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"Was ist ein Mensch?" fragte mich das Kind, und ich dachte eine Weile nach.
Schweigend saßen wir unter dem Baum im Moos. Das Kind lächelte versonnen - es war ein stilles Kind - und spielte mit den stacheligen Kugeln, in denen die rotbraunen Kastanien noch verpackt waren und träumten.
Der Wind flüsterte in den Zweigen, die Wolken zogen nach Westen und das Licht spielte mit den Blättern über meinem Kopf.
"Eigentlich ist der Mensch fast wie dieser Baum. Was man sieht, ist nicht alles." und ich schaute das Kind freundlich an.
"Schau, so wie der Baum mit seinem Stamm, den Zweigen; Blätter, Blüten und Früchten in den Himmel hinein wächst, so strecken die Menschen ihre äußere Gestalt ins Leben hinein.
Mensch und Baum sind aber viel mehr als das, was du siehst und anfassen kannst. Wesentliches liegt verborgen, so wie die Wurzeln des Baumes in der Tiefe unter dem Moos wachsen und sich ausstrecken. Beide, Mensch und Baum schöpfen auf ihre Weise aus dem Urbrunnen des Lebens."





Lieber G.


Gerade stehe ich in R. an der S-Bahn und schaue mir die riesige Kastanie an, die genau gegenüber hinter dem Zaun, nah am Gleis steht. Die Blüten duften ganz intensiv. Wir schicken dir einen lichten Gruß. Gerade jetzt, wo ich dir simse, hört es auf zu regnen und die Sonne schickt ein paar wärmende Strahlen. A.


Onkel Tom steht an einem S-Bahngleis im Kölner Norden. Früher gab es hier einen schönen Bahnhof aus Holz. Der Baum hatte damals, bevor der Bahnhof umgestaltet und das Gebäude abgebaut und an anderer Stelle wieder aufgebaut wurde, viele Geschwister auf Augenhöhe. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als Kind dort im Herbst die Kastanien gesammelt habe.
Es macht mich froh, dass dieser Baum stehen bleiben durfte.





Es zweigt ein Baum
mit Wurzeln tief
als lichte Brücke
Grün ins Blau
und raschelt laubbefingert mit dem Wind
klettert unaufhörlich weiter
feinverästelnd himmelwärts
als sei die Zeit
zum Wachsen, Blühen, Reifen
viel zu knapp und klein
ihm zu bemessen





Qi Gong 1


Heute, mein Freund
näherte ich mich achtsam
einer alten Kastanie
den Stamm im Blick
die Hände geöffnet
schickte ich Wärme dem Baum

Er antwortete auf seine Weise:
Energie fließt zwischen Lebewesen
Ich näherte mich vorsichtig
spürte stärker das Strömen
doch als meine Hände
die Rinde berührten
fühlte ich nur noch Holz

Ich lerne:
Bäume haben Grenzen
wie Du und Ich
und alles Fließen
ist am Ende
eine Frage nur von Nähe und Distanz





Qi Gong 2

Stell dir vor, du bist ein Baum!
Aus deinen Füßen, die fest und gleichmäßig mit der Erde verbunden sind, wachsen Wurzeln tief in die Erde hinein, finden Wasser und Nahrung. Ihre Kraft reicht aus, um das Erdreich zu lockern. Sie schaffen neue Räume, in denen es lebt: Regenwürmer und Engerlinge ringeln sich ums Wurzelwerk. Mittendrin hat sich eine Waldmaus ihr Nest gebaut. Zehn winzignackte Mausekinder wollen gesättigt werden.

Deine Beine stehen leicht gebeugt fest, wie der Stamm. Es strömt durch sie hinauf zu den Hüften, dem Oberkörper und in die Arme hinein. Das Becken ist leicht nach vorne gekippt, und die Schultern halten nichts fest. Der Kopf ruht gelassen auf Hals und entspannten Schultern. In den Fingerspitzen spürst du ein Kribbeln. Weit verzweigt und verästelt schaffen sie Verbindung mit der eingedickten und konzentrierten Atmosphäre, nehmen Ätherisches und Energie auf.

Du atmest ein und aus - aus und ein. Jeder Atemzug, den du nicht siehst, weil kein Winter mehr ist, malt Luftblasen in den Raum. Dein Brustkorb weitet sich, schafft sich Platz. Nichts engt ihn mehr ein. Am Kopf ist ein unsichtbarer Faden angebracht, so wie bei einer Marionette, die geführt und geleitet wird. Die Gedanken klettern an ihm hinauf, immer höher und höher, durchbrechen die Wolken- und während dein Körper ganz in dir selbst ruht, ankern die Gedankenfäden auf einem fernen Stern. Das Gestirn ist ganz aus Licht, warm und quirlig. Über die Gedanken nimmst du Licht auf - es rinnt zurück in den Körper, bis er leuchtet, und du aus deiner Versunkenheit erwachst - wie neugeboren.





Mitten in meinem Garten steht eine alte Kastanie und darunter eine grüne Holzbank. Im Baumstamm lebt die uralte Eule Neunmalklug. Es gibt eine Tür in den Baum hinein. Dort kann man viele Treppen hinab steigen, um die Wurzeln wachsen zu hören oder hinauf bis in die kleinen Verästelungen, die fast den Himmel berühren. Es gibt auch einen geflügelten Wächter. Der sorgt dafür, dass kein Neugieriger durch Zufall einen Eingang in den Garten findet und bannt sie, indem er ihnen Geschichten erzählt. In meinem Garten ist meist Mai und später Nachmittag an einem schönen lauen Frühlingstag. Der Himmel ist blau, und ein sanfter Wind treibt die Schäfchenwolken zum Horizont.
Dennoch, um die Kastanie herum verändert sich der Garten stets. Mal ist er groß, mal klein. Es gibt einen verborgenen See mit einer kleinen Insel und einem Froschkönig, der nicht König werden möchte, und geflügelte Schutzgeister. Darüber hinaus gibt es alles, was in einem richtigen Märchengarten nicht fehlen darf: Blumen, Beeren und Gemüse; Wiese, Buchsbaum, Kompostecke, Brennnesselhag und Obstbäume, Brunnen und Backofen, wie bei Frau Holle; Pavillion, Taubenschlag und Laube.





ja welche geschichten erzählte der wind?

es war einmal....komm wir schreiben eine geschichte von dir und mir und wo sie begann...auf der wiese hinter dem haus...ich sah dich unter einer kastanie...es war herbst und die glänzenden früchte lagen - genau wie heute - mit ihren igelschalen im moos.wir spielten verstecken und du musstest suchen.an jenem tag fandest du mich nicht, auch nicht am nächsten... nicht im übernächsten jahr....nein....es vergingen jahre.
aus kindern wurden studenten...weißt du noch, in dieser kneipe an der ecke vom literatentreff...wir hörten den blues...es war micha, der spielte... und in den gläsern zitterte das kölsch....den halven hahn teilten wir uns, denn mehr konnten wir uns nicht leisten.
ach komm, wir schreiben geschichte, verdichten und bringen es auf den punkt, was damals geschah und uns prägte, weichen stellte.
wir waren nicht allein, nein mitten drin im umbruch.
weißt du noch, wie wir auf den schienen gesessen sind und diese polizisten kamen mit wasserwerfern und wir uns nicht rührten...nur passiven widerstand boten...mensch, das waren noch zeiten.
und abends saßen wir am see, bei feuer und lambrusco, und wir waren so frei und froh und stolz.
es kreiste der joint...und wir sangen friedenslieder.

manchmal frage ich mich, wo sind sie geblieben unsere rebellischen seelen?
komm, wir schreiben es auf...nichts soll vergessen werden...auch unsere kinder sollen es wissen...wer wir waren, was wir taten in diesen verrückten zeiten...als sich alles drehte.

und doch frage ich mich, was hat der wind zu erzählen? ist er nicht immer gleich, es schert ihn nicht, was geschah...er bleibt doch immer gleich...und die irdischen dinge interessieren ihn nicht .. wenn er von der nordsee über die alpen zieht.

Nachtrag!

Nun sitzen wir wieder unter der Kastanie. Du hast mich längst gefunden. Es ist fast wie damals. Der Baum ist gewachsen, hat Äste verloren.Sie mussten dem S-Bahn-Gleis weichen.
So wie wir. Was hatten wir nur für Pläne damals?
Manches nimmt die Zeit mit sich mit. Sie schleift die Kanten ab.





die kastanie raunte es in mein ohr


hypnotisierte worte tropfen
antworten - die niemand sieht.
wenn über versperrte brücken kein
wort mehr passiert?
wer sieht wen noch hinter künstlichen nebeln?
raum zum atmen - mit sich allein sein.
gedanken eisgehaucht in stille - weiten
sich über schneegrenzen
in räume legt sich raureif; schneeweiß - frostigklar
fraglos verzerrt kein spiegel
eigenes. nicht jedes leid
ist teilbar. aber liebevolle herzen - die
einfach da sind - schicken lichte boten und
zartgrüne keime.

Impressum

Texte: Bild und Text: Angelika Röhrig
Tag der Veröffentlichung: 25.04.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Buchreihe ist clara c. gewidmet, die mich dazu inspirierte. Vielen Dank, Clara!

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