die Vier brauchst du:
die Wurzeln der Bäume, die dich lehren standzuhalten
den Wind in den Zweigen, um deinen Geist fliegen zu lehren
das Feuer , das in dir brennt, um dich lebendig zu fühlen
und das Wasser zu deinen Füßen, um zu lernen, Dinge los zu lassen
und über allem ein Engel, der dich beschützt
Einmal spaziert eine junge Frau, nennen wir sie Katherina, barfuß in den Dünen am Meer. Es ist ein sonniger Tag mitten im Juni. Das Mitsommernachtsfest mit den Johannisfeuern, die noch hier und da entzündet werden, ist nicht mehr fern. Die Wellen plätschern leise. Möwen gleiten lautlos durch die Luft. Es ist noch früh am Morgen und kaum jemand unterwegs. Noch haben die großen Ferien nicht begonnen. Katharina genießt die frische Brise, die der Wind ihr vom Meer her durch die Haare weht. Eine Leichtigkeit geht von diesem Tag aus, die Katharina lange nicht mehr erlebt hat. Ihr Körper streckt sich. Sie atmete tief durch, und während die Freude an diesem frischen Tag sie beglückt, dankt sie dem Himmel für diesen Augenblick. An einer geschützten Stelle lässt sie sich im Dünengras nieder. Ihr Blick fällt auf einen Stein. Er scheint ihr zuzurufen: "Bitte heb mich auf und nimm mich mit." Katharina nimmt den Stein in ihre Hand. Er passt gut in ihre geschlossene Faust. Die rauhe Oberfläche passt sich ihrer glatten Haut an, nimmt schnell ihre Temperatur an, so dass die Grenzen zwischen Stein und Haut verschwinden. Katharina konzentriert sich ganz auf den Stein in ihrer Hand, spürt den eigenen Puls im Stein.
Der Stein in der Hand ist herzförmig. Die Konturen der Fühlmulde zwischen den zwei Wölbungen ist nicht so glatt wie der restliche Stein. Da könnte etwas herausgebrochen sein. Eine alte Wunde, vielleicht! Katharina denkt an die empfindliche Fontanelle auf dem Kopf eines Babys.
"Vielleicht," denkt Katharina, "verbirgt sich darin eine geheime Tür. "
Katharina lacht und schüttelt den Kopf. Aberwitzig, denkt sie, aber sie stellt es sich trotzdem vor, gerade das Aberwitzige, das, an was nur wenige glauben mögen, stellt sie sich besonders gerne vor.
Die Proportionen verändern sich. Sie selbst schrumpft, der Stein wächst. Die Dünengräser sind nun ein Wald, dessen Wipfel sich im Wind hin und her bewegen, ja sie schwanken. Biegsam sind sie und elastisch. Katharina ist nun so klein, dass sie sich an dem hausgroßen Stein festhalten muss, um nicht davon geweht zu werden. Auch muss sie sich vor den kieselsteingroßen Sandkörnern schützen, die durch die Luft geschleudert werden. Sie dreht sich um, da ist die Tür, blau und aus Holz mit einem herzförmigen Fenster, durch das sie in das innere des Steins schauen kann. Aber wo ist der Schlüssel?
Katharina ist jetzt über die Schwelle getreten und im Stein verschwunden. Es war auch höchste Zeit, denn beinahe, hätte der Wind sie zur Schneekönigin gebracht. Es war nicht der Satz "Sesam öffne dich!" der ihr die Tür öffnete, nein, es war ein Summen, das leise begann und laut wurde wie ein Orkan - hätte man gar nicht vermutet bei einer so kleinen Frau. Bis zu diesem Moment hatte Katharina nicht geahnt, welche entfesselten Kräfte sich ihrer zarten Kehle zu entreißen vermögen. Es begann im Bauch, wanderte zum Solar Plexus, passierte das Herz und gelangte so in die Kehle und über Gaumen, Zunge und Lippen hinaus. Die Tür fliegt auf!
Katharina ist über die Schwelle getreten und im Stein verschwunden.
Im Inneren des Steins sind die Wände perlmutfarben. Obwohl kein Fenster zu sehen ist, erscheint es hell genug, um die gewundenen Gänge zu erkennen, die sich in die Tiefe zu schrauben scheinen. Der Stein gleicht in seinem Inneren einem Schneckenhaus. Von weit unten flackert ein unruhiges Licht hinauf. Wie groteske Tänzer eines makabren Stückes bewegen sie sich über die Wände.
Katharina hält den Atem an. Sie lauscht. Ganz in der Nähe wummert etwas, das wie ein Motor klingt. Es dauerte eine Weile, bis sie erfasst, dass es ihr eigenes Herz ist, das so laut und rhythmisch schlägt. Kurz streift sie das Gefühl von Beengtheit und Luftmangel. Während sie sich langsam und vorsichtig um die eigene Achse dreht und etwas sucht, auf dem sie sich niederlassen kann - die Knie sind weich - fällt ihr Blick auf ein Detail in der Wandnische gegenüber. Es zieht sie wie magnetisch dorthin. Im Zeitlupentempo setzt sie Schritt für Schritt.
In der Nische angelangt stößt sie auf einen niedrigen Stein, der sich zum Sitzen eignet. Sie setzt sich nieder und erkennt in dem Detail eine Zeichnung, die sie an einen Flügel erinnert.
Während sie genauer schaut, um die feine Zeichnung des Flügels näher zu betrachten, wird ihr warm. Die Wärme kommt von innen. Je wärmer ihr wird, um so leichter fühlt sie sich. Ihre Knie zittern nicht mehr, auch Luft zum Atmen ist nun genug vorhanden.
"Wie wohl ich mich fühle." denkt sie bei sich, "und wie schön still es hier ist."
Für einen Augenblick schließt sie die Augen, jetzt traut sie sich, denn hier fühlt sie Wohlbehagen.
Während sie seufzt und dem aufsteigenden Glücksgefühl nachspürt, streckt sie die Hand aus, um das Detail, das wie ein Flügel aussieht, zu berühren. Sie ahnt, dass sie die Konturen unter ihren Fingerspitzen auch blind ertasten kann.
Liebkosend streichelt sie über die Struktur.
"Welcher Künstler hat sie gestaltet?" fragt sie sich.
Plötzlich ist ein brausendes Rauschen um sie herum.
Katharina nimmt das Rauschen und Brausen wahr, als würde der Wind die Gezeiten in ihrem Blut wellenartig bewegen. Gegen die inneren Wellengebirge, die gerade in ihr branden, kann sie nichts ausrichten. Sie eindämmen zu wollen, hieße an sich selbst zerbersten. So lässt sie los, als der Engel sie umarmt und im gleichen Moment eine köstliche Ruhe von ihr Besitz ergreift.
In diesem Augenblick kostet sie vom Glück der Zeitlosigkeit und weiß, ohne es in Worten ausdrücken zu können, dass ihr weder hier noch draußen außerhalb des Steins etwas geschehen kann. Sie ist sich alles: das Meer, die Wellen, der Wind, ein Himmel und auch schützender Engel.
Katharina weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als sich die Augen öffnen und sie wieder ihren Körper spürt, ihre Haut, die Grenze nach draußen, das Schlagen des eigenen Herzen, den Geschmack auf ihren Lippen - sie hat Hunger und Durst, und das diffuse Licht, dass aus dem Inneren des Steins zu ihr herauf leuchtet. Sie atmet tief durch, streift mit den Augen noch einmal das fedrige Detail in der Nische. Sie steht auf, macht einen Schritt, sucht den Ausgang. Vor ihren Füßen liegt eine Feder. Lächelnd bückt sie sich, hebt sie auf. Sie will jetzt nach draußen, findet aber die Türe nicht. Mit der Feder berührt sie die Wand, auf die sie zu geht. Da wird die Tür sichtbar. Sie drückt die Klinke herunter und tritt hinaus. Der Wind hat sich gelegt. Ganz langsam wächst sie wieder zur alten Größe heran. Bald sieht sie das Meer und darüber einen zartblauen Himmel. Die Sonne scheint. Es ist warm. In der linken Hand hält sie immer noch die Feder. Mit der rechten hebt sie den herzförmigen Stein auf.
Beides wird sie behalten.
Sie weiß nun, dass sie alles sein kann. Und der Stein wird ihre Zuflucht sein, wann immer sie will.
Texte: Cover-Foto und Text: Angelika Röhrig
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für meine liebe Prinzessin!