© 2016, Sarah Emmrich
Covergestaltung: Sarah Emmrich, unter Verwendung von Stockdaten: www.pexels.com
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-7396-5132-3
ISBN 978-3-7418-0719-0
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für S., weil sie Geschichten mag, und
für C., weil sie mich dazu brachte, diese Geschichte endlich aufzuschreiben.
Die Lichter, die aus den Fenstern des Hauses scheinen, wirken wie kleine Inseln in der Dunkelheit der Nacht. Ich sehe es genauer an, während meine Füße mich langsam voranbringen und erkenne, dass es ein heruntergekommenes und schmutziges Etablissement ist. Die Fenster sind vergilbt und man erkennt kaum, was sich im Innern befindet, trotzdem schummert das Licht durch sie hindurch. Der Putz der Fassade darum bröckelt sichtbar ab, und ich beschließe, lieber nichts anzufassen. Aber ich bin froh über die Tatsache, dass diese Bar da ist, denn vor nicht mal mehr fünf Minuten bin ich an der Straßenecke aufgewacht. Orientierungslos und mit einem leicht dröhnenden Kopf bin ich aufgestanden und habe mich umgesehen. Und außer den hellen Lichtern habe ich nichts erkennen können.
Keine vertrauten Häuser. Keine vertrauten Wege.
Schrecken durchfährt mich, als ich es plötzlich realisiere.
Ich habe keine Ahnung, wo ich bin.
Die Straße wirkt leer und verlassen, außer der Bar scheint hier alles still zu sein. Während ich versuche, mich zu orientieren, knallen meine Gedanken wie ein Feuerwerk durch meinen Kopf.
Wo bin ich?
Warum hatte ich dort an der Straßenecke gelegen?
Und … Was ist das überhaupt für eine Straße?
Mein Blick wandert über das Haus, an dessen Hauswand sich ein verwittertes Stück Holz leicht mit dem Wind bewegt. „Zur goldenen Gabel“ – das scheint der Name der Bar zu sein. Durch die geöffneten Fenster dringt Stimmengewirr, Geschrei und Gesang, und ich erschrecke, als der Eingang der Bar ruckartig aufgestoßen wird. Ein Mann stolpert heraus und fällt hart auf den gepflasterten Boden. Angstvoll gehe ich einen Schritt zurück.
„Sauf‘ nicht so viel! Deine Frau wird dich wieder prügeln, wenn du so heimkommst!“, brüllen Männerstimmen, dann wird die Holztür wieder unter lautem Gelächter zugeworfen. Das Schild darüber bewegt sich schnell durch den Schwung und lässt ein Knarzen ertönen, das mir bis in die Glieder fährt. Der Mann rappelt sich auf, flucht laut, hebt den Arm bedrohlich in Richtung der Bar und strauchelt dann in meine Richtung.
Oh, oh …
Er schiebt sich jedoch an mir vorbei, als hätte er mich nicht gesehen. Ich starre ihm hinterher und atme erleichtert auf, als er in die nächste Straße einbiegt und verschwindet.
Glück gehabt.
Aber kaum ist dieses Gefühl vorbei, kriecht pure Angst in mir hoch, als ich mich erneut umsehe und mein Blick wieder die Bar streift – ich kenne diese Straße nicht, und ich weiß nicht, wie ich hierherkam. Krampfhaft versuche ich, mich an das Letzte, was ich gesehen habe, zu erinnern. Da war dieses gleißende Licht, das mich blendete, und dann – Schwärze.
***
Das schrille Klingeln an der Wohnungstür lässt mich aufzucken. Ein Blick auf die Uhr in der Küche sagt mir, dass es noch früher Morgen ist. Gerademal sieben Uhr. Ich atme tief ein.
Es ist soweit.
Erneut klingelt es, und ich haste zur Tür. Der alte Holzboden knarrt dabei unter meinen Füßen, und ich fluche gedämpft. Als ich durch den Spion blinzeln will, durchbricht eine Stimme die Stille, in der ich mich bis soeben befunden hatte.
„Ich weiß, dass du hinter der Tür stehst, Mira!“
Der genervte Ton meiner Freundin lässt mich ertappt innehalten, ehe ich leise die Tür öffne. „Hast du auch wirklich alles?“
Nicht mal mehr eine Begrüßung?
Das fängt ja super an …
Vor mir steht meine beste Freundin Lena Crahndam, welche die Hände in die Hüfte gestemmt und die Lippen zusammengekniffen hat. Ihr blondes, fast goldenes Haar umrahmt ihr hübsches Gesicht mit den vollen Lippen und den grauen Augen und fällt ihr in sanften Wellen auf den Rücken. „Dir auch einen guten Morgen“, sage ich zerknirscht. Lena trägt ein weißes Kleid, dass sie nahezu unschuldig wirken lässt, darüber eine schwarze Strickjacke und in der Hand hält sie ihren Cellokoffer. Neidvoll blicke ich selbst an mir herab; ich trage meine schwarzen Leggins und den schlichten, senfgelben Pullover, darüber meine schwarze, dünne Weste. Meine dunkelbraunen Haare habe ich in einem einfachen Pferdeschwanz gebunden. Neben Lena sehe ich geradezu lächerlich aus.
„Ich wiederhole: hast du auch alles?“
„Jaah, klar …“, stöhne ich als Antwort und knete meine Hände, wie ich es immer tue, wenn ich nervös bin, was Lena augenblicklich mit einem Augendrehen quittiert.
Aber ehrlich. Wie hätte ich auch nur irgendetwas vergessen können an diesem verheißungsvollen Tag?
Seit Wochen bereite ich mich vor, habe meine Kleidung schon drei Tage vorher rausgelegt, und am Abend stellte ich ganze fünf Wecker, damit ich auch ja nicht verschlafen würde.
„Hab alles. Siehst du? Hier steht es.“
Ich zeige dabei mit einem übertriebenen Lächeln auf meine Tasche, in der sich meine Geige befindet. Lenas Blick wird sofort sanfter und sie atmet hörbar erleichtert aus. „Gut. Du darfst nicht vergessen, wenn wir diesen Test nicht bestehen, ist unsere Zukunft für immer ruiniert!“ Ich kneife die Augen zusammen, als Lena die Arme in die Höhe reißt, um ihre Aussage zu unterstreichen.
„Jetzt hör schon auf, Lena!“, sage ich leise zischend. Sie antwortet mit einem „Ts, Ts, Ts.“, dann schiebt sie mich in die Wohnung hinein. Meine Tante schläft noch, und ich ermahne Lena leise, dass das auch so bleiben solle. Tantchen wird sauer, wenn sie nicht ausschlafen kann, das weiß ich genau. Das ist der Grund, warum ich mich jeden Morgen so leise wie möglich verhalte. Aber Lena achtet selten auf meine Ermahnungen.
Als wir in der Küche ankommen, die direkt neben der Eingangstür angrenzt, setze ich mich auf einen Stuhl, da ich erwarte, dass wir noch einen Kaffee trinken würden, bevor wir losgehen. Lena aber stellt sich bedrohlich vor mich.
„Was soll das werden, Mira Sierothracs?“
Überrascht hebe ich die Augenbraue. „Was denn?“, frage ich verunsichert, doch Lena hat schon nach meinen Haaren gegriffen, ehe ich mich wegdrehen kann. Sie öffnet den Pferdeschwanz, so dass mir die Haare locker auf die Schultern fallen. Ich habe längst nicht so eine lange Wallemähne wie Lena, dass ich sie in eine gute Frisur verwandeln könnte, aber meine beste Freundin hat mir mit einfachen Handgriffen den Pony aus dem Gesicht geflochten, sodass sich nun eine bezaubernde Flechtfrisur an meinem Kopf entlangschlängelt. „Viel besser“, sagt sie zufrieden, als sie ihre Hände zurückzieht. „Kaffee?“, frage ich hoffnungsvoll und wedele mit einer Tasse, aber sie schüttelt energisch den Kopf und zieht mich am Handgelenk vom Stuhl hoch. „Willst du SO gehen? Mensch, Mira!“ Sie zerrt mich geradezu in mein Zimmer und trampelt dabei so sehr auf, dass es fast wie Absicht wirkt.
Ist es das nicht manchmal auch?
Erschrocken über diese Gedanken beiße ich auf meine Lippe und hebe beschwichtigend die Hände in Richtung von Lena. „Bitte, sei etwas leiser! Tantchen, sie-“ „Ernsthaft, Mira, du musst einen guten Eindruck hinterlassen, du kannst da nicht einfach so aufkreuzen, als hättest du bei einem Spaziergang beschlossen, zum Vorspielen zu erscheinen.“
Sie übergeht mich. Wie immer.
Ich seufze und frage: „Warum nicht? Sie sollen doch mein Stück bewerten, nicht mein Aussehen?“ Wieder sagt Lena: „Ts, Ts, Ts.“, öffnet meinen Kleiderschrank und kramt einen weißen Pullover hervor, den sie mir dann hinhält.
„Anziehen!“ Ihr Ton ist befehlerisch. Ohne etwas zu erwidern, ziehe ich die Weste und den senfgelben Pullover aus und schlüpfe anschließend in den weißen Pullover. Sie setzt sich mittlerweile auf mein Bett und zieht die Knie fast bis ans Kinn. „Schon besser“, bemerkt sie, während sie in meinem Bücherstapel wühlt. Ich stehe unschlüssig vor ihr. Aus irgendeinem Grund wage ich nicht erneut danach zu fragen, ob sie nun einen Kaffee möchte. Wieder fange ich an, meine Hände zu kneten. Lenas Blick fällt auf mich. Unter ihrem Blick sinke ich fast in mir zusammen. Er hat so etwas … bestimmendes. Aber es kommt keine bissige Bemerkung. Stattdessen zucken ihre Mundwinkel kurz.
„Hm. Da fehlt noch etwas.“, sagt sie ruhig und steht auf. Sie greift in ihre Tasche und lässt eine goldene Kette, an der ein kleiner kreisförmiger Anhänger mit einer eingravierten Welle baumelt, zum Vorschein kommen. „Das ist hübsch …“, stelle ich verwundert fest, als sie sie mir um den Hals legt. Sofort befühle ich das kalte Goldstück.
„Ist von meinem Vater“, antwortet sie lächelnd, und ihre Augen blitzen.
Komisch … Diese Kette habe ich noch nie an Lena gesehen, geschweige denn könnte ich mir Lenas Vater mit so einer Kette vorstellen. Und ich kenne ihn schließlich, wenn auch nur flüchtig.
Ich beschließe, das nicht zu hinterfragen, und sage: „Meine Weste kann ich trotzdem anziehen?“ Sie verdreht die Augen und verschränkt die Arme: „Wenn es sein muss …“
Ich ignoriere Lenas Tonfall und ziehe die schwarze Weste an. Ich fühle mich einfach wohler in ihr. Dann blicke ich gespannt in den Spiegel. Und wirklich, ich sehe besser aus in dieser Kleidung und mit der Frisur. Und wieder einmal beneide ich Lena, die mit einfachen Dingen das Beste aus mir herauszuholen vermochte. „Jetzt aber los!“, keift Lena plötzlich, und ich nicke.
Ja. Stimmt. Das Vorspielen.
Gerade noch so kann ich nach meinem Geigenkoffer greifen, als Lena mich schließlich ungeduldig aus der Wohnung zerrt. Dabei knallt die Haustür zu und ich seufze. Das wird Ärger geben, wenn ich nach Hause komme.
„Die Art & Music Academy nimmt nicht jeden auf!“, ruft sie theatralisch und hebt die Hände in einer dramatischen Geste gen Himmel. „Es ist ein Privileg, an dieser Schule zu einem Eignungstest eingeladen zu werden! Jetzt siehst du wenigstens aus wie jemand, der bald dort studieren wird.“
Ich ächze, als Lena sich mit einem Ruck umdreht und sie mir dabei ihre schwere Tasche gegen die Seite schlägt. Sie aber beachtet das gar nicht, sondern ruft: „Beeilung! Beeilung! Durch dein Umstyling haben wir viel zu viel Zeit vergeudet …“ Ein genervter Seitenblick trifft mich. „Aber das war es wert.“
Und dann lächelt sie. Ich werfe ihr einen warnenden Blick zu und reibe mir meine schmerzende Hüfte. So ein Cello kann verdammt schwer sein. „Ja, ja“, sage ich mit schneidender Stimme, was mir erneut einen bösen Blick von Lena einhandelt. Sie mag es gar nicht, wenn man ihr widerspricht, das habe ich schon oft erfahren müssen.
Gemeinsam überqueren wir die große Brücke, die nahe an meinem Wohnhaus ist, und die uns in Richtung der Innenstadt führt. Der Fluss unter uns plätschert friedlich vor sich hin, und die Vögel zwitschern ihre Lieder.
Es ist Frühling.
Die Straßen sind leer; die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen, doch ihre Strahlen erhellen bereits die Häuser. Der Duft des Bäckers steigt mir in die Nase, und ich bekomme Appetit auf ein süßes Gebäck. Die malerische Kleinstadt, in der wir wohnen, befindet sich im Süden unserer kleinen Insel Ziadenek, inmitten von hohen Gebirgen und Wäldern. Und obwohl wir umgeben vom Meer sind, habe ich den Strand bisher selten gesehen. Die Zeit hier scheint stehengeblieben zu sein – denn hier stehen ein Häuschen neben dem anderen, große Parks ziehen sich durch die Stadt und beglücken sie mit frischem Grün. Im Sommer haben Lena und ich oft in einem dieser Grünanlagen gesessen, meist stundenlang. Wir diskutierten über Bücher, grillten oder musizierten, was uns ein paar zusätzliche Geldscheine für ein Eis oder das Freibad eingebracht hatte.
Unser Städtchen ist ruhig und beschaulich; und doch hat es etwas Großes zu bieten: „Die Art & Music Academy ist für Musiker und Künstler das Größte!“, betet Lena herunter, während ich langsam hinter ihr her trotte. „Wir sind endlich mit der Schule fertig! Es wäre so wunderbar, an der Academy angenommen zu werden!“
Ich seufze wieder und versuche, Lenas euphorischen Singsang für einen Moment auszublenden. So sehr ich die Schule auch verabscheue und froh bin, endlich meinen Abschluss in der Tasche zu haben, so sehr ängstigt mich der Gedanke an die Zukunft. Ich habe hart an mir gearbeitet – stets gute Noten geschrieben, an Nachmittagen auf direktem Wege nach Hause gegangen, um stundenlang zu Üben und zu Lernen, und ich habe wenig soziale Kontakte gehabt – außer Lena, natürlich. Oft bemerke ich, dass ich mir selbst die Frage stelle, wieso ich überhaupt mit ihr befreundet bin. Sie ist herrisch und manchmal auch gemein zu mir. Eigentlich keine gute Basis für eine Freundschaft.
Aber … Sie war es, die mich in der fünften Klasse in die Orchestergruppe eingeladen hatte, nachdem ich die letzten vier Jahre damit verbrachte, mich ganz allein meiner Geige zu widmen. Lena erwischte mich dabei, als ich im Garten unseres alten Hauses übte, und sie schleppte mich ohne Widerworte in den Musiktrakt des Schulgebäudes.
Da waren wir bereits zwei Jahre befreundet. Wir lernten uns in der dritten Klasse kennen, kurz nachdem meine Eltern verschwanden. Ich erinnere mich noch genau an ihren Wortlaut, als sie mich weinend auf einer Parkbank fand: „He, was heulst du denn so blöd?“
Und dann hatte Lena schließlich alles dafür getan, mich aus dem schwarzen Loch der Traurigkeit und Depression zu ziehen und mein neues Zimmer im Haus meiner Tante bunt und fröhlich einzurichten, was für Neunjährige nicht gerade leicht war. Sie war immer an meiner Seite gewesen. Und das, obwohl sie viel beliebter war als ich es je werden konnte. Anders als ich, die sich alles hart erarbeiten hatte müssen, gelang es Lena ausnahmslos wie bei einem Spaziergang.
Freunde finden? Jeder grüßte Lena.
Ein neues Stück einüben? Lena, spiel es uns doch einmal vor!
Ich stattdessen wurde öfters gehänselt oder heimlich ausgelacht. Vor gar nicht allzu langer Zeit noch war ich das Ziel eines dummen Streiches gewesen, und ich erschrak so sehr, dass ich meinen Bogen fallen gelassen und draufgetreten war – insgesamt zwanzig Rosshaare hatte ich daraufhin schweren Herzens abschneiden müssen, da sie sich vom Bogen gelockert hatten. Lena jedoch lächelte mich nur an und beruhigte mich, als ich den Verlust beklagte.
„Auch mit weniger spielst du immer noch gut!“, hatte sie gesagt, und dann selbst die genaue Anzahl von ihrem Bogen entfernt. „Siehst du? Selbe Chance!“
Trotzdem hatte ich immer nur ein Ziel vor Augen, und das war der direkte Weg zur Art und Music Academy. Es schien sich ausgezahlt zu haben, als der Brief mit der Einladung zum Vorspielen im Briefkasten lag, und ich ihn mit schweißnassen Händen zwischen der Zeitung und Werbung herausgefischt hatte.
Und als Lena angerannt kam, mit eben demselben Brief, da lagen wir uns lachend in den Armen.
Wir hatten es geschafft!
Ihr Lächeln war es, wegen dem ich mich nicht fallen ließ und meinen dunklen Gedanken hingab. Ihre Freundschaft ist mein kostbarstes Gut, und ich will es in meinem ganzen Leben niemals missen.
Für Lena, meine beste Freundin, würde ich alles tun.
Mein Blick wandert zum Himmel, dessen Blau so stechend und durchdringend ist, und Lenas Stimme wird leiser, dringt in den Hintergrund. Wolken schieben sich langsam aneinander vorbei, leicht wie Federn.
Ich bleibe stehen.
Ich spüre gar nicht, wie mein Geigenkoffer von meiner Schulter rutscht und klangvoll zu Boden fällt.
Und ich höre auch nicht, wie Lena entsetzt aufschreit.
Zitternd stehe ich vor dieser schäbigen Bar, die Arme um mich selbst geschlungen, und starre wie in Trance auf das sich bewegende Stück Holz.
Soll ich wirklich hineingehen?
In der Ferne vernehme ich das abgehackte Geräusch eines Fernsehers oder eines Radios. Jemand sucht nach einem neuen Sender.
Ich sollte rausfinden, wo ich hier bin …, und nicht darauf achten, ob die Leute irgendwelche Programme im Fernsehen suchen. Gott, Mira!
Die Gasse wirkt unheimlich. Alles ist so still. Als ich die Hand hebe, um sie auf den Griff der Tür zu legen, spüre ich, wie der Arm schwer wird. Angst kriecht immer weiter in mir herauf. Ich schüttele den Kopf und dränge das Gefühl zurück.
Sicher wird mir dort drinnen jemand helfen können.
Ächzend drücke ich mit Kraft gegen die Tür. Sie öffnet sich mit einem Quietschen, und die Glocke, die darüber befestigt ist, läutet und kündigt so sämtlichen Insassen meine Ankunft an. Allerdings werde ich kaum beachtet. Der beißende Gestank von Alkohol, durchzogen mit Rauch, kommt mir entgegen und ich würge. Ich hasse diese Kombination von Gerüchen.
Reiß dich zusammen …!
Mit entschlossenen Schritten bewege ich mich auf den Tresen zu und ermahne mich, keinen allzu genauen Blick über die anderen Gäste zu werfen. Das Geräusch eines Radios dringt erneut in mein Ohr, und die Musik, die ich höre, kommt mir merkwürdig vertraut vor. Ich schiebe einen Hocker zurück und setze mich voller Anspannung hin.
***
Hinter der Theke steht eine hochgewachsene, vollbusige Frau mit gewaltigen, blonden Locken. Ihr Oberkörper ist geradezu riesig, ihre Schürze voller Flecken, und ihre Hände bewegen sich flink vom Spülbecken zum Zapfhahn.
„Was darf es sein?“, fragt sie ohne aufzublicken, als ob es das natürlichste der Welt ist, dass ein Teenager um diese Uhrzeit – wie spät ist es eigentlich? – vor ihr sitzt.
„E-Einen Kaffee, bitte!“, bringe ich mühsam hervor. Das ist das Gewöhnlichste, was mir einfällt, und hinter mir ertönt just in dem Moment ein lautes Geräusch von zersplitterndem Glas. Die Dame sieht mich prüfend an, während sie sich das Geschirrtuch über die Schulter wirft. Dann ändert sich ihr Gesichtsausdruck. „Bitte was genau möchtest du? Ich habe dich gerade nicht verstanden …“, lacht sie, hebt dann drohend den Finger. „Ihr da! Wenn ihr mir nochmal ein Glas zerbrecht, puste ich euch die Birne mit meiner Flinte weg!“
Entgeistert sehe ich sie an, doch die Bardame lehnt sich locker lächelnd vor. „Ich schätze, ein bisschen Beerenmus ist genau das Richtige, nicht?“
Antworten kann ich ihr nicht – ich bin so überrumpelt von dem Geschehen hinter mir und der Reaktion der Bedienung, dass mir die Worte fehlen. Die Frau vor mir fackelt jedoch nicht lange, stellt ein großes, vergilbtes Glas vor mich und gießt eine himbeerfarbene, breiige Flüssigkeit hinein.
„Den habe ich heute früh erst frisch gepresst“, erzählt sie. Stolz schwingt in ihrer Stimme mit und ich bin mir nicht wirklich sicher, wohin ich diesen einordnen soll. Ein letztes Lächeln, und schon schwenkt sie ihren massigen Körper ziemlich unelegant weg von mir, gesellt sich zu einem griesgrämig blickenden Mann, der Gläser poliert und ziemlich laut lacht, als sie ihm etwas zuflüstert.
Zitternd hebe ich die Hand, um sie zum Glas zu führen. Jedes einzelne Körperhaar stellt sich auf, als ich die angestaubte Oberfläche des Glases berühre, und innerlich zucke ich zurück, halte mich aber an, das Getränk an die Lippen zu bewegen.
Ich spüre, wie sich das Gefäß an meine Finger schmiegt, und mir wird schlecht, als ich den staubigen Geschmack meinem Mund wahrnehme. Mit einer ruckartigen Bewegung stelle ich das Glas wieder auf den Tresen und starre stumm darauf.
Möchte ich das wirklich trinken …?
Nahezu fasziniert beobachte ich, wie sich einzelne Staubpartikel vom Rand ablösen und im Getränk absetzen, während ich meine Finger wie in Trance an meiner Hose abwische.
… Igitt.
„Ist etwas nicht in Ordnung, Schätzchen?“
Gewaltsam reiße ich mich von dem Anblick des dreckigen Dinges los, als sich die Bardame vor mir aufbaut und mich ansieht. „Ne- Nein, ich habe nur gemerkt, da-dass ich nicht durstig bin.“, sage ich mit dünner Stimme – und wirke dabei nicht sehr glaubwürdig. Sie hebt eine ihrer dicken Augenbrauen. „Mädchen, du siehst mir aber ziemlich danach aus …“, sagt sie, als sie nach dem Glas greift. Ich schüttele den Kopf und brumme dabei ein Nein, um das Knurren meines Magens zu übertönen.
Verdammt!
Ihr Blick streift mich abwägend, und eine kurze Stille macht sich zwischen uns breit.
„In Ordnung“, sagt sie schließlich, „ich lasse es stehen.“
Und damit geht sie wieder zu dem Mann, der nun seine polierten Gläser in die hohen Regale einräumt. Ich traue mich nicht, aufzusehen, und inspiziere stattdessen den Tresen. Er ist aus massivem Holz, und einige Risse sind erkennbar. Offenbar ist die Bar schon alt.
Dann kann ich nicht mehr auf Ziadenek sein. Ich muss doch wissen, ob wir so eine Bar haben …
Auch die Bardame habe ich nie zuvor gesehen, und ich bin mir ziemlich sicher, jeden Bewohner meines Städtchens schon einmal getroffen zu haben. Also beschließe ich, mir die anderen Gäste genauer anzusehen.
Aber dann spüre ich seinen Blick. Klar und deutlich glotzt mich der Mann hinter der Bar mit glasigen Augen und gerunzelter Stirn an.
Warum starrt er mich wohl so an…?
Unbehagen erfüllt mich, denn ich mag es nicht, angestarrt zu werden. Also fange ich an, seinem Blick auszuweichen. Ich stütze mein Kinn auf die Hand und setze einen desinteressierten Blick auf. Vielleicht denkt er ja dann, dass ich auf jemanden warte …?
Klar, Mira. Fang am besten noch an, belanglos zu pfeifen, um dem ganzen Schauspiel die Sahnehaube aufzusetzen.
Manchmal könnte ich mich selbst für meine Gedanken schelten. Ich spitze die Lippen, pfeife aber nicht, und sehe mich um. Hoffentlich denkt er, ich warte wirklich auf jemanden …
Der große Raum ist vollgestopft mit runden Tischen, an denen jeweils sechs Stühle platziert sind. Schwere, rote Vorhänge hängen vor den dreckigen Fenstern, und die Fensterbänke sind ebenfalls ziemlich stark mit Schmutz belegt. Der Boden ist bedeckt mit einem roten, dicken Teppich, auf welchem sich allerlei Flecken tummeln.
Automatisch hebe ich die Füße, was natürlich Blödsinn ist, weil ich Schuhe trage, und nehme die Hände vom Tresen.
An den Wänden vor mir, zwischen den ganzen Regalen, hängen riesige Auszeichnungen mit großen Lettern – „Beste Bedienung“, „Bestes Beerenmus“, Geweihe und ausgestopfte Tierköpfe, die aus toten Augen in den Raum starren. Die Tische sind umringt von den unterschiedlichsten Leuten – Frauen mit tiefgeschnittenen Dekolletés, Männer mit starrem, von Alkohol geprägtem Blick, und ebenso auch Jugendliche, die große Bierkrüge und Zigaretten in den schmalen Händen halten. Ich schaudere und halte mir eine Hand vor den Mund, denn ich habe noch nie in solchen Kneipen gesessen, noch habe ich jemals welche dieser Art in Ziadenek gesehen.
Und dabei kenne ich doch jedes Fleckchen meiner Stadt!
Mein Blick wandert wieder zu dem Tresen vor mir, und mit verstohlenem Blick beginne ich, verschmutzte Gläser und Krüge, deren Staubschichten fingerbreit sind, zu beäugen. Der Gastwirt zapft mit ausdruckslosem Gesicht Bier, aber immer öfters spüre ich seinen fragenden Blick auf mir. Die Frau steht neben ihm, stellt das Radio lauter, als ein rhythmischer Song angesagt wird, und beginnt, mit ihren Hüften im Takt zu schwingen.
Wie lange werde ich hier wohl sitzen, bis ich den Mut finde, zu fragen?
Hinter mir werden die Stimmen stetig lauter, je mehr Alkohol fließt. Immer wieder läuft die Bardame an mir vorbei, balanciert dabei volle Bierkrüge und andere Getränke. Die Luft wird immer dicker vom Qualm und ich huste leise. Dennoch schenkt mir niemand – außer der Bedienung – Achtung. Offenbar sehe ich aus wie ein ganz normaler Gast … Gut so. Ich knete meine Hände und versuche erneut nachzudenken, aber ich werde jäh aus den Gedanken gerissen. Ein Krug wird scheppernd zerbrochen, und ich zucke erneut zusammen, als die Bardame in ihrer Bewegung stoppt, eine Faust hebt und brüllt: „Das letzte Mal!“ Damit stürmt sie hinter dem Tresen hervor, und ich sehe ihr angespannt hinterher. Sie packt einen jungen Mann am Kragen und schleift ihn scheinbar mühelos zur Tür. Die Angst überkommt mich wieder, also gehe ich in Gedanken die letzten Momente, die ich in Erinnerung habe, noch einmal durch.
Ablenkung.
Das brauche ich jetzt.
Lena und ich auf dem Weg zur Academy.
Das helle Licht. Die anschließende Schwärze. Plötzlich wache ich in dieser Gasse auf.
Ich runzele die Stirn und suche fieberhaft nach einer Lösung, während im Hintergrund das Gejohle wieder losgeht.
Wie konnte das alles passieren?
Und warum passiert es ausgerechtet mir?!
***
Der Morgen graut, und nun verlassen auch die letzten Gäste die Bar. Sie torkeln lachend Richtung Tür, stoßen sie grob auf und laufen hinaus. Ich sitze immer noch auf dem Hocker und bin darum bemüht, mein immer wiederkehrendes Gähnen zu unterdrücken. Ich bin hundemüde, meine Augen wollen immer wieder zufallen. Aber ich bleibe hart und reiße sie wieder auf. Einschlafen darf ich auf keinen Fall. Und schwach werden erst recht nicht. Nicht, bevor ich weiß, wo ich bin. Aber ich habe mich noch nicht getraut zu fragen. Wie fängt man denn so ein Gespräch am besten an?
Hallo, ich sitze zwar in Ihrer Bar, aber ich weiß nicht, wo ich bin. Wie heißt denn die Straße hier?
Ja, natürlich. Super Plan, Mira …
Die Bardame sieht mich missmutig an, als sie die Theke mit einem nassen Lappen abwischt. Doch dann muss ich wieder gähnen und schaffe es nicht, es diesmal zu unterdrücken. „Mädchen, willst du nicht so langsam nach Hause gehen?“ Sie zeigt mit einem Grunzen auf die Uhr auf ihrem Handgelenk.
Verdutzt hebe ich den Blick. „Ich … ich …“, sage ich, doch sie nickt plötzlich wie wild und hebt die Hände, als sei ihr ein Licht aufgegangen.
Das … ist nicht gut. Ganz und gar nicht. „Du kommst nicht von hier, oder?“ Ich knete nervös meine Hände.
Was soll ich denn jetzt sagen?
Die Wahrheit?
Nein, viel zu verrückt. Schließlich lüge ich.
„Doch!“, rufe ich, und habe das Gefühl, nicht sehr aufrichtig zu klingen. Natürlich wird die Frau mir ansehen, dass ich sie anlüge, aber ich erzähle einfach weiter.
„Ich war gerade auf dem Weg zur Academy, und ich …“, meine Stimme erstirbt jäh. Nach wie vor ist der letzte Abend immer noch nicht genau geklärt, und es klingt viel zu komisch, wenn ich sage, dass ich in dieser Gasse lag und dann ohne Orientierung aufgewacht bin. Bestimmt ruft sie dann ein Krankenhaus an, oder so.
Also rudere ich zurück. „… hab mich anscheinend verlaufen. Dann bin ich hier gelandet … ausversehen.“ Ich lache, klinge aber gequält. Die Bardame verzieht ihre Augen zu kleinen Schlitzen. „Academy? Gibt’s hier nicht. Du kommst definitiv nicht aus Musica-Town, was?“
Verwirrung macht sich in mir breit.
Musica-Town?
Was?
In meinem Kopf rasen die Gedanken, und als ich ihr gerade eine neue Ausrede auftischen will, werde ich schroff unterbrochen, als die Frau weiterplappert. „Lass mich raten, willst dich hier auflehnen? Ich werde dich am besten bei den Deciso melden!“
Und noch ehe ich es ausgesprochen habe, weiß ich, dass meine Antwort falsch ist: „Deciso? Was ist das?“
Es sieht aus, als würde sie explodieren, so rot wird ihr Kopf, und ihre Stimme ist stechend scharf. „Kommst du überhaupt aus Kadenzia?“
Der Kopf des Barmanns zuckt hoch. Sein Blick richtet sich sofort auf mich, und ich sehe beide ungläubig an, als ich kopfschüttelnd verneine.
Kadenzia? Musica-Town? Nie gehört ...
Die Stimme der Bardame wird mit jedem Wort schriller, als sie mir Beleidigungen entgegen brüllt, und ich sinke in mir zusammen.
„Ich wusste es!“, poltert der Gastwirt mit einem Mal. Er wirft das Geschirrtuch hinter sich und baut sich bedrohlich vor mir auf. „Die ganze Nacht habe ich hin und her überlegt … das Mädel kam mir von Anfang an komisch vor! Wir müssen sie festhalten, Mar!“
Oh, nein. Jetzt entgleitet mir die Situation.
„Ich gehe jetzt lieber!“, sage ich beschwichtigend, stehe holprig auf und will zur Tür laufen, doch sie greift blitzschnell nach meinem Handgelenk. Der Barhocker, auf dem ich gesessen habe, fällt scheppernd zu Boden, als ich mich ruckartig umdrehe und versuche, meinen Arm zu befreien.
„Stopp! Du bist keine Kadenzianerin, ich muss dich melden!“, brüllt sie dabei. Ihre Augen sind weit aufgerissen und stieren mich boshaft an. Ich winde mich aus ihrem Griff und gehe langsam rückwärts zur Tür. Dabei wedele ich besänftigend mit den Händen. „Das ist alles ein Missverständnis, bitte …“, sage ich verzweifelt. Vielleicht kann ich sie wirklich beruhigen.
Aber falsch gedacht.
Sie greift nach dem Glas, welches die ganze Zeit vor mir gestanden hatte, und hebt die Hand, um es nach mir zu werfen. Das Beerenmus fließt ihr dabei über die Schulter, jedoch beachtet sie das überhaupt nicht. Instinktiv ducke ich mich weg. „Bitte, ich …“, setze ich wieder verzweifelt an, während meine Hand hinter meinem Rücken nach dem Türgriff sucht. Der Mann eilt hinter der Theke hervor und kommt gefahrvoll auf mich zu. „Du kommst aus Mercato, richtig! Ich hab‘ dich erwischt! Bleib! HIER!“, brüllt die Frau wieder, und meine Angst wandelt sich in Panik. Dann, endlich, habe ich den Griff entdeckt. Ich reiße die Tür noch rechtzeitig auf, als direkt neben mir Gläser in tausend Einzelteile zerspringen. Die Bardame greift wahllos in die Regale, wirft die Gläser nach mir, als wäre ich eine Zielscheibe, deren goldene Mitte es zu treffen gilt.
Als mich ein Glas hart am Rücken trifft, stolpere ich über die Türschwelle.
Gleißendes Sonnenlicht blendet mich.
Die Luft ist warm, als ich aus der Bar stürme und die Straße entlang hechte. Und obwohl ich laufe, sauge ich den Anblick in mir auf.
Jetzt, bei Tag, sieht die Gasse freundlicher aus als in der Nacht zuvor; wenngleich sie mir immer noch düster vorkommt. Fenster sind geöffnet und Stimmen dringen aus den Wohnungen und Geschäften hervor, Männer lehnen an den Häuserwänden, rauchen und unterhalten sich, und Frauen laufen geschäftig mit gefüllten Einkaufskörben an mir vorbei. Ich bleibe erschöpft an einer Weggabelung stehen und blicke mich hektisch um.
Die verrückte Gastwirtin und ihr Mann sind mir nicht gefolgt.
Oder noch nicht gefolgt?
Die Straße ist gepflastert, Fachwerkgebäude ragen mit vielen Stockwerken in die Höhe. Blumen quellen aus großen hölzernen Kästen unter den Fenstern hervor, bedecken einen Großteil der Wände. Sie sind dicht aneinandergebaut, sodass sich die Gasse, in der ich mich befinde, eng anfühlt. Schnell gehe ich ein paar Schritte vorwärts, immer geradeaus, in der Hoffnung, an einem bekannten Punkt anzukommen. Mir fröstelt es ein wenig – die Luft ist zwar warm, doch man spürt, dass die Sonne gerade erst den Mond verdrängt hat und es noch früh am Morgen ist. Es wundert mich, dass die Gasse dennoch schon so belebt ist. Das kann nicht Ziadenek sein. Die Straßen zuhause füllen sich für gewöhnlich erst gegen 8 Uhr morgens, denn vorher haben keine Geschäfte geöffnet und Schule beginnt erst 9 Uhr …
Ich verschränke die Arme beim Laufen, presse sie gegen meinen Körper, um mich ein bisschen vor der Kühle zu schützen.
Wo bin ich nur…?
Dann bleibe ich erneut an einer Straßenecke stehen, um mich wieder einmal zu vergewissern, ob jemand hinter mir her ist. Erleichtert stelle ich fest, dass das nicht der Fall ist.
Die Bardame ist mir definitiv nicht gefolgt.
Ich lehne mich entkräftet an eine Hauswand an und sehe mich um. Der Himmel ist azurblau, und vereinzelt höre ich Vögel zwitschern. Gedanken an Lena huschen durch meinen Kopf.
Warum bin ich ohne sie hier?
Wo ist sie?
Ist Lena überhaupt mit hier?
Ich kann mich nicht an die Vorstellung in der Academy erinnern, und auch nicht, ob ich meine Geige wieder zu Hause abgestellt habe. Mir fällt ein, dass Lena davon gesprochen hatte, nach dem Gespräch mit den zukünftigen Dozenten auf einen Ausflug zu gehen. Ist das hier der Ausflug? Habe ich mich vielleicht wirklich nur verlaufen?
Ich schüttele mich. Vielleicht sollte ich mich auf die Suche nach einem Bahnhof oder einer Haltestelle machen.
In meinen wirren Gedanken versunken, setze ich mich auf den kalten Steinboden nahe eines kleinen Brunnens. Meine Gefühle überrennen mich im Eiltempo – Angst, Panik, Übelkeit, Müdigkeit. Immer wieder löst sich ein Gefühl nach dem nächsten ab, als würden sie ein kleines, nettes Tänzchen miteinander genießen.
Und mein Bewusstsein ist die Tanzfläche.
Schon bald habe ich das Gefühl, durchzudrehen, als sich die Belustigung dazugesellt. Mir schwirrt der Kopf – die Nacht nicht zu schlafen erwies sich als relativ dumm, doch durch die dunkle Stadt hätte ich auch nicht irren wollen. Gedankenverloren starre ich auf das Wasser, das mit leisen Geräuschen gegen die Steine des Brunnens schwappt. Es ist ganz klar und glitzert in der Sonne, und ich bin mit einem Mal sehr durstig.
Der Gedanke an das Beerenmus und dem schmutzigen Glas verdreht mir den Magen, also halte ich gierig meine Hände in das Wasser, bilde eine Kuhle mit ihnen und trinke – so viel, dass ich mich wieder übergeben will.
Gerade, als ich mich wiederaufrichte, geht eine junge Frau an mir vorbei und sieht mich herablassend an. „Immer diese Säufer …“, murmelt sie in ein kleines Handy an ihrem Ohr. Ich sehe sie verwirrt an, dabei läuft mir Wasser das Kinn und die Hände herunter. Schnell wische ich mir mit dem Ärmel den Mund trocken und glotze sie an. Sie trägt ein dunkles, kurzes Sommerkleid, auf dem Kopf einen Strohhut, an das Ohr presst sie das kleine, schwarze Handy, aus dessen Lautsprecher ich eine andere Stimme gackern hören kann. Ihr Blick scheint andere anzuziehen, denn die Menschen um uns herum sehen mich plötzlich ebenfalls aufmerksam an. Ein letzter abfälliger Blick, dann geht sie weg. Ihre Absätze klappern auf dem Kopfsteinpflaster, und ich rappele mich hoch, als die Menschen um mich herum zu tuscheln beginnen.
Ich muss hier dringend weg …
Ich erreiche nach einigen Minuten einen großen Platz, der voller Menschen ist. Männer tragen teuer aussehende Kleidung und haben Aktentaschen unter dem Arm, Frauen stehen geschwätzig herum und halten Kindern an den Händen. Im Vorbeigehen grüßen sie sich flüchtig, oder sie nicken sich mit ernstem Gesicht zu, laufen dann aber weiter. Einige Frauen stehen in kleinen Grüppchen zusammen, halten Babys oder kunstvoll geflochtene Weidenkörbe voll mit Blumen und Nahrungsmitteln, plappern lachend über Dinge, die ich jedoch aufgrund der Entfernung nicht verstehe. Auch sehe ich Menschen, die weniger gute Kleidung tragen; dafür aber ein schimmerndes, schwarzes Halsband, das mir sofort auffällt.
Anders als die ganze kichernde Frauenschar stehen sie stumm daneben, so, als würden sie auf etwas warten.
Der Platz selbst gleicht einem Marktplatz. Hölzerne Stände, die frisches Obst, Fisch und andere Nahrungsmittel anbieten, sind in einem großen Kreis angereiht, und die Wimpel geben zu erkennen, was man hier erwerben kann. Neugierig gehe ich einen Schritt näher, und erkenne, dass auch hier die Verkäufer die seltsamen Halsbänder tragen. Als ich an einem Bäckerstand vorbeigehe, steigt mir der Duft von frischgebackenem Kuchen in die Nase. Wie auf Kommando meldet sich mein Magen mit einem lauten Grummeln. Durch den ganzen Trubel habe ich meinen Hunger nahezu vergessen. Ich bleibe also stehen und sehe mir die vielen kleinen Backwaren näher an. Der Verkäufer springt sofort auf.
Neben mir hüpfen Kinder mit Bällen umher und lachen unbeschwert. Mein Interesse ist geweckt, also sehe ich mich weiter um und gehe vom Bäckerstand weg. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich der Verkäufer mit dem glänzenden Halsband wieder zurückzieht, denke mir aber nichts dabei.
Der Marktplatz ist umgeben von Fachwerkhäusern, und ein großer Brunnen – weitaus größer als der, den ich noch vor wenigen Minuten gesehen hatte – thront in der Mitte. Klares Wasser sprudelt aus den großen Gebilden aus Sandstein hervor.
Die Kunstwerke sehen aus wie kleine Engel, die Harfen in der Hand halten. Daneben ist ein Zeichen eingemeißelt, allerdings nicht sehr professionell. Ich gehe näher heran und erkenne einen Kreis mit einem geschwungenem f. Es sieht fast wie das Schallloch von Streichinstrumenten aus.
Ich denke mir aber nichts dabei und drehe mich wieder um. Nach der Begegnung mit der Barfrau habe ich viel zu viel Angst, nach dem Weg zu fragen, aber der Gedanke selbst scheint ohnehin absurd.
Ich weiß ja nicht mal, wohin ich genau soll!
Immer wieder schießen mir die Worte der Frau durch den Kopf – ich habe bisher nie von einer Stadt gehört, die Musica-Town
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Sarah Emmrich
Bildmaterialien: Sarah Emmrich, unter Verwendung von Stockdaten www.pexels.com
Tag der Veröffentlichung: 30.04.2016
ISBN: 978-3-7396-5132-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für S., weil sie Geschichten mag, und
für C., weil sie mich dazu brachte, diese Geschichte endlich aufzuschreiben.