Pizza-Blitz
»Das kann kein Mensch verdauen«, dachte ich mir, als ich zunächst die Tür, anschließend den Pizzakarton geöffnet hatte, den mir der strahlende Lieferant entgegenhielt.
»Oh Gott…«, sagte er und dann »Was soll das denn sein?«
Ja, das hätte ich eigentlich gerne ihn als Ver-treter seiner Zunft gefragt. Aber die Identifikation mit seinem Arbeitgeber endete offensichtlich an der Lieferwagen- oder Bestellerwohnungstür.
»Ich liefer das nur ab«, sprach er, als hätte er ein Kätzchen zu einer Medikamentenprüfstelle gefahren und es überreicht.
»Das ist doch nicht etwa ein reguläres Angebot von uns?«, fragte er und bestaunte mit mir gemeinsam das Paket.
»Nun, regulär, weiß ich nicht…, aber es ist jedenfalls kein Angebot«, sagte ich und tippte mit meinem vom Hunger angefressenen Zeigefingerrest auf die mir überreichte Rechnung.
»Aber es sieht … nun ja… es sieht… sagen wir mal… äh… es sieht spannend aus«, versuchte ich mir Mut zu machen. »Wieso meinen die eigentlich in ihrem Laden, dass sie alles könnten?«, ging ich in einen letzten befreienden Angriff über, in der Hoffnung, dass er den Karton zuklappen und mitnehmen und mir das Geld dalassen würde. Aber bei Bestellungen gilt wie beim Fußball: Es gibt Tatsachenentscheidungen, die man nicht durch einen anschließenden Videobeweis umkehren kann. »Wieso meinen sie, dass sie alles können?«, fragte ich erneut und wurde lauter.
»Alles? Was meinen Sie mit alles?«
»Na ja, das ist hier ist doch nur das Resultat einer Bestellung, die wiederum nur ermöglicht wird, weil sie in ihrem Laden meinen, dass sie alles kochen können. Algerisch, peruanisch, hebräisch und italienisch oder so. Hätte sie eine vernünftige Begrenzung und hätten sie ein feineres Gespür für das Ende ihrer kulinarischen Möglichkeiten, dann gäbe es das da doch gar nicht«, sagte ich zu dem dampfenden Ding in der Pappschachtel und auch zu dem Pappschachtelbringer, der auch dampfte, weil ich im dritten Stock wohne und er die Dinger heiß abliefern und daher rennen musste.
»Algerisch können wir nicht − nur mexikanisch, chinesisch, italienisch, griechisch und deutsch. Aber so was habe ich auch noch nie gesehen«.
»Das wundert mich nicht. Das hab ich mir ja auch selbst zusammengestellt.«
»Oh, ein Experiment?«
»Nein, Hunger!«
Ich hatte mich mal wieder nicht vernünftig entscheiden können. Die zweite Halbzeit fing beinahe an, die erste war gut verlaufen − nach sieben Minuten schon hatte es zwei zu null gegen die Bayern gestanden, aber dann prallte die Bandenwerbung eines Snackherstellers von meiner Netzhaut gegen meine leere Magenwand und ich merkte, dass Fußball zwar viel kann, aber keinen Hunger stillen. Da mir keine Zeit für die Zubereitung eines eigenen Mahls blieb, hatte ich vom Kühlschrank das Heftchen eines Bestellservices gepflückt und mich in die Lektüre vertieft. Ich wollte irgendwie Pizza, aber irgendwie auch nicht − oder irgendwie was Chinesisches und dann irgendwie doch wieder nicht und zuletzt hatte ich ein Schnitzel begrübelt. Als ich die Hotline anrief, sagte man mir, ich könne auch etwas selbst zusammenstellen und so war meine Wahl auf eine Pizza Gyros mit extra Käse und chinesischen Glasnudeln gefallen. Meine endgültige Wahl war das natürlich nicht − es war vielmehr der Ausdruck eines noch offenen Denkprozesses. Es war mehr so etwas wie freies Fabulieren über die Möglichkeiten einer an römischer Dekadenz leidenden Bestellbroschüre. Das die Bestellung aufnehmende Mädchen hatte aber schon alles in den PC eingegeben, ehe ich »Veto« rufen und den Telefonjoker einsetzen konnte und nun hatte ich den Salat.
»Salat − ich hätte Salat bestellen sollen«, schoss es mir durch den Kopf. Salat ist gesund, Salat ist irgendwie… eindeutig…, aber Salat ist auch langweilig. Ich hatte Recht getan und keinen Salat bestellt. Pizza Gyros mit chinesischen Glasnudeln.
Kurz entfloh mein Hirn zu einer Kochsendung, in der Labersäcke Pfeffermühlen drehen und sich aufspielen, als hätten sie das Rührei des Kolumbus erfunden, wenn sie ein Stück Putenfleisch würzen. Eine verlogene Bande von Auf- und Abschneidern, die mit dem Kopf in eine vernünftige Multipresse gehören − das ganz widerliche Pack! Zack − hinein in die Presse und dann mit etwas Majoran… geschenkt!
Ich dachte mich also spontan in eine solche Sendung hinein, mein Hirn ermöglicht mir solche Kapriolen ganz ohne Drogen, erdachte mir eine schicke weiße Schürze um den Bauch und beobachtete mich, wie ich unter dem tosenden Applaus des Publikums im Studio meine Gyrospizza mit Glasnudeln aus dem Ofen hole und einen staunenden Tim Mälzer neben mir erblassen lasse. »Recht so, Ismael! Das hier ist creative cooking, das ist was Be-sonderes, wie auch du, mein kleiner lieber Fischmord, etwas Besonderes bist.«
»Na ja, creative cooking geht irgendwie anders«, meinte der Lieferant, der immer noch vor meiner Tür stand und offensichtlich Trennungsschwierigkeiten hatte. Ich musste die letzten Gedanken etwas zu laut formuliert haben. Da er aber nun mal da war und offensichtlich nicht wieder gehen wollte, lud ich ihn ein und vereinbarte mit ihm, dass er mir gegen die Erstattung des Preises live beim Verzehren zuschauen dürfte. Er war begeistert und folgte mir ins Wohnzimmer. Es reichte ihm aber nicht, einfach nur still neben mir zu sitzen und das Schauspiel genießen zu können. Er bat mich, mein Laptop aufzuklappen, tippte irgendeine Skype-Adresse ein und unter den Augen einer beträchtlichen Anzahl an Videokonferenzlern in der ganzen Welt verzehrte ich mit offenem Mund und weit aufgerissener Webcam-Linse mein Mahl.
Ich habe keine Ahnung, was danach kam. Ich erfuhr erst man nächsten Tag, dass Robben in der 74. Minute ein Traumtor gegen Manchester geschossen hatte.
Offensichtlich hatte mein erster Eindruck mich nicht getäuscht. »Das kann kein Mensch verdauen«, hatte ich gesagt und Recht behalten. Es kann kein Mensch. Jedenfalls nicht, wenn er noch entsprechend Restblut für den Kopf behalten möchte, um einem Fußballspiel zu folgen. Mein Blut aber floss nach den ersten Bissen vollständig in die Magengrube und walkte das Gyros-Pizza-Nudelgemisch, so dass ich eine akute Sauerstoffschuld im Hirn bekam und in ein temporäres Wachkoma fiel.
Der nette Lieferant muss irgendwann den Fernseher ausgemacht, mich liebevoll mit einer Decke zugedeckt und auf dem Sofa liegen gelassen haben.
Er war verschwunden, wie er gekommen war.
Als ich heute Morgen in den Briefkasten schaute, zog ich das aktuelle Frühlingsheft meines Lieferanten raus und las Folgendes: »Wer eine Gyros-Pizza mit Glasnudeln bestellt, bekommt gratis eine zweite dazu.« Aber lasst euch eines sagen: Das ist nur ein fieser Trick!
Tag der Veröffentlichung: 15.09.2010
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