Das alte Jahr tat sich schwer, denn etwas hielt es in den verborgenen Zwischenräumen fest, als warte es darauf, dass noch etwas Wesentliches in den eingefrorenen Momenten voll erstarrter Lichter am Himmel erscheinen würde. Es wollte nicht wahrhaben, dass es Zeit war zu gehen. Im silbergrauen Bart verfingen sich lange Eiszapfen. Die ablaufenden Stunden begannen sein Blut zu gefrieren, aber wie ein störrisch gewordener alter Mann beharrte es auf dem Bleiben.
Was hielt das überreife Jahr in den Abgründen seiner abgelaufenen Zeit fest? Es war starr und schwer geworden - beladen, wie ein Holzweib im Winterwald vergangener Zeiten. Die Menschenfrau zwischen den Jahren wünschte sich nichts sehnlicher, als dass es von selbst vom Stängel brechen würde, wie eine exotische Frucht - und sie nichts weiter tun müsse, als die Hände auszustrecken, um es sanft aufzufangen.
Die Zeit stand still und die Luft zum Atmen wurde dünn - nichts ging weiter. So pflückte die Frau schließlich das Jahr , schlug es vorsichtig in Seidenpapier ein, gab ihm einen Namen und seiner Hülle die Gestirne - Sonne, Mond und Sterne - und legte es zu den anderen Jahren ins Speicherregal unter dem Dach neben die letzten Äpfel und Honigkuchen. Leichtfüßig und wie ein neugeborenes Kind lief sie die Treppe hinunter und hinaus in den Garten zu den übrig gebliebenen Hagebutten.
Sie umarmte den ersten Tag des neuen Jahres und malte mit Wunderkerzen Glückssymbole in die Nacht.
Einmal noch blickte sie sich um, sah das Licht unter dem Giebel im Speicherzimmer und bedankte sich mit einem Lächeln.
Dieser Prozess, dessen Ritual jedes Jahr gleich war - immer dieses Zaudern am Ende und das Nichtloslassenwollen - fand ein freundliches Ende, denn nur wenn etwas abgeschlossen ist, öffnen sich die neuen Dinge und beginnen ihre ersten Schritte mit der Leichtigkeit verspielter Kinder.
Das neue Jahr ist noch jung. Gemessenen Schrittes geht es voran - langsam, achtsam, vorsichtig - mit diesem Blick nach vorn aus einem Kopf, der undeutlich noch einen Heiligenschein trägt.
Zwischen die Sekunden der graublauen Tage hat sich etwas Sternenstaub gestreut, oder ist er aus den Zweigen des grünen Baumes gefallen, der seiner Kugeln und Kerzen beraubt nun die Nadeln verliert?
Meiner steht noch!
Ich gebe ihm eine Gnadenfrist.
Und wenn ich ihn dann am Abend entzünde, ist es mir, als könne ich die Zeit anhalten, um in den Gedanken nach zu holen, was in der Hektik der Adventszeit stecken geblieben ist.
Es ist wie ein Nachreifen, um wieder mithalten zu können mit der Zeit, die spätestens wenn die Krokusse blühen, wieder beginnt zu rasen, als sei der Teufel hinter ihr her. Und die Frau glaubt sich beeilen zu müssen, um zu verhindern, dass sie etwas Lebenswichtiges verpasst.
Früher, als ich Kind war und es noch nicht überall Heizungen gab, blieben die Christbäume bis Lichtmess stehen. Dann waren die Tage schon wieder deutlich länger.
Es war der neue Tag, der die Zeit wieder ins Lot brachte.
Wie ein lichtes Versprechen erschien schon am Morgen die winterliche Sonne am Januarhimmel und schickte mit dem Wind eine Ahnung vom Frühling. Der Himmel trug Seidenblau. Das Jahr hatte seine ersten Schritte getan und nebenbei den restlichen Ballast vom alten abgeschüttelt.
Und da ist der Stern, den die Sternsinger in der Stadt von Tür zu Tür tragen.
Sie zeichnen die Türen und segnen das Haus. Ihr Spruch wirkt wie ein Mantra.
Noch lange sehe ich ihnen hinterher.
Der Stern der Sterne, wie nah ist er mir noch?
Seine lichtbringende Symbolik wirkt in mir nach.
Jedes Jahr wiederholt sich die Magie:
Die Feste überstanden, etwas Glanz zwischen verdorrten Tannennadeln, ein Geschenkpapierfetzen und Gebäckdosen, die sich allmählich leeren, sprechen von der hohen Zeit, die nun zu Ende geht.
Genug der Feste, wird es Zeit, sich wieder dem Alltag zu widmen. Der Stern der Sterne leuchtet wohl in uns allen. Es liegt an uns selbst, ob wir ihn sehen und bereit sind, sein Licht hinaus zu tragen in die Welt.
Kaum im neuen Jahr gelandet, ist über die Hälfte des Januars schon wieder vorbei. Das Neue zeigt sich von seiner grieselgrauen Seite und glänzt als kühldistanzierte Eiskönigin,
die Mensch, Tier und Natur mit spitzen Pfeilen bedroht. Traf ein Splitter ihres Zauberspiegels mein Herz?
Der Winter ist ein alter zorniger Mann. Der Gang ist holperig, sein Rücken schon krumm. Er droht mit knotigen Wurzelstöcken, wenn ihm jemand entgegen schaut. Die Augen sind scharf, wie die eines Adlers. Ihnen entgeht nichts. Drahtige Bartstoppeln zieren sein Kinn.
Die weise Alte, seine Gefährtin, legt die Hand an ihre Stirn und schaut zum Fenster raus - schmunzelt - und lächelt kopfschüttelnd über seine grantigen Beschwörungen - diese Drohgebärden gegen unsichtbare Feinde. Sie humpelt ihm hinterher, legt beschwichtigend ihre streng nach Kräutern riechende Hand auf seine Schulter und schaut ihm tief in die eingesunkenen Augen - mit diesem besonders machtvollen Blick. Sie ist ihm gewachsen. Sein Grollen verschreckt sie nicht mehr.
“Komm Alter”, sagt sie, ”spar deine Kraft, der Frühling kommt eh. Was soll das grantige Aufbegehren? Ich sehe weit und breit keine Höllenhunde. Am Ende holst du dir nur einen Hexenschuss und ich darf dich pflegen. Da haben wir beide doch besseres zu tun - oder?”
Dabei rasselt sie laut mit den kleinen Knöchelchen in ihrem Lederbeutel. Im Fenster des eingeschneiten Hauses leuchten Totenschädel mit Kerzenlicht. Blitzschnell hat sie den Kerl umfasst. Gemeinsam gleiten sie - sich gegenseitig stützend - über das Eis. Noch jenseits des Gebirges hört man ihr gruseliges Totengräberlachen?
In der Zwischenzeit gruben sich tiefe Furchen in die forterstarrten Felder. Lehmbraun. Schwarz streckt die Kastanie ihre Zweige ins schmuddelige Weiß, hält den Stürmen stand. Wenn doch wenigstens noch einmal Schnee fallen würde, um alles zu verpacken in Watteweich, solange, bis das Totengräberlachen nur noch gedämpft herüberdringt.
Aber was sehe ich da?
Die Knospen des Apfelbaums sind schon verdickt, Winterjasmin hat kleine gelbe Sonnenblüten geöffnet, und die Vögel wirken wie aufgescheucht. Ach schau her, unter der Hecke strecken die ersten Krokusse ihre grünen Spitzen durch die Erde. Und ja, meine Kastanie verändert ihre Farbe: Schwarz wandelt sich zu Braun.
Im Haus duften vorgezogene Narzissenblüten.
Dieser Tag hat ein Besonderes: Vom Schnee, der am frühen Morgen gefallen war, blieb in den Vororten der großen Stadt keine Spur. Um zehn Uhr morgens tragen nicht einmal mehr die Dächer der Reihenhäuser, die dicht zusammen gekuschelt der Kälte zu trotzen scheinen, einen pulvrigen Rest vom Weiß. Die Nacht hatte den Morgen wie eine weiße Wolke in den Tag entlassen. Der Duft von Schnee bleibt haften und wirkt subtil besänftigend.
Ein Tag, um bei sich zu sein, leise, fast zärtlich vergehen die Stunden: Keine Hetze, kein Stress und diese Fröhlichkeit, die still ist und sich dem genauen Beobachter nur in den winzigen Veränderungen um den Mund herum und in den Augen verrät. Es sind nicht theatralischen Gesten und Auftritte, einer großen Bühne angemessen, die diesen Tag umkränzen, es sind die knappen und abgezirkelten Bewegungen und Abläufe, die kein Publikum brauchen, die diesem Tag Struktur geben. Eben diese kleinen unscheinbaren Dinge: Der Zauber erster Schneeglöckchen in ihrem unschuldigen Weiß , fröhliche Stimmen am Telefon, ein besonderer Brief und der Duft einer nährenden Suppe auf dem Herd in der samstäglich geordneten Küche mit den frisch geputzten Fliesen, die schon den Sonntag würdigt. Vom Karnevalstrubel verschont, dringt heute kein Lärm in die Stadtrandoase, die manchmal kleinkariert und bieder vorgibt, das Größte zu sein.
Aber da ist - nur ein paar Schritte entfernt - noch Feld und Weite, ein kleiner Wald, und in der Nähe ein See. Bald werden die Lerchen wieder fliegen. Die Amsel sang gestern ein betörendes Lied.
Heute habe ich mir einen kleinen Zen-Garten gekauft mit Teelichtern und Buddhafigur.
Eigentlich kitschig, könnte man sagen, aber das Objekt steht jetzt an einem besonderen Platz:
Auf meiner Küchenfensterbank, mit Blick auf den Apfelbaum im Vorgarten - das ist der südwestliche Platz, an dem ich abends meditiere. Die in sich versunkene Figur strahlt eine solche Ruhe aus, dass alle Unruhe in mir sich verflüchtigt - sobald ich sie anschaue. Alle Energie scheint zentriert und nach innen gerichtet.
Ich habe heute lange darüber nachgedacht, wo ich ähnliches im wirklichen Leben erlebt und wahrgenommen habe. Mir sind die neugeborenen Babys eingefallen. Wenn sie schlafen, strahlen sie diese berührende Ruhe aus. Mir ging es immer ans Herz, diesen kleinen Wesen mit den geballten Fäustchen beim Schlafen zuzusehen. Ein Baby kann also noch, was ich erst mühsam wieder gelernt habe. Manchmal ängstigte diese Ruhe mich, und ich fragte mich: Lebt das Kind noch? Auch diese Babys scheinen die Lebensenergie von außen wegzunehmen und nach innen zu leiten. Ich fragte mich manchmal, wo denn nun ihre Seele sei?
Der Wind hatte den Föhn gebracht. Mitten im Winter berührte ein südlicher Atem meine kältegewohnte Haut mit einem zärtlichen Schauer. Die federleichte Berührung weckte etwas. Etwas schon vergessen Geglaubtes. Ein Lächeln, von einem Menschen, der einmal kurz den Weg gestreift hatte, und der meinen Namen auf so besondere Weise ausgesprochen hatte. Für einen Moment begegneten sich die Blicke zweier Augenpaare - kleine schreckhafte Tiere, fluchtbereit, aber in ihnen die Tiefe des ganzen Universums.
Kann man für immer lieben, in einem kurzen Augenblick?
Es muss Frühling gewesen sein, denn gerade öffneten sich im Garten hinter der Hecke die Apfelbaumblüten, das Gras war so grün, und das Blut in den Adern floss leicht wie ein murmelnder Bach im Gebirge.
Was fehlte in jenem Moment für ein längeres Begegnen? Ein Schlüsselwort zu inneren Räumen, der Mut oder war es die Angst vor so unbegreiflichen Nähe, die es verhinderte?
Es ist dunkel geworden. Am Horizont verblasst das letzte Licht. Weißt du noch, wie hell es war - einst - als der Weg noch ohne Hindernisse vor dir lag? Komm gehe mit mir auf Reisen. Wir suchen das Licht. Es hat sich hinter den Schatten des Tages versteckt. In der Seele wirst du es finden – das Licht - neben Musik, Kunst, Natur und Poesie - ein Füllhorn, überfließend. Komm, spiele Schatzgräber in eigener Sache. Auch wenn du es jetzt noch nicht siehst, es ist da - hinter dem Winterfrost.
Wenn du dich entschließt, auf die Suche zu gehen, hast du den wichtigsten Schritt schon getan. Lass dich nicht beirren von dem, was da draußen zieht und zerrt. Gehe in deine Mitte - ein Feuerball - der strahlt und sich so gern verschenkt. Dort gibt es viele Türen. Du wirst sie alle öffnen, dir aus jedem Raum etwas Kraft und Freude mitnehmen - in jedem wartet etwas Wertvolles - und am Ende findest du das Kind, verpuppt und zusammengerollt. Es schlummert im Blütenbaum.
Du wirst dich strecken und recken, deine Muskeln ausprobieren und die Energie spüren, die in dir fließt. Nichts kann geschehen. Dein Imago ruht in der Seele, spiegelt sich im Wasser des Lebens - du wirst ihn mit deinem Atem beleben – ihm Leben einhauchen. Siehst du seine Schönheit und Kraft jenseits der Schatten?
Wenn du mit ihm gemeinsam die Flügel entfaltest , wirst du Wind spüren und fliegen
Das Gehirn leistet Erstaunliches: Es macht Unsichtbares sichtbar und verständlich. Stelle dir nur einen Heiligen Tempel vor. Du siehst antike Bruchstücke. Das Gehirn formt aus dem Zerbrochenen etwas Ganzes, und so siehst du den Tempel in seiner ganzen Schönheit. Genauso ruht auch dein ganzes Ich mit all seinen Potenzialen und Möglichkeiten ungebrochen auf dem Grund des Lebens. Du kannst es sehen, wenn du willst.
Wenn du fliegst, wirst du leicht - der Wind trägt dich, wohin du willst. Weit über den Horizont hinaus wirst du schweben oder im pfeilschnellen punktgenauem Sturzflug im Ozean nach Fischen angeln. Schau, wie die Schuppen glitzern im Sonnenlicht. Du bist nicht allein, andere Vögel sind in der Nähe. Fast, aber auch nur fast, berühren sich Flügel. Du bist frei zu tun, was du möchtest, nichts hält dich fest, wenn der Herbst über das Land zieht und Augen weit werden im warmen Septemberlicht.
Wenn dein Geist sich befreit und die Seele auf Wolkenschwingen gleitet, wirst du das Wunder der Verwandlung erleben: Sei was du bist - werde was du willst - im Herabsinken schießt du hinunter in die Wellen, tauscht deine Federn gegen Schuppen und tauchst mit Kiemen in Neptuns Reich nach den Schätzen versunkener Schiffe. Ein Wal ist dein Begleiter und die Delphine zeigen dir, wie man springt, bis du an einer Insel strandest, aus Flossen Arme und Beine werden und du durch warmen Sand dem neuen Morgen entgegen läufst. Und immer wartet im Schatten der Brotbäume schon jemand hinter den Felsen, um dich von Herzen zu begrüßen. Namaste!
War es gestern – als du verstummtest?
Am Rande der Nacht hast du dich hinter den Sanddünen ausgeruht
- kein Wollen, kein Wünschen kein Wagen - alles still und ruhig.
Kann man diese stillen Momente teilen - mitteilen?
Jene, wenn der Regen an die Scheibe klopft - an einem Abend im Februar - wenn die Tropfen im Kerzenschein leuchten wie kleine Perlen.
Es ist nicht leise und doch still - ums Haus klagt der Wind.
Die Alltagsgeräusche machen Pause, ab und zu ein Auto, plötzliches Scheinwerferlicht, Motorengeräusche.
Und du fühlst so viel, und du spürst genau, nichts lenkt dich ab, wenn der Atem flacher wird und dein Gehirn zur Ruhe kommt.
Du bist auf dem Weg in deine Mitte
Hört es sich seltsam an, wenn ich dir nun beschreibe, wie es ist, ein Leuchtturm zu sein?
Ganz oben die erleuchtete Kuppe dreht sich, langsam, Scheiben öffnen und schließen sich.
-
Ein Code leuchtet in die Welt, erreicht auch entfernte Winkel mit seinem Licht.
Das Licht ist grün, wie der bevorstehende Frühling - und seine Energie ist die Kraft der Erde, bevor die Saat aufgeht.
Der Apfelbaum nickt mir zu, beständig und bodennah; knorrig und ausladend.
Festverwurzelt wird er Teil von mir.
Oder ich von ihm?
Ich spüre das Moos wachsen auf der Rinde.
Und stelle fest:
Es ist alles da!
Feuer im Kerzenlicht
Wasser im Regen
Wind im Baum
unter mir Erde
Was soll mir geschehen, so in mir und gleichzeitig außen?
Ein heilsames Strömen flutet im Körper, warm und ein bisschen kribbelig.
Ich schenke dem kalten Fenster meinen Atem und male ein Herz auf die Scheibe, wie das Kind, das ich einmal war vor langer Zeit und immer noch bin.
Die Tür bleibt! Hinter ihr liegen verlassene Räume - noch hängt ein Hauch von Duft darin. Jemand hat etwas vergessen: Ein blauer chinesischer Fächer mit Vögeln und Blüten liegt auf dem unbenutzten Bett - getrocknete Rosen hängen in der Ecke - eingewebt in Spinnenfäden. An den Wänden leuchten weiße Quadrate auf vergilbter Tapete - einst hingen dort Bilder. Ich erinnere mich an die bunten Farben. Ich öffne den Schrank - dein Geruch überwältigt mich - hier hängt er noch in den zurückgelassenen Kleidern.
Ein Stück deiner Seele schwebt noch im Raum. Ein Lächeln huscht um meine Lippen. Doch deine Stimme - die erinnere ich nicht mehr.
Durch die hohe runde Glaskuppel schaue ich in die Nacht.
Die Musik, die ich höre, kommt von innen, findet ihren Rhythmus im Tanz der Sterne. Bewegt, wie die Wellen im Meer schwingen meine Bewegungen ein in den Unterwasserreigen einer nachtblauen Welt.
Wie leicht ich bin. Einer Daunenfeder gleich, vom Wind verweht.
Ganz ohne Gewicht wirbele und schwebe ich leichtfüßig durch den Raum,
endlos Platz, nichts was mir im Wege steht.
Die Halle ist ein langer Schlauch - breit und mit hellen Fliesen belegt.
In den Fugen wächst Moos.
Ich ertanze mir seine Dimension,
breite mich aus, nehme Raum,
nicht abgezirkelt, sparsam und eng
nein, ausufernd, überschäumend, opulent und üppig
Unbegrenztes fließt frei und rund.
Das unwirkliche Licht wirft keine Schatten an die kahlen weißen Wände,
die glatt sind und schimmern wie Seide.
Sie halten den Blick nicht auf.
Er dringt durch sie hindurch in einen weitverzweigten Wald mit dichtem Unterholz und Dornengestrüpp.
Die Vögel haben sich längst zur Ruhe gelegt - nur der Ruf eines Käuzchens mischt sich in den Gesang der Gestirne.
Die Halle ist wie ein Raum zwischen den Welten.
Nebenan, in den erleuchteten Kabinetten pulst das Leben ungestört an mir vorbei.
Manchmal sprechen wir von den Engeln: Die geflügelten Lichtgestalten leben in unserer Seele - dort nehmen sie Raum und den ihnen entsprechenden Platz ein, wenn wir es zulassen. Wir geben ihnen einen Namen, ein Wesen, eine Gestalt und manchmal ein menschliches Gesicht, wenn wir sie beschwören, rufen, besingen.
Ist es nicht die Kraft positiver Gedanken, ausgesendet von Menschen mit einem liebenden Herz, die uns daunenleicht wie Engel berühren und Licht schenken, wo die Nacht - sternenlos - lähmt?
In der Mitte brennt eine Kerze. Der sakrale Raum umfängt mich mit seinem weißen Licht. Blattranken - kein Blatt ist wie das andere - schmücken wie ein Fries die Oberkannte der Wände. Die transzendente Farbe Gold krönt das Fries mit einer schmalen Linie. Moderne Engelbilder (vereinzelt) in zarten Farben mit etwas Gold schmücken die weißgehaltenen Wände. Über dem Altar der kleinen Kapelle ein Kreuz aus Blättern in einem abgerundeten Rahmen aus Gold.
Ich nehme Platz - lasse mich nieder. Eine ruhige gelassene Stimme leitet sanft in die Stille-Meditation:
Ich spüre meinen Körper ganz, wie die Füße den Boden berühren, das Gesäß bequem auf dem Hocker ruht und die Verspannungen in Schultern und Rücken nachlassen. Alle Sorgen und Belastungen verpacke ich in Säcke und Pakete und schicke sie davon. Während ich mich immer stärker auf den Atem konzentriere, vergesse ich sogar den Wundschmerz. Es wird leer und licht in mir - eine lange Weile spüre ich nur die Stille, bin ganz im Hier und Jetzt. Etwas öffnet sich, wie eine sprudelnde Quelle aus Vitalität und Glück.
Als ich später den Raum verlasse, ist es mir, als sei ich leichter geworden, als wandelte ich auf Wolken.
Strahle ich Licht aus? Es scheint so, denn Funken springen über auf die Menschen, denen ich begegne und zaubern ein Lächeln in ihre Gesichter.
Etwas hat sich aus dem Nebel heraus geschält und eine konkrete Form angenommen. Wie ein Gefäß aus Plastik, dessen Inhalt sich gleich über Elsa ergießen würde, schwebt es in giftig-grüner Farbe auf sie zu. Elsa spürt, dass sie diesmal die Angst vor dem Unvorhergesehenen und Unberechenbaren abstreifen kann wie einen alten ausgefransten Mantel, der längst im Müllcontainern hätte entsorgt sein sollen und der doch immer wie eine zweite Haut für sie gewesen war, die wärmt, schützt und sie versteckt. Nun hat er seine Aufgabe wohl erfüllt.
Sie braucht ihn nicht mehr, und in ihrer rundlichen Nacktheit, die blass und matt in die Nacht hinein leuchtet, mischt sich ein unbeschreibliches Gefühl. Etwas zwischen Frösteln und Erhitztsein. Gleich öffnet sie ein Fenster und badet im Mondlicht. Es ist ein Fließen in Elsa, das sich einschwingen will in die Natur dieser Vorfrühlingsnacht, in der die Bäume und Sträucher erwachen wie aus einem hundertjährigen Schlaf. Alles ist wie neugeboren.
Darüber vergisst sie, was über ihr schwebte, und der offensichtliche Mangel an Beachtung führte dazu, dass sich das Gefäß ohne seinen Inhalt über sie verschüttet zu haben in Luft auflöst und nur etwas phosphoreszierendes Licht bleibt, dass sich in ihren Augen spiegelt, die sie im Fensterglas sieht und die wirken, als seien sie gefangen in einem intensiven Dialog mit Mond und Sternen.
Der Wind hat etwas nach gelassen und die Wellen aufgepeitscht zurückgelassen. Mit brachialischer Gewalt schleudern sie ihre schaumbekränzten Wassermassen ins Geröll. Die Gischt sieht aus wie zähflüssiger Zuckerguss. Es singt zwischen den bunten Steinen ein klirrendes, knisterndes Lied mit Tönen, wie aus Glas, die davon rollen und ihr Echo hinter sich herschleppen, wenn bereits die nächste Welle die Steine gegeneinander wirbelt. An den sandigen Stellen des Strandes schlagen sich Wellen wie zarte Stoffe übereinander, und die Steine strahlen wie Diamanten. Muschelgespinste finden sich am Rande des Gerölls.
Möwen im Sturzflug nutzen die Gunst der Stunde, die ihnen reiche Beute beschert. Das Meer ist heute ein großzügiger Gastgeber. Die Schreie der Vögel mischen sich mit dem Lied der Steine und dem Wind, der über die Klippen fegt und die Baumzweige in Schwingung versetzt.
Welche Kraft Wasser und Wind besitzen, wenn sie stürmisch gesonnen sind, zeigt sich an den riesigen umgekippten Baumstämmen, die mit ihren Wurzeln in den Himmel ragen und sich im Strand abstützen, als wollten sie die Klippen halten.
Ich komme mir klein vor neben diesen mächtigen Kalkfelsen mit ihren Rissen, den Ausbuchtungen und den steinzeitlichen Farbsegmenten, die rostrot und lehmgelb horizontale Streifen im Kalk hinterließen - ich denke an die Steinzeithöhlen mit ihren wunderbaren Malereien und ihre Farben aus Eisen, Lehm und Kohle - auch ein wenig ängstlich: Was wenn die Kreide ins Rutschen gerät gerade in diesem Moment?
Mein Blick fällt auf einen halb abgestürzten Garten: Um die Wurzeln der Pflanzen schlingen sich Algen und inmitten des Gewirrs hängen kleinere und größere Steine, wie die Hühnergötter, die manche Inselbewohner an langen Fäden wie einen Vorhang vor ihre Häuser hängen- auch Blüten, die den Sturz überlebten und unverdrossen weiter wachsen.
Ich wende meine Schritte und eile dem bunten Treiben im Hafen entgegen.
"Weißt du", sagte sie, "ich träumte in der Nacht von einem weißen Pferd. Es lief durch grünes feuchtes Gras in den Abend hinein. In seiner Mähne fing sich die untergehende Sonne."
Kitschig, dachte ich außerhalb des Traums.
Aber zwischen Traum und Wirklichkeit spürte ich mich verändern. Ich fiel im Zeitlupentempo auf meine Hände, die plötzlich Hufe wurden, genauso wie die Füße.
Ein kühler Wind strich mir über die Stutenhaut.
Da war auch ein Schwanz - buschig - es fühlte sich gleichermaßen seltsam und richtig an. Die Ohren spitzten sich, hörten das Gras flüstern und die Nüstern, zu denen meine Nase wurde, blähten sich irritiert.
Was waren das für Gerüche.
Eine gewisse innere Nervosität und Anspannung wuchs in mir, denn alle Sinne arbeiteten auf Hochtouren.
Unter der Haut arbeiteten kräftige Muskeln im harmonischen Zusammenspiel.
Ich lief los, rannte mit dem Wind, fühlte mich frei und ungebunden.
Es war alles eins mit mir und jetzt: Der Wind, die zunehmende Dunkelheit, das Gras unter den Hufen und nichts, was mich halten konnte.
Ich erwachte in den stillen Räumen gerade als die Amsel im Morgengrauen zu singen begann und spürte noch die Nachwirkungen des nächtlichen Rittes. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und lächelte.
Komm!
Ich folge dem Klang bis zum Grunde meiner Seele, dorthin - wo das Echo nur noch flüstert.
In jenem wilden Garten unter dem Meer wuchert es farbig. Zwischen exotische Gewächse pflanze ich Herzsteine, gieße mit Tränen und begrabe unter dem Seegras einen Schatz. Zwei Seepferdchen streichen wie tröstend um meine Fesseln – das wogende Meer nimmt mich mit - trägt mich fort.
Zwischen Ebbe und Flut wachsen mir Kiemen. Aus Beinen werden starke Flossen. Zwischen kleinen Fischen mit staunenden Augen schwimme ich weit hinaus in die blaue Unendlichkeit. Das langes Haar kräuselt sich zu Algen - schwebt auf dem Wasser, wie ein goldener Schleier. Am Ende der Nacht stimme ich ein in den Gesang der Wale.
Und deine Stimme verebbt in den inneren Räumen.
Und plötzlich löst sich ein Stein. Du bist um ihn herum geschlichen, hast ihn genau in Augenschein genommen, seine äußere Form abgetastet - scharfe Kanten auf der einen Seite und weiche Abbruchstellen auf der anderen Seite, eine rundliche Kuppe - er muss ein Teil von etwas Größeren gewesen sein vor Urzeiten. Die Zeit, der Wind und das Wetter haben ihn geformt. Nun löst er sich und fällt den steilen Abhang hinab. Da wo er steckte ist nun eine deutliche Vertiefung. Du näherst dich, schaust hinein, da sind andere Steine. Noch fehlt ein Durchblick.
Er gurgelt Töne, pfeift mit dem Wind und singt die Gegenstimme, wenn meine Lippen Lieder wieder entdecken. Im Duett findet sich nicht nur Harmonie. Die schrillen und dumpfen Töne, sie gehören dazu. Wenn es mir zu bunt wird, dann öffne ich das Fenster zum Meer und lausche eine Weile Wellen, Wind und Möwen.
Derweil tobt sich der lichte Geist im Schornstein aus. Und ich schließe das Fenster, setze mich an den Küchentisch. Zeilen schreiben sich wie von selbst.
Und dann setzt er sich neben mich und ist zahm und still wie eine Schmusekatze, die in der Sonne döst
Und über den Tagen außerhalb der Zeit liegt ein frühlingsgrünes Lächeln, das Lächeln eines verwunderten Kindes, für das jede Sekunde, die aus der Zeit heraus wächst, einen neuen, noch unerlebten Zauber gebiert.
Und im Flügelschatten des großen Lächelns verbirgt sich die Angst mit ihren vielfältigen Gesichtern.
Und das Licht ist wie eine Brücke, die Menschen miteinander verbindet und eine Weile aus der Zeit heraustreten lässt.
Und in der Hand des goldenen Kindes liegt ein feuersprühender Ball.
Siehst du ihn fliegen durch die Nacht, die den Tag gegessen hat, damit im Nachtblau die Magie des Lichtes nicht vergessen wird?
Ich fuhr vorbei an dem alten Haus mit dem spitzen Giebel, wie seit Jahren fast jeden Tag. Im Laufe der Jahre verfolgte ich, wie die Farbe langsam abblätterte von Tür und Fensterläden. Einen neuer Anstrich würde dem Haus gut bekommen. Es gleicht einer freundlichen alten Dame, die noch rüstig und gut dabei ist. Immer blitzt mir das Haus plötzlich aus dem struppigen Gebüsch neben den Bahngleisen entgegen. Aus den Augenwinkeln heraus scheint es so, als schiebe eine unsichtbare Hand ganz oben im Dachfenster den Vorhang zur Seite. Eine Weile registrierte ich das Haus nur noch am Rande, so wie man ein vertrautes Bild, das immer an der gleichen Stelle hängt, kaum noch wahrnimmt. Sein ungezähmter Garten mit den halbzerfallenen Holzschuppen stößt an die Bahntrasse, und ganz in der Nähe braust die Autobahn. Heute nun, winkte es mir wieder zu. Ich versuche mir vorzustellen, wer wohl die Tür öffnet, wenn ich den Klingelknopf betätige.
Das Haus ist bewohnt. Da bin ich sicher. Es geht Belebtes von ihm aus.
Ich will es endlich wissen. Wenn ich das nächste Mal unterwegs bin und Zeit habe, werde ich mein Fahrrad mitnehmen und an der Haltestelle in der Nähe aussteigen. Ich werde zurückfahren, um das Haus von vorne zu betrachten. Und mich trauen, zu klingeln:
"Guten Tag, ich weiß Sie kennen mich nicht, aber das Haus, in dem Sie leben spricht mich an. Es winkt und lockt, lädt mich ein. Ja, sie haben Recht, das ist ungewöhnlich. Nein, nein, ich bin keine Spinnerin, höchstens eine Traumtänzerin. Haben Sie zufällig eine Etage frei, die ich mieten könnte?"
Zu erwachen und berührt sein vom Licht, dem blauen Himmel und dem leichten Wind der die Gardinen bauscht, wahrzunehmen und zu spüren, wie es licht wird im Herzen und das sanftblaue Gefühl von Freude und Gelassenheit wächst. Es ist Sonntag in dir, so wie er früher gedacht war, ein Tag der Muße, des Zusichselbstkommens, ein heiliger Tag.
Der Kaffee duftet, es ist Morgen, die Welt wartet. Auf Tuchfühlung gehen mit allem was dir über den Weg läuft, am Telefon zu hören, "Du, heute morgen war um den Zwetschgenbaum ein besonderes Licht, so als habe er eine Aureole, das hat mich so berührt."
Und dazu diese besondere Musik, die dich zwischen tiefe Freude und großes Vertrauen bettet, was kann noch schöner sein?
Das Jahr hat seine ersten Schritte hinter sich. Der Winter nimmt seinen Hut aus Eis, verneigt sich und verabschiedet sich vom Frühling, der nicht mehr warten will. Die Bäume schälen sich und zeigen Wachstumsringe. Die Knospen der Pflanzen sind verdickt.
Wie lange hält die Schale sie noch, bevor das Grün aus ihnen hervor bricht wie ein Springteufel. Ich stehe am Fenster und schäkere mit dem Apfelbaum.
"Ganz schön krumm geworden deine Äste, und lang. Sie greifen ja schon in die Hecke."
Fast meine ich, den Baum lachen zu hören. Es hallt in meinem Inneren und klabautert wie ein äußeres Echo zwischen den inneren Organen.
Schmetterlinge im Bauch?
In den Zweigen weht der Wind.
Zwei Amselmännchen streiten sich ums Revier. Ich schaue den Buddha, der ungerührt auf der Fensterbank steht.
Er lässt sich nicht stören, nur die Ruhe seiner Versunkenheit lässt die Schmetterlinge still werden.
"Habt noch etwas Geduld, es ist noch zu kalt."
Aberder Himmel ist blau, die Haselkätzchen läuten stumm, und am Mittag wärmt die Sonne meine wintermüde Haut.
"Morgen will ich Steine sammeln am Fluss. Es wird Zeit!"
Ich verpacke das zierliche Geschenk - ein Märchen zum Hören für mich - weinrotes Seidenpapier - faserig – es leuchtet im Licht. Eine dünne Kordel hält alles zusammen. Ich gehe in den Garten, pflücke einen Zweig mit kleinen Hagebutten, und erinnere mich:
an die Rosenfülle vom Mai und ihren herrlichen Duft
an brütende Kohlmeisen und ihr emsiges Hin-und Her.
Wieder im Haus schiebe ich den Zweig mit den roten Früchten vorsichtig unter die Kordel.
Es sieht hübsch aus. Viel zu schade, um es zu öffnen.
Was weiß die grüne Kapsel schon vom Blütentraum und von den schwarzen Samen, die verborgen träumen. Der Sinn für manche Lebensdinge verbirgt sich ebenso und wartet noch auf das Reifen. Es kommt die Zeit, da platzt die Kapsel und lässt die Blüte frei – zerknittert noch und seidenstark – sie öffnet sich dem Licht und strahlt wie eine Königin, die für den Prinzenball sich festlich schmückt. Schon bald verschenkt sie reife Schlafmohnsamen und vergeht. So endet Schönheit dort, wo neues Wachsen sich entfaltet.
Es liegen tausend Wunder zwischen Werden und Vergehen. Und auch der Sinn in Menschendingen entschlüsselt sich, wenn Zeit erblüht und reift und Ernte schenkt verschwenderisch.
Im Bild vor meinen Augen verbindet sich das warme Holz einer Langhalslaute mit einem grünseidenen Tuch. Vor mir sehe ich ein harmonisches Stillleben.
Woran erinnert mich dieses Bild?
Ein Zeitfenster öffnet sich:
Eigentlich eine ganz andere Situation, ich bin vier oder fünf Jahre alt, vor mir in der Großmutterecke ein runder Holztisch - Eiche - darauf eine gehäkelte Spitzendecke, naturweiß. Eine kleine Kugelvase aus Glas steht auf dem Tisch, gefüllt mit bunten duftenden Wicken, eine meiner Lieblingsblumen. Wenn ich an den Duft denke, wird mir warm und ich spüre seine positive Wirkung auf mein Gemüt.
Und da ist noch etwas anderes, es lässt mich lächeln - die Holzdielen unter meinen Füßen sind frisch gebohnert - ein ganz spezifischer Geruch - und es ist wohltuend still. Durch die kleinen Fenster des alten Hauses flirrt das Hochsommerlicht. Es ist Mittag!
Was verbindet das Bild mit der Erinnerung? Ein Stück Nostalgie, die Essenz meiner Kindheitssommer und dieses beglückende Gefühl, geborgen zu sein.
Licht flirrt im Apfelbaum - die Amseln träumen - zwischen duftende Kräuter legt der Sommer lange Schatten ins Gras - in dem du liegst. Der Strohhut rutscht vom Kopf dir in die Stirn und du erinnerst dich: da war eine Hand - warm und nah.
Was stören dich laute Fragen und bohrende Zweifel - sei ganz still - malt doch Zeit heute innige Bilder: kleine Stillleben voll Poesie, eine chinesische Nachtigall und japanische Tuschezeichnungen schwarz-rot - in ihrer Kargheit von erlesener Schönheit ohne Schnörkel und Glimmer. Der Wind singt leise im Laub - mischt sich mit dem Gezirpe der ersten Grillen.
Wie einfach ein Leben doch sein kann - mitten im Sommer.
Vor einer Weile saß ich im Garten unter meinen Rosenbüschen. Es war warm. Ein flippiger Wind streifte durch das Gras und über meine Haut. Ich war müde und ganz leise - lauschte den nachmittäglichen Geräuschen um mich herum. Zwischendurch fielen mir die Augen zu. Als ich sie wieder öffnete war ganz nah neben mir ein Amselmännchen - Stello Negro - es wippte flink hin und her und sammelte Nistmaterial. Nach und nach füllte sich der goldgelbe Schnabel mit kurzen Halmen, Gras und kleinen Blattstücken. Der Kopf ging aufgeregt hin und her. Das Vögelchen war so nah, dass ich jede Feder des schiefergrauen Gefieders sehen konnte - auch den orange-gelben Innenring um die dunklen Perlaugen.
Als ich mich kurz ruckartig streckte, flog es aufgescheucht davon. Eine Weile später hörte ich Stello singen und zwitschern. Er sang ein fröhliches Lied und erzählte von der Sonne, dem Wind und dem Nest, in dem bald schon Eier liegen werden, Hoffnung auf neues Leben.
"Stello Negro", fragte ich, "bist du es, der zwischen Winter und Frühling so wunderschön singt am Morgen? Bist du es, der auf dem Hausgiebel sitzt und den Frühling verspricht?"
Leider konnte ich die Antwort nicht mehr verstehen, denn bei mir drinnen klingelte das Telefon. Und jetzt ist Gewitter und keine Amsel mehr zu hören, aber es duftet nach nassem Gras, Rosenblüten und Kräutern.
Na klar verstehe ich Dornröschen hinter den sieben Hecken!
Wie wird sie sich gefühlt haben, als der Prinz - ein Mann, der die Dornen durchbrach - sie mit einem Kuss erlöste und ihr das intensiv pulsierende Leben zu Füßen legte?
Sie verliebte sich Hals über Kopf. Es ist ja nicht so, dass Dornröschen einfältig, dumm und faul war: einst machte sie sich auf, um alles zu erkunden. Bestimmt spürte sie, dass ein Geheimnis - ein Tabu - in ihrer Familie unausgesprochen blieb. Diese Leerstelle wollte sie erkunden. Wahrheiten sind oft schmerzhaft, so wie die Spindel, die sie stach, und sie können für lange Zeit lähmen. Wie gut, dass die Zeit oft Heilung bringt. Und wenn die Heilung abgeschlossen ist, kann das Leben mit seiner Leuchtkraft neu beginnen.
Nicht wenige Frauen lieben den, der sie rettet, aber vielleicht ist es noch anders bei Dornröschen: Sie verliebt sich in das Leben selbst, schließt einen Pakt mit ihm und freut sich an der neuerwachten reifen Weiblichkeit. Sind es nicht innerpsychische Kräfte, die wirken: Animus und Anima verbünden sich, um ganz zu werden. Die intuitiven und kognitiven Kräfte verschmelzen, um die Hecke - die auch ein Gefängnis sein kann - überwinden zu können. Als innerer Rückzugsraum bleibt die Hecke bestehen: sie behält ihren Sinn als Schutz-und Rückzuzgsort, in den ein Außenstehender nicht so einfach eindringen kann.
Aber hat der Prinz Dornröschen tatsächlich gerettet? Nein, was er mitbrachte war der tolldreiste Mut, einer Gefahr ohne Angst ins Auge zu blicken. Im Gegensatz zu seinen unvernünftigen Vorgängern hatte er Glück, denn die Hecke öffnete sich von selbst. Gerettet hat Dornröschen sich selbst - in den heilenden Schlaf - der endete, als die Zeit reif war. Intuitiv und unbewusst öffnete Dornröschen selbst die Dornenhecke.
Der Prinz erscheint als das vom Schicksal gewollte, und sie lässt ihm das Gefühl, der Retter zu sein.
Hinter diffusen Baumschatten, ein Hauch von Sommer. Der Duft von frischgemähtem Gras kitzelt in der Nase. Blattgrün fächelt im Baum. Windbewegt wie grüne Meereswelle das schenkelhohe Gras in der kraftvollen Obstwiese - bizarr wiegt es sich im Tanz. Rispen winken, wie kleine bewegliche Elfen mit Blütenhüten. Schau doch, liebe Katze
Wolkengebirge zerbröseln zu sanften Schäfchenwolken. Ich will ihr Hirte sein. Blau weitet sich der Himmel unter Lerchenjubel. Und mein Herz steigt mit hinauf.
Ich habe den Mohn gesehen. Er trägt sein schönstes Kleid, wie die Prinzessin im seidenen Abendkleid oder eine japanische Geisha im leuchtenden Kimono.
Märchen aus Kindertagen treffen sich zum Reigen unterm Fliederbusch. Frau Holle hat sich endlich schlafen gelegt. Märchen sind wahr. Ihre Weisheit ist einfach und mache von ihnen heilen, aber sie auf den Kopf zu stellen macht Spaß. Es lagert sich gut im Moos.
Flieg nicht gleich wieder weg, mein liebster Vogelmensch, denn mein Mund sehnt sich sehr nach süßen Kirschenküssen. Wie frisch und betörend du duftest im Abendlicht. Meine Haut ist samtig und weich. Spürst du dieses Begehren - vital, lebendig, wie Feuerzungen - nun lass uns nichts verschieben, denn nur dieser Tag gehört ganz sicher uns.
Deine Daunenfedern werden mich wärmen, wenn du mir versprichst, die Sterne vom Himmel zu holen und der Nachtwind den Himmel frei fegt. Hoch oben zwinkert der Mond mir zu und lächelt geheimnisvoll.
Unter einem blauen Julihimmel zwischen Wald, Wiese und Feld - über den Ähren flirrt die Wärme staubig, und abgeerntete Flächen funkeln wie blasses Gold. Meine Füße wandern über unbekannte Wege, am ausgefransten Rand Adonisröschen, wilde Kornblumen und Wiesenflockenblumen, auch die kleine Waldglockenblume läutet den Sommer ein. Und der Waldboden ist hier so weich. Ich möchte mich träumend betten ins grüne Moos und ganz einfach die Zeit vergessen. Mädesüß duftend an feuchten Stellen - Gedankenfetzen - da fehlt doch noch was im Mosaik: ich erinnere den Duft aus Kindertagen, nach Wald, Sommer, Hitze und Staub, wo kleine Füße auf anderen Wegen spazierten - eimerweise pflückten wir sie an Hochsommertagen, in denen es knisterte im Wald und Feuergnome lauerten - Himbeeren, rot und süß - und ja, das sind sie schon - heute, und immer gab es dann abends Himbeergrütze - aus den Rückständen der Saftgewinnung - mit Vanillesoße. Nichts vergisst man , alles liegt abgespeichert bereit, kommt zum Vorschein, wenn sich bestimmte Muster zusammenfügen.
Pflanzengemeinschaften sind wie Menschengruppen: es finden sich immer bestimmte Individuen zusammen.
In den Träumen sommerlicher Nächte ist es schwül. Zwischen den Lenden klebt der Schweiß und im Nabel sammelt sich Feuchte, gleich einem Minisee, der über die Ufer tritt. Rinnsale fließen.
Unter den blassen Brüsten und zwischen die Zehen hat sich ein Kribbeln verzogen. In den verschwitzten Laken fangen sich Träume so schwer, nur diese Lust bleibt, das Leben zu vertilgen mit Haut und Haaren ohne je satt zu werden.
Schemen geistern durch die Nächte, und ihre Gesichter tragen verwischte Züge. Wer bist du, frage ich dich?
Doch schon bist du entwischt zu all den anderen Gestalten hinter der Bühne. Ich fühle mich geprellt, denn das Bühnenstück wurde mir vorenthalten.
Was seid ihr nur für miese Spieler? Mehr Sein als Schein!
Tröstend und besänftigend streichelt der Wind meine erhitzte Haut.
Schon immer haben mich Ruinen wie magisch angezogen - selbst die friedlichen Höfe der Toten ziehen mich an - und der Staub verblichener Steine in diesem besonderem Licht des Südens - wenn der Himmel sich unendlich blau wölbt und in den fast verdorrten Gräsern die Vielfalt des Lebens zirpt.
Es will mir scheinen, als seien dort Tod und Leben präsenter, offensichtlicher auch, wie beides miteinander verwoben ist.
Intensität liegt in der Atmosphäre, im lebendigen Tun ebenso, wie im Bleiben- und Gewähren lassen.
Oft fragte ich mich, wo in der Vergangenheit meine Wurzeln liegen - zumindest mein Vater wirkte mit seinem olivfarbenen Teint, seinen lebendigen dunklen Augen - ich erbte sie von ihm - und dem dichten schwarzen Kopfhaar über der hohen Stirn und dem sensibel gezeichneten Gesicht südlich. Auch was sein Temperament betraf - er hätte es mit den südlichen Naturen aufnehmen können.
Woher komme ich also? Ich will zu den warmen Steinen, unter die sich die Eidechsen flüchten, zu den verfallenen Dörfern und am Mittag möchte ich unter Schattenbäumen sitzen und die Zeit gewähren lassen. Die blechern klingende Kirchenglocke - so nah und zentriert - erinnert mich daran, dass alle Zeit auch ohne mich leben kann.
Einstweilen schichte ich eine Mauer aus Gedanken und Worten. Ich suche in der Nähe beim Haus und ganz fern hinter den sieben Bergen. Vielleicht findet sich noch Abbruchhalde hinter eurem Haus mit Muschelresten und bunten Scherben und unter den Bohnenstangen in türkischen Gärten findet sich manchmal ein Schatz: Heute ein roter Knopf in Rosenblütenform.
Als ich einmal klein war, ungefähr drei Jahre alt, spielte ich liebend gern mit der Knopfkiste meiner Großmutter, und dort war ein solcher Knopf mein liebstes Stück. Ich himmelte es an und drehte es in alle Richtungen. Und dann kam ein Großer, ein Spielverderber - schimpfte, Schnell verschwand die Schatzkiste in der Schublade unterm Sonntagstisch.
Und überhaupt, wer mag schon immer Paradiesäpfel von geharkten Wegen essen.
Ich nehme den Knopf mit und schmücke damit meine Mauer. Eine Pfauenfeder erkämpfte ich mir im Zoo, damals, als die Welt noch überschaubar war.
Manche Augenblicke scheinen lang wie ein ganzes Leben. Sie wollen nicht vorübergehen. Und so oft du auch auf die Uhr schaust, es will dir scheinen, als bewegten die Zeiger sich nicht. Worauf wartest du?
Die Zeit ist weder reif noch die Gedanken zu Ende gedacht. Draußen nimmt ein Sommertag seinen Lauf:
Wolken ziehen auf; es regnet; die Sonne lockt; der Tag wandelt sich zum Abend, wird zur Nacht.
Du wartest auf eine Sternschnuppe, denn dann hast du einen Wunsch frei.
Vor der Hollerbuschhecke blinzelt das Kind mit dunklen Augen ins Sonnenlicht. Es ruft mich - stumm bewegen sich seine Lippen. Es winkt mir zu. Ich eile in seine Richtung, doch im Augenblick des Begegnens ist es verschwunden. Im Pferdestall sehe ich wehendes braunes Haar. Es ist warm dort und riecht nach Heu und Tier.
Ich erwische das Mädchen nicht, kaum bin ich da, ist es woanders und jagt mit dem kleinen Bruder im Hof hinter den Hühnern her. Der bellende Hofhund ist angekettet, weil der Briefträger gleich kommt. Das Mädchen ist lebhaft und quirlig - ein Irrwisch und immer da, wo ich nicht bin. Die Zeit gelebten Lebens trennt uns. Also lasse ich mich nieder auf der brüchigen ausgelatschten Steintreppe vor dem Haus und schaue zu: das Sonnenlicht flirrt, der Wind bewegt die Blätter der Obstbäume. Auf der Bank vor dem Haus sitzt schemenhaft meine Oma und schält Kartoffeln. Wo sie wohl in diesem Moment mit ihren Gedanken verweilt? Niemand erreicht sie in diesem Moment
Während ich diese Sätze schreibe erkenne ich ein Muster: es verbindet das kleine Mädchen - mich - meine Oma und meine kleine Tochter. Gerne flüchten wir in Träume und versteckte Innenwelten, wenn es draußen zu viel wird. So reichen wir uns die Hände über die Generationen hinweg, spüren Verbundenheit und setzen die Zeit außer Gefecht. Ein Lächeln umspielt unsere Lippen, und wir zwinkern uns zu - verschworen.
Manchmal ist das Leben wie ein langanhaltender Geburtstag - viele bunte Päckchen liegen auf dem Tisch- ich greife hinein - das blaue soll es sein, das mit der lilagepunkteten Schleife und dem aufgeklebten goldenem Herz: vorsichtig öffne ich die Schleife - möchte die hübsche Dekoration nicht beschädigen - deshalb bin ich besonders achtsam und sehr konzentriert, - schließlich hat sich jemand mit dem Verpacken viel Mühe gegeben - ein Stück Zuneigung liegt darin - ich fühle sie und bin im Gedanken dem Schenkenden sehr nah, obwohl ich ja noch nicht weiß, was im Päckchen verborgen liegt, aber ist das überhaupt so wichtig?
Da hat jemand an mich gedacht - er hat versucht herauszufinden, was mir Freude bereiten könnte – allein das ist wertvoll! Ich packe weiter aus - zum Vorschein kommt eine mit bunten Blumen und Engeln bemaltes Kistchen - ich öffne den Deckel und erschrecke:
ein Springteufel fährt mir ins Gesicht.
Ich steh am Fenster und schau hinaus. Das Wetter kündigt den Herbst an. Noch nehme ich es gelassen, werde ruhig, mit jedem Tropfen mehr. Es trommelt auf mein Dach, und der Rhythmus des prasselnden Regens hypnotisiert mich. Eine fast heitere Gelassenheit zieht in meine Seele ein, das Herz, im Schlag verlangsamt, findet Ruhe. Über graue gleichförmige Wege nach innen öffnen sich bunte Räume. Heute muss ich nichts tun. Ich darf zu Hause bleiben und dem Regen lauschen.
Über dem See liegt Nebel. Dichte Schleier geben nur ab und zu einen Blick auf das andere Ufer frei. Lichtfunken zaubert der junge Morgen zwischen die dichten Schlieren. Was der Tag wohl bringt? Zwischen Nebel und Wolken liegt ein Versprechen:
du Tag wirst mich nicht verletzen. einen heilsamen Zauber wirst du wirken. In den Tautropfen, die wie Perlen am Schilf kleben, fängt sich Feuer. Schemenhaft in der Ferne Baum und Haus.
Ich sehe, kein Wind kräuselt das Wasser und ich spüre wohltuende stille. Gedämpft dringen Rufe an mein Ohr, doch nur ich suche mich.
Ich stand am Mühlenteich, und die ganze Pracht eines südlichen Herbstes brach sich im Wasser - in meinen Augen - wie ein Feuerwerk , wurde zu Musik in meinem Blut, auf-und abschwellend - eine Fuge von Bach - junger roter Wein perlte auf meiner Zunge - und dahinter erinnerte ich ockerfarbene Erde, warm. Es war still - alle Geräusche verstummten - und von den Bergen fächelte duftend ein sanfter Wind.
Es ist nur der Moment zwischen Tag und Nacht – wie schnell es dunkel wird im Herbst – vom See bläst Wind durch das geöffnete Fenster. Es flüstert.: „ Manchmal sind Stille und Schweigen die besten Freunde“
Ich fühle Silben auf der Haut und spüre ohne Worte die Gesten des Friedens.
Ich schmecke Frucht und Zuversicht.
Ich lausche dem Wind, der weht und schicke still meinen Segen und Dank zu den Sternen.
Manchmal, wenn ich die Herbstferien auf dem Lande bei meinen Verwandten verbrachte, nahm mein Onkel mich mit auf die Wiesen, um Champignons zu suchen. Er hatte im Herbst mehr Zeit, Ruhe und Gelassenheit als im Sommer, wenn er mitten in der Ernte stand. Es waren leise Momente von besonderer Dichte. Ich fühlte mich sehr wohl in seiner Nähe, obwohl kaum Worte zwischen uns fielen. Worte waren überflüssig, wir verstanden uns auch so - ich erinnere den Geruch der Pilze, das frische Grün der Wiese und ein besonderes Licht, wie man es nur im Herbst erlebt, wenn die Nächte länger geworden sind - und sichtbar wird, wie vergänglich alles ist - und daran wie vorsichtig er mit diesem nährenden Schatz umging und mir dabei leise erklärte, dass man sehr achtsam mit den Schirmlingen umgehen muss, damit man auch in späteren Jahren noch ernten kann. Abends wurden sie geputzt, in Butter gedünstet - nur gesalzen und gepfeffert und zu frischem Brot gegessen - es schmeckte wunderbar - das war kein Alltagsmahl und deshalb etwas Besonderes.
Es ist immer ein Dazwischen - ein tastendes Spüren in die Welt hinein, der behutsame Griff unter alle Schichten und durch verhüllende Schleier. Ein behutsames Fühlen und Finden von Wegen und Pfaden, der Griff nach dem goldenen Schlüssel - versteckt in einer Bodenritze. Ein schwerer alter Schlüssel, der Türen und unbekannte Räume öffnet. Diese schmalen Durchgänge, Kanäle und Tunnel, das erstaunlich schmiegsame Hindurchschlängeln, als sei man Gas, nicht feste Substanz und am Ende schließlich - dieses sich weitende Licht.
Zwischenraum auch draußen: der Herbst hat seine Farben gewechselt. Zwischen dem lichten Grau des Himmels und dem fahlen Grün der Felder sind die herbstlich bunten Blätter aus sich selbst heraus Licht. Sanft strahlen mir Messing, Rostbraun, Schwefelgelb und Weinrot entgegen. Verblassende Sterne am Wegrand und auf Asphalt. Ich nehme diese Farben als Geschenk. Sie sind Balsam für empfindliche Augen. Zwischen glitschigem Laub und moderigen Novembergerüchen möchte ich immer weiter gehen - bis ans Ende der Welt - dorthin, wo alles sich findet - der Anfang und das Ende zum keltischen Knoten verschlungen.
Die roten Lichter auf den Friedhöfen leuchten in Zwischenwelten - schenken in diesen herbstverwandelten Tagen einen inneren Blick über den irdischen Tellerrand hinaus.
Vor mir ein Bild: Am Strand auf dem Baumstamm links sitzt ein Rabe. Ich sehe sein Profil. Davor das Meer. Im Meer ein Fels.
Ich steige in den Rahmen, trete über die schwarze Barriere. Meine Füße sind nackt und berühren den Sand. Kühl und feucht fühlt er sich an und von unbeschreiblichen Dichte. Ich schaue aufs Meer, sehe die Wellen und den Felsen jenseits. Er teilt den Horizont, ist Blickpunkt, lässt innehalten. Das Auge hat etwas, woran es sich festhalten kann. Da ist auch etwas Grün und ein natürlicher Torbogen am Rand. Der Geruch von Algen und salziger Luft lässt mich tief einatmen. Eine leichte Brise streicht mir das Haar aus dem Gesicht. Ich stapfe durch den Sand, so viele Spuren hier. Auf dem umgefallenen Baumstamm sitzt ein Rabe. Nichts scheint ihn zu beunruhigen, nur sein Kopf geht hin und her. Was er wohl sieht. Ich nähere mich. Er lässt es geschehen, anscheinend bin ich im Windschatten. Ich bin schon ganz nah, berühre das Holz – feucht, ein bisschen glitschig. Was wäre wenn?
Wie wäre es , der Rabe zu sein im schwarzen Federkleid, fähig, die Flügel auszubreiten und hinüber zu fliegen zum Felsen? Was er wohl sieht, wahrnimmt? Wartet er auf etwas. Wo ist seine Gefährtin?, vielleicht drüben auf der anderen Seite? Oder verlangt es ihn nach den sechs Brüdern?
Die Verbindung von Sand, Holz, Wasser und Stein mit ihrer sanften natürlichen Farbigkeit berührt mich sehr.
Fahl fällt das letzte Laub. Gestern noch war der Herbst gelb. Wald und Wäldchen strahlten vor bleigrauen verhangenen Himmeln. Es leuchtete weit. Heute schwimmen Zwillingsblätter wie kleine Schiffe führerlos durch Regenpfützen. Wie hübsch die gezackten Segel ihre Konturen noch zeigen. Matschwetter weicht den Boden auf. Pack Gummistiefel und Regenjacke aus. Komm mit, wir gehen den Winter suchen. Nicht mehr lange, und die ausgezogenen Bäume frieren im Frost und tragen Raureif der glitzernden Weihnacht entgegen. Die Sonne verlischt mit Feuergarben am eiskalten Abend und in den Nächten funkeln die Sterne, wie nur zu dieser Zeit.
Ein weiteres Jahr neigt sich. Wir wollen die neuen Zeichen in den Gesichtern erkunden und uns auf den Weg machen - wohin auch immer uns die Spuren führen.
Es ist erstaunlich still im Raum. Meine Nachbarin haben sie schon weggefahren. Bald bin ich dran. Ich liege im zartgeblümten Kittel unter weißen Laken. Die Wände sind weiß. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich Silbergrau - der Himmel, links ein hauch Rosa vom Morgenrot - silbergrau der Himmel mit seinen diffusen Schichten, davor Hochhäuser - statisch, gerade, geometrisch mit all den Gucklöchern in die Welt. Ich fühle mich ganz stimmig mit diesem Grau in Grau. Die Farbe ist sanft, tut nicht weh, schrillt nicht in meine Augen, benebelt mich, es ist still in mir, ich bin äußerlich ruhig und in der Realität nur ein wenig schläfrig von den Beruhigungsmitteln. Plötzlich fällt mein Blick auf das Bild an der wand - warum sehe ich es erst jetzt?
Bunt und farbig, ohne kitschig zu sein, sehe ich das Gemälde einer bunten Stadt am Meer, die sich an einen Felsen schmiegt. Ich beginne durch die engen Gassen zu wandern. Wer hier wohl lebt und wirkt. Welche Geschichten werden mir die Bewohner erzählen?
In den Träumen ihrer Nächte hissen sie die vergessenen Segel, blähen sie auf, kappen die Ankerkette und ziehen majestätisch und stolz wie große Seeschwalben über die Meere davon. Sie schauen sich nicht um: vor ihnen - noch in weiter Ferne - liegt das Ziel ihrer Wünsche.
Wenn sie nach entbehrungsreichen Tagen auf See, immer mit dieser in Zaum gehaltenen Todesangst in den finsteren Drachenkerkern tief innen, Land sichten, erwacht in ihnen das Kind. Es will spielen, möchte entdecken und Land gewinnen. Sein Lohn ist jedes beliebige Objekt, dass man sich zu Eigen machen kann und das greifbar ist. Etwas zu besitzen - wie den heiligen Gral - es zu zähmen, wie ein Ungeheuer und sich untertan und gefügig zu machen, leitete die Helden vergangener Zeiten. Es galt der Stärkere zu sein und es war Selbstschutz, den Dingen in die Augen zu schauen, sie nicht zu unterschätzen und dienstbar zu machen. Was Mann im Auge behält, weil es aus dem Dunklen ins Licht gezerrt wurde, hat er im Griff.
Du kannst sagen Prinzessin, das sei Schnee von gestern, doch glaube mir, Männer tragen die alten Helden in sich vergraben.
Es würde ihnen gut bekommen, sich ihrer zu erinnern.
Und wenn ich nun im Morgenlicht am Strand stehe oder von weitem hoch oben vom Turm Ausschau halte, und mir die Augen aus weine, weil mein Liebster auf See ist, und ich nicht weiß, ob er je zurück zu mir kommt, so will ich ihn doch in Freiheit und Ferne ziehen lassen, um zu tun, was ein Mann tut, damit Frau tun kann, was Frau tun muss, um ihr Leben zu füllen.
Denn wenn er zurückkommt von seinen Abenteuern, die Haare von der Sonne gebleicht und braun gebrannt, wird er mich reich beschenken.
Seine Geschichten werden meine Tage bunt machen und mir den Alltag versüßen.
Er muss mich nicht besitzen, denn er besitzt die Fülle.
Der Tag öffnet seine Schleusen. Ein Schwall ungesagter Worte hüpft wie Vögel übermütig von Zweig zu Zweig. Selbst die Hagebutten tragen Pelzmäntelchen aus spitzen Kristallen. Eingefroren halten sich die letzten weißen Rosen bevor die Sonne von fern ein wenig Wärme schickt. Die Nacht hat die Welt in ein Märchen verwandelt. Der frostklare Tag birgt den blauen Dunst der Wunder und im Rosenrot des Morgenerblühens liegt ein Versprechen. Geflügelte Schatten segeln über den Horizont. An diesen Tagen ist es leicht, an Engel zu glauben.
Die Krähe auf dem Feld schreitet die neuen Spuren ab. Wohin wird der Tag uns führen?
Raureif versilbert die Gedanken und malt mit besonderem Licht. Die Nacht der Nächte naht. Du spürst den Hauch der Ewigkeit, und wie es wohl war damals auf dem Feld.
Vielleicht wirst du erstaunt sein: für mich sind diese Tage zwischen den Jahren blassblau!
Der Weihnachtsbaum geplündert und die letzten Geschenke verteilt, verzieht sich unsere Weihnachtsmaus wieder im letzten verborgenen Winkel. Wohl dem, der in den dunklen Stunden schmökernd, erzählend oder musikhörend am warmen Kamin sitzt und die letzten Spekulatius nascht. In Raureifnächten sind die wilden Reiter unterwegs. Ich lege ein paar Rumkugeln auf die Fensterbank draußen - Beschwichtigungsgesten!
Selbst hier legte sich heute Schnee über das alte Jahr.
Ruhe und Muße übernehmen das Kommando: Zeit, um zurück zu schauen, ein Jahr in Würde zu entlassen und Ausschau zu halten nach dem, was die Januarnebel noch zu verschleiern versuchen. Uhrzeiger wandern gemächlich übers Ziffernblatt. Manchmal machen sie Rast. Zwischen zwei Lidschlägen fang ich es ein - das Augenblicksglück. Zwischen den Fingerspitzen spüre ich das warme Zittern von Federn.
Im Norden schaut ein älterer Herr zum Fenster hinaus und beobachtet, wie die Amseln letzte Hagebutten plündern und eine junge Frau malt mit Tinte Gedankenschnörkel in die Luft. Weiter östlich entzündet eine Schwester Kerzen und verabschiedet den Tag mit Glanz, und im Süden krault eine Frau ihre Katzen.
Nebenan schreibt mein kleiner Sohn seinen ersten Liebesbrief und träumt vom Großwerden. Und ich, ich verfange mich in Gedanken, schicke sie auf die Reise, gut verpackt in Freundschaftswatte. Vom Elfenbeinturm starten unverzüglich meine Tauben. Als stumme Boten bewahren sie Geheimnisse gut und erreichen zuverlässig ihr Ziel.
Bald schlägt sich das neue Buch auf. Welche Färbung wird es annehmen; welchen Geruch verströmen; welche Rätsel werden gelöst, welche neu entstehen?
Wie auch immer, langweilig wird es nicht, denn es ist das Leben pur, und ich liebe es bunt und vielgestaltig.
Texte: Coverfoto: JanwalText und Design: Angelika Röhrig
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Kinder