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Den Traum zu ehren




die weiße riesin ist erwacht
zeit nun, ihre wunden zu rächen
während sie sich erhebt, voll zorn
dröhnt die erde, bricht auf
begräbt alles unter sich
eine flutwelle flutet das land
den menschenkindern zur warnung

nein, die riesin GAJA rächt nicht
sie lebt und bewegt sich auf ihre weise
ohne kraft einzubüßen
schüttelt sie die kleinmut ab
die gehört nicht zu ihr
sie schaut sich nicht lange um
wenn ihr schlängelnder körper
die ganze welt einfasst


Vorwort




Alles begann mit einem Traum.




Ich träumte vor kurzem von einem weißen, flachen Berg. Er ergoss sich in eine grüne weite Landschaft. Mit zwei Kindern an der Hand war ich auf der Flucht vor etwas. Am Berg wollten wir rasten. Wir waren müde und die Füße schmerzten. Der Berg trug kleine rote Male, die an Blut erinnerten. Wir kletterten hinauf, er war weich. Wir betasteten seine Oberfläche. Sie fühlte sich wie eine dicke Haut an. Plötzlich gingen uns die Augen auf: der Berg war eine sterbende/ schon gestorbene Riesin, die sich ungeachtet ihres schon in Verwesung übergehenden Zustandes, mit letzter Kraft zu erheben versuchte. Wir suchten panisch das Weite.


Der Traum beschäftigte meine Gedanken. Dann geschahen die Katastophen in Japan und alles bekam einen neuen Sinn.
Die weiße Riesin ist auch Gaja, die große Urmutter. Nichts kann sie erschüttern, doch unter ihren Schritten bebt manchmal die Erde. In ihren Träumen lässt sie die Erde grünen und heilt. Im erdfarbenen Rock verwahrt sie ein Drachennest. Wenn sie lacht, sprühen ihre Augen Funken, und wenn sie die Ozeane durchschreitet, segnet sie die Welt.

Die Geschichten entwickelten sich fast von allein.


Die Aufgabe




Etwas war über ihren Körper gelaufen. Eine zarte, ja geradezu flüchtige Berührung kitzelte sie. Was war das? Was war das nur?
Gaja erwacht, wie genesen von einer erschöpfenden Krankheit.
Vorsichtig öffnet sie die verklebten Augen. Das Licht trifft sie schmerzhaft. Schnell schließt sie ihre Augen wieder. Aber doch langsam genug, um noch zu sehen, dass da gerade eine Frau mit zwei Kindern aus ihrem Blinkwinkel flüchtet.
Während sich die Riesin ihres Körpers erinnert und die eigene Haut als eine dicke, lederne Hülle spürt, beginnt sie sich aufzusetzen. Der Körper ist aufgedunsen und steif. In den Gelenken knirscht es, so als seien in ihnen ineinander greifende Zahnräder, die zu verrosten beginnen und lange nicht geschmiert worden waren.
Vorsichtig dreht sie den Kopf von rechts nach links und von links nach rechts. Eine Acht malt sie in die Luft. Anschließend schüttelte sie die verfilzten Haare aus. Trockene Blätter, Hölzer, tote Insekten, Ameisen fallen heraus, bilden einen kleinen Berg vor ihren Füßen. Die Haut juckt. Gaja sieh an sich hinunter, registriert die vielen kleinen Stichwunden, deren Oberfläche schon verkrustet ist. Bur einige bluten noch. Wahrscheinlich hat sie im Schlaf daran gekratzt.
Sie kommt sich vor wie ein dahin gestreckter Berg, der sich längst mit der umliegenden Landschaft verschmolzen hat, und nun versucht, sich gegen die natürlichen Gegebenheiten aufzurichten und seine Form zu verändern.
„Wo bin ich überhaupt?“ fragte sie sich und versucht sich zu orientieren. Inzwischen sitzend blickte sie auf eine grüne Wiese, die sich weit in die Landschaft erstreckt. Ganz fern, nur als Silhouette erkennbar, zeichnet sich am Horizont eine Gebirgskette ab. Eine kurze Erinnerung blitzt auf hinter der breiten, gefurchten Stirn:
„Von dort bin ich gekommen.“
Auf der Wiese stehen vereinzelt alte knorrige Obstbäume. Grüne, unreife Früchte hängen zwischen dem Laub der Zweige.
Obwohl die Luft lau ist, weht ein frischer Wind über ihre Haut und lässt sie frösteln.

„Und wie lange liege ich schon hier?“ fragt sie sich weiter. Das Erinnern will nicht wirklich gelingen. Es ist, als müsse sie die Worte erst wiederfinden und einsammeln, wie man eine Schar übermütiger Kinder einsammelt, die zum ersten Mal das Sonnenwendfest mitfeiern dürfen. Immerhin, die Riesin erinnert sich an die Kinder. Sie sieht sich selbst mit einer Horde von ihnen um das Feuer tanzen, die Mädchen Blumenkränze im wehenden Haar, die Jungen Obstbaumzweige am Hut, erinnert sich an das Sonnenwendfest, dass alljährlich im Dorf zur Ehre der großen Mutter gefeiert wird. Nun denkt sie an das Dorf hinter dem Gebirge, in dem sie gelebt hat bis zu jenem Tag, an dem sie mit der großen Wanderung begonnen hat. Etwas hatte ihr im Traum befohlen zu gehen und nicht zu fragen warum.
So ist sie in der Dämmerung eines Frühlingstages aufgestanden, hat die Siebenmeilenstiefel angezogen, einen Rucksack mit Vorräten auf den Rücken geschnallt, ihrer kleinen Mutter einen Kuss auf die Stirn gedrückt und ist losgestiefelt, ohne sich noch einmal umzusehen.


Gen Süden

Die weiße Riesin hat sich erhoben und ist gen Süden weiter gewandert. Unter der Frühlingssonne sind die Stichwunden verheilt. Manchmal noch spaziert die Menschenfrau mit ihren beiden Kindern durch ihre Gedanken.
Was hat sie nur gesucht, und warum ist sie vor ihr, der großen Mutter geflüchtet?
Sie denkt nicht viel, die Riesin. Sie spürt die Erde unter ihren Füßen, hört das Gras wachsen und die Vögel singen. Sie sieht die Farben der Erde und riecht den Duft, der an jedem Platz, über den sie schreitet, anders ist. Der Sinn ihres SEIN´s heißt weiter gehen, nicht an einer Stelle kleben. Sie folgt den Magnetbahnen der Erde, kontrolliert das Netz aus kraftvollen Linien, das sie umschließt.

Nur manchmal, wenn die Füße müde und die Beine erschöpft sind, sucht sie sich ein Plätzchen, um eine Weile zu verschnaufen. Wie eine Nebelfahne zieht ihr Atem über die Landschaft. Der Schweiß, den sie von ihrer Stirn streicht wird zu Regen, der die Pflanzen erfrischt. Gleich strecken sie die Stängel und öffnen ihre Blüten. Bienen, angelockt durch ihren Duft, trinken Nektar und tragen Pollen fort. Gaja lächelt über die kleinen geflügelten Boten. Wie gut alles ist.
Doch nicht überall wo sie wandert ist es gut. Die Menschen lassen der Erde nicht Zeit zu wachsen. Sie sind gierig und nie zufrieden. Sie schaufeln und graben, jagen nach inneren Schätzen; begradigen und asphaltieren. Darunter die Erde verdurstet. Pflanzen finden keinen Platz mehr zum Verwurzeln und Vögel kein Futter.
Die Menschen haben verlernt, der weisen Natur zu vertrauen. Sie wissen nicht mehr, dass alles was sie brauchen da ist und die Erde ihre Kinder nicht verhungern lässt.

Ein süßer Duft zieht Gaja an. Unter der Hecke am Rande einer Wiese, wachsen kleine wilde Erdbeeren. Gaja setzt sich nieder unter einen Weißdornbusch. In der nähe sprudelt eine Quelle. Sie pflückt die kleinen Beeren, schließt die Augen und steckt die Früchte in ihren Mund. Für eine Weile ist da nur der Duft und die Süße der Ernte, die sie auskostet, um anschließend den Durst an der kühlen, frischen Quelle zu löschen. Hier an dieser Stelle unter diesem Busch wird sie ein paar Stunden schlafen.

Gaja hat lange nicht mehr geträumt. Im Traum heilt sie die geschundene Erde.


Das Kaninchen



Auch in dieser Nacht besucht Gaja ein Traum.

Während der Wind in den Weißdornzweigen sie umsäuselt, der liebliche Duft nach wilden Erdbeeren sie umschmeichelt und der letzte Schluck vom frischen Quellwasser ihre Kehle hinunter rinnt, fallen ihre Augen zu. Sie sinkt ins Moos, legt den Arm unter ihren Kopf, winkelt die Beine an. Schon bald sind lange Atemzüge und ein leichtes Schnarchen zu vernehmen. Ganz entspannt liegt die große Mutter unter dem Heckengebüsch. Ihre Hände sind ebenso geöffnet wie die Pforten zum Reich der Träume.
Durch die Pforte humpelt ein silbergraues Kaninchen. Es ist knochig, alt und ein wenig zerzaust. Mit letzter Kraft kuschelt es sich in die Kuhle, die Mutter Gajas Körper bildet. Hier ist Wärme und Schutz.
"Mutter Gaja, höre mich." spricht das Kaninchen mit leiser Stimme.
"Ich bin so alt, dass mir das Leben nicht mehr schmecken will. Ich bin oft allein und einsam, denn meine Geschwister sind schneller. Sie rennen und toben, und ich kann nicht mit. Manchmal versagen mir die Beine und ich kippe fast um. Wenn das Wetter feucht ist, schmerzen die Knochen. Das Futter, das meine Menschen mir geben, schmeckt mir noch. Sie haben Mitleid mit mir und sprechen tröstende Worte, haben mich gern. Ich spüre ihre Traurigkeit. Gaja, bitte lass mich sterben. Meine Zeit ist um. Ich möchte es meinen Menschen nicht zumuten, dass sie mich zu ihren Ärzten bringen müssen, damit die mich töten. Ich bin äußerst furchtsam und winde mich unter ihrem Griff, wenn sie mich packen wollen. Ich habe ein gutes Leben gehabt bei ihnen. Es ist Zeit. Ich sehne mich nach der Dunkelheit der Erde, nach Erlösung und Frieden."

Gajas Hände streicheln sanft das silbergraue Fell. Sie summt ein Wiegenlied.
Das Kaninchen macht sich lang. Völlig entspannt folgt es der Stimme, die es hochhebt und davon trägt. Sein Atem wird langsam. Es wehrt sich nicht, fühlt keinen Schmerz mehr. Als das Atmen endet, ist es schon lange in einer anderen Welt.

Bevor Gaja am Morgen erwacht, gilt ihr erster Blick dem toten Kaninchen. Sie setzt sich auf, gräbt mit ihren Händen ein Loch unter dem Weißdornbusch, legt eine Schicht Moos hinein. Vorsichtig bettet sie das Kaninchen im Moos und bedeckt es mit Blättern und Zweigen. Darüber streut sie Erde.
Für einen Augenblick verbinden sich in ihren Gedanken Erde, Kaninchen und Heckengebüsch zum Gebet. Sie weiß, im nächsten Jahr werden hier "Vergissmeinnicht" blühen.

Dann wacht sie auf, trinkt aus der Quelle und macht sich auf den Weg.


Impressum

Texte: Cover: Antonia Röhrig Text Angelika Röhrig
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für alle Menschen, die sich einen Sinn für Märchen und Natur erhalten haben

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