Unser Alltag ist ihre Kindheit
Erziehung heißt Beziehung: Wie du dein Kind trotz vollem Alltag & Krisen liebevoll begleitest und stark machst
Antje Ebersbacher
Vorwort
Hallo, ich freue mich riesig, dass du diese Zeilen liest. Denn das heißt auch: Du hast es geschafft, deine Kinder anderweitig zu versorgen. Schlafen sie schon oder hast du sie auf den Balkon gestellt? Spaß beiseite. Aber ich glaube, wir haben alle schon einmal daran gedacht, unsere Kleinen auf den Mond zu schicken. Das kommt selten vor, aber manchmal brennt die Zündschnur extrem heiß. Ob und wie oft solche Momente bei dir vorkommen, kannst nur du wissen. Dass du diese Situationen aber so nicht akzeptieren möchtest und nach Lösungen suchst, finde ich wunderbar.
Dabei sind weder ausschließlich die Kids noch wir Eltern für schwierige Momente verantwortlich. Es sind ganzverschiedene Aspekte, die das Zusammenleben kompliziert erscheinen lassen. Und genau diesen möchte ich – ausgehend von meinen Erfahrungen als vierfache Mama – in diesem Buch auf den Grund gehen: Warum können kleine Kinder so störrisch wie ein Esel sein? Warum möchten sie ihre Schnürsenkel selbst binden, obwohl sie gerade Klettverschlussschuhe anziehen sollen, und wieso passt nur das Lieblingskleid mit den Spaghettiträgern unter den Schneeanzug? Warum sitzt die kleine Monsterbande nachts ausgerechnet im Bett deines Lieblings, weshalb kann der Ikea-Parkplatz logischerweise nur in deiner Küche sein und wieso muss das Kind aufgrund einer wichtigen Beschäftigung im »Homeoffice« bleiben, anstatt in die Kita zu gehen?
Eltern zu werden, ist nach wie vor das größte Abenteuer der Menschen. Doch in Momenten wie diesen möchtest du vielleicht lieber auf der anderen, der sicheren Seite des Abenteuers sitzen und die Geschichte dort weiterverfolgen. Als Eltern kann man sich aus jenen Situationen, die einen auf die Palme bringen, leider nicht komplett herausschleichen – ein kleines bisschen allerdings schon. Diesen Lösungsansatz und weitere Ideen beschreibe ich dir in den nächsten Kapiteln und werde sie mit typischen Beispielen belegen, damit du den Alltag mit deinen Kindern so gestalten kannst, dass sie sich gern an ihre Kindheit zurück erinnern werden.
Dabei definieren wir gemeinsam den Begriff der Erziehung um. Findest du nicht auch, dass er negativ belastet ist? Es drückt sich in dem Wort bereits Gehorsam, Bestrafung und ein gewisses Machtverhältnis aus. Kinder dagegen wollen sich ausprobieren, nachahmen und lernen, was mit der traditionellen Erziehung nicht so recht vereinbar ist. Deshalb setzen viele Kinderpsychologen, Eltern und Erzieher seit Jahren auf Beziehung statt Erziehung. Und wenn du kurz vor dem nächsten Termin deine Waschmaschine öffnest, in der lauter Papiertaschentücherfusseln an den Jeanshosen hängen, deine Tochter heulend mit Lockenwicklern im Haar vor dir steht, die sie nicht mehr rauskriegt und vor der Haustür dein Mann schon zum dritten Mal die Autohupe betätigt, dann ... Ja, was dann? Eigentlich würdest du explodieren. Oder du gehst neue Wege und versuchst, dich zunächst zu beruhigen, deine Tochter gleich mit. Ich habe mal gehört, dass sieben Sekunden innige Umarmung reichen, um sich zu entspannen. Jetzt noch ein: »Schau mal, Lisa, meine Wäsche hat auch so was wie Lockenwickler am Stoff.« Spätestens dann hat sich die explosive Luft friedlich aufgelöst. Erziehung in Form von Vorhaltungen ist hier einem Miteinbeziehen des Kindes in das gemeinsame Chaos gewichen. Und so sollte das Familienleben funktionieren, durch Einbeziehen, an einem Strang Ziehen, Gründe Nachvollziehen, eigene Muster einer Prüfung Unterziehen, in Pausen Zurückziehen, den Partner Hinzuziehen, sich gegenseitig Hochziehen und immer wieder den Hut voreinander Ziehen.
Im Familienalltag werden unweigerlich Konflikte und kleine Krisen auftauchen. Es liegt nur an dir, welchen Stellenwert sie bekommen, ob du dich in stressigen Situationen zu leicht von alten Verhaltensmustern leiten lässt oder bereits gelernt hast, mit deinen Kindern im Dialog zu kommunizieren. Mit diesem Ratgeber möchte ich dich in schwierigen Alltagssituationen begleiten und direkte Lösungsansätze aufzeigen. Und keine Sorge: Du musst nicht sofort das ganze Buch lesen, um den richtigen Weg zu finden. Sieh das Buch als deinen Begleiter über einen längeren Zeitraum. Immer, wenn du ein Stückchen weiterliest, erhältst du die Möglichkeit, dich selbst zu reflektieren, um bisher stressige Situationen gelassener meistern zu können. Auch ich habe dies als Mutter nicht von heute auf morgen gelernt und bin noch immer nicht fehlerfrei. Doch Ausdauer, Geduld und eine Kommunikation auf Augenhöhe haben meinen Kindern geholfen, sich entsprechend ihrer Anlagen und Begabungen gesund entwickeln zu können.
Bevor du dich in die folgenden Kapitel stürzt, möchte ich dich noch eines wissen lassen. Es gab noch keine Mama und keinen Papa, die perfekt waren, und so soll es auch gar nicht sein! Verzeih dir, wenn du die Nerven verloren hast und vielleicht lauter geworden bist als beabsichtigt. Wenn du etwas zu deinem Kind gesagt hast, das so nicht in Ordnung war. Wenn du nicht bedürfnisorientiert warst, weil sich in der Küche das dreckige Geschirr stapelt, während die Katze gerade den gewürfelten Speck von der Küchenarbeitsplatte klaut und deine Kinder zum gefühlt hundertsten Mal streiten. Warum verzeihen? Weil dir gerade alles zu viel wurde, weil du eben nicht nur Mama oder Papa bist, sondern vor allem eines: Mensch. Verzeih dir und versuche, es beim nächsten Mal besser zu machen.
Theorie dieses Buches – Garnicht grau
Ein klein wenig muss ich dich noch vom Lesen des eigentlichen Ratgebers abhalten, damit ich dir erklären kann, welches Konzept dahintersteckt. Ich beschäftige mich vorrangig mit den zwei- bis sechsjährigen Kindern. Zunächst kannst du dich im Theorieteil mit ein paar Grundlagen beschäftigen und deine eigene Kindheit hinterfragen, um unbewussten Verhaltensmustern und Glaubenssätzen auf die Spur zu kommen. Natürlich kannst du diesen Teil auch gern überspringen und direkt in die Praxis gehen. Viele Konfliktthemen zwischen Eltern und Kindern sowie konkrete Fallbeispiele sollen dir dabei helfen, deine Kinder liebe- und verständnisvoll zu begleiten und zu stärken. Mitunter gibt es freie Zeilen, in denen du deine eigenen Gedanken aufschreiben kannst. Du findest im Praxisteil immer wieder Exkurse, die ein spezifisches Thema theoretisch untermauern sollen. Diese Exkurse können auch getrennt vom jeweiligen Unterpunkt gelesen werden, da sie auch darüber hinaus gültig sind.
Falls du lieber zuerst mit der Praxis beginnst, möchte ich dich dennoch motivieren, anschließend den theoretischen Teil zu lesen, da dadurch die Lösungsansätze besser verständlich werden und du dich als Elternteil selbst präziser hinterfragen kannst.
Wenn es im Ratgeber um Familien geht, dann schließt diese Bezeichnung selbstverständlich alle Konstellationen ein, die eine Familie haben kann. Die klassische Familie aus Mama, Papa und Kind/ern erhält dabei den gleichen Stellenwert wie eine Patchworkfamilie, Alleinerziehende/r mit Nachwuchs, Familien mit gleichgeschlechtlichen Partnern und alle anderen Varianten von Erwachsenen, die sich liebevoll um ihre Kleinen kümmern. Ich werde sehr oft die Bezeichnung Eltern benutzen, sodass sich jede/r Leser/in angesprochen fühlen kann.
Theorie
1. Entwicklungspsychologische Grundlagen
Zwei Töchter (3 & 4 Jahre) sitzen mit ihren Eltern beim Essen und fragen: »Mama, was wünschst du dir zu Weihnachten?« – »Zwei brave Kinder.« – »Und wo sollen wir dann hin?«
An dieser Stelle möchte ich nur ganz kurz zusammenfassen, welche Entwicklungsstufen ein Kind durchläuft und welche Temperamente in deinem kleinen Liebling stecken können, damit die Themen des Ratgebers und vor allem die Fallbeispiele leichter nachvollzogen werden können. Du als Mama oder Papa kennst diese Informationen mit Sicherheit, sie sollen der Vollständigkeit halber jedoch nicht unter den Tisch fallen.
1.1 Das bin ich also – 2 Jahre
Im ersten Lebensjahr hast du erfahren, wie dein Kind immer mehr Freiräume erobert hat. Es ist bereits sehr viel selbständiger geworden; es hat gelernt zu brabbeln, zu greifen, sich fortzubewegen. Gerade Letzteres ist ein immens wichtiger Schritt für dein Kind – es kann sich nun von Mama und Papa wegbewegen, auch in einen anderen Raum hinein. Gleichzeitig beginnt nun allerdings eine Phase, die von vielen Eltern als sehr anstrengend empfunden wird – die Wiederannäherungsphase.
Die meisten Kinder sind, nachdem sie doch so große Fortschritte in ihrer Selbständigkeit gemacht haben, plötzlich wieder ganz Baby. Sie möchten nahe bei Mama und Papa sein, der mütterliche oder väterliche Arm ist ihr Lieblingsort. Dieser scheinbare Rückschritt in ihrer Entwicklung lässt sich, wie eigentlich alle kindlichen Phasen, ganz einfach evolutionär erklären. Noch vor wenigen tausend Jahren bedeutete es für ein Kleinkind den sicheren Tod, sich zu weit von den Bezugspersonen zu entfernen. Zwar verfügen wir heute über stabile Wände, die Bären und Wölfe am Eindringen in unsere Häuser hindern. Unsere Kinder wissen davon allerdings nichts. So ist es nicht verwunderlich, dass sich ein Kind im Alter von etwa 18 bis 26 Monaten auf seinen kleinen Entdeckungstouren immer wieder rückversichern will: »Mama noch da?« Nimm diese Phase möglichst gelassen. Kein Kind wird verwöhnt, nur weil es viel getragen wird!
Nähert sich die Wiederannäherungsphase ihrem Ende, folgt gleich die nächste anstrengende Entwicklung, und zwar die Autonomiephase. Scheinbar wird während dieser Phase zunächst alles aus Prinzip abgelehnt. Aber warum ist das so? Dein Kind ist nun in einer Entwicklungssituation, in der es erlebt, dass der eigene Wille und der anderer Menschen nicht immer miteinander harmonieren. Mehr noch – selbst Gegenstände wollen nicht immer so, wie der kleine Mensch sich das vorstellt. Da baut man mühevoll einen gigantischen Turm aus Bauklötzen und dann fällt der einfach um! Man zieht ein bisschen zu fest an der Buchseite und schon reißt sie ein! Ein zu starker Druck auf den Bleistift und die Spitze bricht ab! Ärgerlich! Solche Dinge erzeugen Frust, mit dem dein Kind erst einmal umzugehen lernen muss. Keine leichte Sache. Gleichzeitig, und diese Entwicklung zieht sich bis zum vierten Lebensjahr hin, erlernt es das sogenannte Coping. Dieser Begriff bezeichnet die Fähigkeit zur Stressregulation. Mehr dazu folgt in Kapitel 7.14.
1.2 It‘s a magical world – 3 Jahre
In diesem Alter befinden sich Kinder mitten in der magischen Phase. Sehr kreative Menschen verlassen diese eigentlich nie ganz, viele nicht ganz so fantasievolle Erwachsene allerdings schon. Das ist eines der Dinge, die es uns manchmal schwer machen, Kinder zu verstehen. Wir sind einfach »aus dem Alter raus«. In dieser schönen, aber manchmal auch schwierigen Phase ist alles, was Kinder sehen, hören, riechen, kurzum mit ihren Sinnen wahrnehmen, mit Leben behaftet. Das Haus gegenüber hat mitnichten zwei Fenster und eine Tür, sondern ein Gesicht, das nachts ganz schön gruselig sein kann. Wenn ich meine Arme ausbreite, verwandeln sie sich in Flügel und ich kann fliegen! Und hat die Schnecke, die dort kriecht, nicht eben mit mir geredet?
Alles, was das Kind nicht begreift, versucht es zwar logisch zu erklären, doch ist es seine eigene kindliche Logik. Auch die Erklärung für die beobachteten Phänomene ist nicht rational, sondern magisch. Es schneit, weil Frau Holle die Betten aufschüttelt. Blumen beginnen zu blühen, weil kleine Feen durch den Garten fliegen und diese mit dem Zauberstab antippen. Gleichzeitig hält dennoch paradoxerweise eine gewisse Logik Einzug. Das Kind erkennt immer mehr Muster; es werden erste Zahlen oder Buchstaben erkannt. Puzzles werden nicht gelegt, sondern regelrecht verschlungen. Mama muss mindestens vierhundert Mal am Tag Memory spielen und Papa den Lieblings-Kindervers zum zweihundertsten Mal aufsagen. Kinder lieben Wiederholungen, Eltern oft nicht so sehr. Dafür werden diese mitunter mit Erstaunlichem belohnt, denn Kinder in diesem Alter haben ein unglaubliches Gedächtnis. So erzählen sie auf einmal beim Abendbrot ganz beiläufig, was Tante Hilde beim Kaffeetrinken für einen lustigen Hut aufhatte oder dass ein Mädchen auf dem Spielplatz vom Klettergerüst gefallen ist – Ereignisse, die zwei oder drei Monate in der Vergangenheit liegen.
1.3 Wieso, weshalb, warum? – 4 Jahre
Ab etwa vier Jahren verlässt dein Kind langsam – sehr langsam! – die magische Phase und beginnt, die Welt mehr und mehr rational zu betrachten. Natürlich gelingt dies noch nicht so gut wie bei einem Erwachsenen. Die lieben Kleinen machen jedoch erstaunliche Fortschritte. Oft können Eltern regelrecht beobachten, wie sich die Rädchen im Kopf ihres Kindes drehen. Die Kinder löchern ihre Bezugspersonen mit Fragen, alles muss kommentiert und mehrmals wiederholt werden. Viele Eltern kennen die Situation, wenn sie Fragen über Fragen beantworten und nach jeder einzelnen erneut ein gedankenvolles »Warum?« hören.
Ereignisse werden nun schon häufig in der richtigen Reihenfolge nacherzählt und sprachlich machen die Kinder einen gewaltigen Sprung. Morgens können sie sich zudem häufig an ihre Träume erinnern und erzählen diese den Bezugspersonen. Und diese Träume haben es oft in sich, denn Kinder verarbeiten ihre Erlebnisse, zum Leidwesen ihrer Eltern, nachts. Gleichzeitig wird der kleine Schatz immer selbständiger. Manche Kinder können bis zum vierten Lebensjahr nur mit Hilfe ihrer Eltern einschlafen, nur um an ihrem vierten Geburtstag zu verkünden: »Jetzt bin ich groß und will allein einschlafen!« Andere wiederum brauchen noch lange Einschlafbegleitung, was genauso in Ordnung ist. Dafür machen sie in anderen Bereichen große Fortschritte.
1.4 Für ein soziales Miteinander – 5 Jahre
Nun kommt die Zeit, in der das kindliche Denken zunehmend realistischer und rationaler wird. Es wird nach logischen Erklärungen gesucht. Frau Holle hat sich ausgeschneit, jetzt weiß das Kind allmählich, dass Schnee in Wahrheit aus winzigen Eisplättchen besteht, die aus den Wolken rieseln. Neben dem sich langsam ausbildenden logischen Denkvermögen entwickelt das Kind in diesem Alter eine herausragende Fähigkeit, die es vor allem durch Beobachten und Nachahmen lernt: Empathie, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.
Nach Prof. Mark H. Davis fußt die Empathie auf vier Säulen: der gegenseitigen Perspektivübernahme, dem Mitgefühl, der persönlichen Betroffenheit sowie der Fantasie-Empathie, also der Fähigkeit, sich auch in fiktionale Charaktere hineinzuversetzen. Empathie ist vor allem deshalb so wichtig, weil sie ein starkes soziales Miteinander erst ermöglicht. Menschen ohne Empathie, die nur auf sich selbst bedacht sind, können keine festen Bindungen und Verbindlichkeiten eingehen. Aus diesen Gründen ist es ungeheuer wichtig, Empathie zu fördern. Doch halt! Empathie fördern? Entwickelt sie sich nicht von selbst? Jein. Über eine grundlegende Empathie verfügen bereits Babys. Versuche haben gezeigt, dass schon die Kleinsten helfen möchten, wenn jemand angegriffen wird oder jemandem Unrecht geschieht. Diese Anlagen stecken also von Geburt an in uns. Es gilt vielmehr, unsere Kinder bestmöglich in der Ausprägung ihrer Empathie zu fördern. Wenn du das tun möchtest, dann lebe ein soziales Miteinander einfach vor. Bleibe in Beziehung mit deinem Kind, statt einfach zu strafen, gehe auf seine Bedürfnisse ein und sei offen für seine Gedanken und Gefühle. Respektiere es und begegne ihm wertschätzend.
1.5 Bald geht die Schule los! – 6 Jahre
Dein Kind kommt nun in die Pubertät. »Wie bitte?«, wirst du dich fragen: »Doch nicht mit sechs Jahren!« Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um die echte Pubertät, die sowohl Eltern als auch Heranwachsende gelegentlich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treibt. Dennoch hat die sogenannte »Wackelzahnpubertät« ihren Namen nicht zu Unrecht. Du wirst Züge an deinem Kind kennenlernen, die du ihm nicht zugetraut hättest. Nicht umsonst wackeln während dieser Zeit nicht nur die ersten Zähne, sondern auch die Wände, von den Erschütterungen der zuknallenden Türen. Du wirst dich fühlen, als sei dein Kind in die Trotz- oder Autonomiephase zurückgekehrt.
Doch warum ist das so? Versetze dich in die Lage deines Kindes. Was geschieht gerade in seinem Leben?
Dazu kommt, dass plötzlich viele Menschen erwarten, das Kind sei »ja schon groß« und müsse dies und jenes bereits können. Erwarte nicht zu viel – dein Kind ist nun zwar ein Schulkind, es ist aber vor allem noch eines: klein.
1.6 Sturkopf, Wirbelwind, Yogi & Philosoph
Ja, die lieben Kleinen sind manchmal nicht so umgänglich, wie wir Eltern uns das wünschen würden. Dass dies einerseits zu ihrer persönlichen Entwicklung gehört, wissen wir im Grunde, auch wenn es zugegebenermaßen nervt. Dass dies andererseits am Temperament des Kindes liegt, wie schwierige Situationen ausgetragen werden, ist auch klar. Mit den nächsten Zeilen möchte ich um Verständnis für die Kinder werben, denn sie können sich nur innerhalb ihrer Anlagen und ihres Temperaments bewegen. Ich möchte aber betonen, dass dies keine Stigmatisierung werden und nur dem Verständnis kindlicher Reaktionen dienen soll.
Zunächst stelle ich dir die vier Temperamente nach der Lehre von Hippokrates (um 460 v. Chr. bis um 370 v. Chr.) vor, die heute unter anderem in der Waldorfpädagogik und der Anthroposophie genutzt werden:
2. Krisen & voller Alltag: hilfreiche Tipps
Mama ist etwas genervt. Emma (3) kommentiert: »Du hast wohl zu wenig geschlafen.«
Welche Eltern würden nicht am liebsten den turbulenten Alltag und die immer wiederkehrenden kleinen Krisen mit einem harmonischen Leben tauschen? Vor allem in Phasen, wo sie kaum zur Ruhe kommen und ein Problem das nächste jagt, wäre eine riesengroße Verschnaufpause wie ein Traumurlaub in der Karibik. Und wenn ich schon davon schreibe, dann begib dich doch in Gedanken an solch einen wundervollen Strand und genieße für ein paar Minuten das Rauschen des Meeres und die Wärme auf deiner Haut ... Diese kleine Auszeit kannst du jeden Tag haben, egal wo sich dein Traumziel befindet. Und während du noch den Sand unter deinen Füßen spürst, scheinen alle Sorgen weit weg. Ich habe mir ein Bild von meinem persönlichen Lieblingsplatz täglich weiter ausgestaltet, sodass ich heute bei erhöhtem Adrenalinspiegel sofort dorthin verreisen kann, und sei es auch nur ein paar Sekunden. Genau diese kurze Zeit reicht meistens aus, um die bevorstehende Explosion umgehen zu können. Vielleicht möchtest auch du als am Limit lebende Mama oder gestresster Papa solch eine Traumwelt erschaffen? Dann verinnerliche dir diesen Ort jeden Tag aufs Neue, denn nur dann kann dein Unterbewusstsein diesen Platz zum Durchatmen abspeichern und dir umgehend zur Verfügung stellen, sobald du die Realität verlassen möchtest. Selbstverständlich kann dich dein imaginärer Wohlfühlort auch zu anderen Zeiten mit Gelassenheit, Beruhigung, Freude, Zuversicht und Freiheit versorgen. Nimm dir diese Pause, so oft du möchtest, und spüre dabei, wie sich dein Körper und Geist entspannen.
2.1 Kleine Stolpersteine als Lernimpuls
Was wäre denn, wenn sich Eltern tatsächlich ein Leben mit ihren Kindern in hundertprozentiger Harmonie wünschen könnten? Es wäre schlicht und einfach stinklangweilig. »Einen schönen guten Morgen, Bastian. Hast du gut geschlafen?« »Ja, Mama. Kann ich bitte eine Tasse Kakao bekommen?« »Bitteschön, mein Schatz, dein Kamillentee!« »Dankeschön! Du bist aber lieb zu mir!« »Pack bitte dein Pausenbrot für die Kita ein!« »Danke, Mama, dass du mein Brot mit Leberwurst gestrichen hast, obwohl ich doch Käse wollte!« »Geh bitte deine Zähne putzen!« »Ja, mach ich gern, Mama.« »Oh, Mama, mir ist die Zahnpasta auf den Pulli gekleckert.« »Ach, macht doch nichts, dann ziehen wir deinen Lieblingspulli aus und du bekommst den mit dem hässlichen Aufdruck.«
Auch wenn diese Geschichte ziemlich überspitzt ist, zeigt sie doch, dass ein harmonisches Zusammenspiel auf Kosten der Weiterentwicklung geht. In diesem Beispiel ist das Kind durch den anerzogenen totalen Gehorsam der eindeutige Verlierer. Doch auch die Mutter verwehrt sich eine andere Blickrichtung und bleibt auf ihrem Thron der Macht sitzen. Gerade Reibungen im Alltag ermöglichen schließlich erst die Entwicklung der Kinder und natürlich auch der Erwachsenen. Jeder kleine Stolperstein soll dich oder dein Kind nicht ärgern, sondern die Grundlage sein, um daran zu wachsen. Kinder nehmen diese Hürden gar nicht richtig wahr. Sie sind einfach da, werden ohne Bedenken angenommen und solange erklommen, bis sie übersprungen werden können. Wäre das für uns Eltern nicht auch der richtige Weg?
Anregung: Stell dir vor, ein Problem trifft dich völlig unvorbereitet und natürlich zu einem Zeitpunkt, der so gar nicht in deinen Alltag passt. Heute verfluchst du diesen Stolperstein nicht, sondern heißt ihn herzlich willkommen in deinem Leben. Allein dieser positive Gedanke lässt das Problem gleich ein wenig schrumpfen. Nun bedankst du dich auch noch für die Möglichkeit zu deiner persönlichen Weiterentwicklung. Spüre in deinem Körper nach, was nun passiert. Vermutlich entspannst du dich und siehst den Stolperstein als Gegner auf Augenhöhe, nicht als einen, dem du nicht gewachsen bist. Anschließend kannst du entscheiden, wie es weitergehen wird.
Die Sicht auf die Dinge zu verändern, ist in vielen Fällen schon der erste Lösungsansatz für ein Problem. Nicht selten entpuppt sich die ganze Sache beim näheren Betrachten als Peanuts. Entweder brauchst du keine Energien hineinzustecken, weil sich das Problem in naher Zukunft von ganz allein lösen wird, oder das Problem war eigentlich gar keines. Wie oft wird in solchen Situationen aus einer Mücke ein Elefant gemacht? Dabei wäre es viel einfacher und kräfteschonender, den Mini-Stolperstein als solchen stehen zu lassen. Wenn sich zwei Kinder im Alter von fünf Jahren um ein Spielzeugauto streiten, sind sie bereits in der Lage, ihren Konflikt allein auszutragen und in aller Regel werden sie das auch tun, sofern wir Eltern nicht einschreiten. Geh lieber aus der Gefahrenzone, verschwende keine unnötige Energie und lass die Kids die Situation auf ihre ganz individuelle Weise klären. Auf dem Weg in die Selbständigkeit müssen Kinder sich selbst ausprobieren und aus ihren eigenen Erfahrungen lernen dürfen. Diesen Freiraum sollten Eltern ihrem Nachwuchs immer zugestehen.
Erweist sich nun ein Problem tatsächlich als größerer Stolperstein, dann wird es Zeit zum Lernen. Für uns als Eltern gilt es dabei, die Kinder bestmöglich zu unterstützen. Mit unserer Lebenserfahrung ist es möglich, der Ursache auf den Grund zu gehen. Wir können die Hürde genau analysieren und zusammen mit den individuellen Möglichkeiten des Kindes Lösungsansätze finden.
Fallbeispiel: Anna (4 Jahre) hat ihre drei besten Freundinnen aus der Kita zur Geburtstagsfeier eingeladen, darunter Finja. Für die freie Spielzeit hat die schüchterne Anna mit ihrer Mama eine Kiste Legosteine sowie zwei Puppen und diverses Puppenzubehör zurechtgelegt. Alles verläuft nach Plan. Jippie! Bis nach fünf Minuten die forsche Finja eine Inventur im Kinderzimmer beginnt. Anna schaut hilflos zu, wie Finja Bücher und Spiele aus dem Schrank zieht, kurz begutachtet und dann auf den Boden wirft. Als sie sich auch noch das Kinderkeyboard schnappt, läuft Anna weinend zu ihrer Mama. Um ihrer Tochter zu helfen, wird sie zunächst das Keyboard in Sicherheit bringen. Doch damit ist Anna nur bedingt geholfen. Ihre Mama wird nach dem Geburtstag mit Anna sprechen, um sie zu ermutigen, selbst Stellung zu beziehen. Da Anna sehr schüchtern ist, hilft es nicht, dem Kind zu erklären, dass es Nein sagen soll. Es wird vermutlich viele Anläufe brauchen, bis Anna das Selbstbewusstsein hat, sich anderen Kindern entgegenzustellen. Die Mama könnte in diesem Fall mit Anna beispielsweise solche Szenen mithilfe ihrer Puppen nachspielen und die Situationen variieren. »Hey, forsche Finja! Heute spielen wir Frosch-Finja! Mach nichts schlimmes, am sonsten sage ich quak, quak.« Ok, nun wieder ernsthaft. Sie könnte auch Bücher vorlesen, die dieses Thema aufgreifen. Eine weitere Möglichkeit wäre es, Finja wieder einzuladen, damit Anna mit der Sicherheit ihrer Mama lernen kann, klar und deutlich Nein zu sagen. Dazu muss die Mama gar nicht im Kinderzimmer bleiben, sondern kann mit Anna verabreden, dass sie sich in der Nähe aufhält und mit ihren Ohren alles verfolgt.
So wichtig wie die Hürden für die Entwicklung des Menschen sind, so wichtig ist es auch, Fehler zu machen. Nicht jedes Problem lässt sich auf Anhieb bewältigen. Doch der innere Antrieb, auch diese Situation zu meistern und aus den bisher gemachten Fehlern zu lernen, führt letztendlich zum Erfolg. Und je mehr Erfolge sich im Laufe des Lebens einstellen, umso gelassener wird auch der Blick auf die Sorgen, denn tief im Inneren weiß man dann, dass es nur Mut, Ausdauer und einen klaren Verstand braucht, um eine Hürde zu überwinden.
2.2 Stolperfalle: unbewusste elterliche Verhaltensmuster und Glaubenssätze aus deiner Kindheit
Vieles, was wir an unsere Kids weitergeben, hat seinen Ursprung in unserer eigenen Kindheit. Dabei handelt es sich vor allem um Verhaltensmuster und Glaubenssätze unserer Eltern, die wir unbewusst übernommen haben. Du musst dich auch gar nicht grämen, wenn dir auffällt, dass du das Verhalten deiner Eltern kopiert hast. Gerade kleine Kinder lernen durch Beobachtung und Nachahmung. Das ist genetisch vorprogrammiert und kann genauso wenig verändert werden wie das Abspeichern verschiedener Angewohnheiten, die sich in der Kindheit festgesetzt haben. Stehst du nun unter Stress, läuft dein Körper auf Hochtouren, schüttet jede Menge Hormone aus und bedient sich abgespeicherter, gut funktionierender Handlungsabläufe. Zudem haben tief verpflanzte genetische Grundlagen seit jeher das Überleben der Menschheit gesichert. In einer Stresssituation muss der Mensch handlungsfähig bleiben, ohne vorher abzuwägen. Wenn sich urplötzlich ein gigantischer Bär seinen Weg aus dem Dickicht bahnt und die Sippe angreift, gilt nur noch kämpfen oder fliehen. Wenn dieser gigantische Bär nun dein kleiner tapsiger Bär ist, der an der Kasse vehement um sein Überraschungsei kämpft, und dich bereits böse Blicke der umstehenden Herde treffen, dann schießen die Stresshormone durch deinen Körper und du wirst quasi von einer Routine überrollt. Kämpfen oder nachgeben? Ob deine Reaktion die richtige war, kannst du erst hinterher beurteilen, wenn du genug Abstand zum Ereignis gewonnen hast. Und dann beginnt die eigentliche Arbeit an den Verhaltensmustern, denn diese Muster kannst du überschreiben, wenn du sie enttarnt und durch eine andere Reaktion ersetzt hast!
Das Verhalten deiner Eltern hast du in der ein oder anderen Rückschau wahrscheinlich schon detailliert analysiert und Muster gefunden, die in deiner Beziehung zu den Kids keine Rolle spielen werden. Mitunter verstecken sich Verhaltensmuster unter einer Decke, die du so gar nicht finden würdest. Hier sind sehr oft der Partner, Geschwister oder ein/e beste/r Freund/in gute Beobachter und nicht zu vergessen, die eigenen Kinder. Wenn du beispielsweise bei jeder Kleinigkeit, die schief geht, wie deine Mutter laut stöhnst: »Oh, nein! Nicht das noch!«, so werden deine Kinder diesen Ausspruch vermutlich wiederholen (Nachahmungseffekt). Die Worte wären an sich nicht weiter tragisch, doch wenn die negativen Ereignisse immer wieder mit einem negativen Kommentar belegt werden, bildet sich eine Verknüpfung im Gehirn. Würdest du nun gezielt darauf achten, beim nächsten Schlamassel einfach zu lachen, mit den Schultern zucken und »Halb so schlimm« nachschicken, könnten auch die Kinder solche Kleinigkeiten als unbedeutende Ereignisse speichern. Zudem erleichtert die positive Verknüpfung deinen Alltag.
Ähnlich verhält es sich mit Glaubenssätzen. Nimm dir mal einen Tag Zeit und geh mit offenen Ohren durch die Welt. Es ist erstaunlich, wie viele Glaubenssätze existieren, von »Ich bin noch zu jung.« über »Ich bin aus dem Alter raus.« (siehe
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2021
ISBN: 978-3-7487-9941-2
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