatte, schien ihn ein möglicher Nebenbuhler sehr gestört zu haben. Hatte sie etwa auch noch Glück gehabt, dass sie so glimpflich davongekommen war?
Ihr ganzes Leben lag plötzlich in Trümmern zu ihren Füßen. Sie hatte sich völlig in seine Hände begeben und da saß sie nun – hilflos, ratlos und ohne Perspektive. Alleingelassen und vollkommen einsam.
Natürlich wollte Marco nicht sie! Wie hatte sie auch nur jemals einen Augenblick lang die absurde Hoffnung hegen können, seine ganzen süßen Worte wären ernstgemeint gewesen? Er, der umschwärmte Intellektuelle, der bekannte Autor, der Fernsehstar! Ausgerechnet er sollte sich eine kleine Andenkenverkäuferin wie sie an Land gezogen haben? Wahrscheinlich war sie nur Teil irgendwelcher philosophischen Spielchen gewesen, die er seinen Studenten aufgegeben hatte, schoss es ihr durch den Kopf. Und um ein leuchtendes Exempel zu statuieren, hatte er ihnen an ihrem Beispiel demonstriert, wie man eine unbedeutende graue Maus so um den kleinen Finger wickelte, dass sie tatsächlich bereit war, nach den Sternen zu greifen. Und genau das hatte sie getan, sie hatte nach den Sternen gegriffen.
Seine Angestellte, hallte es durch ihren Kopf.
Seine Kuratorin.
Das hatte Patrizia gesagt. So hatte er sie ihr wohl vorgestellt. Nicht seine Freundin, nicht mal seine Geliebte – seine Angestellte. Mehr war sie nicht für ihn – natürlich nicht!
Wie hatte sie nur so dumm sein können, auf seine leeren Versprechungen hin ihre sichere Stelle bei ihrem Vater aufzugeben und sich vollends von ihm abhängig zu machen? Sie erinnerte sich noch vage an ihre Befürchtungen; damals, an ihrem ersten gemeinsamen Wochenende. Er hatte sie mit einer lockeren Bewegung aus dem Handgelenk vom Tisch gewischt! Und sie hatte ihm sofort alles geglaubt.
Ella starrte auf das Glas zwischen ihren Händen. Ihre Finger waren feucht vom Kondenswasser. Absurderweise hatte sie in diesem Moment das geradezu übermächtige Bedürfnis, den Anblick festzuhalten, und sie bedauerte unendlich, kein Papier und keine Stifte bei der Hand zu haben. Warum nur hatte sie nicht daran gedacht, als sie hierhergekommen war? Hier am Strand gab es doch immer etwas Interessantes zu sehen und zu beobachten, zu zeichnen und festzuhalten. Sie würde sich künftig angewöhnen müssen, sich besser auszurüsten!
Aber nein, das war ja gar nicht ihre Schuld! Sie hatte nicht vorgehabt, an diesem Nachmittag an diesem Strand zu landen, nur deswegen war sie schlecht ausgerüstet. Sie könnte aber immerhin ihre Kamera aus dem Auto holen und ein paar Schnappschüsse machen, die sie dann später immer noch in Skizzen oder Studien verarbeiten konnte.
Ella dachte nach. Sie könnte fotografieren. Ja, das könnte sie. Sie könnte es aber auch bleiben lassen. Das könnte sie durchaus auch. Sie war unschlüssig, konnte sich aber irgendwie auch nicht dazu aufraffen, die Hand mit dem Glas an den Mund zu heben und den inzwischen mit Sicherheit schon lauwarmen Drink endlich hinunterzuschütten. Sie wollte aufstehen und gehen, konnte es aber nicht.
Nein, fiel ihr ein, sie hatte die teure Kamera, Marcos letztes Geschenk, ja zurückgelassen. So wie den Computer und den Ring. Und den Brief.
Egal. Dann eben keine Fotos.
Ob es stattdessen eine gute Idee wäre, an den Saum des Wassers hinunterzugehen und ein paar hübsche Muscheln zu sammeln? Angelo hatte erwähnt, dass diese immer lohnende Objekte für Zeichenstudien waren und dass beispielsweise er immer einen kleinen Vorrat davon aufbewahrte, falls einmal ein paar Kursteilnehmer welche brauchen sollten.
Ganz wie von selbst waren Ellas Gedanken an diesem Punkt angelangt. Die Aussicht, jetzt vor einem Blatt Papier sitzen zu können und einfach drauflos zu zeichnen, war sehr verlockend. Sie konnte herrlich abtauchen, wenn sie nur einen Stift in der Hand hatte, das hatten sie die Ereignisse der letzten Woche gelehrt.
Es kam ihr vor wie Erinnerungen aus einem anderen Leben – oder gar wie Erinnerungen aus dem Leben eines anderen Menschen.
Ella horchte auf. Wie von Geisterhand weggezaubert, waren die lärmenden Badegäste bis auf wenige Ausnahmen verschwunden. Es war befremdlich ruhig um sie herum. Das Meer hatte eine tiefviolette Tönung angenommen und sie starrte fasziniert auf diese ungewöhnliche Farbe. Angelo hatte ihr und dem ganzen Kurs ja schon seit Tagen gestattet, mit bunten Stiften und Farbtuben zu hantieren. Der Kurs war ohnehin irgendwie aus dem Ruder gelaufen, seit er sich so sehr auf den Einzelunterricht mit ihr konzentrierte.
Marcos Nebenbuhler!
Sie lachte bitter auf und merkte nicht einmal, dass einer der Kellner im Vorbeilaufen einen befremdeten Blick auf sie warf.
Er hatte ihr etwas geben wollen, erinnerte sie sich, und sie hatte es schnöde abgelehnt. Hatte die Gabe nicht sehen wollen, die er in ihr entdeckt zu haben glaubte. Sie hatte nur halbherzig mitgemacht bei seinen Bemühungen, ihr Talent an die Oberfläche zu kitzeln.
Sie sah sich verwirrt um. Es war Abend geworden.
Wann war es Abend geworden? Sie war doch irgendwann gegen Mittag hier angekommen – warum war es jetzt Abend?
Ella erwachte.
Langsam und zögernd nur.
Ihr Geist wehrte sich noch dagegen, aus dem Schlaf aufzutauchen, so als wüsste er bereits, dass etwas Unerfreuliches ihrer harrte, wenn sie nur erst völlig wachgeworden war.
Ihr Körper sträubte sich nicht minder. Ihr Mund war trocken, ihre Zunge pelzig. Ihr Kopf hämmerte, als wollte er jeden Moment zerspringen, und in ihrem Nacken bemühte sich ein wildes Raubtier in diesem Moment, ihr sämtliche Muskeln durchzubeißen.
Sie wandte stöhnend den Kopf.
»Schsch … nicht bewegen«, raunte etwas an ihrem Ohr.
Oder war dieses Etwas ein Jemand?
Sie wusste es nicht genau.
Sie wusste nur, dass es an ihrem Rücken warm war. Ein vertrautes Gefühl. So hatte er sie immer gehalten, wenn sie gemeinsam eingeschlafen waren. Oder sie hatte sich so gehalten gefunden, wenn sie gemeinsam aufgewacht waren. Ein schönes Gefühl: seine warme, breite Brust an ihrem Rücken, regelmäßige, fast lautlose Atemzüge, die über ihren Nacken und ihre Schultern strichen. Seine Erektion unter ihrem Gesäß und seine festen, durchtrainierten Schenkel ganz nah an den ihren. Ein zweiter Körper, der die Form des ihren nachahmte und dennoch völlig anders war. So wohlbekannt anders.
Geborgenheit.
Vertrauen.
Sicherheit.
Marco!
Marco hielt sie fest und tröstete sie. Damit war alles andere unwichtig und sie hatte bestimmt nur schlecht geträumt.
Etwas tief in ihrem Unterbewusstsein warnte sie, raunte ihr zu, dass es all das nicht mehr geben würde, wenn sie jetzt aufwachte.
Also sank sie zurück in den Schlaf und gab sich widerstandslos diesen Armen hin, die sie umfingen und festhielten. Die verhinderten, dass sie fiel. Die die bodenlose Finsternis, die irgendwo da draußen auf sie lauerte, auf Distanz hielten. Und die vergeblich versuchten, sie zu wärmen und die unerträgliche Eiseskälte in ihrem Inneren zum Schmelzen zu bringen, so wie die heiße und tröstliche Nachmittagssonne die Eiswürfel in ihren vielen bunten Drinks zum Schmelzen gebracht hatte.
»Bleib ruhig liegen und rühr dich nicht«, mahnte sie eine sanfte Stimme aus der Ferne.
Ella wusste, dass sie diese Stimme kannte – oder wenigstens kennen sollte. Etwas in ihr wusste aber auch, dass es die falsche Situation dafür war, diese Stimme zu hören. Sie wusste, dass sie nackt war. Sie wusste auch, dass sie irgendwo lag, wo sie nicht liegen sollte. Diese Stimme konnte nicht dort sein, wo sie nackt war. Sie war nackt und hörte trotzdem diese Stimme – welch ein fataler Widerspruch!
Sie lag unbekleidet irgendwo, hatte heftige Kopfschmerzen, ihr war speiübel und sie hörte Angelo Dorsinis Stimme.
Dennoch schaffte sie es nicht noch einmal, sich selbst zum Weiterschlafen zu überreden. Um Zeit zu gewinnen und die Situation noch weiter zu analysieren, tat sie das, was er ihr geraten hatte: Sie rührte sich nicht.
Ihre Sensoren arbeiteten inzwischen auf Hochtouren.
Sie lag auf dem Bauch, ein Bein und ein Arm hingen seitlich herab, und sie hatte offenbar die Wange auf ihren eigenen Handrücken gebettet. Irgendetwas deckte ihren Rücken zur Hälfte zu. Ein merkwürdiger Geruch hing in der Luft, in den sich jetzt noch ein zweiter mischte. Diesen zweiten Geruch kannte sie, es war der einladende Duft einer starken Tasse caffè. Schließlich zwang sie sich mit dem größten Widerwillen, die Augen zu öffnen.
Langsam, ganz langsam, um das unheilvolle Pochen in ihrem Schädel nicht zu einer bösartigen Reaktion zu provozieren, wandte sie den Kopf. Sie konnte fast nichts erkennen, da ihre Augen verklebt und geschwollen waren.
»Wie geht es dir?«, hörte sie wieder diese Stimme, die so fehl am Platz war.
»Beschissen«, murmelte sie wahrheitsgemäß und versuchte, sich aufzusetzen.
»Lass dir Zeit damit«, mahnte er. »Du bist ein wenig blass um die Nase, also beweg dich lieber nicht zu schnell!«
Gehorsam versuchte sie, ihre Bewegungen so langsam wie möglich zu koordinieren. Tatsächlich schaffte sie es, sich aufrecht hinzusetzen und das Laken, das sie halb bedeckte, hochzuziehen, ohne dass die Wespen in ihrem Schädel anfingen, ihre Stacheln auszufahren.
»Was ist passiert?«
»Hier, trink erst mal deinen caffè.«
Sie griff nach der Tasse und konnte die Konfrontation mit der Wahrheit nun einfach nicht mehr länger hinauszögern. Sie hob den Blick und sah geradewegs in zwei lächelnde, braune Augen. Der dazugehörige Mann kniete vor ihr und schien die Situation nicht im Geringsten merkwürdig zu finden.
Ella trank ihre Tasse leer und gab sie ihm zurück. Ihr war immer noch schlecht, aber nicht mehr so sehr wie zuvor. Auch ihr streikender Verstand schien allmählich auf Touren zu kommen.
Das alles hier war absolut absurd.
Sie saß in ihrem Zimmer auf ihrem Bett. Nicht in ihrer Wohnung, sondern in dem Zimmer bei ihrer Tante, das sie für die Dauer des Zeichenkurses bewohnte. Und sie trank den caffè, den Angelo ihr reichte. Für ihn schien es das Normalste auf der Welt zu sein, dass er bei ihr im Zimmer war, wenn sie morgens nackt erwachte.
»Was ist passiert?«, wiederholte sie etwas forscher ihre Frage, vermied es aber, ihm noch einmal in die Augen zu sehen.
»Nun ja«, er räusperte sich. »Du bist gestern Abend – oder vielleicht sollte ich besser sagen, heute Nacht – plötzlich vor meiner Tür aufgetaucht. Du hast geheult wie ein Schlosshund und geschimpft wie ein Rohrspatz. Ich hab dich dann schließlich«, er stockte einen Moment lang, »hierher gebracht.«
»Danke.«
Als er keine Antwort gab, sah sie nun doch auf. Er kniete noch immer vor ihr und der Blick, mit dem er sie in diesem Moment bedachte, versetzte Ella einen Stich mitten ins Herz.
»Ich muss unbedingt ins Bad – würdest du bitte …?«
Er verstand und erhob sich zögernd.
»Bist du sicher, dass du alleine zurechtkommst?«
Sie nickte nur schweigend.
»Dann gehe ich jetzt mal. Ich bin drüben, falls du mich brauchst.«
»Danke«, wiederholte sie tonlos.
Dann war er fort.
Eine Weile blieb Ella sitzen und starrte einfach nur vor sich hin. Sie dachte nichts, sah nichts, fühlte nichts. Sie versuchte verzweifelt, diesen Zustand der Leere, in dem kein Schmerz und keine Verzweiflung zu fühlen waren, aufrecht zu erhalten. Irgendetwas in ihrem Hinterkopf sagte ihr ganz deutlich, dass es genau diese Emotionen waren, die sie erwarten würden, sobald sie richtig zu sich kam.
Endlich raffte sie sich auf und schleppte sich mühsam ins Bad. Jeder Handgriff fiel ihr schwer. Sie duschte, obwohl sie befürchtete, jeden Moment umzukippen. Mit vorsichtigen Bewegungen trocknete sie sich ab und putzte sich sehr langsam die Zähne. Sie versuchte, jede schnelle Geste zu vermeiden. Schließlich schaffte sie es tatsächlich, sich anzuziehen, ohne bewusstlos zu werden oder sich zu übergeben.
Dann setzte sie sich wieder aufs Bett. Sie wollte nachdenken und die Lage begreifen, doch es half nichts. Sie wusste weder, wie sie hierhergekommen, noch, was tatsächlich passiert war. Der einzige Mensch, der ihr dabei helfen konnte, Licht ins Dunkel zu bringen, war ihr Zeichenlehrer.
Mühsam rappelte sie sich schließlich hoch und ging zu ihm in sein Atelier hinüber. Die brütende Nachmittagshitze, die ihr draußen vor dem Haus entgegenschlug, raubte ihr beinahe den Atem, doch sie biss die Zähne zusammen und war froh, dass ihr sonst niemand begegnete.
Sie klopfte und es dauerte eine Weile, bis er öffnete. Wieder wehte ihr dieser sonderbare Geruch entgegen, den sie schon kurz nach dem Aufwachen wahrgenommen hatte, und mit einem Mal wusste sie, was es war: Terpentin und Farbe.
»Komm rein! Geht es dir jetzt besser? Du solltest vielleicht etwas essen, es ist schon fast Mittag.«
Mit einer befremdlich anmutenden, vertraulichen Geste zog er sie an sich und küsste sie auf beide Wangen. Ella ließ es perplex geschehen. Dann führte er sie in sein Atelier und nötigte sie, sich zu setzen.
Er hatte anscheinend gearbeitet. Am Fenster, wo das Licht am besten war, stand eine Staffelei mit einer relativ großen Leinwand darauf, die jetzt allerdings mit einem Tuch abgedeckt war. Eine Palette voller Farben und andere Malutensilien lagen griffbereit auf einem kleinen Tischchen daneben. Daher der Geruch, der an ihm haftete und den sie auch jetzt wahrnahm, als er sich ihr gegenüber auf einen der Stühle setzte und ihre Hände in die seinen nahm.
Auch das ließ sie ohne Widerstand zu.
»Wie fühlst du dich?« Seine Stimme klang weich, sanft und ungeheuer eindringlich.
»Keine Ahnung – sag du’s mir. Wie muss ich mich denn fühlen? Offensichtlich habe ich einen Filmriss, ich kann mich an nichts erinnern, außer an …« Sie stockte.
Angelo schwieg.
Aus den Tiefen ihres Gedächtnisses tauchte langsam auf, was sie so krampfhaft und sehnsüchtig dort hatte einschließen wollen, um es nie mehr hervorzuholen.
Eine unangenehme Erinnerung.
Eine Begegnung.
Ein Gespräch.
»Sag mir, was los ist. Bitte!«
Nun sah sie ihm endlich geradewegs in die Augen. Was sie dort las, erschreckte sie. Sie kannte diesen Blick – allerdings nicht von ihm.
Ella schluckte.
War ihr sonderbarer Traum etwa tatsächlich mehr als nur ein Traum gewesen? War diese Wärme eines fremden Körpers so nah an dem ihren real gewesen?
»Sag es mir. Jetzt!«
»Du hast mir gesagt, dein Freund hätte dich verlassen und sei zu seiner Frau zurückgekehrt. Abgesehen davon hast du ziemlich unzusammenhängendes Zeug geredet und ich habe es dann irgendwann geschafft, dich ins Bett zu bringen.«
»Mich ins Bett zu bringen«, echote sie.
»Ja.«
»Und das war alles?« Sie fixierte ihn immer noch und er erwiderte ihren Blick ganz unbefangen.
»Du erinnerst dich wirklich an nichts mehr?« Nun bekam seine Miene einen Ausdruck, der irgendwo zwischen ungläubig und enttäuscht zu schwanken schien.
»Nein. Woran sollte ich mich denn erinnern?« Ella hoffte, dass ihre Stimme nicht so schrill klang, wie sie selbst sie empfand.
»Du … du wolltest mich nicht gehen lassen, Ella.« Nun umfasste er ihre beiden Hände mit den seinen und hielt sie sehr fest, als könnte er so verhindern, dass sie ausflippte, wenn sie die Tragweite seiner Worte begriff. »Du wolltest um keinen Preis allein sein und da bin ich eben bei dir geblieben.«
»Du bist geblieben – bei mir?«
Er nickte lächelnd. »Ja. Das war die schönste Nacht, die ich seit langem erlebt habe, Ella.«
»Die schönste Nacht …?« Ihre Stimme überschlug sich fast in einem Mix aus Panik, Verzweiflung und Fassungslosigkeit.
Sie sprang von ihrem Stuhl auf. Schlagartig wurde ihr schwarz vor Augen und sie schwankte. Wäre Angelo nicht ebenfalls aufgesprungen, um sie aufzufangen, wäre sie zu Boden gegangen. So aber hielt er sie in seinen Armen und bewahrte sie vor dem Fallen. Ella konnte nichts dagegen tun. Sie hatte nicht einmal die Kraft, sich gegen ihn zu wehren, sondern hing matt in seiner Umarmung.
»Oh mein Gott, muss ich betrunken gewesen sein!«
»Du warst wütend und verletzt, aber du hast steif und fest behauptet, du seist nüchtern«, versetzte er geduldig. »Ich würde eine derartige Situation niemals ausnutzen, aber Ella, glaub mir eins: Du wolltest, dass ich bei dir bleibe und dich nicht alleinlasse.«
Er klang sanft und eindringlich. Ella entspannte sich schließlich etwas und atmete tief durch.
»Ella? Willst du mir nicht endlich sagen, was gestern wirklich passiert ist?«
Ella spürte seine Wange an der ihren und seine Arme, die sie hielten. Sie hörte seine warme Stimme und die einfühlsamen Worte, die er für sie fand. Sie roch ihn, diese Mischung aus Mann, Moschus, Ölfarbe und Schweiß und wusste plötzlich, dass es ohnehin egal war.
Was spielte es schon für eine Rolle, in wessen Armen sie lag? Marco wollte sie ohnehin nicht mehr, warum also hätte sie in der vergangenen Nacht nicht mit Angelo schlafen sollen? Sie fühlte sich plötzlich sehr müde, doch sie hatte keine Lust, mit ihm darüber zu reden. Betrunkener Sex ohne Erinnerung war das eine, Vertrauensseligkeit das andere. Es änderte ja doch nichts an der Situation.
»Nichts Besonderes«, antwortete sie daher ausweichend. »Ich habe mich wohl in Marco getäuscht und mir falsche Hoffnungen gemacht, das ist alles. Geht vorbei, bald schon, du wirst sehen!«
»Setz dich wieder«, murmelte Angelo an ihrem Ohr. »Setz dich und ruh dich einfach aus.«
Er strich ihr tröstend über den Rücken, ohne jedoch auch nur ansatzweise zudringlich zu werden. Er war einfach nur da und kam Ella vor wie die einzige Insel weit und breit in einem Meer aus Trauer, Scham und Wut.
Sie sprachen nicht viel – es gab nichts zu sagen – und irgendwann rollte sie sich neben ihm auf dem Sofa zusammen und schlief ein.
Ein stürmisches Dröhnen an der Eingangstür riss Ella aus ihrem leichten Schlaf. Sie fuhr auf und sah sich erst einmal verwirrt um. Sie lag in Angelos Atelier, draußen war es finster. Sie hatte also sowohl den restlichen Sonntagnachmittag als auch den frühen Abend verschlafen. Wieder polterte es unbeherrscht und heftig an der Tür.
Sie konnte Angelo hören, der mit einem leisen Murren ging und öffnete, und sie konnte eine zweite Männerstimme hören, die wütend auf ihn einredete und schließlich ins Atelier platzte.
»Ich will sie sehen, verdammt, geh mir bloß aus dem Weg mit deinem harmlosen Getue! Wo ist sie?«
Ella raffte sich mühsam auf und trat einen Schritt von der Couch weg und in den Raum hinein, der sich sofort um sie herum zu drehen begann.
›Verschwinde, du Arschloch!‹, wollte sie schreien, doch ihre Stimme gehorchte ihr nicht.
Vor ihr stand Marco Mingoni. Er bebte vor Zorn. Die Ader an seiner Schläfe, die Ella schon unzählige Male in ihren intimen Momenten hatte pulsieren sehen, schien kurz vor dem Platzen zu stehen. Seine dunklen Augen sprühten Funken. Er war außer sich, als er die Hand hob und sie ihr anklagend entgegenstreckte. Ella erkannte die zusammengerollte Zeichnung mit dem Ring darum.
»Was zum Henker soll das? Was für ein perfides Spiel treibst du da mit mir?«
Er trat noch den letzten Schritt auf sie zu, packte sie grob an beiden Oberarmen und schüttelte sie heftig. Dabei schien es ihm vollkommen egal zu sein, ob er das Blatt knickte oder gar zerriss.
»Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«, fauchte er wütend, ehe Angelo ihn eingeholt hatte und versuchen konnte, ihn von Ella loszureißen.
»Lass sie sofort los!«, herrschte er Marco an, doch der beachtete ihn zunächst gar nicht.
»Ella, ich rede mit dir! – Und du zieh Leine, ich habe mit meiner Freundin zu sprechen, du bist überflüssig!«, zischte er. Die Adern an seinem Hals traten deutlich hervor.
»Lass sie los, hab ich gesagt! Sofort! Und dann verschwinde aus meinem Haus!« Angelo dachte ebenfalls nicht daran, klein beizugeben.
Nun ließ Marco einen von Ellas Armen los und setzte die freigewordene Hand auf Angelos Brust. Dieser wiederum packte Marco daraufhin grob am Handgelenk und wollte ihn von Ella wegziehen.
»Ich sage es dir nur noch ein einziges Mal, mein Freund«, zischte Marco gefährlich leise. »Geh mir aus dem Weg! Das hier ist nicht deine Arena, also verschwinde einfach und lass mich mit Ella allein, haben wir uns verstanden?«
»Das hier ist mein Haus und ich denke ja gar nicht daran, einfach zu verschwinden. Und jetzt lass Ella sofort los, oder ich …«
Ella schien aus ihrer eisigen Lethargie zu erwachen und wandte mühsam den Kopf.
»Schon gut, Angelo, lass uns allein. Das hier ist meine Sache, es ist besser, du hältst dich da raus. Bitte!«, unterbrach sie ihn.
Sie sah ihn so flehend an, dass er automatisch einen Schritt zurücktrat und Marcos Hand losließ.
»Bist du sicher, Ella?«, fragte er leise an sie gewandt. »Ich gehe nur, wenn du es wirklich willst.«
»Ja, Angelo, das ist schon in Ordnung. Bitte. Geh jetzt.«
»Ich bin in der Nähe, falls du mich brauchst. Ruf mich einfach, wenn ...«
»Raus!«, brüllte Marco, am Ende mit seiner Geduld. »Sie wird dich nicht brauchen, also zieh endlich Leine!«
Als die Tür hinter Angelo ins Schloss gefallen war, wandte Marco sich gefährlich langsam zu Ella um und fixierte sie mit brennendem Blick.
»Was wird hier gespielt? Hältst du mich für einen Hanswurst, mit dem du machen kannst, was du willst?«
Er klang plötzlich müde und erschöpft, sein Zorn und seine Wut schienen mit einem Mal verraucht. Er ließ sie abrupt los und sank auf die Couch, vor der sie beide wie angewurzelt gestanden hatten.
Ella hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, doch sie musterte ihn mit eisigen Augen. »Du erlaubst dir, mich das zu fragen? Ausgerechnet du?« Sie klang kalt und emotionslos. »Du bist der gemeinste, hinterhältigste und verlogenste Arsch, den ich je getroffen habe, und du erlaubst dir auch nur eine Silbe?«
Marco hob den Kopf und starrte sie fassungslos an. Dann stand er wieder auf und trat ganz nahe vor sie hin.
»Was ist hier los?«, fragte er schließlich leise. »Wie kommst du dazu, mich derart zu beschimpfen? Was zum Henker hab ich dir getan? Hast du jetzt wirklich den Verstand verloren?«
»Ich? Den Verstand verloren? Du tauchst hier auf, machst eine Szene – du! Ausgerechnet du! Mistkerl, verlogener Bastard! Warum verschwindest du nicht endlich wieder?«
Ellas Atem flog, ihre Augen sprühten einen derartigen Hass, dass Marco unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.
Schweigend fixierte er sie einen langen, langen Augenblick.
»Was ist passiert, Ella?« Er zwang seine Stimme zu einer künstlichen Ruhe, die er keineswegs verspürte. »Warum lässt du alles liegen und stehen, warum wirfst du mir einfach so die Kündigung vor die Füße, warum verschwindest du ohne jegliche Vorwarnung? Und seit wann geht das schon mit dir und ihm, sag es mir? Ich will es wenigstens verstehen.«
Sie lachte auf. Ein hartes, trockenes Lachen, das ihn zusammenzucken ließ.
»Verstehen? Du willst irgendwas verstehen? Geh doch zum Teufel, elender Lügner!«
»Warum tust du das, Ella?« Er klang fast flehend, als er nun wieder einen Schritt auf sie zutrat und sie sanft an beiden Schultern fasste. »Warum tust du mir das an? Ich begreife es nicht, tesoro! Was hab ich dir angetan, dass du mich so grenzenlos verletzen musst?«
»Ich verletze dich? Ich dich?« Sie schüttelte seine Hände ab und sank auf den Stuhl, auf dem sie während ihrer Nachmittage mit Angelo gesessen hatte. Lange, so fürchtete sie, würde ihr Kreislauf nicht mehr mitspielen.
»Was habe ich getan? Sag es mir, Ella, bitte! Vor zwei Tagen noch war alles in Ordnung und heute Abend komme ich zurück, finde das Haus leer vor, deine Sachen auf dem Tisch, deinen verdammten Abschiedsbrief und das hier!« Er wedelte ihr mit der Zeichnung und dem Ring vor dem Gesicht herum. »Was habe ich getan?«, wiederholte er und nun klang es schon beinahe verzweifelt. »Was?«
Ella starrte ihn fassungslos an.
»Bist du eigentlich noch ganz bei Trost?«, forschte sie, den Tränen nahe. »Wenn ich da nicht kündigen und dich verlassen darf, wann dann? Und überhaupt – wann bitte wolltest du es mir denn eigentlich sagen? Wie lange wolltest du dein abartiges Spielchen mit mir noch treiben? Hast du dich nicht allmählich genug über meine Dummheit amüsiert? Das dämliche Naivchen, das dir natürlich auf den Leim gegangen ist und alles geglaubt hat, was du ihm erzählt hast. Ich könnte dich glatt erwürgen, du hinterhältiger Bastard, und du kommst hierher und machst eine Szene, weil ich jetzt endlich Bescheid weiß?«
»Bescheid? Über was? Was weißt du, Ella, rede endlich!«
»Deine Frau!«
Sie schrie beinahe, spie es ihm in sein fassungsloses, staunendes, ungläubiges Gesicht. »Deine Frau musste mich aufklären über deine Machenschaften, über deine Lügen und über deine bodenlose Gemeinheit!«
»Meine Frau?« Er schnaubte ungehalten. »Was hat sie denn mit uns zu tun? Verdammt, Ella, wovon redest du überhaupt? Mein Spiel? Meine Gemeinheit? Du hast nebenbei offensichtlich noch einen anderen und hast nicht den Mut, mir ins Gesicht zu sehen und ordentlich mit mir Schluss zu machen! Du verschwindest bei der ersten sich dir bietenden Gelegenheit ohne ein Wort aus meinem Leben und beschimpfst mich auch noch?«
»Sag mal, was erlaubst du dir eigentlich? Du lässt deine Frau zurückkommen und sagst mir nichts davon? Du bist angeblich mit mir zusammen und dabei zieht sie wieder bei dir ein!« Der Ärger verlieh ihr plötzlich ungeahnte Energien.
»Was?«
»Zu meinem Glück war wenigstens sie so freundlich, mich über deine wahren Absichten aufzuklären, wenn du mich schon unbedingt so mies hinters Licht führen musstest!«
Marco stand vor ihr und starrte sie erschüttert an. »Was soll das heißen, meine Frau hat dich aufgeklärt? Wie – was meinst du damit, zum Teufel?«
»Nun tu doch bloß nicht so unschuldig!« Ella war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »Sie hast du ja genauso manipuliert wie mich! Aber wenigstens ist sie dir ja ebenbürtig und kein so graues Mäuschen wie ich, das man nirgends vorzeigen kann.«
»Ella, wovon sprichst du?« Marcos Stimme klang tonlos. »In welchen Film bin ich hier geraten? Was redest du da ständig von meiner Frau? Sie ist in Nizza!«
»Sie war vielleicht in Nizza, aber du hast sie ja zurückgeholt! Schon wieder vergessen? Bringst du jetzt uns beide vielleicht auch noch mit einer Dritten durcheinander?«
»Zurückgeholt? Ich würde dieses Biest im ganzen Leben nicht zurückholen! Wie kommst du nur auf einen solchen Schwachsinn, Ella?«
»Sie hat es mir gesagt, ganz einfach. Ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört, so deutlich, wie ich sie mit meinen eigenen Augen halb nackt in dein … Bumskabinett gehen sah!«
»Meine Frau war da? In der Villa? Du hast mit meiner Frau gesprochen?«
»Das und noch viel mehr! Mein Gott!« Ella schüttelte gequält den Kopf, als könnte sie dadurch das Bild verdrängen, das sie vor dem inneren Auge hatte. »Musstest du sie unbedingt vögeln in dieser Nacht? Habe ich dir nicht mehr gereicht?«
»Sie vögeln? Ella! Ich würde diese Frau nicht mal mehr mit der Kneifzange anfassen, und wenn sie die einzige Frau auf der ganzen Welt wäre! Und außerdem war ich gar nicht da. Ich bin am Freitagnachmittag weggefahren!«
»Erzähl das, wem du willst, aber nicht mir!«
»Das kann doch alles nicht wahr sein!« Marco sank wieder auf die Couch zurück. Mit geschlossenen Augen schüttelte er den Kopf. Er sah aus wie ein angezählter Boxer bei neun. »Ich hätte es wissen müssen«, murmelte er heiser. »Ich hätte es zumindest in Erwägung ziehen müssen … Ich kenne sie ja lang genug.« Nach einem endlosen Moment dumpfen Schweigens streckte er die Hand nach ihr aus. »Lass es dir erklären, Ella, bitte.« Schlagartig klang er ganz ruhig.
Als sie nicht reagierte, sah er schließlich auf.
»Bitte Ella, tu mir diesen einen Gefallen. Bitte hör mir nur ein paar Augenblicke zu, ja?«
Widerstrebend hielt sie inne. Ihre ganze Haltung, ihre Miene, alles an ihr war auf Abwehr eingestellt. Warum nur ließ sie sich überhaupt darauf ein, ihn anzuhören? Er sollte sich aufmachen und zum Teufel scheren!
Doch sie schwieg. Also begann Marco zu sprechen.
»Ich habe längst die Scheidung eingereicht und sie hat logischerweise in der Zwischenzeit die Unterlagen bekommen. Aber erst an diesem Freitagmorgen hat sie mich deshalb angerufen und gefragt, ob sie mich am Wochenende sprechen könnte. Daher wusste sie genau, dass ich nicht zu Hause sein würde, und muss beschlossen haben, einfach herzukommen. Ich habe dummerweise erwähnt, dass du da sein und arbeiten würdest – das war wahrscheinlich ihr Stichwort. Ich Idiot! Was musste ich dich auch ins Spiel bringen?«
Er hatte bis auf die letzten Worte, die er beinahe verzweifelt hervorstieß, leise und monoton gesprochen. Nun sah er auf.
»Glaub mir, Ella, ich wusste nichts davon, dass sie kommen würde. Wir haben vereinbart, dass sie eine oder zwei Wochen später die Unterlagen bringen und alles mitnehmen würde, was sie noch an Habseligkeiten in meinem Haus hat. Ich hätte doch niemals zugelassen, dass du vollkommen unvorbereitet und noch dazu alleine auf diese Frau triffst. Sie ist eine falsche Schlange, Ella!«
Ella stieß verächtlich die Luft aus.
»Na, das war ja klar! Du musst sie natürlich schlechtmachen, jetzt, wo sie mich aufgeklärt hat und ich endlich alles über dich und deine miesen Manipulationstricks erfahren habe.«
»Ella!« Marco sah sie nun sehr eindringlich an, beugte sich vor und versuchte nach ihrer Hand zu greifen, die sie ihm aber mit einer heftigen Bewegung entzog. »Sie ist eine intrigante Lügnerin und nichts von alldem, was sie dir wahrscheinlich gesagt hat, dürfte wahr gewesen sein.«
Noch weigerte Ella sich, das Gehörte wirklich aufzunehmen. Was, wenn Marco tatsächlich die Wahrheit sagte? Nein, das konnte unmöglich sein! Einen Augenblick lang fühlte sie sich, als würde sie jeden Moment den Verstand verlieren. Ihr Magen revoltierte gefährlich.
»Du lügst!«, schleuderte sie ihm entgegen, doch ihre Stimme klang bereits zittrig und verunsichert. Es konnte unmöglich sein, dass er die Wahrheit sagte, denn wenn er das tat, dann hatte sie ...
Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, ihre Handflächen waren schweißnass. Als seine Worte endlich richtig in ihr Bewusstsein drangen, wurde ihr schlecht vor Panik.
Sie fuhr herum und hastete in Angelos Bad. Sie schaffte es gerade noch zur Toilette, ehe ihr alles hochkam, was sie noch an Restalkohol und Magensäure in sich hatte. Danach hing sie keuchend und erschöpft noch ein paar Augenblicke über der Kloschüssel.
Marco hatte tatsächlich die Scheidung eingereicht? Er wollte seine Frau nicht wiederhaben? Wenn das wirklich stimmte, dann hatte sie einen unverzeihlichen Fehler begangen.
»Ella? Geht es dir gut?«, hörte sie von draußen seine besorgte Stimme.
»Bleib weg!«, brachte sie mühsam heraus. Auf keinen Fall sollte er sie so sehen, doch er tat ihr den Gefallen nicht, auf sie zu hören.
»Lass dir helfen!« Er ging neben ihr auf die Knie.
»Lass mich und verschwinde!«, fauchte sie hilflos und versuchte mühsam sich aufzurappeln.
»Komm.« Er fasste ihr unter die Arme und half ihr zum Waschbecken, wo sie sich das Gesicht wusch, den Mund ausspülte und schließlich die Nase putzte. Dann reichte er ihr ein Handtuch, und während sie sich das Gesicht abtrocknete, strich er sachte über ihren Rücken.
Ella versteifte sich unwillkürlich bei seiner Berührung.
»Geht’s wieder?«, erkundigte er sich mit sanfter Stimme.
»Ja.« Sie schüttelte seine Hand ab und ging an ihm vorbei zurück ins Atelier. »Du hättest mich in Ruhe lassen sollen da drin.«
»Damit du vielleicht umkippst und dir auch noch den Kopf aufschlägst?«
»Ich kippe nicht um. Und jetzt? Willst du mir jetzt weiter deine Lügen auftischen oder gehst du endlich und lässt mich in Ruhe?«
Herausfordernd sah sie ihn an, doch in Wahrheit fühlte sie sich hundeelend.
»Wir müssen das klären, Ella, sieh das doch bitte ein! Bist du wieder soweit okay, dass du mir zuhören kannst?«
Sie nickte, gab aber keine Antwort.
»Ich weiß«, redete Marco nun eindringlich weiter, »meine Noch-Ehefrau kann so unglaublich überzeugend sein, wenn sie nur will. Verstehst du, was ich dir damit sagen möchte? Ella, Patrizia lügt! Sie lügt sogar dann, wenn ihr vollkommen klar ist, dass sie nichts davon hat. Mein Entschluss, mich scheiden zu lassen, steht schon lange unumstößlich fest, das hat sie begriffen. Sie hat jetzt nur noch Freude daran, uns auseinander zu bringen, selbst wenn sie mich niemals zurückbekommt.«
»Sie will dich also zurück?«
»Nein, das wollte sie nie. Es macht ihr einfach nur Spaß, anderen Menschen wehzutun. Sogar ich habe lange gebraucht, um ihre Spiele zu durchschauen, und leider habe ich nicht verhindert, dass du unvorbereitet mit ihr konfrontiert wurdest.«
Ella schwieg. Das flaue Gefühl in ihrem Magen nahm wieder zu. Sie hatte irgendwie den Eindruck, auf eine unabwendbare Katastrophe hinzusteuern, die sie selbst verursacht hatte.
Marco redete indessen eindringlich weiter. »Sag mir nur eines, Ella: Habe ich es geschafft, wenigstens Zweifel an ihrer Ehrlichkeit zu säen?«
Wieder griff er nach ihrer Hand und diesmal entzog sie sie ihm nicht, sondern nickte schweigend und mit gesenktem Blick.
»Wenn du an ihr zweifelst, kannst du mir dann glauben?«
Wieder nickte sie langsam. Ihr stumpfer Blick verursachte Marco Unbehagen. Was war los mit ihr?
»Wenn du mir glaubst, dann kannst du ja deine Kündigung wieder zurücknehmen, oder nicht?«, versuchte er weiter, in sie zu dringen.
Ella tat ein paar Schritte von ihm weg. Sie kehrte ihm den Rücken zu, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte.
»Ella! Ella, sieh mich an, bitte! Ich habe noch eine letzte, wichtige Frage an dich und ich möchte, dass du mich ansiehst, wenn ich sie dir stelle.«
»Frag!«
Ihr Tonfall machte ihm klar, dass sie sich nicht umdrehen würde. Aufseufzend entschied er sich dafür, nachzugeben.
»Wirst du wieder zu mir zurückkommen, Ella? Diese ganze Scharade hier beruht einzig und allein auf Missverständnissen und Intrigen, nichts davon ist wahr. Es gibt absolut keinen Grund, warum wir beide nicht da anknüpfen sollten, wo wir vor zwei Tagen aufgehört haben.«
Noch immer reagierte Ella nicht, doch Marco sah, dass sie langsam den Kopf senkte. Dann begannen ihre Schultern zu zucken. Sie weinte. Er stand auf und näherte sich ihr von hinten. Er nahm sie in die Arme und zwang sie, sich an ihn zu lehnen.
»Schsch, tesoro.« Er redete leise und sehr zärtlich auf sie ein. »Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen, alles wird gut, okay? Sie wird nie wieder zwischen uns stehen, das hat sie eigentlich nie getan! Nicht für mich, Ella. Alles ist gut, glaub mir. Es ist nichts passiert!«
Sie schüttelte heftig den Kopf und schluchzte nun laut auf.
»Nichts ist gut, gar nichts! Ich kann nicht zu dir zurückkommen, Marco, das ist völlig unmöglich. Dir ist vielleicht nichts passiert, aber mir, und es gibt verdammt noch mal eben einen guten Grund, warum das nie mehr funktionieren kann zwischen uns!«
Ella befreite sich unwirsch aus seiner Umarmung, wischte sich die Tränen vom Gesicht und wandte sich endlich zu ihm um. Die wilde Verzweiflung in ihren Augen ließ ihn unwillkürlich einen Schritt zurückweichen und die Hand, mit der er ihr gerade noch den Ring hinstrecken wollte, hing kraftlos herab.
»Was ist los, Ella?«, fragte er tonlos. Mit einem Mal war seine Kehle wie zugeschnürt. »Was meinst du damit?«
»Ich komme nicht zurück«, wiederholte sie, ebenso tonlos wie er. »Ich kann nicht – ich habe dich betrogen!«
Und als er sie nur fassungslos anstarrte, ohne ihr darauf zu antworten, wiederholte sie ihre Worte. Ihre Stimme klang zunehmend brüchiger.
»Hast du verstanden, was ich gerade gesagt habe? Ich kann nicht zu dir zurückkommen, weil ich mit einem anderen Mann geschlafen habe, Marco!«
Ihr Puls raste und das Atmen fiel ihr schwer bei diesem Geständnis. Der unverhohlene Schmerz, der in seine Augen trat, als er das Gesagte endlich realisierte, zerschnitt ihr das Herz und sie wünschte sich plötzlich, ihm nie begegnet zu sein. Dann hätte sie ihn wenigstens nie so verletzen können. Sie sah, wie er einen Moment lang beinahe taumelte, als ihm die Zusammenhänge richtig klar wurden.
»Also doch! Er – ich verstehe«, antwortete er schließlich und seine Stimme klang fürchterlich in ihren Ohren. Fremd, hart und kalt. Sein Blick wurde eisig. Schließlich nickte er. »Ja, ich habe verstanden. Ist gut. Ich … ich werde dann also jetzt gehen und eurem neuen Glück nicht mehr im Wege stehen … Den Ring kannst du behalten, was sollte ich noch damit?«
Er warf das Röllchen mit dem Ring achtlos auf den Tisch und rieb sich das Kinn, als wäre er ratlos und würde noch darauf hoffen, dass Ella lachend herausplatzte, sie hätte nur einen schlechten Scherz mit ihm getrieben. Doch das tat sie nicht. Also wandte er sich zuerst langsam, doch dann mit immer entschlossener werdenden Schritten zur Tür. Dort angekommen, drehte er sich noch einmal zu ihr um.
»Du wusstest, dass dies das Einzige war, was ich dir nicht verzeihen würde, oder?«
Sie ließ den Kopf hängen. »Ich dachte, du hättest mich bereits mit ihr betrogen. Sie trug meinen Morgenmantel, sie ging in dieses Zimmer, um sich umzuziehen … Was sollte ich wohl davon halten, was glaubst du? Ich war sicher, dass du mit ihr geschlafen hast, deshalb …«, machte sie einen schwachen Versuch, sich zu verteidigen. »Und dann erzählte sie mir ja, dass du sie zurückgeholt hast.«
»Dazu kann ich dir nur noch eines sagen.« Nun klirrte seine Stimme geradezu vor Kälte. »Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde: dass du einer dir wildfremden Frau nach wenigen Augenblicken mehr glaubst als mir nach all dieser gemeinsamen Zeit, oder dass du sofort danach nichts anderes zu tun hattest, als mit dem nächstbesten Verehrer ins Bett zu gehen, der dir schöne Augen macht!« Er schluckte hart und fuhr dann bitter fort. »Du hättest mir wenigstens eine Chance geben können, mich zu rechtfertigen und dir alles zu erklären, Ella! Nur eine einzige, kleine Chance, anstatt sofort alles über Bord zu werfen, was wir beide miteinander hatten.« Er lachte kurz und hart auf. »Aber offensichtlich lag ich mit meinem Verdacht ja doch nicht so falsch: der Künstler und seine neue, talentierte Muse! Da kann ich als staubtrockener, langweiliger Theoretiker natürlich nicht mithalten. Leb wohl, Ella.«
Damit drehte er sich brüsk um und verließ das Atelier.
Ella blieb wie angewurzelt stehen. Sie wäre ihm gern nachgelaufen, hätte ihn so gern um Verzeihung angefleht, ihn gebeten, in Anbetracht der Umstände seine Meinung zu ändern, seine Prinzipien über den Haufen zu werfen und ihr trotz allem zu verzeihen.
Doch sie tat es nicht. Sie hatte seinen Schmerz, seine Ablehnung und seine Verachtung zu deutlich gespürt, als dass sie sich auch nur die geringste Chance auf eine Versöhnung hätte erhoffen wollen oder können.
Sie ließ ihn gehen, obwohl alles in ihr nach ihm schrie, obwohl die Leere, die in diesem Moment nach ihr griff, so allumfassend war, wie sie nur sein konnte. Die Schuldgefühle, die auf sie einstürmten, als ihr das gesamte Ausmaß bewusst wurde, waren von einer solchen Wucht, dass sie ihnen nichts entgegenzusetzen hatte. Also überließ sie sich ihnen widerstandslos.
Als Angelo seine Wohnung etwas später wieder betrat, raffte sie sich schließlich auf. Sie ignorierte seine fragenden Blicke und schleppte sich in ihr Zimmer.
Ella wusste nicht, wie lange sie so auf ihrem Bett sitzen geblieben war. Sie war wie betäubt, wie gelähmt, sie fühlte sich unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, hatte außer einem Gefühl tiefster Leere keine weiteren Empfindungen mehr.
Als irgendwann in dieser für sie völlig unwirklichen Nacht auf einmal das Telefon klingelte, blieb ihr Herz beinahe stehen.
Es war Marco.
Ihre Finger zitterten, als sie antwortete. »Marco!«
»Ja, ich bin’s, Ella. Ich …«, weiter kam er nicht.
»Oh mein Gott, ich bin so froh, dass du anrufst!« Sie weinte fast vor Erleichterung. »Es tut mir so leid, Marco, nicht wahr, du verzeihst mir? – Marco?«
Einen endlosen Augenblick lang herrschte Stille in der Leitung.
»Du rufst doch deshalb an, oder? Du hast es dir in der Zwischenzeit überlegt und verzeihst mir, nicht wahr?«
»Also eigentlich rufe ich an, weil wir reden müssen, Ella.« Er klang zögernd und vorsichtig.
»Ach so. Ja. Ja gut, lass uns reden. Ich … also, ich … es tut mir wirklich wahnsinnig leid, das glaubst du mir doch, oder?« Ihre Stimme hatte etwas unendlich Flehentliches.
»Ja, Ella, ich glaube dir«, antwortete er schließlich leise.
»Oh, Gott sei Dank!«, stieß sie hervor. »Ich wusste es! Ich wusste, dass du nicht einfach so gehen würdest, Marco!«
»Nein, das – das tue ich auch nicht, deshalb müssen wir ja reden.«
»Marco, ich weiß ja, dass es ein Fehler war, und ich bereue es zutiefst, aber glaub mir, ich kann mich nicht einmal daran erinnern. Ich habe nicht die leiseste Erinnerung daran, was passiert ist und dass es überhaupt passiert ist.«
»Das glaube ich dir, Ella, aber … das ist nicht das Entscheidende, weißt du?«
Nun zögerte sie. Die aberwitzige Hoffnung, er könnte seine Meinung geändert haben und ihr den Fehltritt nun doch verzeihen, schien ihr langsam, aber unaufhaltsam durch die Finger zu rinnen.
»Ist nicht das Entscheidende?«, echote sie ratlos.
»Nein, Ella, das ist es nicht. Das Entscheidende ist, dass ich mich daran erinnern werde. Jedes Mal, wenn ich dich in den Arm nehmen und dich küssen werde, werde ich dich in seinen Armen sehen. Es tut mir leid, Ella, aber es ist stärker als ich. Ich habe es versucht, ich habe mich inzwischen etwas beruhigt und ich habe intensiv darüber nachgedacht. Aber ich kann nicht zurück. Es hat keinen Sinn.«
»Und warum rufst du dann überhaupt noch an?«, forschte sie nun tonlos. Das leise Fünkchen Hoffnung, das sie vielleicht noch gehabt hatte, verglühte unter seinen teilnahmslosen Worten.
»Ella, wir müssen uns unterhalten, wie es nun mit dir weitergehen soll.«
Marcos Stimme klang ruhig und neutral.
Emotionslos und sachlich.
»Wie meinst du das?« Die eisige Kälte, die sich erneut in Ellas Brustkorb und um ihr Herz herum ausbreitete, drohte ihr den Atem zu nehmen. »Ich verstehe dich nicht.«
»Ella, du hast meinetwegen deinen sicheren Arbeitsplatz verloren und dich mit deinen Eltern zerstritten. Ich habe dir mein Wort gegeben, dass du es nie zu bereuen hättest – ich kann und will dich nicht einfach so im Regen stehen lassen. Was auch immer zwischen uns beiden vorgefallen ist, es geht um deine Zukunft und um deine Existenz.«
Sie schwieg. Wut machte sich in ihrem Bauch breit. Er machte sich Sorgen um ihre Existenz?
»Du brauchst nur kein solches Theater um diese Kleinigkeit zu machen«, schnappte sie bitter. »Dann hast du auch keinen Grund, dich um meine Zukunft zu sorgen.«
»Ella«, begann er beschwichtigend. »Wir sollten uns gegenseitig nicht noch mehr verletzen, als wir das ohnehin schon getan haben. Du weißt genau, dass dieser Vorfall für mich keine Kleinigkeit ist! Das weißt du doch, oder? Ich habe es dir oft und deutlich gesagt. Ich wollte nur eines von dir: Treue. Ich wollte dich ganz für mich. Das wusstest du.«
»Ja, das wusste ich.«
Resigniert ließ sie den Kopf hängen. Er hatte diesbezüglich nie Zweifel an seiner Einstellung gelassen. Sie hatte gewusst, dass es das Einzige war, was er ihr niemals verzeihen würde. Das hatte er ihr mehr als einmal gesagt. Es war alles ihre Schuld! Selbst wenn sie so betrunken gewesen war, dass sie nicht den Hauch einer
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2500-7
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