Das Buch
Für Marco ist es Liebe auf den ersten Blick und er kann sein Glück nicht fassen, als Ella sich nicht nur auf ein Date, sondern eine Beziehung mit ihm einlässt. Für ihn steht fest: Er wird alles tun, um diese Frau für immer zu halten.
Ella liebt ihre Unabhängigkeit und traut dem Frieden nicht wirklich, lässt sich aber trotzdem auf den dominanten Professor Marco Mingoni ein. Dass sie tiefe Gefühle für ihn entwickelt, stellt ihre Welt vollends auf den Kopf.
Eine Zeitlang scheint alles gutzugehen, bis neben dem Geheimnis um den mysteriösen Maler Dante auch noch Marcos Ehefrau zwischen sie tritt und Ellas Leben unvermittelt aus den Fugen gerät.
Prolog
Aufatmend lehnte er sich zurück und legte den breiten, weichen Firnispinsel aus der Hand. Wenn er das wollte, dann konnte jetzt ein neuer, unbekannter Dante seinen Weg in die Kunstszene finden.
Er lächelte halb grimmig, halb melancholisch. Was hatte ihn damals nur dazu gebracht, diesen bedeutungsschweren Künstlernamen anzunehmen? Kurz schweiften seine Gedanken ab, doch ehe sie bei der verschwommenen Erinnerung an unbeschwerte, glückliche Tage landen konnten, hatte er sich wieder im Griff.
Er konzentrierte sich und stand auf, um das Bild nochmal mit etwas mehr Abstand zu begutachten. Er hatte das Gemälde sorgfältig gereinigt und den Staub der letzten Jahre entfernt. Der Lack, den er gerade aufgetragen hatte, brauchte jetzt nur noch zu trocknen. Dieses Bild hatte er total vergessen, dabei war es gar nicht mal eines seiner Schlechtesten. Das Werk hatte, mit einem alten Bettlaken abgedeckt, im Heuschober hinter einem Stapel leerer Leinwände gestanden.
Es war eine seiner typischen Landschaften: viel perspektivische Tiefe, verschwommene, fast impressionistische Konturen und teils leuchtende, teils verhaltene Farben. Genau das also, was das Publikum von Anfang an so an seinen Gemälden geliebt hatte.
Zeitgleich mit der Landschaft hatte er auch ein anderes Bild wiedergefunden und mit den besten Vorsätzen auf der Staffelei fixiert. Aber bereits als er sich davor hinsetzte, die Farbpalette in die Hand nahm und einen geeigneten Pinsel auswählte, spürte er, noch bevor er diesen in die Farbe getaucht hatte, dass er auch heute, nach all dieser Zeit, nicht weiterkommen würde.
Der Akt war fertig und perfekt, hatte vollendete Formen, eine Haut wie Samt und Seide, aber …
… er hatte kein Gesicht.
Er konnte es nicht. Und er durfte es auch nicht. Es war seine Schuld gewesen, nur seine!
Er dachte an die schlafwandlerische Sicherheit, mit der er ihre Züge früher abgebildet hatte. Er hatte nicht einmal darüber nachzudenken brauchen; der Pinsel hatte die richtigen Linien wie von selbst gefunden, als hätte er ein Eigenleben. Das war unwiederbringlich vorbei.
Und ein anderes Gesicht?
Der Gedanke kam ihm zum ersten Mal. Was wäre, wenn er versuchte, ihr ein anderes Gesicht zu geben? Käme er dann von ihr los? Könnte er dann endlich diese furchtbaren Schuldgefühle besänftigen, die ihn seit jenem Tag beinahe auffraßen?
Er biss die Zähne aufeinander, bis seine Kiefermuskeln schmerzten.
Es war der letzte Dante, der noch übrig war, aber wie schon seit Jahren verbot er sich auch jetzt die Vollendung.
Es wäre einfach nicht richtig!
Dante war Geschichte und würde es auch bleiben!
Mit finsterer Miene machte er sich daran, das Bild wieder von der Staffelei zu nehmen und es für eine weitere Ewigkeit vor sich selbst zu verstecken …
Kapitel 1
Nervös drehte Marco sein Glas zwischen den Händen.
Es schien, als hätte er sie tatsächlich dazu überreden können, die Veranstaltung zu verlassen und sich mit ihm in diesem Lokal in der Nähe der Galerie auf einen Drink zu treffen. Nun saß er da und wartete auf sie.
Falls sie auch wirklich kam …
Wer ihn so sah, konnte ihn leicht für einen arroganten und ziemlich gelangweilten Schnösel halten, der nicht so recht wusste, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Er trug das fast schon komplett graumelierte Haar sehr kurz geschnitten, und die auffällige Farbe wirkte im Gegensatz zu seinem jugendlichen Aussehen auf jeden, der ihm das erste Mal begegnete, erst einmal irritierend. Dann aber kam meistens das Faszinosum dieses merkwürdigen Kontrasts zum Tragen, und sein Gegenüber sah in der Regel genauer hin, um sein wahres Alter abschätzen zu können.
Das kantige Gesicht war glattrasiert und gerade so gebräunt, dass es in Verbindung mit seinen dunklen Augen noch attraktiv wirkte. Die Kleidung war auf den ersten Blick lässig-elegant, auf den zweiten unübersehbar teuer und erstklassig. Sogar hinter dem niedrigen Tisch sitzend, fielen seine breiten Schultern und der muskulöse Oberkörper auf. Die feingliedrigen Hände mit den perfekt manikürten Nägeln schienen dazu nicht so ganz zu passen. Wegen all dieser kleinen Unstimmigkeiten war er schlecht einzuschätzen, und auf den ersten Blick wusste man bei ihm nicht, woran man war.
Er kannte das und genoss es – meistens jedenfalls.
Jetzt tat er das nicht.
Jetzt, in diesem Moment, war er unsicher, wie er auf diese Frau gewirkt haben mochte, die er unbedingt kennenlernen wollte, und das passte ihm gar nicht.
Würde sie überhaupt kommen?
Seit er sie auf dieser Vernissage gesehen hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ihr Platz während der Eröffnungsrede war schräg vor ihm gewesen, und er hatte genügend Zeit gehabt, ausgiebig ihre sehr anziehende Silhouette von hinten zu studieren. Und er hatte diese Zeit genutzt. Je länger er sie beobachtet hatte, umso mehr hatte sie ihn fasziniert. Das kastanienbraune Haar hatte sie zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz hochgebunden, was ihm den anmutigen Schwung ihres schlanken, langen Halses gezeigt hatte …
Dann hatte sie sich zu ihm umgedreht, erinnerte er sich, als hätte sie seine Aufmerksamkeit geradezu körperlich gespürt, und da hatte ihn ihr Blick aus forschenden, goldbraunen Augen getroffen wie ein Blitz.
Als man endlich zum gemütlichen Teil der Veranstaltung übergegangen war, hatte er sie angesprochen, ihr seine Karte in die Hand gedrückt, ihr tief in die Augen gesehen und sie eindringlich gebeten, ihn im Lokal nebenan zu treffen und etwas mit ihm zu trinken. Wahrscheinlich hielt sie ihn für einen kompletten Idioten, aber das konnte er nun auch nicht mehr ändern. Hauptsache, sie hielt ihre vage Zusage ein und tauchte auch tatsächlich auf!
Als sie endlich erschien, fiel ihm ein Stein vom Herzen und erst jetzt merkte er, wie angespannt er gewesen war. Sein Herzschlag setzte kurz aus und sein Adrenalinspiegel erreichte schlagartig Rekordniveau. Er hoffte inständig, dass sie davon nichts bemerken würde, und sprang hastig auf.
Als sie auf ihn zukam, scannte er sie von Kopf bis Fuß. Sie war ziemlich groß, vielleicht gerade mal einen halben Kopf kleiner als er. Wenn sie hohe Schuhe trug, konnte er ihr sicher geradeaus in die Augen sehen. Das gefiel ihm. Ihr kesses, weichfließendes Kleid bestätigte seine Vermutung, dass sie alles andere als ein Klappergestell war. Ihre relativ schmale Taille ging in hübsch gerundete Hüften über, die bei jedem Schritt einladend schwangen. Das kastanienbraune Haar trug sie jetzt offen und die sanften Wellen fielen ihr bis unter die Schulterblätter.
Sie kam mit anmutigen Schritten auf ihn zu, erwiderte seinen Blick ohne Verlegenheit und blieb vor ihm stehen.
»Guten Abend.«
Nun fiel ihm auf, wie lang ihre Wimpern um die goldbraunen Augen waren und dass sie ein paar Sommersprossen auf der Nase hatte.
»Hallo! Ich fürchtete schon, Sie würden nicht herkommen.«
Seine Stimme klang sanft und dunkel. Er machte eine einladende Geste, sich zu setzen, doch sie reagierte nicht darauf.
»Das tue ich auch nicht.« Sie fixierte ihn ernst. »Sie haben mir nur vorhin keine Gelegenheit gegeben, Ihnen das in der Galerie schon zu sagen. Einfach versetzen wollte ich Sie auch nicht, aber ich kann mich leider nicht auf dieses … Rendezvous mit Ihnen einlassen.«
Er starrte sie einen Moment fassungslos an. »Aber … jetzt sind Sie doch hier!«
»Nicht, um zu bleiben.«
»Und warum nicht?«
»Warum sollte ich?«
»Weil ich Sie so charmant gefragt habe?«
Sie verdrehte theatralisch die Augen. »Glauben Sie, Sie wären der erste, der es so versucht hat?«
»Bin ich das denn nicht?« Er tat überrascht.
Nun lachte sie. »Nein, definitiv nicht. Und der Originellste waren Sie bisher auch nicht.«
»Und da sind Sie vorbeigekommen, um mir zu sagen, dass Sie sich nicht mit mir treffen würden ...«
Sie nickte, nachdem sie einen Moment lang so getan hatte, als müsste sie nachdenken. »Genau.«
»Das können Sie aber auch im Sitzen tun, oder?«
Wieder lachte sie. Sie schien nicht verlegen oder unsicher zu sein, im Gegenteil, das Geplänkel schien ihr sogar zu gefallen.
»Jetzt wissen Sie ja Bescheid und brauchen nicht vergeblich zu warten. Ich wünsche Ihnen also noch einen schönen Abend.« Damit wandte sie sich zum Gehen.
Hastig griff er nach ihrem Arm. »Nein, nicht so eilig! Bitte bleiben Sie!«
»Ich kann nicht, ich habe noch eine Verabredung.«
Sie stand dicht vor ihm und sah ihm nun direkt in die Augen. Sein Atem ging plötzlich schneller, sein Puls beschleunigte sich auf ein aberwitziges Tempo, seine Handflächen wurden feucht.
»Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?«, entfuhr es ihm.
»Was?« Sie riss die Augen auf. »Nein, tue ich nicht. Warum ...?«
Offensichtlich hatte er es nun doch geschafft, sie aus der Reserve zu locken.
»Bitte, bleiben Sie. Nur auf einen Drink!« Er versuchte so viel Überzeugungskraft wie nur möglich in seine Worte zu legen und es schien ihm zu gelingen: Sie zögerte.
»Na gut, aber wirklich nur kurz.« Es klang bereits weniger schroff als zuvor. Mit etwas Fantasie und gutem Willen – von beidem besaß Marco im Moment mehr als genug – konnte man ihre Stimme sogar schon als nachgiebig bezeichnen.
Er unterdrückte ein Aufatmen, als sie sich tatsächlich setzte. Allerdings berührte sie nur die Kante des Stuhls und es war offensichtlich, dass sie auf dem Sprung war.
»Was möchten Sie trinken?«
»Einen caffè, bitte.«
Enttäuscht gab er ihre Bestellung an den Kellner weiter. »Da haben Sie sich aber tatsächlich das Getränk mit der kürzesten Halbwertzeit ausgesucht.« Er versuchte, sich seine Ernüchterung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, und registrierte ein leises Lächeln um ihre Mundwinkel. »Haben Sie meine Karte noch?«, wollte er dann wissen.
»Ist das Ihr Ernst?« Die Antwort war, auch mit noch so viel gutem Willen, eindeutig ironisch.
»Also nein.« Er seufzte. »Wenn ich Ihnen noch eine gebe, werden Sie sie dann behalten und mich anrufen?«
Sie sah ihn spöttisch an und er erwartete schon eine flapsige Antwort, aber in der Zwischenzeit wurde ihr caffè vor sie hingestellt und sie trank ihn mit wenigen kleinen Schlucken aus. Fasziniert beobachtete er ihre langen, schlanken Finger mit den gepflegten, dezent lackierten Nägeln.
»Sie haben mir noch keine Antwort gegeben«, versuchte er es erneut.
»Worauf?«
»Ob Sie an Liebe auf den ersten Blick glauben.«
»Ich habe Ihnen geantwortet«, erinnerte sie ihn nun mit einem nachsichtigen Lächeln. »Die Antwort hat Ihnen nur nicht gefallen.«
Er seufzte. »Das ist wahr! Ich selbst glaube übrigens daran.«
»Liebe auf den ersten Blick ist ungefähr so zuverlässig wie eine ärztliche Diagnose auf den ersten Händedruck«, zitierte sie altklug.
»Wo haben Sie das denn her?«
»Vor vielen Jahren mal auf einem dieser Kalender gelesen, die jeden Tag einen neuen intelligenten Spruch bereithalten.« In ihren Augen blitzte es schelmisch. »Aber fragen Sie mich jetzt bitte nicht nach der Quelle, ich habe den Urheber vergessen.«
»Nein, ich werde Ihnen eine andere Frage stellen: Wenn ich Ihnen jetzt meine Telefonnummer gebe, werden Sie sie dann behalten und mich anrufen?«, wiederholte er seinen Versuch von vorhin, der ins Leere gegangen war.
Sie erwiderte forschend seinen dunklen, glühenden Blick und schwieg. Dann schloss sie für einen Moment ergeben die Augen und streckte wortlos mit einer leicht übertriebenen Geste die Hand aus. Er ließ sich nicht zweimal auffordern, sondern legte sofort seine Visitenkarte auf die offene Handfläche, die sie ihm anbot.
Sie warf einen kurzen Blick darauf.
»Marco Mingoni« stand da nur und darunter eine Telefonnummer. Das war mehr als schlicht.
Es war puristisch.
»Werden Sie mich anrufen?«, drängte er. »Bitte!«
»Wir werden sehen«, versetzte sie ungerührt. »Aber jetzt muss ich wirklich gehen, meine Freunde werden sich schon fragen, wo ich so lange bleibe. Danke für den caffè.«
Er winkte ab. »Gern geschehen! Schade, dass Sie schon gehen müssen.«
Sie machte eine undefinierbare Geste, die sowohl Bedauern als auch Gleichgültigkeit ausdrücken konnte, stand auf und verließ das Lokal mit den gleichen fließenden Schritten, mit denen sie es betreten hatte.
Marco Mingoni war ebenfalls aufgesprungen, doch nun setzte er sich wieder. Er war fassungslos. Fassungslos über seine eigene Dummheit. Ganz offensichtlich hatte sich sein Verstand bei ihrem Anblick schlagartig und vollständig verabschiedet. Er wusste weder, wie sie hieß, noch hatte er einen Anhaltspunkt, wie er sie erreichen konnte.
Seine Finger umklammerten das Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand. Wie hatte er nur so versagen können? Er erkannte sich selbst kaum wieder. Diese Momente kopfloser Verwirrung, in denen sein Gehirn von anderen Regionen gesteuert wurde, sollte er in seinem Alter doch längst hinter sich haben!
Sein Telefon klingelte. Einen wahnwitzigen Moment lang hoffte er, sie könnte es sein, aber es war nur einer seiner Freunde. Die Gruppe, mit der er die Ausstellung besucht hatte, vermisste ihn inzwischen.
»Wo steckst du? Wolltest du nicht gleich wieder hier sein?«
»Ich komme schon! Was gibt es denn so Dringendes?«
»Dass hier etliche Leute auf dich warten! Wir wollten noch was Essen gehen, falls du dich erinnern kannst, wenn du also mitkommen möchtest, solltest du dich schleunigst wieder hierher bequemen. Diese Frau läuft dir schon nicht davon, aber wir gehen in Kürze woanders hin. Bring sie doch einfach mit.«
Marco brummte etwas Unverständliches, ehe er auflegte, um nicht damit herauszuplatzen, dass diese Frau bereits davongelaufen war!
Nach diesem Abend vergingen etliche Tage. Er wartete vergeblich auf einen Anruf. Schließlich, nach fast zwei Wochen, hatte er plötzlich eine Frauenstimme am Telefon.
»Salve, professore, hier spricht Ella.«
Er stutzte, wusste, dass ihm die Stimme bekannt vorkam, konnte sie aber nicht zuordnen.
»Ella! Schön, dass wir uns mal hören. Wie geht es denn so?«
Wer zum Teufel war Ella?
Mit äußerster Vorsicht legte er gerade so viel Begeisterung in seinen Tonfall, dass es weder übertrieben noch unterkühlt klang, und hoffte, sie damit zum Sprechen zu bringen.
»Gut, danke. Und selbst?«
Sie schien ihm den Gefallen nicht tun zu wollen, sondern blieb leider einsilbig. Ihre Gegenfrage half ihm nicht weiter, er musste nachlegen.
»Geht so. Lange nicht mehr gehört, oder? Was gibt es denn Neues?«
Krampfhaft versuchte er weiterhin, eine Anrede zu umschiffen. Solange er nicht wusste, wer Ella war, konnte er nicht einmal sagen, ob er sie duzen konnte oder lieber siezen sollte.
»Na, Sie gefallen mir!«, spottete sie jetzt, doch er konnte ihre Stimme leicht zittern hören. »Erst rennen Sie mir Tür und Tor ein und drängen mir Ihre Visitenkarten auf, und dann wissen Sie nicht einmal mehr, wer ich bin.«
Er hörte sie etwas verunsichert durchs Telefon lachen und schlagartig wurde ihm klar, wer ihn da angerufen hatte. Der Schreck jagte ihm einen heißen Schauer den Rücken hinunter. »Oh mein Gott! Sie!«
»Ja, ich. Und ganz offensichtlich war dieser Anruf eine ziemlich blöde Idee!« Sie wurde schlagartig ernst und er konnte ihre Ernüchterung förmlich hören. »Entschuldigen Sie, professore! Tut mir leid, ich war aufdringlich. Also bitte, tun wir einfach so, als hätte ich mich verwählt, okay? Schönen Nachmittag noch.«
»Nein! Bitte, warten Sie …«
Zu spät. Sie hatte bereits aufgelegt. Einen Moment lang stand er da und fühlte sich wie ein begossener Pudel. Vermasselt, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte seine wahrscheinlich einzige Chance, sie wiederzusehen, absolut verpasst.
»Idiot!«, schimpfte er lautstark vor sich hin, ehe sein Hirn wieder anfing zu funktionieren. Mit fliegenden Fingern sah er in seiner Anruferliste nach und es war so, wie er gehofft hatte: Ihr Telefon hatte die Rufnummer übertragen. Er rief sofort zurück und nach einem langen Moment des Bangens antwortete sie ihm tatsächlich.
»Warum haben Sie denn einfach aufgelegt?«, fragte er atemlos statt einer Begrüßung.
»Ich kam mir gerade eben ganz fürchterlich dumm vor«, gestand sie und er spürte, dass sie das ernst meinte. »Ich hätte gar nicht erst anrufen sollen, das war ziemlich … nun ja, eben dumm von mir! Da habe ich lieber wieder aufgelegt. Warum auch nicht, ich …«
»Weil ich Sie unbedingt sprechen muss, darum nicht!«
»Na ja, so hörte sich das für mich aber nicht an.«
»Und das tut mir auch ganz fürchterlich leid, aber Ella«, seine Stimme klang nun sehr eindringlich, »Sie haben mir weder Ihren Namen verraten noch eine Nummer gegeben. Wie konnte ich nach einer Ewigkeit des Schweigens noch ein Lebenszeichen von Ihnen erwarten?«
Einen Augenblick lang herrschte Stille in der Leitung.
»Das stimmt, der Punkt geht an Sie«, antwortete sie zögernd. Er konnte sie buchstäblich lächeln hören und musste sich bemühen, gleichmäßig weiterzuatmen. »Aber nun hab ich Sie ja doch angerufen.«
»Ja, zu meinem Glück. Ich freue mich sehr, wirklich! Wann kann ich Sie sehen?«
Er konnte sie durch das Telefon kurz einatmen hören, so als überlegte sie, ob sie ihm dieses Zugeständnis machen sollte.
»Ist Ihnen morgen Nachmittag recht?«, fragte sie schließlich. »Oder haben Sie da Vorlesung? Oder vielleicht Filmaufnahmen? Sie sind ja ein vielgefragter Mann, da ist der Terminkalender wahrscheinlich voll.«
Er stieß hörbar die Luft aus. »Sie haben mich gegoogelt!«
»Was haben Sie denn erwartet? Man sollte schließlich wissen, auf wen man sich einlässt.«
»Sie wollen sich also auf mich einlassen?«
Nun lachte sie wieder, dieses Mal deutlich entspannter.
»Uups! Ich sehe schon, bei Ihnen muss ich mit meiner Wortwahl besonders vorsichtig sein. Also morgen Nachmittag?«
»Unbedingt! Wo treffen wir uns?«
»In Ihrem Büro?«
»Warum dort?« Er war verblüfft.
»Ich möchte sehen, wo Sie arbeiten, wenn Sie nicht gerade vor der Kamera stehen und Leute ausfragen.«
Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. »Einverstanden. Können Sie um drei Uhr bei mir sein? Wissen Sie, wohin Sie –«
»Hab ich mir schon ausgedruckt«, unterbrach sie ihn, »dann also bis morgen.«
Sie legte auf, ohne seinen Gruß abzuwarten, und er schwankte zwischen Euphorie und Ratlosigkeit.
Ihre überraschende Bereitschaft, sich mit ihm zu treffen, war ihm nicht geheuer. Sie hatte sich wohl eingehend über ihn informiert. Nun, das war nicht schwer, was ihn mehr verwunderte, war die Tatsache, dass sie ihn nicht schon vorher gekannt hatte. Zwar war sein Fachgebiet nicht unbedingt jedermanns Sache, aber durch die Fernsehübertragungen seiner Zwiegespräche mit bekannten Koryphäen jeglicher Couleur hatte er immerhin so etwas wie nationalen Kultstatus erreicht. Es war von Anfang an sein Markenzeichen gewesen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, und dieses Charakteristikum, gepaart mit seinem Aussehen, hatte ihn schnell zum Aushängeschild seiner Alma Mater werden lassen.
Offensichtlich aber war ihr erst nach ihren Recherchen über ihn bewusst geworden, wer ihr da eigentlich seine Bekanntschaft aufzudrängen versuchte. Er ertappte sich bei einem enttäuschten Seufzer. Es wäre ihm definitiv lieber gewesen, sie hätte sich mit ihm verabredet, ehe sie das Internet befragt hatte!
Ella sah auf die Uhr. Nur noch ein paar Minuten, dann musste sie endlich eine Entscheidung getroffen haben, ob sie ihren Termin mit diesem attraktiven Professor tatsächlich wahrnehmen wollte. Sie wunderte sich noch immer, woher sie den Mut genommen hatte, ihn tatsächlich anzurufen und ein Treffen mit ihm zu vereinbaren. In ihrem Bekanntenkreis tummelten sich nicht allzu viele Anzugträger mit eleganten Krawatten und unübersehbar teuren, maßgefertigten Schuhen. Sie hatte also gewisse Berührungsängste zu überwinden gehabt, ehe sie dann doch der Neugier erlegen war.
Wahrscheinlich waren es seine Augen gewesen, überlegte sie, diese unheimlich dunklen, tiefliegenden Augen, die sie angesehen hatten, als wollten sie sie hypnotisieren. Diese fast ganz schwarzen Augen, seine dunklen Augenbrauen und dazu das beinahe schon durchweg ergraute Haar bildeten bei ihm einen irren Kontrast und als er sie so intensiv gemustert hatte, war ihr in der Magengegend ziemlich flau geworden.
Als er bei dieser Ausstellungseröffnung wie aus dem Boden gewachsen vor ihr aufgetaucht war, hatte sie ihn mit rasendem Herzen sofort wiedererkannt. Sie hatte sich ganz schön mutig gefunden, als sie die Veranstaltung verlassen hatte, um sich mit ihm in dieser Bar nebenan zu treffen. Die Visitenkarte hatte sie wohlweislich behalten. Sie kam nicht allzu viel herum und derart attraktiven Männern zu begegnen, war bei ihr absolut nicht an der Tagesordnung.
Die Ergebnisse ihrer Internetrecherche schließlich hatten sie nicht schlecht staunen lassen: Marco Mingoni, Dekan der Fakultät für Philosophie der Universität Ferrara, neununddreißig Jahre alt, verheiratet, Autor mehrerer Bücher und Moderator einer regelmäßigen, sehr anspruchsvollen Fernsehsendung. Wurde bereits als der nächste mögliche Rektor der Universität gehandelt.
Das hatte sie noch neugieriger gemacht. Gleichzeitig aber hatte es auch ihre Scheu gesteigert, und dass er sie am Telefon nicht gleich erkannt hatte, hatte ihren Mut noch weiter sinken lassen.
Anscheinend war er trotz seiner Ehe kein Kostverächter, denn warum sonst sollte er sie um ein Date bitten? Obwohl es keine gesicherten Informationen über sein Liebesleben zu geben schien, vermutete sie, dass er es mit der ehelichen Treue wohl nicht so genau nahm. Dabei schottete er sich offensichtlich gekonnt ab, denn sie hatte nichts, rein gar nichts, über Affären oder dergleichen finden können. Die ganze Konstellation war für sie immer interessanter geworden und da sie nun endlich zwei Wochen Urlaub hatte, traf sich das ganz gut. Also hatte sie sich schließlich dazu durchgerungen und ihn angerufen.
Nun saß sie hier und haderte mit sich.
Es reizte sie ungeheuer, den Termin wahrzunehmen. Schließlich war es ja Marco Mingoni gewesen, der sie dazu gedrängt hatte; er würde sie also kaum für aufdringlich oder indiskret halten. Andererseits fragte Ella sich zweifelnd, was sie sich eigentlich davon versprach, sich mit einem offensichtlich verheirateten, ziemlich prominenten Mann zu treffen, außer sie war – so wie er wahrscheinlich auch – auf ein unverbindliches Abenteuer aus.
Ella schluckte. Die Versuchung war tatsächlich sehr groß, den Grund für sein Drängen herauszufinden. Allerdings, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann gab es da nicht sonderlich viel Auswahl an möglichen Gründen. Ein Mann bat eine fremde Frau um ein Treffen – na, warum wohl? Weil er sich schon lange nicht mehr angeregt und intelligent unterhalten hatte? Und das ausgerechnet bei ihr suchte?
Sie schüttelte den Kopf. Wer’s glaubt, dachte sie ironisch. Akademiker waren eben doch nur Menschen und offensichtlich war auch er nur ein Mann, Ehefrau hin oder her. Sie führten ja vielleicht eine offene Beziehung, in solchen Kreisen war das möglicherweise nichts Außergewöhnliches.
Sollte sie oder sollte sie nicht?
Der Gedanke, ihn einfach zu versetzen, verursachte ihr Unbehagen. Aber ihn anzurufen und ihm abzusagen, reizte sie noch viel weniger.
Sie würde also doch hingehen. Ein nervöses Kribbeln machte sich in ihrer Magengrube breit, doch dann raffte sie sich auf.
Wenn sie sich in der Situation nicht wohlfühlen würde, dann brauchte sie nur aufzustehen und zu gehen und nichts wäre passiert. War ihr der faszinierende Professor aber auch nach einer Unterhaltung noch sympathisch, dann konnte man sehen, wohin es führte …
Mingoni stand am Fenster und sah hinunter. Er hatte keine Ahnung, wo sie parken und aus welcher Richtung sie kommen würde, aber er suchte trotzdem ungeduldig die Straße ab, soweit er sie überblicken konnte. Nicht zum ersten Mal an diesem Nachmittag fragte er sich nervös, ob sie überhaupt kommen würde.
Als es an der Tür klopfte, fuhr er überrumpelt herum. »Avanti!«
»Permesso.«
»Bitte, kommen Sie herein.«
Sie wehte in sein Büro wie eine frische Sommerbrise. Ein unaufdringlicher, aber deutlich wahrnehmbarer Duft umhüllte sie, als sie auf ihn zuging und ihm zu einer förmlichen Begrüßung die Hand entgegenstreckte. Als er ihre Hand ergriff und sie schüttelte, schloss er unbewusst einen Moment die Augen und holte tief Luft. Als er sie wieder öffnete und ihr einen intensiven Blick schenkte, bemerkte er ihr spöttisches Lächeln.
»Läuft das bei Ihnen immer so?«
»Wie – so?« Er war kurzzeitig aus dem Konzept gebracht.
»Na das: Augen zu und einatmen. Ist das ansteckend oder nur eine esoterische Übung?«
Was um Himmels willen brachte ihn nur dazu, sich in Gegenwart dieser Frau so dämlich zu benehmen? Nun brach er in Gelächter aus, seine Nervosität musste sich Luft verschaffen.
»Tut mir leid«, wich er aus, »aber Ihr Duft wirft mich fast um.«
»Hab ich zu viel erwischt?« Sie riss die Augen auf.
»Nein, auf keinen Fall! Mir gefällt er außerordentlich, nur deshalb wirft er mich um. Und in Verbindung mit Ihnen …« Er ließ den Satz unvollendet.
Ella tat so, als hätte sie das nicht gehört, und ging interessiert im Raum umher. Mit unverhohlenem Interesse begutachtete sie das, was er als sein Büro bezeichnete.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass sich hinter den alten Mauern unserer ehrwürdigen Uni so etwas verbirgt«, nickte sie schließlich anerkennend.
»Was meinen Sie mit so etwas?« Es klang deutlich pikiert.
»So etwas Modernes! Von außen gesehen erwartet man hier doch eher dunkle, schwere Stilmöbel, barocke Sessel, Respekt einflößende, düstere Gemälde an den Wänden … nicht das hier.«
»Sind Sie nun enttäuscht?«
Sie wandte sich lachend zu ihm um.
»Im Gegenteil. Ich finde es äußerst beruhigend, dass der Dekan der philosophischen Fakultät so auf der Höhe des Zeitgeistes ist.«
»Wenn Sie das überrascht, dann haben Sie vielleicht ein falsches Bild … nicht nur von mir. Aber setzen Sie sich doch bitte! Was möchten Sie trinken?«
»Momentan gar nichts«, lehnte sie dankend ab, während sie seiner einladenden Geste folgte und ihm gegenüber in einem der ultramodernen Ledersessel Platz nahm.
»Haben Sie es eilig?«
»Nein. Warum?«
»Weil Sie nichts trinken wollen. Das vermittelt mir den Eindruck, Sie könnten jeden Moment wieder aufspringen und davonlaufen.«
Sie starrte ihn einen Augenblick verblüfft an und verzog fast schmerzlich einen Mundwinkel. »Ich wusste es!«
»Was wussten Sie?« Sie irritierte ihn schon wieder.
»Dass es keine gute Idee sein würde, Ihrer Einladung Folge zu leisten.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ich sollte Ihnen vielleicht ein Geständnis machen. Ich habe mit Philosophie absolut nichts am Hut und schon gar nicht mit solchen tiefgeistigen Analysen über die Tatsache, ob ich etwas trinke oder nicht.«
Sein Mund verzog sich zu einem amüsierten Schmunzeln.
»Auch das ist eine Philosophie, ob es Ihnen nun gefällt oder nicht. Und, wenn ich Sie das fragen darf, warum sind Sie dann eigentlich hier, wenn Sie für Philosophie nichts übrighaben?«
Ella begegnete seinem intensiven, dunklen Blick, ohne zu blinzeln. Sein Lächeln vertiefte sich, während sie einen Moment schwieg und anscheinend eine Antwort abzuwägen schien.
»Das ist eine sehr gute Frage«, meinte sie schließlich vage.
Er war sicher, dass es nicht das war, was sie ursprünglich hatte sagen wollen, und beschloss, einen Vorstoß zu wagen.
»Wenn ich Ihnen jetzt eine philosophische Frage stelle, versprechen Sie mir eine ehrliche Antwort?«
»Ich kaufe nicht gerne die Katze im Sack«, gab sie zögernd zurück.
»Es ist keine Fangfrage, versprochen.« Nun beugte er sich vor und sah sie eindringlich an.
»Also gut, fragen Sie.«
»Sind Sie vielleicht deshalb hier, weil Sie etwas für mich übrighaben?«
Seine Stimme war leiser geworden, als er ihr diese direkte Frage stellte, und noch während er redete, hoffte er inständig, sie und die Situation richtig eingeschätzt zu haben. Nichts könnte jetzt schlimmer sein, als dass sie einfach aufstand und ging, weil sie sich von ihm angemacht oder belästigt fühlte. Aber nun, da sie ihm endlich unter vier Augen gegenübersaß, konnte er nicht anders, als auf Risiko zu spielen. Er musste es versuchen, schließlich war sie freiwillig gekommen.
»Vielleicht«, antwortete sie ebenso leise. Ihr Blick ließ den seinen nicht los. Täuschte er sich oder hatte da gerade so etwas wie ein Lächeln in ihren Mundwinkeln aufgeblitzt?
Diese Antwort und das, was er in ihren Augen las – oder zu lesen hoffte – ließ ihm den Atem stocken. Schlagartig wurde ihm seine Hose zu eng. Die Situation erregte ihn, aber ihm war auch klar, dass er sie am hellen Nachmittag in seinem Büro im Gebäude der, wie sie es genannt hatte, ehrwürdigen Uni schlecht vernaschen konnte. Wenn er auch ehrlicherweise im Moment gerade das gern getan hätte ...
»Allerdings hat mir das Internet auch verraten, dass Sie verheiratet sind«, gab sie nun zu bedenken und riss ihn aus seinen anregenden Fantasiebildern. Zugleich zerstreute sie damit aber auch etwaige Zweifel, die er bezüglich ihrer Absichten ihm gegenüber noch hätte haben können.
»Ja, allerdings«, gab er zu, als er seiner Stimme wieder einigermaßen vertraute. »Auf dem Papier schon, aber in Wahrheit …« Er ließ den Satz unvollendet.
»Ah«, machte sie nur, tat ihm aber nicht den Gefallen, genauer nachzufragen. Sie hatte den Blick noch keine Sekunde von ihm gewandt. Seine Verwirrung konnte ihr nicht entgangen sein.
»Ich könnte allerdings die Scheidung einreichen«, hörte er sich sagen.
»Das träume ich jetzt aber nur!«, platzte sie belustigt heraus, ehe sie in Gelächter ausbrach. »Dass ihr hochstudierten Leute ein merkwürdiges Völkchen seid, habe ich ja immer schon vermutet«, spottete sie sanft, als sie sich wieder beruhigt hatte, »dass es aber so schlimm um euch steht, hätte ich nicht gedacht. Oder bringt das nur die Philosophie so mit sich?«
Warum hatte er das nur gesagt? Je länger er ihr gegenübersaß, umso mehr fühlte er sich wie ferngesteuert. Dann, nach einer etwas zu langen Schrecksekunde, lachte auch er.
»Sie sehen, mit uns Hochstudierten ist es auch nicht weit her.«
Nun beugte auch Ella sich etwas vor. Noch immer fixierte ihn ihr Blick, aber jetzt hatten ihre Augen etwas spitzbübisch Funkelndes.
»Wissen Sie was?«
Er schüttelte lieber nur den Kopf. Offensichtlich lag das Risiko an diesem Nachmittag für ihn darin, den Mund aufzumachen.
»Wir sollten einstweilen wenigstens so tun, als würden wir die zwischen zivilisierten Menschen üblichen Rituale gepflegter Konversation einhalten, was meinen Sie?«
Er konnte im Moment nichts anderes tun, als sie stumm anzustarren und hilflos die Schultern zu zucken. Konnte sie Gedanken lesen? Ahnte sie, wie sehr sie ihn reizte? Oder hatte sie einfach nur vor, sich einen Prominenten zu angeln? Schließlich hatte sie ihn ja erst angerufen, nachdem sie mehr über ihn erfahren hatte.
»Da Sie mir nicht widersprechen, schlage ich vor, dass wir uns als allererstes ein etwas weniger offizielles Ambiente suchen.«
»Aber Sie wollten doch, dass wir uns hier in meinem Büro treffen! Das hat mich ohnehin gewundert«, gab er zu.
»Ich weiß. Aber ich wollte einfach sehen, in welcher Umgebung Sie arbeiten. Man hat als Laie nicht oft die Gelegenheit, das Allerheiligste einer Uni von innen zu sehen.« Sie lächelte verschmitzt.
»Sie wollten sehen, ob ich echt bin, geben Sie’s nur zu!«
Sie holte tief Luft und riss überrascht die Augen auf. »Ertappt. Sind Sie mir nun böse?« Sie lächelte immer noch. Ihre Ehrlichkeit entwaffnete ihn vollkommen.
»Eigentlich sollte ich«, er schmunzelte leicht gequält zurück, »aber ich kann nicht.«
»Und außerdem sollten wir uns überlegen, ob wir nicht langsam auf diese offizielle Anrede verzichten«, schlug sie weiterhin vor. »Da Sie sich nun schon mal für mich scheiden lassen wollen, liegt es doch nahe, dass wir uns jetzt wenigstens duzen, oder nicht?«
Ehe er sich als kompletter Idiot outen konnte, nickte er entschlossen.
»Ja, so machen wir das. Gute Idee.«
Er stand auf. Sie erhob sich ebenfalls. Ehe er die Situation steuern oder auch nur annähernd verstehen konnte, hatte sie ihn mit einer Hand um den Nacken gefasst und zog ihn leicht zu sich heran. Ihre Lippen waren weich und trocken, die sanfte Berührung jagte ihm einen heißen Schauer der Erregung in den Unterleib, ehe sie sich auch schon wieder zurückzog.
»Na, dann können wir das förmliche ›Sie‹ jetzt endlich bleiben lassen, was meinst du?«, kommentierte sie die Situation belustigt.
»Unbedingt«, antwortete er mit rauer Stimme. »Ich bin Marco.«
»Ella. Sehr erfreut, professore.« Nun grinste sie ihn pfiffig an. »Ich habe dich überrascht, gib es zu!«
»Hast du, ja.«
Sie nickte zufrieden. »Wohin gehen wir jetzt?«
»Lass mich kurz hier alles ausschalten ...« Er ging um seinen Schreibtisch herum, informierte jemanden telefonisch über seine geplante Abwesenheit und schaltete seine diversen Geräte aus. Insgeheim war er froh, den Tisch als Sicherheitsbarriere zwischen sie beide gebracht zu haben. Er hatte noch nicht erlebt, dass eine Frau schon beim ersten Treffen so ungeniert in die Offensive ging. Aber es war ja gar nicht das erste Treffen, korrigierte er sich, also war es wohl auch nicht weiter tragisch, dass ihm schon vor dem Aperitif die Führung entglitt. Irgendwie fühlte er sich, als stünde er kurz davor, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Dieses Gefühl war ihm in den letzten Jahren zum Glück fremd geworden. Er hätte auch jetzt gerne darauf verzichten können und wusste nur nicht, wie er es aufhalten sollte.
Als er schließlich nichts mehr an seinem Schreibtisch zu tun hatte, sah er auf.
Ella stand mitten im Raum und sah ihn erwartungsvoll an. Ein leises Lächeln umspielte ihren Mund, was die zwei kleinen Fältchen an ihren Mundwinkeln auf interessante Weise vertiefte.
»Können wir?« Seine Stimme klang forsch, als wollte er dadurch zu seiner ungezwungenen Selbstsicherheit zurückfinden, die ihm die Arbeit vor der Kamera trotz des natürlich unvermeidlichen Lampenfiebers immer so leicht machte. Hier, bei dieser ihm eigentlich vollkommen fremden Frau, stieß er unerwartet an seine Grenzen.
Ihr Lächeln vertiefte sich. »Wir können. Und wohin entführst du mich jetzt?«
Er schnaubte, während er die Tür öffnete, die direkt auf den Gang und nicht durch sein Sekretariat führte. Wie gerne hätte er sie jetzt tatsächlich entführt und nicht nur in irgendein Lokal!
»Wir werden schon etwas finden, das uns beiden zusagt«, antwortete er stattdessen vage.
Er führte sie ein paar Straßenecken weiter in eine kleine, gemütliche Kneipe. Sie suchten sich einen Tisch im hinteren Bereich des Lokals aus und setzten sich einander gegenüber.
»Ich hoffe, du machst mir die Freude, wenigstens jetzt etwas zu trinken«, mahnte er mit gespielt vorwurfsvoller Stimme.
»Jetzt ja.«
»Und was darf ich dir bestellen?«
»Einen Hugo bitte. Falls es hier Holunderblütensirup gibt.«
Es gab ihn, und er bestellte zwei der erfrischenden Aperitifs.
Die Drinks kamen und nachdem sie sich zugeprostet und an den Gläsern genippt hatten, schwiegen beide einen Moment.
»Apropos Arbeit«, nahm sie den Faden schließlich wieder auf. »Ich habe da auf deinem Schreibtisch noch ganz andere Visitenkarten gesehen als die, die du mir gegeben hast. Warum benutzt du nicht diese, wenn du auf Jagd gehst?«
Er wusste, was sie meinte: die offiziellen Visitenkarten mit dem Emblem der UNIFE – der Università di Ferrara – auf denen unter seinem Namen auch noch ein paar beeindruckende Titel vermerkt waren.
»Auf Jagd? Ich gehe nicht auf Jagd! Und wenn … hätte das schneller zum Erfolg geführt?«
»Schon möglich«, gab sie nach einem Moment des Überlegens zu.
»Und warum?«
»Weil die Aussicht, sich mit dem Dekan einer Hochschulfakultät zu treffen, nun mal eine andere ist als diejenige, sich mit irgendeinem Unbekannten zu verabreden, von dem man überhaupt nichts weiß und über den man auch auf Google nichts herausfinden kann.«
»Du hast dich also nur deshalb mit mir getroffen, weil ich Dekan bin?« Er wusste nicht, ob ihm der Gedanke gefiel.
»Sei nicht albern! Wenn du dich als unsympathisch herausstellst, kannst du sein, wer immer du willst, und ich werde dich kein zweites Mal treffen. Aber hast du eine Ahnung, was da draußen alles rumläuft? Hast du auch nur einen blassen Schimmer davon, womit man als Frau Tag für Tag konfrontiert wird? Da kann man wirklich froh sein, wenn man auch nur die leiseste Hoffnung hegen darf, dass der neue Bekannte zumindest rein theoretisch einigermaßen seriös und geistig gesund ist.«
Er starrte sie fassungslos an. So hatte er das noch nie gesehen.
»Aber ich könnte trotzdem ein Psychopath sein. Die Geschichte der Philosophie ist bekanntlich voll davon.«
Sie winkte lachend ab. »Ich weiß, die hatten irgendwie doch alle einen an der Waffel. Aber ein akademischer Titel schafft dennoch erstmal Vertrauen, vielleicht ist das ja falsch, aber es ist nun mal so. Zumindest erleichtert es eine theoretische Vorauswahl. Wenn du dich danach leider trotzdem als Psychopath entpuppst, dann habe ich eben Pech gehabt.«
»Hättest du mit der richtigen Visitenkarte denn bereits nach dem ersten Treffen angerufen?«
Sie zögerte keine Sekunde.
»Nein, weil ich das aus Prinzip nie tue. Ich hätte ja damals schon deine Karte behalten und dich googeln können«, erklärte sie. »Dass wir uns dann später zufällig noch einmal getroffen haben, war etwas gänzlich anderes.«
»Es hätte also doch keinen Unterschied gemacht.«
»Ich hätte dich vielleicht schon vorgestern angerufen, nicht erst gestern«, neckte sie ihn.
»Ja, genau – warum erst gestern?«
»Weil ich seit heute Urlaub habe. Ich habe also endlich Zeit, ein bisschen Privatleben zu kultivieren.«
»Schade – ich bin mitten im Terminstress.«
»Vorlesungen?«
»Ich mache manchmal Vertretung, aber es ist nicht mehr meine Aufgabe zu unterrichten. Und darüber bin ich sehr froh.«
»Wieso das denn?«
»Weil ich mich vor dem Ansturm verliebter Studentinnen gar nicht mehr retten konnte.« Nun grinste er breit und entwaffnend.
»Na, das kann ich mir ja lebhaft vorstellen, du eingebildeter Gockel.« Ihre Stimme war voller Spott, doch auch sie grinste. Ella konnte es sich tatsächlich vorstellen. Bei seinem Aussehen und Charme hatte es die Damenwelt in seinen Vorlesungen sicher schwer gehabt, sich auf den Stoff zu konzentrieren. »Und wann hast du vor lauter akademischer Verwaltungsarbeit noch Zeit, deine Sendungen zu machen?«
»Das ist meistens mit einem Wochenende im Monat erledigt«, klärte er sie auf. »Der Sender bereitet alles vor, ich liefere ihnen einen Fragenkatalog, den sie vor der Aufnahme mit demjenigen meines Gesprächspartners in Einklang bringen, und der eigentliche Dreh ist meistens schnell im Kasten. Außer es geht etwas schief, aber das kommt nur selten vor.«
»Aha.« Ella nickte verständnisvoll. »Ist es eigentlich schwierig, immer wieder Leute zu finden, die dir Rede und Antwort stehen wollen?«
Nun lachte er spöttisch auf.
»Im Gegenteil! Du ahnst ja nicht, wie gern Menschen über sich selbst reden. Und es gibt darunter immer wieder welche, die auch tatsächlich etwas Intelligentes zu sagen haben.« Er wurde wieder ernst und spielte etwas geistesabwesend mit seinem Glas. »Interessierst du dich eigentlich sehr für Kunst?«, fragte er sie plötzlich unvermittelt.
Sie sah ihn einen Moment lang merkwürdig an. »Wie kommst du jetzt darauf?«
»Immerhin habe ich dich auf einer Ausstellung getroffen, falls du dich erinnerst.«
»Ja, daran erinnere ich mich noch gut.« Nachdenklich drehte nun auch sie ihr Glas in den Händen. »Ich … also, ich habe beruflich mit Kunst zu tun.«
»Tatsächlich? Das ist ja hochinteressant.«
Sie nickte. »Ja. Hochinteressant.«
Der Unterton in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. »Was soll das heißen?«
Sie räusperte sich und hielt den Blick verlegen auf ihr Glas gerichtet. »Ich rede eigentlich nicht so gerne darüber. Es ist alles mehr Schein als Sein.«
Das brachte ihn zum Lachen. »Arbeitest du etwa für eine Bande von Kunstfälschern?«
Sie sah auf. »Nein, natürlich nicht.«
»Das wird ja immer geheimnisvoller. Nun erzähl schon, was ist daran so ehrenrührig?«
»Eigentlich nichts, aber es ist auch nicht gerade was Besonderes. Ich arbeite bei einem dieser Kunsthändler, die Drucke und Massenware kommerziell an Touristen verkaufen.«
Er zuckte die Achseln. »Da ist nun wirklich nichts dabei. Kunstdrucke sind doch keine Fälschungen. Und ich hatte schon auf ein finsteres Geheimnis gehofft!«
Daraufhin zuckte wiederum sie die Achseln. »Nein, das ist kein Geheimnis, aber besonders toll ist es nun auch wieder nicht, denn dieser kommerzielle Kunsthändler ist noch dazu mein eigener Vater. Könnten wir also bitte das Thema wechseln?«
Er lachte belustigt auf und musterte sie dann einen Moment lang mit leicht zusammengekniffenen Augen. Er fand an dieser Konstellation nichts, was ihr so unangenehm hätte sein müssen, doch es war offensichtlich, dass es ihr schon beinahe peinlich war, darüber zu reden. Also gab er nach und kehrte zum Ausgangspunkt seiner Frage zurück.
»Im Palazzo dei Diamanti ist gerade eine Ausstellung, die ich gerne sehen würde.« Er hob den Blick zu ihrem Gesicht und musterte es so eindringlich, als müsste er anschließend aus dem Gedächtnis ein Porträt von ihr anfertigen.
»Ich weiß«, antwortete sie schlicht und ignorierte seinen bohrenden Blick. »Boldini, Previati und de Pisis. Ein Teil der Gemälde, die sie wegen der Erdbebenschäden am Palazzo Massari ausquartieren mussten.«
»Du hast sie schon gesehen?«
Ella nickte, doch als sie seine Enttäuschung bemerkte, beugte sie sich plötzlich vor und legte ihm die Hand auf den Arm. »Das ist aber eine Ausstellung, die man sich gerne mehr als einmal ansehen kann.«
Marco starrte auf ihre Hand, die leicht auf seinem Arm lag, und er spürte ihre Wärme durch den Stoff seines Hemdes hindurch. Als sie seine Reaktion bemerkte, zog sie sie hastig zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ihre Blicke bohrten sich ineinander und Ella stieß hörbar den Atem aus. Die Luft zwischen ihnen schien auf einmal zu knistern, die erotische Spannung schickte Wellen der Erregung in seinen Unterleib.
Schließlich räusperte er sich mühsam und tat ungerührt. »Du würdest sie dir also noch einmal ansehen?«
»Jederzeit.«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2499-4
Alle Rechte vorbehalten