Veilchen sind blau, Rosen sind rot, bald seid ihr alle tot
Es war ein herrlicher Sommertag. Es war warm, aber nicht so heiß als das es unerträglich wäre. Eine leichte Brise sorgte für Abkühlung. Nicole hatte wieder einmal einen engen Zeitplan. Da war kein Spielraum für Fehler. Entweder es klappte alles wie am Schnürchen, oder sie versank in einem Scherbenhaufen. Ihr Sohn Josh wollte in den Stadtpark um mit seinen Freunden Fußball zu spielen, danach musste ihre siebenjährige Tochter Emilie vom Ballettunterricht abgeholt werden. Nicole atmete einmal tief durch, aber es half nicht. Es kam ihr vor, als würde etwas ihren Brustkorb zusammendrücken, als wäre da eine unsichtbare Last, die auf ihr lag. Als Harald noch da war, war alles viel einfacher gewesen. Nein, besser nicht an die Vergangenheit denken. Sie lenkte ihren dunkelblauen Kleinwagen behutsam in eine große Parklücke und ließ den brummenden Motor ersterben.
„Du brauchst nicht mitkommen. Ich finde den Weg auch allein.“ sagte ihr schmächtiger Sohn neben ihr.
Nicole blickte verwundert zu ihm. Josh sah sie aus ernsten Augen an. Er hatte sich seit der Sache mit Harald verändert, das wurde ihr jetzt bewusst. Er war erwachsener geworden, hatte eine ungewöhnliche Härte entwickelt. Er war erst vierzehn. Sollte seine Kindheit schon vorbei sein? Vor ihrem inneren Auge, sah die Mutter immer noch den kleinen blonden Engel von damals, wie er mit ihrem Hund durch den Garten tollte. Jetzt war der Hund an Altersschwäche verstorben und Josh war ganz sicher kein Engel mehr. Die Haare hingen ihm tief in die Augen. Letzte Woche hatte er sie leuchtend rot gefärbt. Die Schule schwänzte er viel zu oft, von Hausaufgaben konnte keine Rede sein, die Noten fielen ab und seine Mutter fand, dass er sich mit den falschen Freunden abgab. Oft dachte Nicole, dass sie härter durchgreifen müsste, aber besonders seit der Sache mit Harald wollte sie es ihrem Sohn nicht noch schwerer machen.
„Bist du dir sicher?“ fragte die Mutter.
„Ich bin kein Baby mehr. Hör endlich auf mich wie eins zu behandeln!“ fauchte ihr Sohn, stieg aus und knallte die Tür zu.
Weg war er. Nicole seufzte. Was sollte sie nur mit ihm machen? Sie blieb noch einen Moment auf dem Parkplatz stehen und sah sich im Rückspiegel an. Schmal war ihr Gesicht geworden. Ihre langen, blonden Haare lagen unordentlich. Dunkle Ringe hatten sich unter ihren Augen gebildet. Kein fröhliches Strahlen mehr. Grau in Grau. Fast wären ihr wieder die Tränen gekommen. Sie kämpfte dagegen an. Wenn sie nicht stark war, wer sollte dann für ihre Familie stark sein? Einen Moment der Ruhe ließ sie sich noch, dann zündete sie den Motor. Es half ja nichts. Emilie musste vom Ballett abgeholt werden.
Der Tag war genauso stressig wie jeder andere. Morgens früh aufstehen, das Frühstück für die Kinder vorbereiten, dann ins Büro, die Berge an Schreibarbeit erledigen. Es schien einfach nicht weniger zu werden. Sie nahm Aspirin gegen die Kopfschmerzen. Eine kurze Mittagspause, dann ging es weiter, bis um vier. Die Kinder warteten schon zu Hause und wollten zu ihren Aktivitäten gebracht werden. Aber sie hatte es ja selbst so gewollt. Sie konnte sich noch erinnern, als die Kinder klein waren und Harald und sie ihnen sagten sie sollten sich ein Hobby suchen, anstatt den ganzen Nachmittag voller Langeweile zu verbringen. Nicole war auch jetzt noch davon überzeugt, dass ihre Entscheidung richtig war. Freude am Leben, Entfaltung der Persönlichkeit. Doch wo war sie dabei geblieben? Wenn endlich alles erledigt war kamen sie um acht nach Hause. Sie kochte, dann gab es ein gemeinsames Abendessen und vielleicht noch einen Film im Fernsehen, dann war es Zeit für das Bett und am nächsten Tag ging alles wieder von vorne los.
Sie saßen gerade wieder beim Abendessen zusammen, als Emilie genau dieses Thema ansprach. „Du siehst traurig aus Mama. Vielleicht würde es dir Spaß machen, wenn wir mal wieder etwas zusammen unternehmen?“
Sie sah sie aufmerksam an und strich sich das lange braune Haar aus dem Gesicht. Nicole fand, dass sie mit ihren sieben Jahren ein erstaunliches Gespür für die Gefühle und Bedürfnisse anderer hatte. Sie bemühte sich sehr ihre Erschöpfung vor ihren Kindern zu verbergen. Wenn Kinder erlebten, wie ihre Eltern vor ihren Augen verzweifelten wurden sie mutlos und fühlten sich alleingelassen mit ihren Sorgen. Das wollte sie nicht. Sie wollte das Vertrauen ihrer Kinder behalten. Sie sollten auch weiterhin mit all ihren Sorgen zu ihr kommen.
Nicole musste bei der Frage ihrer Tochter unwillkürlich lächeln.
„Woran hast du denn gedacht, Prinzessin?“
Prinzessin war Emilies Spitzname bei ihrer Mutter. Als sie noch in den Kindergarten ging, hatte sie ihr Prinzessin Kostüm vom Karneval oft angezogen und zu Hause damit gespielt. Dreimal darf geraten werden wer dabei die Dienstboten waren. Aber was opferte sie nicht alles für ihre Kinder? Sie fühlte sich wohl, wenn sie glücklich waren.
„Wie wäre es, wenn wir ein Picknick machen?“ fragte Emilie.
„Das hört sich nach einer guten Idee an.“ erklärte Nicole lächelnd. „Morgen ist Samstag. Wir haben den ganzen Tag Zeit. Wir können zusammen in den Park gehen und unsere Decken legen.“
Josh verdrehte genervt die Augen.
„Ach komm, sei kein Spielverderber.“ sagte seine Mutter, als sie es sah.
„Wenn mich meine Freunde so sehen, bin ich voll unten durch.“ meinte er.
„Bitte.“ bettelte seine Schwester.
„Ich fände es schön, wenn wir mal wieder etwas als Familie unternehmen.“ sagte Nicole.
Die Augen ihres Sohnes veränderten sich. Schlagartig war seine Stimmung umgeschlagen.
„Wir sind doch gar keine richtige Familie mehr.“
Wütend sprang er auf und stürmte aus dem Zimmer.
Der Tag war heiß und schwül. Nicole ärgerte sich, mit ihrer Tochter nicht in das nahe gelegene Freibad gegangen zu sein. Sie beschwichtigte sich selbst damit, dass diese Option natürlich weiterhin bestand. Wenigstens trug sie nicht ihre üblichen Jeans, sondern ein rotes luftiges Sommerkleid was die Hitze halbwegs erträglich werden lies. Sie hatte ihr Auto in einer Parknische abgestellt, wobei sie sehr froh über den Umstand war einen Kleinwagen zu fahren, weil sie das übermäßige Rangieren nicht ausstehen konnte. Nicole trug die Picknickdecke unter dem linken Arm und einen Korb mit selbst geschmierten Broten in der rechten Hand. Emilie sprang ausgelassen neben ihr her. Der Gehweg bestand aus großen steinernen Platten. Aus irgendeinem Grund hatte sich das Mädchen ein Spiel ausgedacht, bei dem sie niemals auf Linien treten durfte. Jetzt hüpfte sie von Platte zu Platte und achtete überhaupt nicht mehr auf ihre Umgebung.
„Mäuschen, pass auf! Wir sind nicht allein hier.“ erklärte die Mutter sanft aber bestimmt, als einige Leute vor ihnen mit verärgerten Gesichtsausdruck auswichen.
Sie fragte sich wie ihre Tochter bei dieser Hitze noch Motivation fand sich so viel zu bewegen. Ihr verlangte es dagegen dringend nach Abkühlung. Ein Eisstand war die Rettung und wie gedacht war Emilie begeistert, als sie sich zwei Kugeln aussuchen durfte. Sie entschied sich für ihre Lieblingssorten, Zitrone und Waldmeister. Nicole suchte sich lieber Mango und Aprikose aus.
„Tja, wäre Josh mitgekommen, hätte er auch ein Eis lecken können.“ sagte Emilie keck.
Ein kleiner Stich fuhr der Mutter ins Herz, als sie daran dachte, dass sich ihr Sohn, egal was sie auch sagte, einfach nicht hatte umstimmen lassen. Sie überkam das ungute Gefühl, dass sich Josh immer weiter von ihr entfernte. Aber sie war noch nicht bereit ihn loszulassen. Es war zu früh. Er war doch erst vierzehn. So schnell sollte er nicht erwachsen werden. Sie hatten nun den Park erreicht und wie sie feststellten waren schon sehr viele Familien hier.
„Komm, setzen wir uns dort in den Schatten der Kastanie. In der Sonne ist es viel zu warm.“
Emilie war stehen geblieben um einen kleinen Ameisenhügel zu inspizieren, als sie aber den Ruf ihrer Mutter hörte, rannte sie ihr wie ein Wirbelwind hinterher. Nicole lächelte glücklich. In Momenten wie diesen ging ihr das Herz vor Freude auf. Ihre Tochter war zwar manchmal nicht einfach, mit ihrem impulsiven Verhalten, aber gerade das machte sie in ihren Augen so liebenswert. Nicole legte die Decke aus und sie setzten sich in den Schatten. Hier war es herrlich. So als wären sie geradewegs in einen kalten See eingetaucht. Kein Vergleich zu der brütenden Hitze in der Sonne.
„Lass uns Memory spielen.“ forderte Emilie ihre Mutter auf.
Nicole lächelte. Das hatte sie sich schon gedacht. Emilie liebte Memory und irgendwie schaffte sie es fast jedes Mal zu gewinnen. Wie ihr das gelang war Nicole ein Rätsel. Das Mädchen konnte sich ganz genau einprägen wo die Paare lagen. Ihre Mutter konnte meist gar nicht so schnell gucken wie die Kleine die doppelten Kärtchen sammelte.
„Schon wieder gewonnen.“ krähte sie und sackte das letzte Paar ein.
Nicole schmunzelte, doch plötzlich hatte sie ein ungutes Gefühl. Es war ein leichtes Prickeln im Nacken und das unbestimmte Gefühl beobachtet zu werden. Die Mutter wurde sehr unruhig. Sie drehte sich herum und ließ ihren Blick kreisen.
Da war nichts. Nur Familien, die, wie sie auch, hier einen schönen Nachmittag verbrachten. Eine Familie hatte sich in der Nähe des Spielplatzes niedergelassen, wo die Jüngsten Sandkuchen formten. Wieder andere saßen nicht weit von ihnen im Schatten einer Eiche auf einer großen blauen Decke. Eine Mutter und ein Vater bemühten sich ihrem jüngsten Kind beizubringen nicht mit den Füßen zu essen, während die ältere Tochter mit einem Schäferhundwelpen spielte. Es herrschte ausgelassene und heitere Stimmung. Hatte sie sich das nur eingebildet?
Halt! Da war etwas. Ein Mann lehnte unter einem Ahornbaum an dessen Stamm. Sie konnte schwören er sah in ihre Richtung. Er hatte etwas Bedrohliches an sich. Trotz der Hitze bekam Nicole eine Gänsehaut. Der Mann war mittelgroß, trug ein schwarzes T-Shirt und eine ebenso schwarze Hose. Seine Haare waren kurz, unordentlich und rabenschwarz. Die Arme hatte er vor dem sehnigen Körper verschränkt. Er sah so aus, als würde er auf etwas warten.
„Mama. Mama! Du bist dran.“ drängte Emilie laut, als sie zuerst nicht reagierte und zupfte sie am Oberteil.
Nicole richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Tochter. Emilie hatte bereits neu ausgeteilt und ganz offensichtlich wartete sie nur darauf, dass ihre Mutter ihren Zug ausführte. Nicole drehte sich noch einmal herum. Der Mann war verschwunden. Sie redete sich ein, dass sie sich selbst etwas vormachte und schüttelte den Kopf um die düsteren Gedanken loszuwerden. Warum sollte es irgendjemand auf sie oder ihre Kinder abgesehen haben? Doch trotz intensiver Bemühungen konnte sie sich nicht mehr entspannen. Sie blieben noch eine halbe Stunde sitzen, dann packten sie ihre Sachen und Nicole verkündete sie würden ins Freibad gehen.
Der Sonntag kam und Nicole hatte Josh überreden können zu einem Besuch ihrer Großeltern mitzukommen. Ihr Bruder und seine Frau wohnten ebenfalls in der Nähe. Es war ein schönes Familientreffen geworden, das auch Josh mit seiner schlechten Laune nicht verderben konnte. Emilie hatte sich prächtig amüsiert. Sie hatte wunderbar mit ihrer Cousine gespielt, die zwei Jahre älter war als sie selbst. Die meiste Zeit waren sie durch den Garten getobt. Auf der zweistündigen Heimfahrt war sie dann eingeschlafen.
„Aufwachen Prinzessin. Wir sind da.“ flüsterte Nicole und hob ihre Tochter behutsam und zärtlich aus dem Wagen.
Emilie brummte zuerst unwillig, blinzelte und gähnte dann. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt war sie auf einmal hellwach.
„Was? Schon acht Uhr? Ich verpasse noch meine Lieblingssendung.“
Sie wand sich aus der Umarmung und rannte zum Haus, wo sie dann wie auf heißen Kohlen wartete, dass ihre Mutter endlich die Tür öffnete.
„Was ist denn das? Hast du etwa einen Lover?“ fragte Josh auf einmal und die Abneigung war seiner Stimme deutlich anzuhören.
Nicole runzelte verwundert die Stirn, dann entdeckte sie was ihr Sohn meinte. Auf der Türschwelle lag ein Blumenstrauß. Josh warf ihr noch einen vernichtenden Blick zu, der ihr Herz zusammenkrampfen ließ, dann verschwand er ebenfalls im Haus. Nicole seufzte. Wie sollte es mit ihrem Sohn weitergehen? Sie beschloss sich mit diesem Problem später auseinanderzusetzen und lenkte ihre Aufmerksamkeit nun auf die Blumen. Wer konnte sie ihr geschickt haben? Sie hatte keinen Liebhaber wie Josh vermutete. Oder gab es vielleicht einen heimlichen Bewunderer? Sie kniete sich hin und hob den Blumenstrauß auf. Was für eine seltsame Zusammenstellung. Rosen und Veilchen. Was hatte sich ihr Gönner nur dabei gedacht? Sie ging ins Haus, holte aus einem Küchenschrank eine gläserne Vase und füllte sie mit Wasser. Sie postierte die Blumen auf dem Wohnzimmertisch wo sie gut zur Geltung kamen. Erst jetzt fiel ihr die kleine Karte auf, die zwischen den Blumen hing. Sie war schmucklos und es verlangte einiges an Fingerspitzengefühl sie zwischen den Dornen der Rosen hervor zu ziehen. Nicole war ganz aufgeregt. Gleich würde sie erfahren wer ihr die Blumen geschickt hatte. Sie steckte sich eine Haarsträhne hinter das linke Ohr, öffnete die Karte und las. Zuerst hatte sie noch nervös gelächelt, jetzt versteinerte sich ihre Mimik zu einer Maske. Ein unangenehmer Druck legte sich auf ihre Luftröhre und erschwerte das Atmen.
„Veilchen sind blau, Rosen sind rot, bald seid ihr alle tot.“
Nicole verfiel für einige Minuten in eine Starre, geboren aus Unglauben und Schock, dann sank sie entkräftet auf einen Stuhl, der neben dem Tisch stand. Mühsam versuchte sie den Kloß im Hals loszuwerden, aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie schlug die rechte Hand vor den Mund und versuchte langsam und gleichmäßig ein und aus zu atmen. Allmählich klärte sich ihr Kopf. Ruckartig stand die Frau auf und ging mit raschen Schritten in einen Abstellraum. Dort hatte sie noch verschiedene Unterlagen, die ihr Mann zurück gelassen hatte. Sie kramte gehetzt in den Ordnern, warf einen nach dem anderen hektisch beiseite. Gleichzeitig versuchte sie die aufkommenden Tränen zurückzudrängen, die ihr in das Gesicht schießen wollten. Die Erinnerungen taten weh. Ihr Mann war nicht abgehauen. Er war auch nicht bei einem Unfall ums Leben gekommen. Nein. Ihr Ehemann war ermordet worden. Jemand hatte ihn im Auto überfallen und ihm die Kehle durchgeschnitten. Für die Polizei war die Sache klar. Versuchter Autodiebstahl, der nicht nach Plan verlief. Sie hatten die Szenerie folgendermaßen rekonstruiert. Harald wollte gerade losfahren, als ein Krimineller durch die Beifahrertür in das Auto eindrang und ihn aufforderte den Wagen zu verlassen. Harald weigerte sich. Es kam zu Handgreiflichkeiten. Der Verbrecher verlor die Beherrschung und tötete den Familienvater. Es gab keine Fingerabdrücke oder sonstige Spuren. Niemand hatte etwas gesehen. Oder wollte vielleicht niemand etwas gesehen haben? Schon damals hatte Nicole diese Erklärung nicht so recht glauben können. Sicher. Es war die einfachste Erklärung, doch Harald hatte ihr wenige Tage vor seinem Tod erzählt, er habe eine Story entdeckt, die sehr viel Aufsehen erregen werde. Harald war ein sehr hartnäckiger Journalist und er hatte etwas gefunden. Grund genug die nächsten Tag durchzuarbeiten und sie voller Fragen zu Hause zurückzulassen. Nicole war diese Manie ihres Mannes nicht fremd. Mehrmals war dies schon so gegangen und es bedeutete, dass er etwas Wichtigem auf der Spur war. Zweimal hatte er bereits eine Beförderung erhalten. Unter Kollegen genoss er hohes Ansehen. Nicole hatte den quälenden Verdacht, dass ihr Mann eben nicht nur von einem Autoräuber ermordet wurde. Es war geplant gewesen und nun war der Mörder zurück um den Rest ihrer Familie zu töten.
Endlich hatte sie gefunden wonach sie suchte. Es war ein Umschlag mit den letzten Fotos, die ihr Mann erhalten hatte. Mit zittrigen Fingern zog Nicole den USB-Stick hervor. Schnell beeilte sie sich ihn an ihren Laptop anzuschließen. Sie hatte sich die Fotos schon einmal angesehen, aber es war flüchtig gewesen und sie hatte nichts Auffälliges bemerkt. Schnell klickte sie auf die erste Datei und wartete ungeduldig darauf, dass das Foto endlich angezeigt wurde. Auch jetzt fand sie nichts Ungewöhnliches. Das erste Foto zeigte eine Menschenmasse auf einem Platz in der Hauptstadt. Es war ein einziges Gewimmel. Schwer zu sagen was genau hier zu sehen sein sollte. Sie klickte auf das nächste Bild. Es war ganz ähnlich, genauso wie das dritte, vierte und fünfte. Das sechste Bild war weiter heran gezoomt. Wieder überall Menschen, doch diesmal erkannte sie worum es ging. Denn sie hatte diesen Mann schon einmal gesehen. Neulich im Park. Auf dem Foto schlenderte er an einer Statue vorbei, ging unter einen von vielen Anderen. Wenn sie nicht gewusst hätte wonach sie suchen sollte, sie hätte es nicht entdeckt. Keuchend richtete sich Nicole auf. Jetzt konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Die Situation kam ihr so unwirklich vor. Was sollte sie denn jetzt tun? Schnell schalt sie sich selbst einen Dummkopf. Natürlich sollte sie die Polizei verständigen. Sie griff nach dem Telefon, fingerte an den Tasten und vertippte sich. Sie stieß einen Fluch aus und wiederholte den Vorgang. Es klickte in der Leitung. Statt wie erwartet zur Polizei durchgestellt zu werden hörte sie etwas Anderes. Es war eine raue Stimme, die ihr ins Ohr flüsterte und sie hörte sich gleichzeitig drohend und vergnügt an: „Veilchen sind blau, Rosen sind rot, bald seid ihr alle tot.“
Schnell merkte sie, dass es eine Tonschleife war, denn es wiederholte sich immerzu. Wütend und verzweifelt knallte sie den Hörer auf das Telefon, nur um es später erneut zu greifen und nacheinander zu versuchen ihre Verwandten anzurufen. Es war jedes Mal das Gleiche. Es gab kein durchkommen. Nicole zitterte jetzt am ganzem Leib. Sie rieb sich den kalten Schweiß von der Stirn und überlegte fiebrig was sie tun sollte. Dann musste sie eben selbst zur Polizei fahren. Es war nicht weit. Mit dem Auto wäre sie in acht Minuten da. Sie sah aus dem Fenster. Ein letzter blauer Streifen verblasste am Himmel. Es wurde dunkel. Sie war in Panik, doch ihre Kinder sollten davon nichts wissen. Wenn sie ihnen den Eindruck vermittelte, dass sie die Lage nicht im Griff hatte, war jegliche Hoffnung das alles gut werden würde dahin. Mühsam versuchte sich Nicole zu beruhigen. Es war ja nur eine Karte. Das hieß ja nicht gleich, dass dieser Mann vor ihrer Tür lauerte, oder? Sie ging zu ihren Kindern und erklärte, dass sie zur Polizei müsse. Sie sagte nicht warum, sondern nur, dass sie so lange zu den Nachbarn gehen sollten. Sie würde in einer halben Stunde wieder da sein. Emilie und Josh sahen sie verwirrt an. Sie begriffen nicht was los war. Nicole brachte es nicht über sich sie mit der Wahrheit zu konfrontieren. Sie würden in Panik geraten. Damit wäre niemandem geholfen. Wenn sie erst einmal einige Polizisten zum Schutz hatten würde ihre Lage gleich ganz anders aussehen. Hastig zog Nicole ihre roten Schuhe an, schnappte sich noch den USB-Stick mit den Fotos, sowie den Autoschlüssel und stürzte aus dem Haus. Nervös sah sie sich um. Sie konnte nichts Bedrohliches entdecken. Die Frau startete den Motor ihres Autos und fuhr auf die Straße. Es gab kaum Verkehr. Die Meisten hatten am Sonntagabend anderes im Sinn als durch die Stadt zu kurven. Die Stille war erdrückend. Sie ließ Nicoles Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Sie fummelte am Radio und stellte ihren Lieblingssender ein. Ein nervtötendes Rauschen drang aus dem Gerät. Nicole schnalzte missbilligend mit der Zunge und ging verschiedene Sender durch. Abermals nur Rauschen. Hatte ihr jemand die Antenne abgeknickt? Endlich konnte sie etwas empfangen. Es war keine Musik.
„Die Frau stieg in ihr Auto und lenkte es auf die Straße. Heute war kaum Verkehr. Vermutlich hatten die meisten Leute einfach anderes zu erledigen. Kein Grund zur Sorge.“
Nicole seufzte. Ein Hörbuch. Sie hatte dem nie viel abgewinnen können. Ihr war ein richtiges Buch lieber mit dem sie sich auf einer Decke in die Sonne setzen oder in ihr behagliches Bett kuscheln konnte.
„Die Frau war diesen Weg schon oft gefahren und wusste genau welche Abzweigung sie nehmen sollte.“
Der Sprecher hatte eine angenehme, beruhigende Stimme. Nicole mochte das, deswegen ließ sie das Hörbuch laufen, während sie nun nach rechts abbog und in einen anderen Stadtteil kam. Links konnte sie den Park sehen wo sie mit ihrer Tochter Memory gespielt hatte. Erneut kam ihr der unheimliche Mann in den Sinn und sie versuchte angestrengt den Gedanken beiseite zu schieben. Sie erreichte eine Kreuzung und die Ampel wechselte auf Rot.
„Natürlich, das hätte ja nicht anders sein können.“
Der Sprecher fuhr mit seiner Erzählung fort: „Nun stand die Frau an einer Kreuzung. Sie ärgerte sich sehr über den Umstand, dass die Ampel rot war. Sie hatte es doch eilig.“
Nicole bedachte das Radio mit einem skeptischen Blick.
„Plötzlich tauchten im Rückspiegel die Lichter eines massigen Geländewagens auf.“
Genau in diesem Moment drang ein blendendes Licht in den Rückspiegel, dass sich rasch näherte.
„Verdammt!“ fluchte Nicole und hielt sich eine Hand vor die schmerzenden Augen.
Sie mochte es ganz und gar nicht wenn jemand so dicht auffuhr und ihr die Sicht mit dem grellen Licht nahm. Zornig warf sie doch noch einen Blick auf den Missetäter hinter ihr. Es war ein brauner Geländewagen. Nicole schluckte.
„Was ist das für ein Hörbuch?“ sagte sie unsicher zu sich selbst.
Endlich schaltete die Ampel auf Grün und sie trat das Gaspedal durch um von hier zu verschwinden.
„Die Ampel wechselte zu Grün. Mit quietschenden Reifen sprang das Auto nach vorn und ließ die Kreuzung hinter sich. Doch der Geländewagen folgte ihr. Die Frau wusste noch nicht, dass ihr Mörder darin saß.“
Nicoles Herz schien einmal auszusetzen. Kalter Schweiß perlte an ihrer Stirn. Weil sich ihre Hände am Lenkrad verkrampft hatten, konnte sie ihn nicht abwischen.
„Jetzt fuhr sie am altehrwürdigen Bahnhof vorbei.“
Nicole schluckte, als sie rechts von sich den Bahnhof vorbeiziehen sah. Mit zittrigen Fingern schaltete sie das Radio aus. Die erdrückende Stille kam zurück. Nicoles Mund war staubtrocken. Nervös leckte sie sich mit der Zunge über die Lippen. Sie sah in den Rückspiegel. Der Geländewagen war verschwunden. Ein Stein fiel ihr vom Herzen und sie atmete einmal tief durch. Ihre Nervosität ging leicht zurück. Bald würde das Polizeirevier in Sicht kommen. Es war nicht mehr weit. Eine letzte Kurve noch und sie hatte es geschafft. Ja, da vorne war es. Sie konnte es in der Ferne sehen. Die Bürgersteige waren gut beleuchtet. Die Straße lag wie ausgestorben vor ihr. Kein Auto fuhr, kein Passant schlenderte durch die Nacht. Nur ein Fahrzeug stand vor dem Eingang des Reviers. Ein brauner Geländewagen. Nicole bremste abrupt. Ihr Herz klopfte schmerzhaft in der Brust. Sie konnte jemanden an dem Wagen stehen sehen. Die Frau kniff die Augen zusammen und riss sie gleich danach wieder auf, als sie die Person als den Mann aus dem Park erkannte. Ihr Atem ging nun stoßweise und sie war drauf und dran in Panik zu verfallen.
„Ruhig, ganz ruhig!“ ermahnte sie sich selbst.
Nicole beobachtete den Mann. Er schien sie nicht bemerkt zu haben. Wenn sie aber weiterfuhr und in das Gebäude gehen wollte, würde er sie vermutlich in den Geländewagen ziehen und dann gab es kein Entkommen mehr. Nicole schluckte. Das war also keine Option. Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Verdacht. Was ist wenn dieser Mann nicht alleine arbeitet? Was ist wenn er einen Komplizen hat, der in diesem Augenblick ihre Kinder töten wollte? Nicole wurde jetzt panisch. Ohne weiter zu überlegen wendete sie ihr Fahrzeug und raste den Weg zurück, den sie gekommen war. An Geschwindigkeitsbegrenzungen hielt sie sich nicht länger. Sie drückte das Gaspedal bis zum Bodenblech durch und hatte schnell einhundertfünfzig Stundenkilometer erreicht. Wenn die Polizei sie jetzt anhielt wäre ihr das nur recht. Plötzlich tauchte in ihrem Rückspiegel ein Scheinwerferpaar auf, das sich sehr schnell näherte. Mit Schrecken erkannte sie, dass es der braune Geländewagen war. Er war schon gefährlich nah und würde sie bald erreicht haben. Ihr Puls raste. Die Reifen quietschten als Nicole mit viel zu hoher Geschwindigkeit in die nächste Kurve ging. Der Geländewagen blieb an ihr kleben. Er beschleunigte weiter und fuhr jetzt fast gleich auf mit ihr. Sie erkannte den Mann aus dem Park, der sie verschlagen angrinste. Er holte aus und wollte sie rammen. Panisch riss Nicole das Lenkrad zur Seite und sie konnte ausweichen. Der braune Geländewagen schlingerte und hatte nun deutlich an Geschwindigkeit verloren. Nicole trat wieder auf das Gaspedal und trieb ihren Wagen auf ihr Haus zu. Es war nicht mehr weit. Bald war sie da, aber was dann? Ein kräftiger Ruck ging durch den Kleinwagen. Er schlingerte und drehte sich mit quietschenden Reifen. Der Geländewagen hatte das Heck getroffen. Nicole schrie, als sie in ihrem Sitz umhergeschleudert wurde. Es gab einen lauten Knall und ein hässliches Knirschen, von dem sie nicht wusste woher es kam. Sie war völlig desorientiert. Schwer atmend, die Augen weit aufgerissen, saß sie in Schockstarre auf ihrem Sitz, das Lenkrad so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die Minuten vergingen, aber sie merkte es gar nicht. Irgendwann meldete sich in ihrem Gehirn ein warnender Ruf. Der Mörder. Auf einmal wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst und sie sah sich ruckartig um. Der Geländewagen war gegen eine Straßenlaterne geknallt. Die Laterne wies eine deutliche Beule auf und sie stand schief. Kein Licht drang mehr von oben herab. Das Auto hatte vorne einen deutlichen Schaden. Nicole beobachtete mit rasendem Herzen die Fahrertür. Nichts regte sich. Vielleicht war der Fahrer mit dem Kopf gegen das Lenkrad geknallt.
„Bitte, bitte, lass ihn tot sein.“ schluchzte Nicole, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
Sie starrte noch immer wie gebannt auf das Fahrzeug, aber nichts passierte. Nicole blinzelte die letzten Tränen weg, schniefte und atmete erneut tief durch. Nach Hause! Sie musste nach Hause. Der Gedanke schoss ihr in den Kopf und drängend trat sie auf das Gaspedal. Unter leichtem Protest setzte sich der Wagen in Bewegung. Sie raste die Straßen entlang. Endlich war sie da. Erschrocken merkte sie das Licht brannte. War etwa jemand hier? Ihre Kinder sollten doch bei den Nachbarn warten. War es schon zu spät? Sie parkte ihr Auto einfach auf dem Rasen, sprang aus dem Fahrzeug und rannte zur Tür. Vorsichtig trat sie in den Flur und sah sich um.
„Hallo?“
Sie hatte laut klingen wollen, aber sie brachte nur ein zaghaftes Piepsen zustande. Mühsam schluckte Nicole den Klos, der sich in ihrem Hals gebildet hatte herunter und rief nun lauter: „Hallo.“
Eine Tür klapperte und Emilie rannte die Treppe herunter.
„Da bist du ja wieder.“
Sie strahlte. Doch als sie sich ihr weiter näherte merkte sie, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist los Mama?“
Josh kam gelangweilt die Treppe herunter, doch als auch er seine zerzauste Mutter sah blickte er sie beunruhigt an.
„Was ist passiert?“
Nicole ging nicht auf ihre Fragen ein. Eine Mischung aus hilfloser Wut und Verzweiflung lies sie sagen: „Ihr solltet doch bei den Nachbarn warten.“
Ihre Stimme brach und sie musste mühsam schlucken. Etwas hilflos sah Josh seine Mutter an. War sie verrückt geworden oder was war mit ihr los?
„Die Müllers waren nicht zu Hause.“
„Und was...“
Nicoles Stimme erstarb und sie musste erneut ansetzen.
„Was ist mit den anderen Nachbarn?“
„Die kennen wir doch gar nicht.“ protestierte Josh.
Nicole warf ihm einen zornigen und gleichzeitig verzweifelten Blick zu, der ihm sagte, dass er etwas ganz und gar dummes getan hatte. Von draußen ertönte das brüllende Geräusch eines Motors. Es ließ sie alle zusammenzucken. Nicoles Herz sprang ihr jetzt fast aus dem Hals. Sie hetzte zur Tür, schloss ab und schob auch gleich noch mühsam den Schuhschrank heran.
„Was ist denn los Mama?“ fragte Emilie mit weinerlicher Stimme.
Ohne viel zu überlegen stieß Nicole aus: „Da ist ein gefährlicher Mann, der uns ...“
Sie wollte töten sagen, brachte das aber nicht über sich und sagte stattdessen „schaden will.“
Josh sah sie mit großen Augen ungläubig an. Emilie fing an zu schluchzen.
„Los! Geht die Treppe rauf!“
„Was ist mit dir?“ fragte Josh ängstlich.
„Ich komme gleich nach. Nun lauft!“ schrie Nicole hysterisch.
Die Türklinke klapperte. Jemand versuchte einzudringen. Einen größeren Anreiz brauchten die Kinder nicht um nach oben zu verschwinden. Nicole hetzte in die Küche und zog das größte Messer aus dem Messerblock, dass sie hatte. Sie wusste nicht was sie damit eigentlich wollte. Es war eine Kurzschlussreaktion. Besser als gar nichts in der Hand zu haben. Damit bewaffnet rannte sie ebenfalls die Treppe hoch. Ein fürchterliches Knacken und Splittern erklang, als die Tür aus den Angeln sprang. Nicole rannte mit großen Schritten den Flur entlang zu ihren Kindern, die sich in eine Ecke hinter einem Schrank gekauert hatten. Die Mutter konnte Schritte hören. Und das Knarren der Treppe verriet, dass der Mann hier hoch kam. Nicoles Kopf war mit einem Mal völlig klar. Das Adrenalin, das jetzt durch ihren Körper strömte, hatte alle unnötigen Gedanken beiseite geschwemmt und lies sie sich auf das Wesentliche konzentrieren. Alles in ihrer Umgebung stach ihr überdeutlich in die Augen. Sie sah zu ihren Kindern, die sich verängstigt in die Ecke drängten. Emilie schluchzte unkontrolliert. Ein starkes Zittern ließ ihren kleinen Körper immer wieder erbeben. Josh war blass und zu einer Salzsäule erstarrt. Nicole wusste nicht, ob er jetzt gerade überhaupt etwas wahrnahm. Jede Sekunde schien eine Ewigkeit. Mit einem Mal kehrten Gedanken in Nicoles Kopf zurück. Sie dachte an den fünften Geburtstag von Emilie, als sie eine Kaulquappe im Teich gefangen hatte und sie essen wollte. Dann kam ihr die Erinnerung von Josh's Einschulung, als er eine so große Zuckertüte bekam, dass er sie kaum tragen konnte. Ein heftiger Stich fuhr der Mutter ins Herz und ließ sie sich verkrampfen. Die Gedanken verschwanden so schnell wie sie gekommen waren. Dafür erwachte etwas in ihr von dem sie nicht einmal wusste, dass es da war. Wilde Wut durchströmte sie und ein unbändiger Überlebenswille, den sie bis dahin nicht gekannt hatte. Mit einem Mal war ihr der Wert des Lebens bewusst. Sie würde nicht einfach aufgeben und ihre Kinder diesem Mistkerl überlassen. Sie baute sich schützend vor ihren Kindern auf. Das Küchenmesser in der Hand. Ihr geschärfter Gehörsinn verriet ihr, dass sich der Mörder näherte. Dann trat er in den Raum. Er sah noch ganz genauso aus wie im Park. War das wirklich erst vor kurzem gewesen? Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Ein spöttisches Lächeln, das kalt und grausam wirkte lag auf seinem Gesicht. Er blieb einige Schritte vor Nicole stehen und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Er war sich seiner Sache sehr sicher.
„Mutig, mutig.“ sagte er mit so rauer Stimme, das damit Stahl geschliffen werden konnte.
Nicole hob drohend ihr Messer. Sie war bereit ihre Kinder zu verteidigen. Nichts anderes war mehr wichtig. Der Mörder sah sie prüfend an.
„Ich hab schon gestandene Männer gesehen, die heulten wie Babys, als ich sie besuchte.“
Sein Lächeln wurde noch etwas breiter. Seine braunen Augen hingegen blickten sie hart und gnadenlos an.
„Aber dein Mut wird dir auch nichts nützen.“
Er stürzte auf Nicole zu und ehe sie zu einer Bewegung imstande war fegte er sie mit einem Schwinger beiseite. Schmerzhaft krachte sie gegen einen hölzernen kleinen Tisch, der unter ihrem Gewicht und dem Aufprall nachgab. Pochende Schmerzen jagten durch ihre Wirbelsäule. Sie konnte sich nicht bewegen. Die Hand mit dem Messer zuckte unkontrolliert.
„Mama!“ schrie Josh.
Die Schockstarre fiel von ihm ab und ohne nachzudenken lief er zu ihr. Der Mörder zog eine Pistole. Nach kurzem Zögern drückte er ab. Ein Schalldämpfer sorgte dafür, dass der entstehende Knall abgeschwächt wurde. Ein größer werdender Blutfleck breitete sich auf dem T-Shirt des Jungen aus. Ungläubig blickte Josh an sich herunter. Dann wurden seine Augen glasig und er fiel auf den Boden. Ein Leben von vierzehn Jahren voller Erinnerungen zugrunde gerissen in wenigen Sekunden. Ein weiterer Schuss und Emilie's Schluchzer erstarben so abrupt, als hätte jemand ein Radio abgedreht. Nicole konnte sich nicht bewegen, sie konnte nicht mehr denken. Sie lag einfach nur da, zur Untätigkeit verdammt. Der Mörder trat in ihr Sichtfeld. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Seine Kiefermuskulatur hatte sich verkrampft. Doch die gnadenlos blickenden Augen sahen mit einer Endgültigkeit auf sie herab, die ihr sagte, dass es kein Entkommen gab. Er richtete die Waffe auf sie und ein weiterer Schuss ließ sie ins Dunkel stürzen.
Alex kniete sich zu der Frau, die er nicht kannte, nieder und fühlte ihren Puls. Es gab Keinen. Auch die beiden Kinder waren tot. Blut sickerte aus ihren Wunden, durchtränkte ihre Kleidung und sammelte sich auf dem Parkettfußboden. Alex seufzte und streckte sich dann. Sein Job war erledigt. Wieder Drei weniger. Er schaute noch einmal zu der blonden Frau. Er konnte nicht umhin zu gestehen, dass sie ihn beeindruckt hatte. Sie hatte einen Mut gezeigt, der Respekt verdiente. Eigentlich schade, dass sie sterben musste, aber es ging nicht anders. Sie wusste zu viel. Er hatte bereits den USB-Stick gefunden, auf dem vermutlich die Fotos waren, die er suchte.
Alex schmunzelte. Alles in allem war es sehr spannend gewesen. Sein Freund Greg hatte Recht gehabt. Wenn er mit seinen Opfern spielte machte es viel mehr Spaß. Er hätte auch einfach in ihr Haus eindringen und sie umbringen können. Innerhalb von wenigen Minuten wäre alles vorbei gewesen. Wie langweilig.
Er legte den Kopf schräg, gab sich einen Ruck und kniete sich abermals nieder. Er tauchte seine Finger in das Blut, das sich auf dem Parkettboden gesammelt hatte. Dann schrieb er die Warnung an die Wand: „Sprich nicht über die Wächter! Schreib nicht über die Wächter! Mach kein Bild von den Wächtern! Nenne nicht die Namen der Wächter!“
Er hielt kurz inne und besah sich sein Werk. Er nickte zufrieden. Seine Arbeit war getan. Zum Glück wusste niemand sonst von dieser Sache, dann hätte er die auch noch umbringen müssen.
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2012
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