Keine PANIK, das ist "nur" ANGST!
Wie Sie die fundamentalen Spielregeln der Angst verstehen und endlich Ihren Weg aus dem Teufelskreis der Ängste und Panikattacken finden.
Laura Piana
»Freiheit beginnt da, wo die Angst endet.«
Vorwort
Angst hat sich im Laufe unserer Evolutionsgeschichte bewährt. Das Gefühl der Angst schützt vor Gefahr und stellt sicher, dass wir unser Leben nicht unnötig gefährden. Und doch kann Angst ein solch umfassendes Ausmaß annehmen, dass sie als ständiger, unangenehmer Begleiter den Alltag bestimmt und Gelassenheit, Unbeschwertheit und Leichtigkeit unmöglich macht. Langfristig führt sie somit zu einer dramatischen Einschränkung der Lebensqualität. Insbesondere dann, wenn Ängste sehr stark auftreten, obwohl keine offensichtliche Bedrohung vorliegt, sind sie nicht mehr hilfreich, sondern schränken die eigene Freiheit ein, wirken lähmend und behindern die persönliche Weiterentwicklung.
Vermutlich haben auch Sie manchmal das unangenehme Gefühl, dass Ihre Angst über Ihren Mut siegt. Vielleicht treten gelegentlich Ängste auf, deren Ursache Sie sich nur schwer erklären können. Gibt es möglicherweise auch eine von Ängsten hervorgerufene Einschränkung Ihrer Lebensqualität? Dann sind Sie keine Ausnahme: Jeder siebte Mensch leidet im Laufe seines Lebens an einer solchen Angsterkrankung. Wer davon betroffen ist, hat oft Schwierigkeiten, Hilfe zu suchen und zu finden. Auch Angehörige sind hier meist überfordert. Und wie kann man diesen als Betroffener erklären, was man gerade braucht?
Vielen Betroffenen und auch deren Angehörigen ist es bereits eine große Hilfe, mehr über die Angst und ihre Ursachen zu erfahren, sodass sie das Auftreten von Ängsten besser verstehen können. Wichtig ist aber auch das Erlernen hilfreicher Strategien zur Bewältigung der Angst, denn das Ziel, die belastende Störung so schnell wie möglich loszuwerden, hat oberste Priorität. Ganz nach dem Motto »Hilfe zur Selbsthilfe« können deshalb insbesondere Betroffene, aber auch deren Angehörige von der Lektüre dieses Buches profitieren.
Zuerst geht es darum, was Angst eigentlich ist, auf welchen Ebenen sich Angst äußert und wie Sie bei sich selbst das Gefühl der Angst erkennen können. Das Buch beleuchtet die verschiedenen Angststörungen sowie deren Ursachen und legt dabei auch einen besonderen Fokus darauf, wie Ängste durch Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten verstärkt und aufrechterhalten werden. Auch Techniken, wie Sie den Mut finden können, sich Ihrer Angst zu stellen und einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Angst zu finden, werden in diesem Buch aufgegriffen. Vermittelt werden außerdem hilfreiche Selbsthilfestrategien und Werkzeuge zur Bewältigung der Angst. Auch Notfalltechniken, die in einer akuten Paniksituation helfen können, werden im Rahmen dieses Buches thematisiert. Es finden sich hier aber auch Verhaltensempfehlungen für Angehörige, wie sie Sie in einer solchen Situation bestmöglichen unterstützen können. Zusätzlich werden die gängigsten Therapiemethoden, die immer dann sinnvoll sind, wenn die Möglichkeiten der Selbsthilfe nicht ausreichend greifen, in diesem Buch vorgestellt. Das letzte Kapitel beinhaltet Hinweise für Angehörigen, die dabei helfen können, einen gewinnbringenden Umgang mit der belastenden Situation zu finden. Mit Geduld, Durchhaltevermögen und Mut ist es möglich, die Angst wieder in den Griff bekommen und in einen unbeschwerten, freien Alltag zurückzukehren.
Ziel ist es, Ihnen einen praxisnahen Ratgeber für unterschiedliche von Ängsten hervorgerufene Problemsituationen in die Hand zu geben, damit Sie diese Situationen meistern und Ihre Lebensqualität verbessern können. Das Buch stützt sich auf bewährte Theorien und Studien, ohne sich dabei in wissenschaftlichen Diskursen zu verlieren. Wenn Sie mehr zum Thema wissen möchten, empfehle ich über die Lektüre des vorliegenden Ratgebers hinaus einige ausgewählte Quellen. Hinweise dazu finden Sie in Klammern gesetzt direkt im jeweiligen Kapitel. Ein ausführliches Quellenverzeichnis befindet sich im Anhang. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen des Ratgebers und viel Erfolg beim Umsetzen der zahlreichen Tipps und Strategien.
Eine Veränderung beginnt immer mit einem mutigen ersten Schritt. Deshalb hoffe ich sehr, dass dieser Ratgeber Sie dabei unterstützen kann, Ihre Ängste aktiv und mutig anzugehen. Durch ein beherzigtes Umsetzen der hier beschriebenen Strategien und Tipps kann es Ihnen gelingen, Ihre Ängste wieder in den Hintergrund treten zu lassen und Platz zu schaffen für einen mutigen, befreiten und lebensfrohen Alltag. Dabei wünsche ich Ihnen alles Gute!
Die Spielregeln der Angst
Was ist Angst?
Warum haben Menschen Angst?
Wie äußert sich Angst?
Wann wird Angst problematisch?
Was ist Angst?
Panikstörungen
Tim steht seit fünf Minuten oben auf dem Fünf-Meter-Brett. Er ist kreidebleich und zittert. »Angsthase!«, sagt Anna, drängt sich an ihm vorbei und springt hinunter in das kühle Wasser.
Stefan will gerade über die Straße gehen. Gedankenverloren setzt er einen Fuß auf die Straße. Plötzlich sieht er, wie ein Fahrzeug geradewegs auf ihn zurast. Seine Augen weiten sich. Sein Körper spannt sich an und er springt zur Seite.
Karin weiß, dass sie in diesem Job nie glücklich werden wird. Trotzdem geht sie jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr weiter zur Arbeit. Alternativen gäbe es genug, aber es fehlt ihr einfach der Mut, etwas zu ändern. Auf dem Weg in die Arbeit spürt sie, wie die Brust enger wird. Manchmal hat sie das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
Angst hat verschiedene Funktionen
Tim, Stefan und Karin haben alle Angst. Aber ist diese Angst immer dieselbe? Bestimmt kennen Sie die Redewendung: »Angst ist ein schlechter Ratgeber.« Auf das Beispiel von Karin mag das zutreffen. Aber wie sieht es bei Stefan und Tim aus? Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie viel Wahrheit in diesem Satz steckt? Warum empfinden wir Angst? Wie entsteht sie? Und was passiert in unserem Körper, wenn wir Angst haben? Auf diese Fragen wollen wir im Folgenden näher eingehen:
Genau wie Freude, Traurigkeit und Ärger ist Angst eines der Gefühle, das bei jedem Menschen immer wieder mal vorkommt. Das Wort »Angst« lässt sich vom altgriechischen Wort »angh« ableiten, welches mehrere Bedeutungen besitzt, u. a. Unbehaglichkeit, Belastung, Besorgnis, das Gefühl des körperlichen Eingeengt-Seins oder auch Schmerzen in der Brust. Angst ist ein angeborenes Gefühl: Bereits im Kleinkindalter können Menschen Angst verspüren, was sich in dieser Entwicklungsphase z. B. durch das »Fremdeln«, also ängstliche Reaktionen gegenüber Fremden, zeigt.
Angst ist also ganz normal und biologisch verankert. Sie tritt nicht nur dann auf, wenn wir uns mit einer eindeutig bedrohlichen Situation konfrontiert sehen. Auch ungewisse und unkontrollierbare Situationen können Angst auslösen. Und obwohl die Angst für uns ein eher unangenehmes Gefühl ist, das wir nicht gerne empfinden, so hat sie durchaus ihren Nutzen und ist eine ganz wichtige Emotion: Angst ermahnt uns zu Vorsicht und hilft uns dabei, in einer gefährlichen Situation schnell, achtsam und angemessen handeln zu können. Sie erhöht die Aufmerksamkeit und sorgt dafür, dass wir keine lebensgefährlichen Handlungen ausführen und dass wir auf uns selbst Acht geben. Ein gewisses Ausmaß von Angst ist also durchaus sinnvoll und sogar notwendig, um das eigene Leben zu schützen.
Der kleine Simon geht mit seiner Familie wandern. »Schau mal, ein Paragleiter!«, ruft seine Schwester und deutet in die Ferne Richtung Abgrund. Simon läuft neugierig zu den Klippen. Er hat keine Angst vor der Tiefe. »Simon!«, ruft seine Mutter entsetzt. Zum Glück hält ihn der Vater fest am Arm.
Menschen ohne Angst wären aus Sicht der Evolution nicht überlebensfähig. Das Gefühl der Angst stellte während unserer Entwicklungsgeschichte stets einen fundamentalen Überlebensmechanismus dar: Wenn unsere Vorfahren im Wald auf ein gefährliches Tier (wie bspw. einen Säbelzahntiger) trafen, bereitete die automatisch ablaufende Angstreaktion den Körper auf eine Flucht oder einen Kampf vor. Der Herzschlag erhöhte sich, die Muskeln wurden stärker durchblutet und spannten sich an, Energie wurde bereitgestellt - und innerhalb von Sekunden waren unsere Vorfahren in der Lage, sich aus der lebensbedrohlichen Situation zu retten oder zum Angriff überzugehen (»Fight or Flight«).
Angstreaktion
Vorbereitung auf Reaktion: Adrenalin wird ausgeschüttet, Muskeln angespannt, Puls schnellt in die Höhe...
Auch heute noch schaltet Angst die inneren Alarmglocken an und vermittelt dem Körper, dass er sich in einer lebensbedrohlichen Situation befindet, in der es schnell zu handeln gilt. Studien zeigen, dass Menschen, die ein mittleres Maß an Angst empfinden, mehr Leistung erbringen können als andere. Insbesondere im Leistungssport oder in Prüfungssituationen kann Angst dazu führen, dass Spitzenleistungen erbracht werden. Zudem sind Menschen mit einem mittleren Ausmaß an Angst besser in der Lage, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Es gibt also definitiv Situationen, in denen die Angst ein sehr guter Ratgeber sein kann.
Angst hat viele Gesichter
Ängste können von Mensch zu Mensch variieren. So gibt es zum Beispiel große Unterschiede in Bezug darauf, wovor wir Angst haben. Manche Menschen fürchten sich davor, Präsentationen vor einem großen Publikum vorzutragen, während das anderen ganz leichtfallen mag. Der eine hat ständig Angst, dass nahestehenden Personen etwas passiert, während das für den anderen kein angstbesetztes Thema ist. Aufgrund biologischer Faktoren reagieren wir allerdings von Natur aus auf manche Umweltbedingungen stärker mit Angst als auf andere. Das sind z. B. Dunkelheit, Gewitter oder auch potenziell gefährliche Tiere wie Schlangen oder Spinnen. Auch hier gibt es jedoch Unterschiede: Manch einer hat mehr Angst in der Dunkelheit als andere.
Nicht nur die Themen, die Angst auslösen, sondern auch der Ablauf der Angstreaktionen ist individuell verschieden. Angst kann sich also für jeden Menschen ganz unterschiedlich anfühlen. Der eine erlebt z.B. eine länger andauernde ängstliche innere Anspannung oder überdauernde ängstliche Stimmungen oder Sorgen, der andere wiederum ein plötzlich auftretendes, ganz starkes Gefühl der Angst. Manchen Menschen wird plötzlich heiß. Sie schwitzen. Andere werden kreidebleich. Sie erstarren und bekommen eine Gänsehaut oder zittern.
Um mit der eigenen Angst besser umgehen zu können, macht es Sinn, sich nicht nur damit auseinanderzusetzen, was die Angst auslöst. Versuchen Sie auch zu beobachten, wie sich das Gefühl der Angst bei Ihnen ganz persönlich zeigt. Lernen Sie Ihre individuelle Angstreaktion besser kennen.
Reflexionsaufgabe: Wie erleben Sie persönlich Angst?
Versuchen Sie, sich eine Situation, in der Sie starke Angst hatten, ins Gedächtnis zu rufen. Stellen Sie sich diese Situation ganz genau vor und erinnern Sie sich an die Einzelheiten.
Notieren Sie sich hier, was Ihnen zu den einzelnen Punkten einfällt.
Sarah soll die Skier für den Winterurlaub aus dem Keller holen. Sie hat panische Angst vor Spinnen. »Jetzt im Winter schlafen die alle«, behauptet ihr Bruder. Mitten auf der Treppe bleibt Sarah stehen. Sie fühlt sich nicht wohl. Obwohl weit und breit keine Spinne zu sehen ist, kann sie nicht weitergehen. Sie hat nur noch einen Gedanken: »Ich muss hier raus!« Gleichzeitig ist sie wie erstarrt. Fast muss sie sich zwingen, den Keller zu verlassen. Oben angekommen ist sie erleichtert, aber auch voller Scham. Es waren ja gar keine Spinnen da. Angst kann es also nicht gewesen sein, oder?
Die vier Ebenen der Angst
Nicht immer ist uns bewusst, dass auch unangenehme Körperempfindungen wie z. B. Herzrasen, Zittern, innere Unruhe oder Beklemmungsgefühle im Brustbereich, typische Anzeichen dafür sind, dass man Angst empfindet oder starken Stress erlebt. Wie wir Angst empfinden, ist ganz unterschiedlich. Meistens kann man Angst auf vier verschiedenen Ebenen bemerken. Allerdings muss sich die Angst nicht immer auf all diesen vier Ebenen zeigen. Alle vier Elemente spielen jedoch eine ganz zentrale Rolle bei der Entstehung und der Aufrechterhaltung von Angststörungen. Es macht also durchaus Sinn, sich diese vier Elemente einmal genauer anzusehen.
Es gibt gedankliche, körperliche, emotionale und verhaltensbezogene Anzeichen dafür, dass jemand gerade Angst empfindet. In der folgenden Tabelle werden einige typische Anzeichen für die vier Ebenen der Angst aufgelistet. Die Tabelle erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und kann mit Ihren Notizen aus der vorherigen Reflexionsübung ergänzt werden.
UGedanken
»Ich muss hier raus!«
»Ich verliere die Kontrolle!«
»Ich schaffe das nicht!«
»Ich halte das nicht länger aus!«
»Gleich verliere ich das Bewusstsein!«
»Ich werde sterben!«
UKörper
Herzrasen
Schwitzen
Zittern
Schnelle Atmung
Kloß im Hals
Kalte Hände
Innere Unruhe
Schwindelgefühle
UEmotionen
Panik
Hilflosigkeit
Einsamkeit
Unsicherheit
Traurigkeit
Scham
Frustration
UVerhalten
Flucht aus der Situation
Zukünftige Vermeidung der Situation
Ablenkung
Nutzen von Hilfsmitteln (Handy, Beruhigungsmitteln, Alkohol)
Rückzug
Angst und ihre Anzeichen auf den verschiedenen Ebenen treten unmittelbar auf, wenn uns ein unangenehmes oder beängstigendes Erlebnis widerfährt. Doch auch, wenn dieses Ereignis bereits Tage, Wochen oder Jahre zurückliegt, kann die Angst bleiben. Tief in uns fürchten wir dann ähnliche Ereignisse in der Zukunft. Evolutionär gesehen macht dieser Mechanismus durchaus Sinn: Wann immer wir eine Situation als besonders bedrohlich einstufen, speichert unser Gehirn diese Erfahrung und alle damit verbundenen Reize ab, um uns auch in Zukunft vor ähnlichen, vergleichbaren Gefahren beschützen zu können. Manchmal verselbständigt sich aber die Angstreaktion und tritt auch in Situationen auf, die an sich nicht bedrohlich sind. Angstauslöser können dann ganz banale Reize sein, die unglücklicherweise in einer gefährlichen Situation als angstbesetzt abgespeichert wurden.
Seit dem Tod seiner Frau lebt Friedrich allein in seiner Wohnung. Eines Nachts hört er Geräusche. Er steht auf und geht ins Wohnzimmer, wo er eine dunkel gekleidete, maskierte Person dabei ertappt, wie sie aus dem Wohnzimmerschrank teuren Schmuck der verstorbenen Ehefrau entwendet. Als Friedrich den Raum betritt, dreht sich der Einbrecher plötzlich um. In seiner Hand blitzt ein Messer. Der alte Mann hat Angst und beginnt zu zittern, fühlt sich körperlich extrem angespannt und kämpft mit Gedanken wie »Ich werde das nicht überleben.« oder auch »Gleich verliere ich das Bewusstsein!« Dank einer aufmerksamen Nachbarin kann Friedrich unverletzt aus der gefährlichen Lage befreit werden und der Einbrecher flüchtet.
Auch Tage nach dem Erlebnis wacht Friedrich nachts immer wieder schweißgebadet auf. Sein Herz klopft wie wild, er starrt mit weit offenen Augen in die Dunkelheit und lauscht auf Geräusche. Es fällt ihm auch schwer, nachts einzuschlafen, da er Angst hat, jemand könne ihn mitten in der Nacht überfallen. Das nächtliche Schlafen, das früher ganz sorglos und unproblematisch funktioniert hat, ist für ihn nun geprägt von Anspannung und Angstgefühlen. Mitunter ist schon allein der Gedanke ans Schlafengehen und die nächtliche Dunkelheit für ihn angstauslösend. Die Angstgefühle übertragen sich mit der Zeit sogar auf ähnliche Situationen wie das Schlafen am Nachmittag.
Die Angst- und Stressreaktion: Was genau geschieht hier?
Ilse öffnet den Kühlschrank und sieht gähnende Leere. »Was kochst du heute, Mama?«, fragt ihre kleine Tochter hinter ihr. Ilse seufzt, nimmt eine Pfanne und ein paar Kartoffeln und sagt: »Kartoffelrösti mit Ketchup, Schatz!« Heute ist der 28. des Monats. Geld gibt es erst wieder in drei oder vier Tagen. Wie wird das ausgehen? Muss diesen Monat wieder das Ersparte dran glauben? Die Kleine meckert: »Schon wieder?« Da dreht sich Ilse um. Sie ist extrem angespannt und sieht so aus, als könnte sie jeden Moment losschreien oder weinen. Erschrocken geht das Kind einen Schritt zurück.
Eine Angstreaktion ähnelt in vielerlei Hinsicht dem, was wir im Alltag als Stress bezeichnen. Jeden Tag werden wir mit verschiedenen Stressoren, also stressauslösenden Reizen und Situationen, konfrontiert. Das können körperliche Erkrankungen und Erschöpfung sein (körperliche Stressoren), aber auch Gefühle der Enttäuschung und chronische Unzufriedenheit (psychische Stressoren) oder Beziehungsprobleme und finanzielle Sorgen. Diese Stressoren können subjektiv unterschiedlich bewertet werden. Manch einer ist vielleicht gewohnt, am Ende des Monats knapp bei Kasse zu sein und kann damit angstfrei und gut leben, während manch anderer nervös wird, wenn er Mitte des Monats schon sehr aufmerksam auf seine Ausgaben achten muss, und das Gefühl bekommt, die Situation nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Wird der Stressor als bedeutsam (»Geld ist sehr wichtig und mit Geldknappheit kann ich nicht gut umgehen.«) und die eigene Person als machtlos (»Ich kann nichts tun, um die Situation zu verbessern.«) eingeschätzt, so entsteht eine stark ausgeprägte Stressreaktion.
Die körperlichen Symptome bei Stress sind den Symptomen der Angst recht ähnlich: Beispielsweise wird der Herzschlag schneller oder die Muskulatur spannt sich an. Das Ausmaß dieser körperlichen Reaktion hängt von der Stärke der Belastungssituation sowie der individuellen Bewertung der Situation ab. Auch hier stellt die körperliche Anpassung des Körpers sicher, dass eine schnelle Reaktion möglich ist. Nach der Belastungssituation sinkt das Anspannungsniveau wieder. Bei starken Stressreaktionen dauert dies länger als bei schwächeren. Verdeutlicht an zwei Beispielen lässt sich das gut nachvollziehen:
Die meisten Stressreaktionen gehen relativ schnell wieder vorbei. Ähnlich wie die Angstreaktionen werden sie vom Körper wieder heruntergeregelt und dauern nicht ewig an.
Ob eine Situation eine Angstreaktion auslöst, hängt zum einen natürlich davon ab, wie groß das Ausmaß des Stressors ist. Ein gutes Beispiel dafür wäre etwa der Stress vor einer Prüfung. Geht es dabei einfach nur um eine kleine Frage zwischendurch, um den wöchentlichen Test oder um eine Jahresprüfung, bei der einiges auf dem Spiel steht?
Ob eine Angstreaktion ausgelöst wird, hängt aber auch davon ab, wie hoch das zugrundeliegende Anspannungsniveau (sozusagen unser »Stresslevel«) ist. Treten die Belastungen auf, während man relativ entspannt und ruhig ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Angstreaktion ausgelöst wird, geringer, als wenn das allgemeine Anspannungsniveau hoch ist.
Hatte ein Schüler vor der Prüfung Streit mit seinen Eltern oder Freunden, musste er die ganze Nacht durchlernen oder hatte er vielleicht bereits eine Prüfung am Vortag, die er nicht geschafft hat, dann wird der »Stresslevel« vermutlich höher sein. Denn wenn man per se schon sehr angespannt und gestresst ist, dann ist die Angstschwelle viel schneller erreicht und man erlebt häufiger und schneller Symptome der Angst – gedanklich wie emotional. Wie kann man sich das im Detail vorstellen?
Das Stress-Angst-Modell
Im Stress-Angst-Modell wird dies grafisch dargestellt: Im linken Teil der Abbildung sieht man die Auswirkung von schwachen, mittleren und starken Belastungssituationen auf das körperliche Erregungsniveau bei niedriger allgemeiner Anspannung, rechts bei einer hohen allgemeinen Anspannung. Wie man sehen kann, reichen schwache und mittelstark ausgeprägte Belastungssituationen bei einem niedrigen Anspannungsniveau nicht aus, um Angstsymptome hervorzurufen. Lediglich eine sehr starke Belastungssituation löst hier Angst aus. Liegt allerdings ein hohes allgemeines Anspannungsniveau vor, sind bereits mittelstarke Belastungssituationen ausreichend dafür, dass die Angstschwelle überschritten wird.
Anna hat eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Mit ihrem Nebenjob, der Arbeit an ihrer Masterarbeit und dem Gedanken an zwei noch zu schreibende Hausarbeiten im Hinterkopf ist ihr Anspannungsniveau bereits recht hoch. Schon eine geringe Belastung kann bei ihr also die Angstschwelle überschreiten und somit Ängste auslösen. Allein beim Gedanken an das Vorstellungsgespräch kämpft sie mit körperlichen Symptomen wie Übelkeit, Schwitzen und Herzrasen sowie Gefühlen der Angst und Unsicherheit. Beim Gespräch selbst drängen sich zusätzlich ängstliche Gedanken (»Ich schaffe das nicht!«, »Ich muss hier raus!«) in ihr Bewusstsein.
Mia hat auch eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Sie hat gerade zwei Wochen auf Teneriffa verbracht, wo sie die Sonne und das Meer genossen und sich von ihrem Alltagsstress erholt hat. Sie ist also entspannt und verfügt über ein ausgeglichenes, niedriges Anspannungsniveau. Das bevorstehende Gespräch ist für Mia nicht so schlimm, sie erreicht die Angstschwelle nicht und es treten keine körperlichen Angstsymptome auf. Selbstbewusst macht sie einen Termin aus. Auch beim Gespräch ist sie entspannt und wirkt selbstbewusst.
Um Angst zu verstehen, ist es wichtig, sich Folgendes bewusst zu machen: Ein und dieselbe Situation kann je nach Ausgangsniveau unterschiedlich erlebt werden. Es ist also nicht nur die Situation, die zählt. Es ist wichtig, auf das Ausgangsniveau achten und sich bewusst zu sein, welche Bedeutung es hat. Denn so können wir den »Teufelskreis der Angst« der auch für die Entstehung von Angststörungen ganz zentral ist, erkennen und besser verstehen.
Angst als Problem
Fallbeispiel einer Angststörung
»Als ich vor ein paar Monaten mit der U-Bahn von der Arbeit nach Hause gefahren bin, ist es mir das erste Mal passiert. Ich bekam ein total komisches Gefühl in der Magengegend. Mir war schwindelig und übel. Ich habe am ganzen Körper gezittert und ich wollte nur noch weg. Ich hatte einfach so große Angst. Ich hatte das Gefühl zu sterben, wenn ich nicht sofort aus dieser U-Bahn rauskomme. An der nächsten Haltestelle bin ich ausgestiegen und habe mich draußen in der Kälte auf eine Bank gesetzt. Es hat ganz schön lange gedauert, bis ich mich wieder beruhigen konnte. Ein zweites Mal habe ich noch versucht, U-Bahn zu fahren, doch auch da habe ich so große Angst bekommen, dass mir richtig schwarz vor Augen geworden ist. Ich hatte Angst, ich würde das Bewusstsein verlieren und bin an der nächsten Haltestelle ausgestiegen, obwohl ich noch mindestens zehn Haltestellen bis nach Hause hatte. Aber es ging einfach nicht… Das nächste Mal, als ich wieder mit der U-Bahn fahren wollte, habe ich es nicht mal geschafft, einzusteigen. Ich stand einfach nur an der Station und habe erst aufgehört zu zittern, als die U-Bahn verschwunden war. Jetzt fahre ich nicht mehr mit der U-Bahn, sondern gehe alle Strecken zu Fuß. Das kostet viel Zeit, aber ich würde das nicht noch ein einziges weiteres Mal ertragen.«
Wie zuvor berichtet, kennen so gut wie alle Menschen das Gefühl von Angst, insbesondere in Form von Alltagssorgen und -ängsten. Angst ist eigentlich eine ganz normale, nicht-krankhafte Reaktion – und häufig ein guter Ratgeber. Dennoch kann Angst zum Problem werden – insbesondere dann, wenn die Ängste
Heutzutage begegnen wir nicht mehr allzu häufig einem gefährlichen Tier in freier Wildbahn und müssen uns ihm stellen. In manchen Situationen, in denen man heute noch Angst empfindet, ist diese völlig unbegründet und stellt Alarmglocken im Körper an, die die Situationen eigentlich gar nicht erfordert (s. Fallbespiel zur U-Bahnfahrt). Häufig entsteht daraus nicht nur ein immenser Leidensdruck, sondern auch eine starke Beeinträchtigung der Lebensqualität. Die berufliche Leistungsfähigkeit, die Lebensführung allgemein sowie soziale Aktivitäten leiden unter der Angst. Liegen Ängste in sehr großem Ausmaß vor, so schränken sie das Leben ein und sorgen dafür, dass man an nichts anderes mehr denken kann als an die Angst. Auch die Vermeidung von bestimmten Situationen ohne offensichtlich erkennbare Bedrohung ist ganz typisch für Personen, bei denen eine Angst- oder Panikstörung vorliegt. Meistens wird die Angst mit der Zeit schlimmer und auf verschiedene weitere Bereiche übertragen. Im Fall der oben genannten Angststörung kann es sein, dass der Betroffene nach seinen unangenehmen, angstbesetzten Gefühlen in der U-Bahn nicht nur dieses Verkehrsmittel, sondern auch Fahrten mit dem Bus, der Straßenbahn oder dem Zug vermeiden wird.
Wie kommt es zu einer Angstreaktion, wenn doch offenbar gar keine angstauslösende Ursache vorliegt? Und wie erkenne ich, dass es sich bei meinen Symptomen tatsächlich um Angst handelt? Eine ganze Reihe verschiedener Erkrankungen, darunter Herz- und Gefäßerkrankungen, Asthma, Anfallsleiden, Diabetes oder Funktionsstörungen der Schilddrüse, kann körperliche Merkmale hervorrufen, die den typischen Symptomen einer Angstreaktion gleichen (Herzrasen, Schwitzen, Unruhe etc.). Auch anregende oder beruhigende Medikamente (Stimulantia, Beruhigungsmittel, Blutdruckmittel oder Schilddrüsenhormone) und bestimmte Erkältungsmittel können die gleichen, ganz typischen körperlichen Reaktionen bewirken. Insbesondere eine unkontrollierte Einnahme oder aber das plötzliche Absetzen von Medikamenten können solche Symptome auslösen. Legale oder illegale Genussmittel wie Koffein, Alkohol oder Drogen können ebenfalls für angstähnliche körperliche Reaktionen verantwortlich sein. Dass Krankheiten ausschlaggebend sind für ein vermehrtes Angstempfinden, kommt recht selten vor. Dennoch ist es wichtig, beim Arzt einmal abklären zu lassen, ob mit dem eigenen Körper alles in Ordnung ist, wenn man das Gefühl hat, dass etwas nicht stimmt. Häufig ist es so, dass Angst, die anfangs durch körperliche Ursachen ausgelöst wurde, ein Eigenleben entwickelt hat, sodass sie auch dann noch in problematischem Ausmaß auftritt, wenn die körperliche Ursache längst nicht mehr vorliegt. In solchen Fällen ist es ganz wichtig, sowohl die körperlichen Probleme als auch die Denkmuster und Verhaltensweisen anzugehen, die die Angst trotz eines gesunden Körpers und ohne Medikamenteneinnahme am Leben erhalten.
Von der Panikattacke zur Angststörung
Was versteht man unter einer Panikattacke?
Warum entwickeln manche Menschen nach einer Panikattacke eine Panikstörung und andere nicht?
Was versteht man unter einer Phobie?
Welche Angst- und Panikstörungen gibt es?
Jeder Mensch erlebt in seinem Leben irgendwann einmal Stress und auch Gefühle der Angst. Bei vorübergehenden starken Belastungen erfahren viele Menschen sogar starke Angstgefühle, negative Verstimmungen, körperliche Auswirkungen der belastenden Stresssituation und nicht selten auch Panikattacken.
Panikattacken – Wenn plötzlich das Herz rast.
Der Psychologe Hans-Ulrich Wittchen kam nach einer umfassenden Studie 1986 zu dem Schluss, dass in etwa 9,3 Prozent der deutschen Bevölkerung in ihrem Leben schon einmal eine Panikattacke gehabt hat. Tatsächliche manifeste Angsterkrankungen treten viel seltener auf. Mit mehr als 15 Prozent sind jedoch Angststörungen die häufigsten psychischen Erkrankungen (siehe auch Peurifoy & Erckenbrecht, 2019).
Im Durchschnitt dauern Panikattacken 30 Minuten. Manche Panikattacken können allerdings auch nur wenige Minuten oder mehrere Tage anhalten. Während einer Panikattacke kommt es zu vielfältigen körperlichen Symptomen, wie Herzklopfen, einem Engegefühl im Brustbereich, Atemnot und Schwindel. Auch Katastrophengedanken wie »Ich werde sterben« oder »Ich verliere die Kontrolle« sind ganz typisch für Panikattacken. Obwohl die Attacken selbst als sehr intensiv und dramatisch wahrgenommen werden, sind die tatsächlichen physiologischen Veränderungen (wie bspw. Blutdruckerhöhung, Beschleunigung des Pulses etc.) relativ gering. Um ein besseres Verständnis dafür entwickeln zu können, wie so eine Panikattacke abläuft, kann man sich eine intensive Schreck-Angst-Reaktion vorstellen: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einer Parkbank und lesen ein Buch. Plötzlich gibt es einen ganz lauten Knall. Sie erschrecken total, springen von der Parkbank hoch und fahren herum. Ihr Herzschlag beschleunigt sich, sie begeben sich in Habachtstellung und beginnen zu zittern. Da erblicken Sie auf dem Platz hinter der Bank einen jungen Mann, dem eine Wasserflasche heruntergefallen ist. Auf dem Steinboden ist sie in tausend Scherben zerbrochen. Im Gegensatz zu einer Schreck-Angst Reaktion ist allerdings bei einer Panikattacke häufig kein nachvollziehbarer Anlass ermittelbar. Sie tritt quasi – wenn man so will – »aus heiterem Himmel« bzw. spontan auf. Manchmal wird sie auch durch Gedanken an eine bestimmte Situation ausgelöst. Das bezeichnet man dann als antizipatorische (»vorwegnehmende«) Angst oder Panik.
Im Teufelskreis der Angst
Der Angstkreis
Der Angstkreis kann an jedem einzelnen dieser Punkte beginnen.
UKörperliche Empfindungen:
Stellen Sie sich vor, Sie bemerken, dass Ihr Herz plötzlich ganz schnell klopft. Sie stellen zudem fest, dass Sie ein wenig zittern und Ihnen das Atmen schwerfällt.
UWahrnehmung:
Beunruhigt horchen Sie daraufhin in sich hinein. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die eigene Person und achten darauf, ob es weitere besorgniserregende körperliche Symptome gibt.
UGedanken an »Gefahr« (Katastrophisierende Gedanken):
Sie wissen nicht, woher diese körperlichen Veränderungen kommen. Dafür können Sie einfach keine Erklärung finden, obwohl sie intensiv darüber nachdenken. Das beunruhigt Sie und Sie machen sich Gedanken darüber, was noch passieren wird. Sie fürchten, dass Sie bald gar keine Luft mehr bekommen werden. Verständlicherweise bewerten Sie die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2022
ISBN: 978-3-7554-0632-7
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