Wer meinen Bruder und mich kannte, der kannte Geschwister die trotz 12 Jahren Altersunterschied ständig zusammen waren wo es nur ging. Wir hingen mit viel Liebe aneinander, ob es beim Fußballspiel war, oder wir ein Wochenende auf dem Nürburgring verbrachten. Es gab uns immer im Doppelpack. Mein Bruder Karl Ludwig, von allen Kalle genannt, und mich, die kleine Schwester. Wir waren so eng verbunden miteinander, wie man es eigentlich nur von eineiigen Zwillingen kennt. Ging es dem einen nicht gut, merkte der andere es. Später, als mein Bruder verheiratet war, zog er wegen seiner Frau ca. 500 km von mir weg, dennoch blieb das Band zwischen uns bestehen. Nur gab es dieses Band nicht immer. Warum das so war, und warum es bei uns nie laut ausgesprochen wurde, das nur meine Mutter und er davon wussten, erzähle ich euch heute.
Ich muss vor raus schicken, als ich geboren wurde gab es meine großen Schwestern Anne, die 18 Jahre alt war, Trude, mit 16 Jahren und dann meinen Bruder Kalle, 12 Jahre. Tja, und dann kam ich. Nach einigen Fehlgeburten wurde ich an einem sonnigen Märzsonntag geboren. Meine Schwestern freuten sich riesig. Mein Bruder hingegen zeigte erst keine Regung, als er mit unserer Mutter alleine war, sagte er mit hasserfüllter Stimme: „Für das Weib tue ich nichts!“ Drehte sich um, und ging aus dem Zimmer, stellte sich ins Treppenhaus und heulte. Dort fand ihn unser Vater, und fragte ihn,: „Was heulst du denn hier rum?“ Kalle stammelte: „Ich wollte doch einen Bruder, und nicht noch eine Schwester!“ Unser Vater meinte zu ihm: „Sei froh das du überhaupt noch ein Geschwisterchen hast!“ Damit war für meinen Vater die Sache gehalten.
Unsere Mutter hatte die Worte meines Bruders nicht ernst genommen, und so musste er, wenn unsere Schwestern keine Zeit hatten, Babysitten. So auch an einem Tag, als unsere Mutter große Wäsche hatte. Sie packte mich in den Kinderwagen, und mein Bruder sollte mit mir spazieren gehen, damit ich an die Luft kam. Als unsere Mutter in den Garten ging um Wäsche aufzuhängen, ist sie fast in Ohnmacht gefallen. Bei uns in der Nähe war eine Reifenmüllkippe, dort sah sie meinen Bruder mit den Reifen spielen, aber sie sah den Kinderwagen nicht. Auf einmal hörte sie ein lautes Hupen. Ihr Blick ging in Richtung Hauptstraße. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Da stand der Kinderwagen mitten auf der Straße, und Autos fuhren dicht daran vorbei. Sie ist los gerannt, hat sich den Kinderwagen geschnappt, und mich somit aus der Gefahrenzone gebracht. Als sie meinen Bruder zur Rede stellte, meinte er nur: „Ich habe dir gesagt, für das Weib mache ich nichts. Ich hasse sie. Ich will sie nicht um mich haben!“ Das mein Bruder nie wieder auf mich aufpassen musste, ist wohl allen klar.
Das ging bis ich so vier Jahre alt war. Mein Bruder kam aus der Schule, und ging in die Lehre. Unser Leben änderte sich. Unser Vater starb. Mein Bruder kam Mittags nicht nach Hause. Ich vermisste ihn und meine Mutter bekam mich nicht ruhig. Sie versuchte mich Abends ins Bett zu bekommen, aber ich weinte nur. Also holte sie mich wieder raus, spielte noch ein wenig mit mir. Während des Spiels ging die Wohnzimmertür auf, und mein Bruder kam rein. Ich sah ihn, streckte ihm die Arme entgegen und gab, laut Aussage unserer Mutter, ein herzzerreißendes und gleichsam glückliches : „ Talluttisch!“ von mir. Er konnte wohl nicht anders, und nahm mich auf den Arm. Von dieser Minute an war jede Sekunde, die wir gemeinsam verbringen konnten, unsere Zeit. Unsere Schwestern haben, bis heute, nie erfahren was zwischen meinem Bruder und mir zu dieser Änderung geführt hat.
Texte: Linda Blue
Bildmaterialien: bookrix
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meinen Bruder Kalle