„Sag mal, Mama, wer bin ich eigentlich?“ fragt Isabella die Mutter. Gerade hat sie am Fenster gestanden, in den Regen geschaut und nachgedacht. Heute ist ein langweiliger Tag, Samstag.
Wie öde!
Die beste Freundin Tina ist mit den Eltern übers Wochenende verreist. Frau Montag sitzt am Küchentisch und liest Zeitung.
Als ob da schon was Interessantes drin stehen würde, denkt das Mädchen bei sich und wippt von einem Fuß auf den anderen. Sie weiß heute nicht so genau, wohin mit sich selbst.
„Du bist eine Prinzessin, mein Kind. Aus dir wird einmal eine Königin.“
Isabella prustet los:
„Aber Mama, wir wohnen weder in einem Schloss, noch trägst du eine Krone auf dem Kopf. Wenn ich eine Prinzessin wäre, müsstest du ja die Königin sein.“
Leicht wehmütig erinnert sich Isabella an das wunderschöne weiße Prinzessinnenkleid, das die Mutter ihr zu Karneval genäht hat, als sie noch klein war. Sie denkt auch an das goldene Krönchen, das sie dazu in ihrem langen braunen Haar getragen hat. Alle Kinder in der Grundschule haben sie bewundert um dieses Kleid.
Wo die Sachen wohl hingekommen sind?
„Ich bin auch ohne Krone eine Königin, und die Herrscherin eines kleinen Reiches. Und du bist meine Prinzessin.“
„Ach Mama, erzähle mir doch keine Märchen, ich bin kein Kleinkind mehr.“
Isabella ist vor kurzem dreizehn Jahre alt geworden. Wenn man hinschaut, sieht man deutlich, wie sich kleine Brüste unter dem Pulli abzeichnen. Die Hüften haben sich gerundet. Isabell ist dabei, sich zu einer jungen Frau zu entwickeln.
Das Mädchen selbst trägt eine witzige Brille auf der Nase und hat im Gegensatz zu den meisten ihrer Freundinnen die Haare stoppelkurz geschnitten. Dazu trägt sie schmale Jeans und einen weiten blauen Pullover. Die Füße stecken in rosa Kroks, wohl ein kleines Zugeständnis an ihre mädchenhaften Träume, an die sie im wachen und bewussten Zustand nicht erinnert werden möchte.
Isabella lebt mit der Mutter allein in einer kleinen Dreizimmerwohnung. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss eines großen Häuserblocks am Rande der Stadt. In der Nähe trennt die Autobahn Wohngegend und Industriegebiet. Der kleine Platz vor der Haustür wird immer wieder zum Abladeplatz für Sperrmüll jeglicher Art missbraucht. Gerade flitzt eine vollgefressene Ratte am überfüllten Müllcontainer vorbei. Die wenigen Bäume zwischen den Wohnblocks kränkeln vor sich hin. Schon den ganzen Tag regnet es. Der Asphalt glänzt nass. Große Pfützen haben sich gebildet.
„Komm Isabella, wir kochen uns einen Kakao. Das Wetter ist deprimierend.“
Die Vorstellung von warmen Kakao holt das Mädchen aus den Grau-in-Grau-Gedanken heraus.
„Darf ich die Kerzen auf der Fensterbank anzünden?“
„Natürlich,“ antwortet die Mutter, die Streichhölzer liegen oben im Schrank.“
Isabella klettert auf den Küchenhocker und angelt im oberen Fach nach den Streichhölzern.
„Haben wir eigentlich noch Kekse?“
Frau Montag ist nachdenklich. Sie hat gemerkt, dass Isabella mit den Worten über die Königin nicht viel anfangen kann und missmutig darauf reagierte. Wieder einmal, wie so oft in letzter Zeit, hat Frau Montag den richtigen Ton nicht getroffen. Klar, Isabella ist mitten in der Pubertät, muss ihren eigenen Weg erst noch finden, aber dass es so schwierig wird, damit hat Frau Montag nicht gerechnet.
Natürlich, das Mädchen ist noch zu jung um zu verstehen, dass jede Frau - ganz gleich wo und unter welchen Bedingungen sie lebt - eine Königin ist und ein inneres Königreich besitzt, das sie nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen gestalten kann und in dem sie unumstrittene Herrscherin sein darf.
Es ist nicht so, dass Frau Montag gerne in dieser Hochhaustristesse lebt, aber zurzeit gibt es keine andere Möglichkeit. Einen Umzug genehmigt die ARGE nicht, und mit dem wenigen Geld, das sie zusätzlich durch einen Teilzeitjob im benachbarten Supermarkt verdient, kann sie keine großen Sprünge machen. Isabellas Vater, der keine Arbeit findet, zahlt schon lange keinen Unterhalt mehr für seine Tochter. Die Mieten in besseren Stadtteilen sind einfach zu hoch.
Sicher, auch Frau Montag hat sich den Verlauf ihres Leben anders vorgestellt, aber es liegt ihr fern, sich von Wünschen überwältigen zu lassen, die sie derzeit nicht umsetzen kann. Machen wir das Beste aus dem was wir haben, ist ihre Devise.
„Die Kekse sind noch im Wohnzimmer, gehst du sie holen?“ ruft sie Isabella zu, die gerade zum Fenster hinaus schaut und zu träumen scheint.
Frau Montag hat inzwischen die Milch im Stiltopf erhitzt. Sie gießt das angerührte Kakaopulver, dem sie Zucker, eine Prise Zimt und etwas Vanille beigegeben hat, in die aufschäumende Milch. Schon duftet es königlich.
Während das Mädchen im Wohnzimmer nach den Keksen sucht, deckt Frau Montag den Tisch. Sie legt eine freundlich gelbe Tischdecke auf den Holztisch und holt die dünnwandigen Tassen aus dem Schrank – elfenbeinfarben mit schmalem goldenem Rand. Die hat sie zur Hochzeit von ihrer Oma geschenkt bekommen, ebenso die silbernen Kaffeelöffel, die Frau Montag aus der Schublade holt und zu den Tassen deckt. In einer anderen Schublade findet sie Servietten aus feinem Leinen. Auch die legt sie heute auf den Tisch.
Der Kakao ist fertig. Isabella legt ein paar Kekse auf eine kleine Glasschale und stellt sie auf den gedeckten Tisch. Sie wirkt jetzt entspannter als noch vor wenigen Minuten. Nun wird die Lampe über dem Tisch gelöscht. Wie feierlich es aussieht. Der Kerzenschein spiegelt sich im Fenster, und in den Regentropfen, die in silbernen Schnüren vom Himmel fallen. Gemütlich ist es und fast festlich. Selbst die graue Tristesse draußen sieht wie verzaubert aus.
VORWORT
Es gibt Tage, lieber Freund, an denen ich mich nach einem Großvater sehne, weil ich wieder ein kleines Mädchen bin und auf einem Felsen mitten im Meer sitze. Um mich herum branden die Wellen. Die Gischt sprüht mir ins Gesicht. Es ist kalt. Der Wind tut mir in den Ohren weh. Die Möwenschreie klingen schrill.
Ich bin allein, das Wasser ist tief, und ich fürchte mich davor, hineinzuspringen um zu schwimmen. Das Ufer scheint viel zu weit weg. Niemand hört mein Rufen.
Ein Großvater, der um seine Enkelin weiß, würde sein Boot nehmen und zum Felsen rudern. Er würde sein kleines Mädchen in den Arm nehmen, es ins Boot setzten und zurück rudern ans Land.
Ein Großvater würde dem Mädchen durch die Locken streicheln und ihm die blaue Kapitänsmütze aufsetzen. Er würde es in eine warme Decke hüllen und ihm versprechen, es niemals allein zu lassen.
"Und wenn du stirbst?"
"Dann sitze ich oben auf der Wolke und passe auf dich auf. Und wenn ich sehe, dass du traurig und verzweifelt auf einem Felsen mitten im Meer sitzt, dann schicke ich dir einen Engel, der dir den Mut schenkt, zu springen und hinüber zu schwimmen ans Land."
"Großvater?"
Die kleine Marie hat gerade Abendbrot gegessen. Ein bisschen Leberwurst klebt noch im Winkel ihrer Lippen.
"Großvater, wann ist jemand ein Freund?"
Der Großvater zieht kurz die Nase hoch, legt die Zeitung zur Seite und schiebt die Lesebrille in seinen weißen Haarkranz.
"Na, du stellst ja Fragen, Marie."
"Darf ich zu dir auf den Schoß kommen, Opa?"
"Na klar, meine Süße, komm hoch."
Der Großvater sitzt in seinem bequemen Lesesessel, der sich drehen kann wie ein Karussell. Das dürfen die Kinder nicht, aber manchmal, wenn keiner da ist, setzt sich Marie hinein. Sie dreht und dreht sich, bis sie glaubt zu fliegen. Ganz schwindelig ist ihr dann, und wenn sie aufhört, sich zu drehen, dreht sich alles trotzdem weiter um sie selbst. Marie liebt dieses Gefühl.
Nun klettert sie hoch und sitzt schon bald auf Opas Schoß. Sie kuschelt sich in seinen Arm. Fast fallen ihr die Augen zu, denn es ist schon spät. Einen Augenblick lang scheint sie den Daumen in den Mund stecken zu wollen.
Aber dazu ist sie schon zu groß. Schließlich kommt sie im nächsten Sommer in die Schule.
"Großvater, wann ist jemand ein Freund?" wiederholt sie die Frage von vorhin.
"Hm, Kind, das ist ganz leicht zu erklären. Stell dir vor, du magst jemanden ganz doll gern."
"Ich mag die andere Marie gern."
"Ja, du denkst oft an Marie, spielst gern mit ihr."
"Ich spiel auch oft mit dem Jonas. Er kitzelt mich immer."
"Ja, der Jonas, du freust dich, wenn er wie du zur selben Zeit mit seinem Papa auf dem Spielplatz ist."
"Heute hat er mir ein Gummibärchen geschenkt. Er hat es aus seinem Mund genommen und mir geschenkt."
"Sowas habt ihr gemacht? Na, dann mögt ihr euch aber sehr."
"Ja, das Gummibärchen war ganz glitschig."
"Wenn er sich nun genauso freut, wenn du spürst, dass er dich auch so gerne hat, dann seit ihr Freunde."
"Er mag mich, heute haben wir in der Hecke Hochzeit gespielt."
"Wirklich? Und ganz besonders dicke Freunde seid ihr, wenn ihr zusammen ein Abenteuer besteht."
In diesem Moment ruft Maries Papa:
"Marie, komm, es ist Zeit zum Schlafengehen, sag dem Opa Gute Nacht."
Marie gibt ihrem Opa ein feuchtes Küsschen auf die Backe:
"Opa, du kratzt ja! Weißt du was, ich glaube, du bist mein bester Freund."
Opa lächelt verschmitzt und zwinkert Marie zu.
"Jetzt aber schnell ins Bett! Schlaf gut, meine Süße."
Das Ei nickt mit dem Kopf:
"Recht hast du, lieber Toast. Es wird Zeit, dass hier aufgeräumt wird."
In der Tat sieht der Frühstückstisch bei den Wagners verheerend aus. Überall Eierschalen, Toastkrümel und Käserinden. Der wilde Jakob hatte im Überschwang die halbgefüllte Kaffeetasse seines Paps umgenietet und ist gerade dabei, seiner Schwester den Vogel zu zeigen.
"Geht’s euch noch gut?" erhebt der Stich Butter an Mamas Messer seine Stimme.
Das Tischtuch kräuselt sich und beginnt sich dem Frühstücksdrama zu entziehen.
"Halt, halt", schreit der Eierlöffel aus Porzellan, "gleich landen wir alle auf den harten Fliesen."
Ein Serviettenring ergreift die Initiative und kneift das Tischtuch in die Falte.
"Aua“, schreit es, "bist du noch bei Trost?"
Einstweilen werden Kaffee und Kakao kalt, weil die Menschen am Tisch mit Händen und Füßen gestikulieren und die Worte ihnen zusammen mit ein paar Krümeln aus dem Mund fallen.
Sie landen wie kleine Bomben im Zucker und werden sogleich versüßt.
Nun haben Marmelade und Honig ihren großen Auftritt, denn Jakob und sein Papa konzentrieren sich wieder - ruhig geworden - aufs Essen. Abwechselnd häufen sie beides mit Quark auf die Milchbrötchen.
"Iss mich!", ruft der Käse. Frau Wagner nimmt ein helles Brötchen und eine Scheibe Schwarzbrot aus dem Korb, halbiert das Brötchen, schmiert langsam Butter in sein weißes Fleisch - es fühlt sich gut eingecremt und grunzt leise vor Wohlbehagen - belegt es mit einer halben Scheibe Käse - es ist der alte Gouda - schmiert Feigensenf auf den Käse und legte das Schwarzbrot oben auf. Nun ist das Brötchen geplättet und quietscht zwischen den Zähnen von Frau Wagner, die diese schwarzweiße Köstlichkeit mit der rechten Hand genießerisch an die Lippen führt und hinein beisst.
Vom Geschmack überwältigt schließt sie ihre Augen um die Harmonie der Zutaten völlig auszukosten.
Für einen Augenblick schweigt alles still, ja die Menschen am Tisch verharren in ihrer begonnen Bewegung. Alle Gegenstände und Lebensmittel halten den Atem an.
Sonntäglicher Frieden liegt über dem Geschehen.
Mary sitzt auf dem alten Ikea-Kinderhocker - blau und längst ausrangiert - und erinnert sich an die Zeit, als er unentbehrlich war.
Eine endlose Kette von Überforderung, Nichterfülltsein und Suche, nach dem, was zufrieden stellen könnte, nach dem, was ihr die geistige Nahrung gibt, die sie braucht. Und warum, weil sie erst spät lernte, sich selbst zu leben. Stattdessen, nach dem Studium, passte sie sich an, wollte normal sein, so wie die anderen, ein ganz normales Frauenleben, so wie Generationen vor ihr es gelebt haben - anerkannt und nicht ausgegrenzt, glücklich mit Kind und Kegel.
Natürlich war sie das auch, glücklich, aber eben nicht immer. Und manchmal war der Hunger nach anderen Erwachsenen, mit denen man sich über andere Dinge als Babywindeln, Vollwerkost und die neueste Diät unterhalten konnte, geradezu übermächtig. Dann griff sie zur Zigarette oder stopfte eine Tafel Schokolade in sich hinein.
Danach kam das schlechte Gewissen, die Zweifel: "Bin ich eine gute Mutter? Tue ich genug für meine Kinder? Ich sollte nicht soviel an mich selbst denken."
Herrlich, die Kinder aufwachsen und sich entwickeln zu sehen. Schön, als es ihnen gelang, auf den Hocker zu klettern, um sich selbständig die Zähne zu putzen. Wunderbar, als sie groß genug waren, Hocker und elterliche Kontrolle zum Zähneputzen nicht mehr zu brauchen.
Geschichten durfte sie immer noch vorlesen, als die Kinder längst lesen konnten. Gern erinnert sie sich an die gemeinsamen Kuschelstunden am Abend vor dem Schlafengehen.
Ist sie inzwischen bei sich angekommen? Ja, zumindest ist sie näher dran, als je zuvor.
Wer bin ich, fragt sie sich? Eine elastische Tänzerin, gefangen in einer Fülle aus Haut. Sie spürt sie noch, die frühlingshafte Schlange, die hinaus will, um mit dem Regenbogen zu tanzen, sieht sie vor sich, fühlt wie es sich spürt in ihrer neuen Haut.
Neugeboren mit jungen Wachstumsringen, aber endlich wieder sie selbst.
Und dieser Hocker aus Plastik, der vor dem Waschbecken stand, warum nur hat sie ihn noch nicht zum Altmüll gebracht?
Immer wenn sie ihn sieht, erinnert sie sich an den nagenden Hunger, den Lebensmittel und Zigaretten nicht stillen konnten - damals.
Ist sie eine Masochistin, die mit Vorliebe tief in den Schmerz hinein geht, ihn aber nicht überwinden will?
Aber, erkennt Mary in diesem Augenblick, es hängt mehr als Erinnerung daran, am blauen Hocker, auch die Warnung, aufzupassen, um nicht wieder in alte Muster zurückzufallen.
Manche Dinge, auch leidvolle, muss man aufbewahren, um sich zu erinnern, woher man aufgebrochen ist und wo Frau jetzt steht. Diese Dinge müssen berührbar bleiben.
Das Mädchen ist in sich zusammengesackt, wie ein leerer Kartoffelsack. Die Schultern hängen nach unten. Die Arme baumeln ohne Kraft am Körper. Das energische Kinn ist auf die Brust gesunken, während die Lippen einen Schmollmund formen. Über der gerümpften Nase kraust sich die Stirn:
"Immer ich." denkt Liese und fühlt den Wutzwerg in sich wach werden. Aber das will sie nicht: "Ich darf jetzt nicht wütend werden." denkt sie, kämpft mit den Tränen und schluckt hörbar, so als säße da im Hals ein dicker grüner Frosch, der ihr die Kehle zuschnürt.
Liese weiß gerade nicht, was sie nun tun soll. Deshalb bleibt sie starr und wie eingefroren stehen und wartet erst einmal ab.
Am liebsten würde sie schreien oder weinen und der Mutter trotzen, aber dann, das weiß Liese, wird die Mutter böse werden und sie in ihr Zimmer schicken. Jetzt nicht.
Auf dem Küchentisch wartet der Schokoladenkuchen. Von dem möchte das Kind gerne essen.
Liese wägt ab: "Wenn ich den Tisch decke, darf ich gleich Kuchen essen, wenn ich mich weigere, gibt es keinen Kuchen."
"Liese!", sagt die Mutter sanft und hebt das Kinn des Kindes an, um ihm ins Gesicht zu schauen.
"Liese, nun mach doch nicht so ein Gesicht. Weißt du was, du deckst jetzt den Tisch und Marius muss ihn später abdecken. O.K?"
Das Kind nickt, schmollt noch ein bisschen, hebt den Kopf und fängt sich wieder. Langsam geht sie zum Tisch.
Marius steht in der Kinderzimmertür und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er sieht, wie Liese langsam zum Tisch geht und Unverständliches vor sich hin grummelt. Mutter ist in der Küche verschwunden, um sich mit der neuen Senseo-Maschine einen doppelten Kaffee aufzubrühen. Sie ist gerade vorhin erst aus der Stadt zurück gekommen und wirkt müde.
"Ich will Kakao!", ruft Marius seiner Mutter zu.
"Komm her, du kannst das schon selbst." antwortet die Mutter. Marius hat keine Lust und beginnt zu quengeln:
"Bitte, Mama, mach mir einen heißen Kakao, ich muss noch meinen Ranzen auspacken. Da sind Zettel drin, die du unterschreiben musst."
"Na gut, du kleine Nervensäge, ich mach dir einen Kakao."
Sie stöhnt, holt Milch aus dem Kühlschrank und Kakaopulver aus dem Schrank.
"Liese, möchtest du auch Kakao?"
"Nein, Mama, lieber eine Apfelschorle", antwortet Liese.
"Nun gut“, denkt die Mutter, "gleich ist Ruhe, dann kann ich die Füße eine Weile hochlegen und in Ruhe die Zeitung lesen."
Eva ist sehr müde. Am Morgen ist sie früh aufgestanden, hat die Kinder geweckt, das Frühstück bereitet und die Küche aufgeräumt.
Alles unter Zeitdruck, denn heute war ein wichtiger Termin im Büro. Da durfte sie nicht unpünktlich sein.
Es war anstrengend. Die neue Chefin hatte sich vorgestellt und gleich klar gemacht, dass ab heute in der Firma ein neuer Wind weht.
Danach noch schnell zum Supermarkt. Es blieb wenig Zeit, denn es war Freitag und freitags kommen die Kinder früh aus der Schule.
Eigentlich würde sie sich jetzt viel lieber aufs Sofa legen um ein Nickerchen zu machen. Zum Glück ist Wochenende.
Entschlossen und gegen die Müdigkeit ankämpfend, nimmt sie ein Tablett, stellt Glas, Tasse und Becher samt Inhalt darauf und eilt ins Wohnzimmer.
Die Kinder haben Hunger.
Unterwegs stolpert sie über Marius Turnbeutel. Becher, Glas und Tasse vergießen ihren Inhalt über den Teppichboden im Flur.
Wau Te Wu denkt nicht, denn er ist ein schwarz-weißer Terrier, der schon in die Jahre gekommen ist. Jetzt liegt er unter den Tisch und schnorchelt. Im Traum scheint er mit einem Rebhuhn zu kämpfen. Unter den Lidern rollen die Augen und die Pfoten zucken.
Ein Schrei weckt ihn aus seinen Jagdfieberträumen. Er springt auf die Pfoten und kläfft hell und spitz.
Im Flur herrscht Chaos. Die Mutter flucht und zetert, Marius schreit und Liese beginnt die Scherben aufzusammeln.
Vom Tisch duftet es verführerisch. Wau Te Wu, den Schokolade nicht ungerührt lässt, nutzt seine Chance. Was ist schon ein Knochen gegen diesen Leckerbissen?
Mama hat die kleine Ana schon längst ins Bett geschickt, sie zugedeckt und ihr einen Gutenachtkuss gegeben. Für die abendliche Gutenachtgeschichte hat Mama heute keine Zeit. Bis zur Nasenspitze reicht Ana das dicke Federbett, denn im Haus ist es kalt – eine Heizung gibt es nicht. Ana ist noch gar nicht müde, und sie will auch nicht schlafen. Unten geht die alte Haustür auf und zu. Sie knarzt so unheimlich im Rahmen. Wenn Ana dieses Geräusch hört, bekommt sie eine Gänsehaut, und ihr wird herrlich gruselig. Es ist Winter und sie weiß, die Erwachsenen treffen sich heute im Salon, um Geschichten aus dem Dorf zu erzählen, Radio zu hören und Karten zu spielen. Das Lachen schallt bis zu ihr hoch, denn die hölzernen Bodendielen sind schlecht isoliert. Der Salon liegt genau unter dem Kinderzimmer. Es duftet nach Bratkartoffeln mit Speck – Anas Leibgericht. Genussvoll kräuselt sie die Nase. Das Wasser läuft ihr im Mund zusammen. Wie gern hätte sie jetzt von den ausgelassen Grieben genascht.
„Gemein, immer bekommen die Erwachsenen am Abend so leckere Sachen zu essen“, denkt Ana bei sich. „und ich muss mich mit Hafergrütze und Honigmilch begnügen.“
Dabei mag sie gar nicht gerne Süßes. Vielleicht hat Oma ihr ja ein paar Grieben verwahrt. Das tut sie manchmal, denn sie kennt Ana gut.
Plötzlich hat das Kind eine Idee: Es krabbelt aus dem Bett, geht zur Tür und öffnet sie ganz leise. Im Flur ist es dunkel. Wo ist der Lichtschalter? Den darf sie nicht anmachen, fällt dem Mädchen noch rechtzeitig ein, denn sonst wird sie ertappt. Auf nackten Sohlen schleicht sie mucksmäuschenstill über den kalten Fußboden zur Treppe – ein bisschen Angst hat sie schon. Das Herz klopft und sie friert in ihrem langen Batistnachthemd. Sie huscht die Treppe hinunter und schleicht sich in die Küche – keiner da – auf dem alten Kohleofen steht noch die gusseiserne Pfanne. Ein paar Bratkartoffelstückchen sind noch darin und Grieben. Ana ist entzückt. Schnell nascht sie direkt aus der Pfanne und verbrennt sich die Finger. Sie registriert den Schmerz, lässt sich aber nicht davon beeinflussen. Ihr ist, als tanzen tausend Fischchen im Bauch, so aufgeregt und unruhig ist sie. Wenn sie nur ja keiner erwischt. Mama kann sehr böse werden. Die Tür zum Wohnzimmer ist nur angelehnt. Ana horcht und schaut hinein – auch hier ist niemand. Also geht sie über die Schwelle, durchstreift den langen schmalen Raum mit dem großen Esstisch – wieder eine Tür. Von dort hört sie Stimmen und Gelächter, aber die Tür zum Salon ist zu. Was soll sie tun? Sie legt das Ohr an die Tür und lauscht auf die Stimmen: Tante Erika ist da, Mama und Lieschen, die junge Frau von nebenan, die morgens immer eine Kanne frisch gemolkene Milch abholt. Zwei Stimmen kommen ihr unbekannt vor und sie sprechen so komisch. Tante Lotta vom Bäcker ist an ihrer dunklen Stimme zu erkennen und an dem lauten, wiehernden Lachen. Ana ist noch klein, gerade mal vier Jahre alt, aber ab und zu darf sie morgens mit der Brotkarte zum Bäcker gehen. Dort steht Tante Lotta hinter der Ladentheke und trägt wie immer einen bunten Kittel. Ana liebt es, das frischgebackene Brot in den Händen zu halten, es duftet so himmlisch. Wie einen Schatz trägt sie es nach Hause. Auf dem Heimweg muss sie etwas von der Kruste naschen.
Von der Küche her hört Ana jetzt schnelle Schritte. Sie erschrickt, was soll sie tun? In diesem Augenblick schlägt die alte Standuhr neun mal. Geistesgegenwärtig schlüpft die kleine Gestalt schnell in den Uhrenkasten.
Ana wird wach, reibt sich die Augen. Durch das verhängte Fenster fällt blasses Winterlicht. Unter dem dicken Federbett ist es mollig warm. Die Tante, mit der sie sich das große Bett teilt, ist schon aufgestanden, ihr Platz kühl. Ana hatte fest geschlafen und nichts davon mitbekommen. Sie steckt die Nasenspitze unter der Bettdecke hervor. Die Luft ist kalt. In dem alten Haus, indem sie lebt, werden nur die Küche und das Wohnzimmer geheizt. Ana dreht den Kopf ein wenig und kann die Eisblumen am Fenster betrachten, zart, bizarr und wunderschön. Ihr Atem hinterlässt eine Rauchfahne in der Luft. Mit Schrecken denkt sie daran, wie eisig es sein wird, wenn sie gleich aufsteht, und dreht sich noch einmal um.
Etwas war anders im Haus
„Papa“, denkt sie, „ist Papa noch da?“
Von draußen drängt das Geräusch der auf der holperigen Landstraße vorbeifahrenden Lastwagen an ihr Ohr. Sie kommen schwer beladen vom Steinbruch, das weiß sie. Der Milchwagen von der Molkerei hält vor dem Haus. Autotüren werden geöffnet und laute Männerstimmen mischen sich mit dem Geklapper der Milchkannen.
Eine Frau ruft: „Guten Morgen!“
Einer der Männer antwortet „Morgen auch, was ist das wieder für ein Wetter. In diesem Jahr geht der Winter gar nicht vorbei.“
„Ja, da sagt ihr was“, sagt die Frau „Musste wieder tüchtig Schnee schippen. Es ist halt, wie es ist.“
Türen schlagen zu, der Molkereiwagen fährt weiter zum nächsten Bauernhaus.
Ana hat es jetzt eilig. Schnell springt sie aus dem Bett, zieht das Nachthemd über den Kopf, zittert in der Kälte. Schnell die zurechtgelegten Kleidungsstücke anziehen. Auf der schweren Holzkomode mit dem Marmordeckel steht die Waschschüssel und eine Kanne mit Wasser. Kurze Katzenwäschen und schon ist sie durch die Tür und poltert die Holztreppe hinunter.
Sie eilt durch den Flur und reißt die Tür zur Küche auf. Der Rest der Familie sitzt schon beim Frühstück am langen Holztisch. Ana huscht an ihren Platz auf der Holzbank, die eine ganze Seite der großen Küche einnimmt. Niemand scheint Notiz von ihr zu nehmen, keiner sagt: "Guten Morgen", aber das war immer schon so; Kinder soll man sehen, aber nicht hören. Sie sitzt neben ihrer Patentante, die ihr nun schweigend eine kleine Schüssel mit Haferflocken und Kakaopulver reicht und gießt dem Mädchen warme Milch in die Blechtasse. Auf dem anderen Seite schräg gegenüber sitzt der zweieinhalbjährige Micha, ihr kleiner Bruder, angeschirrt auf seinem Hochstuhl und schaut sie mit seinen großen braunen Augen an. Im Laufstall plärrt Moni, ihre kleine gut ein Jahr alte Schwester. Sie ist ein richtiger Wonneproppen und sehr charmant. Ana mag sie nicht, denn immer kümmern sich die Erwachsenen nur um sie. Alles was Moni tut wird kommentiert. Über jeden Blödsinn, den das Kleinkind anstellt, lachen die Großen. Zu ihr ist selten jemand so freundlich.
Ana schaut sich um, da fehlt doch jemand. Die Tür geht auf und die beiden Onkel nehmen verschwitzt und schweigsam am Frühstückstisch Platz. Sie kommen vom Melken aus dem Stall, gießen sich frischaufgebrühten Kaffe in ihre Tassen und angeln hungrig nach dem frischen Bauernbrot, greifen nach Butter und hausgemachter Leberwurst.
Zwei Tanten, die Mutter und die Großmutter tauschen Neuigkeiten aus und planen den Tag.
„Iss doch, Kind!“ flüstert die Mutter “Trödel nicht so herum, wir haben heute noch anderes zu tun, als auf dich zu warten.“
Ana ist verwirrt, fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. „Papa, wo ist Papa?“ Er fehlt, niemand spricht darüber und sie hat schon vor langer Zeit aufgegeben, danach zu fragen. Es ist zwecklos, niemand sagt ihr, warum. Gestern war Papa noch da.
Das Mädchen Ana ist gerade fünf Jahre alt geworden. Am frühen Morgen erwacht es von einem ungewöhnlichen Geräusch, springt aus dem Bett und läuft im Nachthemd und mit bloßen Füßen durch das kalte, jetzt wieder stille Haus , um nachzusehen, was geschehen ist. Es ist noch dunkel, niemand ist auf, und keiner hört das Kind. Von der nahe gelegenen Kirchenuhr schlägt es fünf mal. Draußen beginnt der Hofhund zu bellen. Andere Hunde aus der Nachbarschaft antworteten ihm. Fast wirkt es so, als würden sie sich eine geheime, verschlüsselte und für andere Wesen nicht verständliche Botschaft übermitteln.
Die langen dunklen Haare des Mädchens, die immer so fürchterlich ziepten, wenn Mama sie kämmt, stehen wirr und verknotet vom Kopf ab. Der kleine rundliche Körper des Kindes riecht nach Bettwärme und Milch. Seine großen dunklen Augen sind schon ganz wach, während die Bewegungen noch schlaftrunken und ein wenig tapsig wirken. Ein Hunger liegt in ihnen. Wonach, kann das Kind nicht sagen. Leise schleicht es sich in die Küche an das Buffet mit den vielen Schütten aus Metall. Es weiß genau, in welcher der weiße Zucker zu finden ist. Zum Glück steht der Hocker vor dem Schrank. Das Mädchen klettert hinauf, zieht die Schütte auf, leckte den Finger ab und steckte ihn in das süße Geriesel - immer wieder und wieder. Der Mund war schon ganz klebrig. Das Kind fühlt sich satt und zufrieden. Ganz in eine eigene Welt versunken und ohne schlechtes Gewissen scheint es bei seinem Tun, obwohl es genau weiß, dass es etwas Verbotenes tut.
Ana besteht nur noch aus Lippen, Zunge, Mund und Gaumen - die Zeit bleibt stehen. Ihm ist weder kalt, noch hat es Angst. Das Haus ist ihm vertraut, aber trotzdem zuckt es zusammen, als die Kirchenuhr erneut schlägt. Schnell schiebt es die Schütte zurück, springt vom Hocker und eilt leise die Treppen hinauf, öffnet die Kinderzimmertür und huschte müde und satt zurück unter das dicke Federbett, denn bald, das weiß es, werden die Erwachsenen aufstehen, um das Frühstück zu richten und im Stall die Kühe zu melken. In diesem Augenblick kräht der Hahn.
Brigitte wundert sich über diesen sonderbaren Tag. Liegt es wohl am Schnee - der sich mit den weißen verdichteten Wolken und jenem frischen Eisgeruch angekündigt hat, aber noch immer nicht gefallen ist - der über ihre Gedanken einen Eiszauber legt?
Fast glaubt sie schon, es sei logische Konsequenz irdischer Entwicklungen, dass die Jahreszeiten nicht halten, was sie gegen alle Erwartungen immer noch versprechen. Im nicht vorhandenen Schneegestöber vergangener Kindertage lässt sich nicht rodeln. Im letzten Jahr modelte sie mit Jens und Kai einen winzig kleinen Schneemann. Hätten die Jungs nicht darauf bestanden, ihn im Tiefkühlschrank einzufrieren, er hätte seine erste Lebensstunde nicht überlebt.
Brigitte fragt sich oft, wie sie ihren Enkeln erklären soll, was Eisblumen sind, und wie es sich anfühlt, wenn man in winterkalten Räumen mit der Wärmflasche unter den dicken Federbetten versinkt und von der Schneekönigin träumt. Und wie schwer es ist, am Morgen aus dem Bett zu springen, wenn das Wasser in der Waschschüssel auf der Kommode gefroren ist. Und wenn man es dann tut, wie es prickelt, eine Gänsehaut verursacht und wach macht. Wie ungemein lebendig man sich selbst und seinen Körper wahrnimmt in dieser Kälte.
Grau und kalt, die Landschaft heute büßt dennoch - wintergemäß - ihre Farben ein. Das unschuldige Weiß aber versagt sich der Stadt. Brigitte sehnt sich nach dieser weißen Watteverpackung, die alle kreischenden Geräusche verschluckt und die Welt klein macht - die alles eindeckt und Ecken und Kanten begradigt, alles rundet, und wenn viel Schnee fällt wird sie wie immer neu fasziniert am Fenster stehen, um die allmählichen Verwandlung der Landschaft zu betrachten.
Am nächsten Morgen, bevor der städtische Verkehr boomt - wird alles glatt sein und auf der eisglänzenden Decke wird man nur die fein ziselierten Spuren der Vögel sehen.
Brigitte denkt bei sich:
"Kein Wunder, dass der Schnee ausbleibt. Die Kinder kennen keine Märchen mehr und die Erwachsenen langweilen sich bei der Vorstellung, wie die Schneekönigin im weißen Pelzmantel eine Kutsche mit sieben Schimmeln auf den Flügeln des Nordwindes in die Nacht hinein lenkt und dabei unzählige kristallklare Glöckchen läuten.
Auch Frau Holle ist arbeitslos geworden, denn keine Marie lässt mehr die Spindel in den Brunnen fallen.
Was man sich aber nicht mehr vorstellen kann, entschwindet aus den Gedanken und nichts verbindet Ereignisse mit Gefühlen, wenn niemand mehr die alten Geschichten erzählt."
Nichts ist so, wie sie es sich einst erträumt hat, und doch ist es mehr, als sie erwartet hat. Sie kennt den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit.
"Weißt du", sagt sie zu Milkyway, der grauen Tigerkatze,
"dazwischen ist mehr als viel - alles!" Und sie lächelt und strahlt.
Sie streichelt die Katze und sät ein Samenkorn in den roten Blumentopf. Während sie aus dem Fenster schaut, schwebt ein gelbes Blatt vom Apfelbaum.
"Dazwischen ist alles - die Fülle. Traum und Wirklichkeit", das weiß sie schon lange,
"gehören zusammen, wie Tag und Nacht."
Die Katze schnurrt laut und streicht um ihre Beine. Ihr ist warm ums Herz. Sie freut sich über diesen kostbaren Augenblick der Stille.
Die Küche ist ihr liebster Ort. Oft in ihren Mußestunden sitzt sie allein am großen Holztisch, das Schreibzeug vor sich, und hört Radio. Gerade spricht eine Frauenstimme des lokalen Senders über die Zunahme von Gewalt an den städtischen Schulen. Vor dem Fenster wächst der Apfelbaum. Damals, vor fünfzehn Jahren, als das Haus gerade gebaut war und es zum ersten Mal Frühling wurde, hatten sie ihn gepflanzt.
Das ist nun schon eine Weile her. Jetzt ist Herbst. Die letzten Früchte des Sommers sind geerntet. Irma schaut gern in das lichte Laub und sieht in diesem Augenblick gerade noch, dass Milkyway in den Baum geklettert ist. Ein paar Kohlmeisen fliegen hoch. Es knackt in den Zweigen, und plötzlich - sie muss lauthals lachen - purzelt ihr alternder Liebling vom Baum. Noch im Fallen - ein Bruchteil von Sekunden - dreht er sich so, dass er unbeschadet auf seinen Pfoten landet.
Sie geht zur Haustür, entriegelt sie und betritt den Vorgarten, der im Mittagslicht flirrt. Wie das Laub unter ihren Füßen raschelt und dazu dieser herbe Geruch, der sie melancholisch stimmt und an die Vergänglichkeit aller Dinge erinnert. Sie bückt sich, um die Katze zu streicheln. Aber Milkyway rennt an ihr vorbei und flüchtet ins Haus.
Ein paar Minuten später sitzt sie mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch und genießt die Stille der Mittagsstunde. Im Radio spielen sie gerade:
"No milk Today."
Wie einfach das Leben sein kann, denkt sie.
Der Vormittag ist fortgeschritten, und im Haus ist es ungewöhnlich leise fast zu leise, denkt Irma bei sich und betrachtet den Kater Milkyway, der sich in seinem Körbchen zum Schlafen eingerollt hat.
Du Stromer, sagt sie liebevoll, bist die ganze Nacht unterwegs gewesen. Hast wohl wieder mit deinen Katzendamen herum geschnurrt.
Keine Reaktion, der Kater schläft.
"Ja, ja, ich denke ja, du bist langsam etwas alt für diese Spielchen."
Am Morgen sind ihr Mann und die Kinder in einen Kurzurlaub an die Nordsee aufgebrochen. Die Herbstferien haben in diesem Jahr früh begonnen.
Es kostete im Vorfeld viele Diskussionen mit ihrem Partner, bevor sie ihn davon überzeugen konnte, diesmal mit den Kindern allein in Urlaub zu fahren.
"Ich brauche Zeit für mich", hatte sie argumentiert "und jemand muss ja eh auf Haus und Tiere aufpassen und die Pflanzen versorgen."
Schließlich hatte er nachgegeben und eingewilligt.
Jetzt geht sie durch die Räume des kleinen Einfamilienhauses: Wo sonst ein ewiges Kommen und Gehen herrscht, das Telefon klingelt oder Gesprächsfetzen, kleine Streitereien der Kinder und Musik an ihr Ohr klingen, Schweigen. Nur die Gläser klirren, denn sie hat vor einigen Minuten die Spülmaschine angestellt. Die Kaffeemaschine arbeitet und die Küche duftet belebend nach dem schwarzen Nass.
Dennoch spürt sie jetzt, wie eine unliebsame Traurigkeit in ihr aufsteigt.
Was wird sie anfangen mit der freien Zeit? Ganz bewusst hat sie darauf verzichtet, im Voraus Pläne zu machen oder sich zu verabreden.
"Ich muss überlegen, den Kopf frei bekommen und mich entspannen.", schimpft sie schließlich mit sich selbst und gießt sich eine große Tasse Kaffee ein, gibt Milch hinzu und süßt das ganze mit einem Hauch von Zucker.
Plötzlich fällt ihr der Brief ein, den sie vor ein paar Wochen bekommen hat. In einem ruhigen Augenblick hat sie ihn herzklopfend geöffnet und anschließend erst einmal in die hinterste Ecke einer Schublade verbannt.
Sie hatte Mark lange nicht gesehen. Eine Zeitlang waren sie unzertrennliche Freunde, ja Gefährten und Kameraden gewesen. Sie waren sehr jung damals, fast noch Kinder.
In einer Sonntagnachmittag-Diskothek der benachbarten Kirchengemeinde waren sie sich über den Weg gelaufen.
Irma sah ihn auf der Tanzfläche, konnte die Augen nicht von ihm lassen, traute sich aber nicht, ihn anzusprechen. Eine Freundin war ihren Blicken gefolgt, zu ihm hingegangen und hatte gefragt: "Willst du nicht mal mit meiner Freundin tanzen? Sie findet dich süß, ist aber sehr schüchtern."
Wie peinlich ihr das gewesen war. Wie die Röte in ihr Gesicht geschossen war, daran erinnerte sie sich noch gut. Aber er kam auf sie zu, am liebsten wäre sie auf Nimmerwiedersehen im Boden versunken. Er kam an ihren Tisch, fragte, ob sie mit ihm tanzen würde. Sie nickte mit dem Kopf und folgte ihm ohne Worte. Sie tanzten miteinander und lagen sich schnell, wie selbstverständlich in den Armen. Nichts Ungewöhnliches für die Engtanz-Feten mit Schmusemusik damals zu Beginn der Siebziger Jahre.
Den größten Teil ihrer Freizeit verbrachten sie miteinander. Beide besuchten noch die Schule.
Immer trug Mark karierte Hemden und superenge Jeans. Um sie so eng wie möglich zu bekommen, legte er sich angekleidet in die heiße Badewanne, damit die Hose einlaufen konnte. Anschließend pellte er sich heraus, als sei er eine heiße Kartoffel.
Schon damals war Mark etwas verrückt, bezeichnete sich als Künstler, spielte in einer Band, malte ungewöhnliche Skizzen und fotografierte aus unbekannten Blickwinkeln heraus.
Irma und Mark stammten beide aus konservativen katholischen Elternhäusern, doch im Gegensatz zu ihr selbst, entwickelte er sich zum Rebellen der Familie, der mit dem Feuer spielte, alles ausprobierte und sich früh über seine Eltern hinweg setzte. Das fand sie gut. Es berührte wohl eine in ihr vorhandenen Seite, die sie sich nicht traute zu zeigen.
Einmal im Oktober schwänzten sie die Schule und trafen sich im Rheinpark. Es war ein regnerischer Tag. Geld besaßen sie beide nicht, ein Pavillon aus beschmiertem und bekritzelten Plastik wurde ihnen zur Rosenlaube jenseits des Himalaja. Während Mark wie immer viel erzählte und Irma eher schwieg, flogen sie miteinander auf den Flügeln der Fantasie wohin sie wollten. Die Welt gehörte ihnen. Es gab wenig über das sie nicht miteinander sprechen konnten, außer über ihre Familien und das, was in der Zukunft sein könnte.
Die Zeit verging wie nichts.
Was sie an ihm so gern gehabt hatte, war die Geborgenheit, die sie in seiner Gegenwart verspürte und dieses koboldhafte Lächeln in seinen dunkelblauen Augen, das zu sagen schien:
"Die Welt ist ein Witz und wir darin die Pointe. Man darf sich selbst nicht zu ernst nehmen."
Gern verirrten sich ihre Finger in seinen langen dunklen Locken, die ihm in den Nacken fielen. Er roch so gut frisch, nach Seife und nach etwas noch Unbekanntem. Sie waren unerfahren und übten sich im Berühren: Wie Geschwister hielten sie sich bei den Händen. Umarmungen gerieten leicht unbeholfen. Alles war Neuland und noch nicht erforscht. Wie Abenteurer und Entdecker auf der Suche nach Gold kamen sie sich vor, loteten aus, suchten Grenzen seine, ihre - tasteten sich vor, während Lippen sich in ersten Küssen übereinander stülpten und wärmten. Diese feuchten Küsse, daran erinnerte sich Irma noch, schmeckten nach reifen Beeren und nach mehr.
Es war, sie erinnerte sich, immer soviel unverkrampfte Wärme und komplizenhafte Fröhlichkeit zwischen ihnen gewesen. Sie waren sechzehn und schon ein Jahr zusammen, als er sie zärtlich in die Arme nahm und mitten auf einer Fete zu ihr sagte: "Du, wir können nicht ewig zusammen bleiben.", und die knospende Beziehung von jetzt auf gleich ohne Vorwarnung beendete.
Irma blieben die Worte im Hals stecken. Sie sagte "Es ist o.k." und weinte zu Hause heimlich in ihre Kissen.
Aber sie blieben Freunde, trafen sich ab und zu, redeten über Gott und die Welt, diskutierten, spöttelten und witzelten über alles, was um sie herum war, unternahmen etwas zusammen. In diesen Jahren wuchs Irma über ihre Sprachlosigkeit hinaus. Mit jedem Wort, das sie sprach und mit jedem Satz, der sich aus ihr löste, nabelte sie sich ein bisschen mehr von zu Hause - den Eltern und Geschwistern - ab, bis sie sich fremd vorkam dort und auf eigenen Füßen stehen konnte.
Wann hatte sie Mark aus den Augen verloren?
Es muss nach dem Abitur gewesen sein, als sie in unterschiedlichen Städten studierten.
Und jetzt nach über dreißig Jahren sein Brief. Nur ein einziger Satz stand darin:
"Bin wieder in Köln würde dich gerne mal treffen ruf mich bitte an!"
Die Telefonnummer stand in großen Zahlen unter seinem Namen.
Der Wecker schrillt und wirft Irma aus den nächtlichen Träumen, die doch gerade so spannend gewesen waren. Der Platz neben ihr ist leer. Ihr Mann ist schon seit zwei Stunden unterwegs - Frühschicht, und die beginnt um sechs!
Sie springt aus dem Bett, denn sie muss sich sputen und ärgert sich im gleichen Augenblick, dass der Sprung aus den Federn die Erinnerung an die Trauminhalte löscht. Genauso, als würde der Schieber über die Zaubertafel gleiten und blitzschnell alle dort vorhandenen Spuren auslöschen. Sie ärgert sich über sich selbst und hetzt ins Bad. Warum hat sie am Abend vorher nicht den Wecker auf eine frühere Zeit eingestellt?
Wie sie es doch hasst, sich so zu hetzen.
"Warum nur bin ich nicht ein bisschen disziplinierter?", fragt sie sich.
Überhaupt, was macht sie im Bad, sie sollte doch zuerst hinunter laufen und den Kaffee aufsetzen, nein - quatsch - zuerst nach oben, um das Kind zu wecken. Unten verlässt jemand das Haus. Es wird die große Tochter sein.
Irma steht für einen Augenblick wie erstarrt im Badezimmer vor dem Spiegel und weiß nicht, was sie zuerst tun soll. Der Tag beginnt verquer.
"Hätte Marie nicht einmal schon den Kaffee aufsetzen können, bevor sie geht?",
fragt sie sich und ist zerrissen in ihrer Wut, die sie eigentlich nicht will und die so unsinnig ist. Am liebsten würde sie ein bisschen weinen oder schmollen. Wie schön es doch wäre, wenn jemand sie jetzt in den Arm nehmen und ihr sagen würde:
"Ach komm, es ist alles nicht so schlimm, du bist einfach mit dem verkehrten Fuß aus dem Bett aufgestanden. Leg dich noch ein bisschen hin, ich kümmere mich um alles. Brauchst dir keine Sorgen machen."
"Ich muss versuchen meine Gedanken zu ordnen", und sie beschließt, erst einmal den Kaffee aufzusetzen und dann, während die Kaffeemaschine schon faucht und ein belebendes Aroma verströmt, die zwei Treppen hinauf zu eilen, um das Kind zu wecken.
Im Spiegel erscheint ihr Gesicht ganz rot. Die Augen tun sich schwer mit dem Licht und wollen sich wieder schließen.
"Jetzt aber!", sagt die Frau und geht nach unten, auf der letzten Stufe stolpert sie über das nicht eingerollte Staubsaugerkabel und flucht.
"Verdammte Sch.....immer diese Unordnung! Ist es denn wirklich zuviel verlangt, den Augenblick auszuhalten, den es dauert, bis das Kabel sich eingezogen hat?"
Und schon ist der Zorn wieder da, der doch gerade eben noch begonnen hatte, sich zu besänftigen.
Irma reibt sich den Knöchel. Es tut weh, aber sie kann noch gehen. So überquert sie den Flur, als wäre er eine endlose Wüste und landet in ihrer Küche, die ihr erscheint, als sei sie ein nach langer Reise erreichter Hafen, eilt zur Kaffeemaschine, öffnet den Oberschrank, nimmt eine Filtertüte heraus, stellt ihn in den Filter; greift nach der schwarzen Kaffeedose mit den chinesischen Motiven. Der Deckel ist widerspenstig. Vielleicht hat sie ihn gestern schief aufgedreht. Aber sie weiß sich zu behelfen: Mit einem Löffelstiel hebt sie den Deckel an. Nun lässt er sich problemlos herunter schrauben. Sie mag die Kaffeedose. Seit mindestens fünfunddreißig Jahren ist sie in ihrem Besitz. Sie erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sie mit ihrem Mann vor dem Kramladen in der Mainzer Straße stand, um einige fehlende Haushaltsgegenstände zu kaufen, denn sie hatten gerade die erste gemeinsame Wohnung bezogen und ihre Liebe war noch frühlingsjung.
Es waren wilde Zeiten mit wenig Geld. Die Sorgen hielten sich in Grenzen. Jeder Tag war ein Geschenk.
"Ob es diesen Laden wohl noch gibt?", fragt sich Irma und gibt das Kaffeepulver in die Filtertüte, holt Wasser und schüttet es in den dafür vorgesehenen Behälter. Jetzt nur noch den Schalter bedienen.
Etwas maunzt! Milkyway streicht hungrig um ihre Beine.
Irma streichelt besänftigt die Katze, öffnet den Kühlschrank und greift nach der Dose Katzenfutter, gibt mit einem Löffel ein gutes Quantum Nahrung in den roten Plastiknapf. Ausgehungert macht Milkyway sich darüber her.
Über das alltägliche Tun mit den abgezirkelten und immer gleichen Handbewegungen, die ohne zu Denken funktionieren, haben sich Wut und Zorn verflüchtigt.
Der Kleine kommt die Treppe herunter gerannt und hat es eilig. Er gibt Irma eine Kuss und ist wieder unterwegs ins WC, dort steht das Gel. Stylen ist wichtig, wenn man zwölf ist und gerade beginnt, die Mädchen zu mögen.
Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass noch genug Zeit bleibt für die üblichen Morgenrituale. Der Kaffee läuft durch den Filter und verbreitet seinen belebenden Duft.
Jetzt endlich ist Irma wach und bei sich angekommen.
Auf dem Tisch liegt schon die Morgenzeitung.
Jenseits der Hecken erstreckt sich das Feld. Über Nacht haben die braunen Furchen Pastellfarben bekommen. Der Frühling schaute von oben hervor - aus einem jener winzig blauen Fenster, die ab und zu bei Wind zwischen zerbissenen Wolken hervor blinzeln. Er sah, dass es Zeit ist. Zaghaft noch streute er Grün, und in die Hecke eine Handvoll Rose, zwei Hände Weiß und viel Sonnenblumengelb. Selbst die tristen, langweiligen Genossenschaftssiedlungen am Rande der Stadt, wo zwischen den Häusern über den Unrat die Ratten spazieren gehen, sehen verzaubert aus heute. Der Frühling malte ihnen Hoffnungsschimmer. Für einen Augenblick lächeln die grauen Bewohner, wenn sie hinter der Gardine am Fenster stehen und hinaus schauen.
Auf die kurzgeschorene Wiese, haben sich kleine Narzissen verlaufen und klingeln Gelb ein mit ihren Glocken. Ein Hauch von Ostern liegt in der Luft.
Ein Bettler geht durch die Reihen der Bahn und bittet - ziemlich zitterig - um eine kleine Spende. Er schleift eine Fahne von ungelüfteter Gleichgültigkeit hinter sich her. Seine Augen haben längst den Sternenblick verloren. Die Jacke, die lose um seine Schultern hängt und sich aufzulösen beginnt, stammt aus achtlos beiseite geworfenen Säcken, die jemand zwischen den Altbaukasernen abgestellt hatte. Fast vermeint mein Auge winzige Tierchen darin zu sichten, die emsig und geschickt die Fäden auseinander drehen und so dazu beitragen den Verrottungsprozess zu beschleunigen. Für einen Augenblick frage ich mich erschauernd, ob die Jacke wohl aus lebenden Tierchen besteht.
Ein alter Herr mit Hut - sehr gepflegt - grüßt eine Dame im Nerz, die weiße Stiefel trägt und einen geflochtenen grauen Zopf, und auf der anderen Straßenseite geht. Sie sind am Friedhofstor verabredet, das ein machtvoller Engel bewacht, und werden sicher - nachdem die Gräber besucht und mit Frühlingsblumen geschmückt sind, in Helgas Bistro auf der Ecke bei Kaffee und Kuchen über Gott und die Welt reden, auch darüber, dass die Enkel sich heute nicht mehr anstrengen mögen.
Jugendliche hier und da mit Stöpseln in den Ohren. Es ist noch früh am Vormittag. Ob sie schon schulfrei haben?
Über allem zwitschert eine Amsel, und die Katze nebenan steht vor der Tür und maunzt. Sie will rein, denn ihr ist kalt. Nur ab und zu blinzelt die Sonne.
Nikola saß am Frühstückstisch. Der Kaffee war ausgetrunken, im Brotkorb wartete ein letztes Sesambrötchen umsonst darauf, gegessen zu werden. Jedenfalls nicht jetzt in seiner aufgebackenen Frische, die sich in appetitlich-blasser Bräune dem Auge vermittelte.
Der Regen prasselte dicke Tropfen ans Fenster. Alles das lief an Nikola vorbei, wie ein Film, der in einem anderen Kino läuft.
Die Frau war in Gedanken versunken und grübelte schon eine ganze Weile, denn die Kinder hatten bereits vor zwei Stunden das Haus verlassen, um zur Schule zu gehen.
Sie merkte auch nicht, dass es aufhörte zu regnen. Erst als ein winziger Sonnenstrahl durch die Glasscheibe fiel und sie an der Nase kitzelte, blickte sie auf.
Sie erhob sich, um den Tisch ab zu decken, die Kaffeemaschine auszustellen und die Spülmaschine zu bedienen.
Beim Griff zum Besen, mit dem sie die Frühstückskrümel zusammen fegen wollte, stellte sie fest, dass sie im Tag angekommen war, und dieser Tag dazu da war in Angriff genommen zu werden.
Es war ihr klar, dass sie das Grübeln nicht weiter gebracht hatte. So beschloss sie, ihre Sorgen erst einmal in der schweren Schublade des alten Eichenschranks einzuschließen, das Haus zu verlassen, um frische Luft zu schnappen. Vorsichtshalber schnappte sie sich den roten Regenschirm mit den weißen Punkten und zog los.
Manchmal bleibt Irma an Gedanken hängen. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch den Tag, die Woche, Monate - ein Jahr? Plötzlich vermischen sich die Lebenszeiten: Während sie den Kindern vom Fenster aus zuschaut, ist sie selbst wieder ein Mädchen von elf Jahren und sitze mit anderen auf dem Mäuerchen vor der evangelischen Kirche ihres Heimatdorfes.
Hier in diesem Raum hat vieles Platz, auch das lärmende Spielen von Kindern, die kichern, lachen, schimpfen und schreien. Kinder die draußen unter dem wolkenlosen Sommerhimmel Fußball spielen und in Scharen angerannt kommen, wenn der Eiswagen klingelt. Einige sitzen längst auf Mäuerchen und Trafokästen und warten auf die süße Erfrischung - klimpern mit dem Kleingeld in ihrer Hosentasche, spitzen das Mäulchen und machen große Augen, wenn Nachbars Kevin plötzlich um die Ecke gerannt kommt, das Käppi auf dem Kopf und einen frechen Spruch auf den Lippen. Mariechen hat ein Buchenblatt gepflückt und zaubert ein filigranes Muster, indem sie jede zweite Rispe mit den scharfen Fingernägeln vorsichtig entfernt. Herb und schon ein bisschen nach Herbst duften die Buchenblätter. Natalie in Leggings und kurzem Rock - bauchfrei - die blonden Haare mit den blaugrünen Strähnen wirr im verschwitzten Gesicht rennt hinter Jonas her und streckt ihm die Zunge raus. Die blauen Augen blitzen vor Übermut. Jonas errötet und weiß nicht, wohin er schauen soll. Er windet sich, kommt nicht von der Stelle.
Noch bevor Irma im Apfelbaum ein eingeritztes Herz entdecke mit den Buchstaben N+J hört sie die dicken Zwillinge von gegenüber schreien: "Jonas liebt Natalie. Jonas liebt Natalie."
Jonas wird nun vollends rot und verschwindet schweigend Richtung Skater-Bahn.
Anna hat ihr Kaninchen mitgebracht. Inga und Eva sitzen auf dem Asphalt und malen mit Straßenkreide naive Kunst vor die Haustür. Sie schauen hoch, unterbrechen ihr kreatives Tun und lassen sich von Anna zeigen, welche neuen Kunststücke der Stallhase heute gelernt hat.
Heute ist ein vollkommener Sommertag und die Kinder sind ungewöhnlich friedlich.
Es war in einem jener seltenen Momente mitten im Sommer. Die Sonne hatte sich hinter die Wolken zurück gezogen und dem Tag das Licht genommen. Ohne das aufziehende Unwetter weiter zu beachten blieben die beiden Frauen an dem kleinen Tischen in der Fußgängerzone unter dem großen Sonnenschirm sitzen. Kalt war es nicht. Vor ihnen der obligatorische Milchkaffee.
Um sie herum hatten es die Passanten sehr eilig. Einige zückten schon die Schirme, andere zogen die Regenjacke enger um den Körper. Während Susanna an ihrem Amarettokeks, der dem Getränk beigelegt war, herum knabberte, hob Marion den Blick zu den gelben und weißen Streifen über ihr:
"Weißt du", begann sie und schob sich das Käppi in die Stirn,
"weißt du was ich für mich festgestellt habe?"
Während Susanna die Kaffeetasse absetzte um Marion anzuschauen, deren Augen jetzt ganz verschattet waren, fragte sie:
"Was denn?" Und lächelte.
"Ich werde mich weigern, jemals erwachsen zu werden, denn ich durfte ja damals kein Kind sein."
"Ach komm Marion, man sollte niemals nie sagen. Vielleicht musst du deinem inneren Kind etwas mehr Spielraum geben, damit es nachholen kann, was ihm damals fehlte."
"Und, wie soll ich das tun liebste Susanna?", fragte Marion trotzig und schob dabei ihre Unterlippe ein wenig über die Oberlippe. Jetzt wirkte sie wie ein rebellischer Teenager, obwohl fünfunddreißig und äußerlich erwachsen. Susanna kannte Marion gut und war seit der Kindergartenzeit mit ihr befreundet. Diese Anzeichen hatten schon oft zu unergiebigen Geplänkeln zwischen ihnen geführt.
"Nicht schon wieder!", dachte sie deshalb fast schon ein wenig genervt, und zu Marion gewandt bemerkte sie ernst und sachlich:
"Nun, du hast Talent. Deine Bilder haben Pfiff und die Gedichte Pfeffer. Das sind doch wunderbare Begabungen, um deinem inneren Kind einen reichhaltigen Abenteuerspielplatz zu bieten."
Es begann heftig zu regnen und ohne eine Antwort abzuwarten, packte Susanna ihre Sachen zusammen und verschwand im Innenraum des Cafes.
Marion blieb sitzen, zog die Stirn in Falten und konnte sich nicht entscheiden, ob sie Susanna folgen wollte oder nicht.
Texte: Cover: JanwalText& Layout: Angelika Röhig
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2012
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