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Babuschka


Wenn sie aufsteht, ist sie in Bewegung. Woher sie die Energie hat, weiß niemand, wie sie das all die Jahre über durchgehalten hat, auch keiner. Als sie sich hinlegte, hatte sie sich einfach dazu entschieden. Für eine Zeit lang jedenfalls. Und eine Entscheidung von ihr ist ungefragt hinzunehmen. Sie ist eine ganz und gar ungewöhnliche Frau, eine, wie ich sie gerne kennen lernen würde, jünger müsste sie natürlich sein. Schon ihre Erscheinung ist anders als die von Frauen in ihrem Alter. Sie trägt einen Kurzhaarschnitt, färbt bzw. lässt sich ihre Haare zweimal im Monat schwarz färben und redet so, wie garantiert niemand in ihrem Alter redet. Sie nennt die alten, graumelierten und vornehmen Damen »Pudelmösen« und verwendet seltsame Extreme, wenn sie spricht. Manchmal sagt sie »dufte«. Das klingt ihrem Alter entsprechend angemessener, ist aber auch noch sehr modern. Wir haben uns daran gewöhnt. Sie ist alles andere als eine ungebildete Frau. Sie hat ein Studium absolviert, einen Magister in Italienisch, Französisch und Philosophie. Sie sagt, dass sich Sprache entwickelt und wer mit achtzig noch so redet, wie zu seiner Kinderzeit, sei hirnlos und werde zu Recht in abgeschlossene Heime gesteckt. Man müsse der Sprache jede Möglichkeit geben, auch die der Fehlentwicklung und überhaupt könne man sich nicht für den Rest seines Lebens auf die in Kindertagen erlernten Worte verlassen, sonst erginge es einem wie dem Mann aus der Geschichte im Schulbuch, der seinen Tisch plötzlich Stuhl und seinen Schrank Fuß nennt oder so und schließlich mit niemanden mehr reden kann, weil ihn keiner mehr versteht. Wir haben Babuschka immer und zu jeder Zeit unmissverständlich verstanden. In den ersten zehn Jahren meines Lebens war sie noch meine Oma, aber dann hörten wir eines Nachmittags Karel Gott und weinten. Von da an war Oma nur noch Babuschka und blieb es auch.
Babuschka ist nur ein Teil einer sehr seltsamen Familie. Wir sind wohl alle ungewöhnlich, wir sind eigentlich das, was man eine komische Familie nennt. Andere sehen oder sahen in uns einen Haufen gescheiterter Menschen, wir sind seltsam zufrieden damit und bleiben ungerührt. Wir leben jetzt wieder zusammen, endlich, nach all den Jahren. Flora, Jochen und ich leben wieder bei Babuschka, wie wir es immer getan haben, seit unsere Eltern tödlich verunglückten. Das war 1978 und meine Eltern waren auf dem Rückweg von einer Premiere der »Götterdämmerung«, Sie hatten noch die Schlussakkorde von Wagner im Kopf, dieses gewaltige, immer weiter aufbrausende Toben und starben, weil der LKW-Fahrer, der ihnen entgegen kam, eine Truckstop-Kassette zwischen seine Füße hatte fallen lassen. Während er sich bückte, fuhr der LKW auf die andere Straßenseite und zerschmetterte den Ford meiner Eltern. Paukenwirbel-Schluss! Babuschka sagt immer, das sei der Beweis dafür, dass Hochkultur nicht wirklich überlegen ist. Sie legt Tatsachen aus, wie es ihr passt. Sie weiß alles für sich zu nutzen. Von dem Tag des Unfalls an lebten wir bei ihr.
Flora, Jochen und ich.Flora heißt Flora, weil meine Eltern während eines Spazierganges in der Kölner Flora den plötzlichen Entschluss fassten, ein Kind in die Welt zu setzen. Es wäre romantischer gewesen, wenn sie Flora an Ort und Stelle gezeugt hätten, aber dafür waren sie nicht progressiv genug. Jochen heißt Jochen, weil der beste Freund meines Vaters Jochen heißt und weil Jochen eigentlich als Taufparte für Flora auserkoren war. Sein Name ist ein Trostpflaster, denn meine Tante Hilde übernahm letztendlich die Patenschaft von Flora. Die Familie meines Vaters hatte sich damals durchgesetzt und so wurde Jochen schließlich konsequent als doppeltes Zeichen der Entschuldigung zu Jochen und von Vaters Freund Jochen patentiert. Wie ich heiße, tut nichts zur Sache und es gibt auch keine Geschichte dazu. Wahrscheinlich stand ich von Anfang an immer ein bisschen neben mir und bin geschichtslos geblieben. Trotzdem liebt mich Babuschka heiß und innig, vielleicht sogar mehr als Flora und Jochen. Im Februar 1978 zogen wir also zu Babuschka in das Haus, das wir vorher nur selten betreten hatten, weil mein Vater sie für etwas verrückt hielt und auf häufige Besuche verzichtete. Meine Mutter fuhr manchmal alleine zu ihr und brachte dann unpassende Geschenke von ihr für uns mit. Ich bekam einen Hamster, der stank und den ich hasste, Flora eine elektronische Gitarre, auf der sie nie in ihrem Leben gespielt hat und Jochen einen Fußball, obwohl er damals klassisches Ballett lernte. Sie hatte es gut gemeint und wollte einfach nicht hinnehmen, dass das aus uns wurde, was aus uns wurde. Sie wollte unser Leben mitgestalten und in die eigene Hand nehmen, was sie dann auch tat. Mit mir hatte sie es sicherlich nicht leicht. Die erste Angstattacke kam, als ich in der Schule an der Tafel stand und »je suis, tu es, il est, nous sommes, vous êtes, ils sont«, schreiben sollte. Der Boden wurde zu einer schiefen Ebene und ich drohte abzurutschen. Als dann auch noch das Licht ausging und jemand von hinten einen Eimer mit Wasser über mich goss, ich also pitschnass vor allen anderen stand, verlor ich das Bewusstsein. Danach konnte ich niemandem mehr in die Augen schauen, jedenfalls noch weniger als vorher schon. Ich sei plötzlich schweißnass zusammengeklappt, hat der Lehrer Babuschka gesagt und dass man etwas dagegen tun sollte, ich müsste lernen, belastbarer zu werden.
Aber ich wurde nur vorsichtiger und vermied die Stunden, in denen man als Schüler an die Tafel musste. Irgendwann verlor ich den Anschluss an mathematische Formeln und konnte auch keine Fremdsprache. Ich blieb sitzen und der Schulpsychologe sprach mit mir über den Verlust meiner Eltern. Geholfen hat es nicht viel, denn ich begann umzufallen, wenn jemand neben mir in der Bäckerei ein »Croissant« oder ein »Baguette« bestellte. So kam ich zu meinem ersten Drogenkontakt und zu meinem ersten Klinikaufenthalt. Wie die Medikamente hießen, weiß ich nicht mehr, aber ich schwebte gleichsam über allem und fühlte mich sehr wohl. Als Babuschka mich besuchte und sah, dass ich mich bewegte wie ein alter Mann, schrie sie einen Arzt an, welcher Frankenstein ihren Sonnenschein in einen Zombie verwandelt hätte. Ich stand daneben, schaute mir den Zombie in aller Ruhe an, konnte ihn aber nicht so richtig erkennen, weil er durch die Milchglasscheibe nicht scharf zu sehen war. Jemand zog an meinem Arm und ich war befreit. Ein paar Tage später verschmolzen der Zombie hinter der Milchglasscheibe und ich wieder zu einer Einheit und meine Angst kam freudestrahlend durch die glasklare Türe zurück. Das geht jetzt schon recht lange so und es gibt kein Präparat, das ich nicht schon bekommen hätte, und kein Gespräch, das ich nicht geführt habe. Eine Zeit lang redete ich mir ein, ich sei von meinem Vater sexuell missbraucht worden, aber Babuschka sagte, ich solle nicht jeder Mode nachrennen. Es könne nicht sein, mein Vater hätte in seinem Leben dreimal Sex gehabt, das sei verbrieft und sichtbar. Er hätte seinen drei sexuellen Kontakten jeweils einen Namen gegeben: Flora, Jochen und meinen.Momentan bin ich mental und medikamentös gut eingestellt und bemühe mich um eine Arbeit, aber das will nicht so richtig in die Gänge kommen. Eigentlich will ich auch gar nicht weg und bin froh, dass wir alle wieder beisammen sind nach all der Zeit.
Jochen hat 1986 das Haus verlassen und geheiratet. Sie sah passabel aus, war die erste Frau, mit der er schlafen durfte, und das war anscheinend Grund genug, um sie zu heiraten. Sie zogen nach Hamm und er arbeitete dort in der Kreissparkasse. Wenig aufregend, aber auch nicht wirklich schlecht. Kein Stoff für große Romane, aber auch kein Grund zu klagen. John und Björn kamen in nur drei Jahren auf die Welt, jeder benannt nach einem Wimbledonsieger. Jutta, seine Frau, ist geradezu vernarrt in Tennis und Björn hat es schon bis zu den westdeutschen Meisterschaften gebracht. Jutta mag die Clubatmosphäre, sie mag kurze weiße Hosen und sie mag rote leichte Wollpullover, die lässig mit den Ärmeln über die Schulter gelegt werden. Jochen hat mir erzählt, dass er sich sehr bemühte, dass er gegen seine Sehnsucht ankämpfte und dass er Tennis zuletzt sogar ganz spannend fand. Weil er aber sehnsüchtig blieb, ging er oft alleine in die Natur. Ein Spaziergang mit Wolf, einem tollpatschigen Rottweiler-Riesenschnauzer-Mischling, führte ihn eines Abends durch den Stadtwald, wo er sich von einem jungen Mann hinter einem Busch das erste Mal in seinem Leben einen blasen ließ. Danach ging er immer mit dem Hund aus und seine Spaziergänge wurden immer länger. Vier Tage, nachdem der stellvertretende Filialleiter ihn dort gesehen hatte, wie er seinerseits einem hübschen Mann einen runterholte, kam Jochen in den Schoß der Familie zurück. Jutta rief täglich an, bekam Weinkrämpfe und die Wohnung sowie das Sorgerecht zugesprochen. Seitdem suchte Jochen, so wie auch ich, eine Arbeitsstelle. Er ist mutiger geworden, was mir gefällt. Er hat den Arbeitsamtbeamten angeschrieen, ob man mittlerweile sogar für einen Job bei der Bundeswehr Islamistik studiert haben und einen mehrjährigen Auslandsaufenthalt in Ägypten nachweisen müsse, nur um ein Panzerfahrzeug durch Afghanistan zu manövrieren. Der Beamte hat gesagt, das wisse er nicht, er sei für den Bereich nicht zuständig und er verstehe die Verzweifelung. Jochen hatte sich bei Banken, bei schwulen Banken, bei Reisebüros, bei Versicherungen, bei Finanzdienstleistern, bei privaten Geldvermittlern beworben. Er hatte alles versucht. Es ist nicht einfach.
Flora lebt wieder hier, seitdem ihr australischer Freund sie von seiner Farm geworfen hat. Ich habe mich so gefreut, sie wieder zu sehen. Es war ein großartiger Abend, dieser erste gemeinsame Familienabend seit über 15 Jahren. Wir haben gemeinsam gekocht, haben lange zusammengesessen und getrunken. Am nächsten Tag habe ich ihr Jugendzimmer geräumt und bin wieder in mein altes, kleines zurück gezogen. Es war klar, dass alles seine alte Ordnung haben muss. Sie hat ihren alten Teddybären auf ihr Bett gesetzt und geweint. Es gibt nicht viele Straußenfarmen bei uns in der Nähe und von etwas anderem versteht sie nicht viel. Sie war nach dem Abitur zu einer dreimonatigen Reise durch Australien aufgebrochen und geblieben, bis John, der nicht nach einem Wimbledon-Sieger benannt wurde, sie gegen eine jüngere, gegen ein kleines, trauriges, französisches Au-pair-Mädchen eintauschte. Das Mädchen war nach ihrem Abitur zu einer dreimonatigen Australienreise aufgebrochen. »Die blöde Schlampe bleibt höchstens zwei Jahre«, hat Flora gesagt, aber auch wenn John dann angekrochen käme, das Kapitel sei durch. John wird gar nicht kriechen, das weiß sie, das weiß ich, das weiß John, das weiß das kleine, italienische Mädchen noch nicht, das in zwei Jahren nach dem Abitur zu einem mehrmonatigen Australientrip aufbrechen wird. Ein schwuler arbeitsloser Bankkaufmann, eine rausgeworfene und alternde Straußenzüchterin, ein angstgestörter Schulabbrecher, mental und medikamentös gut eingestellt – es ist nicht einfach, uns zu vermitteln. Wir haben viel Erfahrung, wir wissen, dass sich Hochkultur nicht immer durchsetzt, wir kennen Kliniken, Farmen und die Kombination zum Tresor der Kreissparkasse Hamm, aber es reichte anscheinend nicht. Babuschka hatte beschlossen, das nicht hinzunehmen. Nach weiteren erfolglosen Monaten hat sie uns morgens in ihr Zimmer gerufen. Sie lag im Bett, hatte einen Zettel in der Hand und schaute uns an.
»Kinder«, hat sie gesagt, »ich werde jetzt so lange im Bett bleiben, bis ihr alle wieder einen vernünftigen Job habt. Wenn euch niemand helfen will, dann müssen wir eben selbst etwas tun. Ab heute bin ich bettlägerig. Das hier sind die Sachen, die ihr besorgen müsst.«
Wir waren fassungslos und wussten sofort, dass sie es ernst meinte. Ihr zu widersprechen ist sinnlos und sobald man gegen sie argumentieren möchte, rollt sie von ganz vorne die Philosophie auf und macht jedes Argument mit einem unverständlichen aber schön anzuhörendem Gegenargument zunichte. Sie hat mehr gelesen als wir alle zusammen.
Ganz oben auf ihrem Wunschzettel stand ein alter Freund der Familie, unser Hausarzt. Er kennt uns seit Jahren, er stellt regelmäßig Rezepte für wundersame Medikamente aus, damit ich keine Milchglasscheibe sehe, aber doch eine Begrenzung erfahre und mehr als vierzig Meter aus dem Haus gehen kann. Dank seiner Hilfe kann ich sogar in Begleitung mit dem Bus fahren. Das ist schon mal was. Für eine Arbeit hat es noch nicht gereicht. Zwar ist im Nachbarhaus eine Wäscherei, aber das ist ein kleiner Familienbetrieb ohne Angestellte. Wir haben unseren Hausarzt angerufen und ihn gebeten zu kommen. Er hat am Telefon gestöhnt und war dann doch wenig später bei uns. Im Laufe der Jahre ist er für uns mehr geworden als nur unser Hausarzt. Er ist vor allem zu einem intimen Kenner unserer Babuschka und ihres Starrsinns geworden. Einmal hat er sie zu einem medizinischen Check in ein Krankenhaus schicken wollen. Er hatte einen Verdacht und sich um sie gesorgt. »Ich scheiß auf meine Brust«, hatte sie ihm gesagt und trotzdem keinen Krebs bekommen. Jochen, Flora und ich haben im Wohnzimmer auf den Arzt gewartet und er kam nach einer Stunde aus dem Schlafzimmer meiner Babuschka heraus. »Es ist ihr ernst, es ist ihr wirklich ernst und ihr kennt sie ja. Sie hat das Herz einer Vierzigjährigen, sie kann noch mühelos zehn oder zwanzig Jahre im Bett liegen. Ich werde etwas aufschreiben und ihr müsst der Krankenkasse melden, dass sie einen Schlaganfall hatte und dass ihr für sie Pflegegeld beantragt. Wir haben alles durchgesprochen und geübt. Sie ist gut, ich würde es nicht merken, wenn ich sie nicht genau kennen würde.«
Vierzehn Tage später kam eine überforderte Frau von der Krankenkasse und sah das ganze Elend unserer glücklichen Familie. Babuschka war in Höchstform. Sie ließ einen Mundwinkel hängen, hielt ein Auge geschlossen und blies den Atem röchelnd und mit einer aufgeplusterten Wange aus. Zwischendrin lallte sie etwas Unverständliches und ich bugsierte sie auf das bereitgestellte silberne Nachttöpfchen. Die Frau fragte uns noch, wie wir sie versorgen, wer sich wann um sie kümmert und wie wir den Tagesablauf strukturieren. Wieso wir Babuschka nicht in ein Krankenhaus gebracht hätten, als sie ihren Schlaganfall erlitten hatte wollte sie noch wissen und wir haben ihr gesagt, das sei nicht so einfach mit Babuschka, sie sei eine ausgeprägte Persönlichkeit und wir würden nichts gegen ihren Willen unternehmen. Kurze Zeit später bekamen wir einen Bescheid und seitdem lebte Babuschka in ihrem Bett, bekam die Pflegestufe zwei und wir hatten ein wenig Geld zur Verfügung, um uns alle zu ernähren. Wir dachten, sie würde wieder aufstehen, sobald der Spuk vorbei war, aber so ist sie nicht. Sie ist gründlich, systematisch, sie ist akribisch und grenzenlos willensstark. Es war nicht einfach mit ihr, das kann man sagen. Sie ging tatsächlich nicht auf die Toilette, rief uns, wenn sie musste und war anspruchsvoll, was ihren Tagesablauf und ihre Unterhaltung anging. Ich spielte täglich eine Stunde Schach mit ihr, nachdem ich ihr das Frühstück bereitet und eine Waschschüssel an ihr Bett gestellt hatte. Flora organisierte Zeitungen und von Jochen ließ sie sich seine Bewerbungsschreiben zeigen. Ob wir bereit seien für die Stufe drei, hatte sie eines Morgens gefragt, nachdem wir wieder zu dritt bei ihr saßen und uns unterhielten. Ich schaute fragend zu Jochen und zu Flora. Dann grinsten wir, als sie uns ihren Plan ausbreitete. Der Journalist kam am Nachmittag mit einem Kameramann, jeder Menge Kabel und großen Leuchten. Erst wollte er uns filmen, wie wir im Haus umhergehen, wie wir die Kühlschranktür aufmachen und etwas Milch auf den Herd stellen, wie ich ein Buch mit Sprachübungen aufblättere, mit dem Finger auf ein Symbol zeige und langsam und deutlich spreche. Dann machte er ein langes und ausgiebiges Interview mit Babuschka und war von ihrer Persönlichkeit beeindruckt. Wir schüttelten uns zum Abschied die Hände, bekamen Mut zugesprochen und zwei Stunden später war alles vorbei. Eine Woche danach wurde der Bericht in einem Boulevardmagazin eines großen Fernsehsenders ausgestrahlt. Der Moderator hielt seine Karten mit beiden Händen fest umschlossen, schaute ernst in die Kamera und moderierte unseren Beitrag an. Er sprach von einer großartigen und mutigen alten Frau, die den Kampf nie aufgegeben hat und von einer wunderbaren Familie, die rührend das Schicksal in die eigene Hand genommen hat. Ganz ohne die Hilfe anderer. Dann sahen wir uns, ich sah mich, wie ich Babuschka das Sprechen wieder beigebracht hatte und wie ich Milch für sie warm machte. Flora faltete gebügelte Nachthemden und Jochen kochte Essen und trainierte mit Babuschka die Handgriffe, die man braucht, um ein Löffel zu halten. Und dann kam sie ins Bild.
Ernst, gerührt und voller Dankbarkeit in der Stimme. Sie könne sogar schon wieder sitzen, sagte sie und demonstrierte es. Jetzt sei es Zeit für uns, die wir unsere Berufe für sie aufgegeben hatten, wieder zurück in unsere Leben zu gehen. Doch niemand gäbe uns eine Chance, wo wir doch so großartige Menschen seien und unser Leben geopfert hätten, um ihr, einer alten und kranken Frau, ein zweites zu schenken. Sie sei glücklich und dankbar, dass es uns gäbe, aber weder sie, noch das Arbeitsamt könnten etwas für uns tun. Die Reaktionen waren erstaunlich. Babuschka musste die Geschichte wieder und wieder Journalisten von der Presse erzählen und sie erschien mit Bild in mehreren Tageszeitungen. »Großartige Oma kämpft für ihre Familie«, stand unter einem Bild und der Schreiber hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie Recht er damit hatte. Es kamen Körbe voll mit Angeboten und Jochen hatte ernsthafte Schwierigkeiten, sich zu entscheiden. Flora und Jochen gehen wieder morgens aus dem Haus, sie gehen einer Arbeit nach. Am Ende des Monats bekommen sie Geld. Nicht spektakulär, aber auch kein Grund, sich zu beklagen. Ich gehe nicht. Ich traue mich noch immer nicht nach draußen und die kurzzeitig angetretene Stelle als Fahrradmechaniker gab ich nach einer Woche der Panik wieder auf. Wir leben wieder zusammen, wir sind eine wunderbare Familie. Wir haben viel erreicht.
Einer muss zu Hause bleiben, das sei richtig so, haben Jochen und Flora gesagt. Einer muss zu Hause bleiben für den Fall, dass Babuschka noch einmal bettlägerig wird. Einer muss ihr dann das Sprechen beibringen oder mit ihr trainieren, wie man mit einem Löffel isst. Im Moment geht es ihr gut. Sie ist im Garten und kümmert sich um die Johannisbeeren und das Gemüse. Sie liegt weniger im Bett als ich.
Mein Arbeitsamtbeamter hat mich gefragt, was ich denn eigentlich mal werden möchte und ich habe ihm gesagt »bettlägerig«, aber das hat er nicht verstanden.

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Tag der Veröffentlichung: 15.09.2010

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