1. Dezember 2005
Textilien? Fäden? Labyrinth? Ariadne? Da war doch noch was !
Komm Marie, deine innere Stimme ruft:
„Erinnerst du dich noch? Weißt du noch, wie wir bei den Teppichweberinnen waren? Du hast über die vielen flinken Fäden in gewürzbunten Farben gestaunt, konntest es kaum fassen, wie die Schiffchen gehüpft sind, flink, agil – kaum dem Auge sichtbar.
Geschickte braune Finger tanzten mit den Fäden. Und sie lachten, die Weberinnen, während die Finger von ganz alleine die Muster wirkten, und sie sangen laute, fröhliche Lieder, obwohl sie arm waren. Ihre Schätze lagen in der Fröhlichkeit, mit der ihnen die Arbeit von der Hand ging.
Ihr Geist war frei, frei zu fliegen, wohin immer er wollte, und davon handelten die Lieder: von der Schönheit des Meeres und den springenden Delphinen, die sie selbst nie gesehen hatten. Sie sangen von den riesigen Fischschwärmen, die im blauen Ozean um ihr Überleben kämpften.
Auch sangen sie von den höchsten Gebirgen, von Yeti, von Wölfen, von Eis, Schnee und Frost, der in die Glieder kroch. Von Sonnenaufgängen über einem spiegelglattem Meer, von Orkanen, Stürmen und Sirenengesang, der die Fischer betört, und von Neptun, der mit der Weltenschlange kämpft.
Sie sangen von Liebe und Sehnsucht und von den Hoffnungen ihrer Kinder, die irgendwann gezeugt, einmal leben würden. Hoffentlich besser, das wünschten sie schon!
Ihre Fantasie spiegelte sich in den Mustern auf ihren Teppichen. All ihre Hoffnung und Wünsche , die Vergangenheit und die Zukunft webten sie hinein.
Eigentlich, wenn man es genau nimmt, ist ein solcher Teppich unbezahlbar.
Mit großen braunen Augen sahen sie dein Staunen, Herzwärme vermittelte sich dir. Sie sahen etwas, was du damals noch nicht sehen konntest, denn es wartete noch schlummernd an der übernächsten Ecke.
Und sie gaben dir etwas! Ich bin sicher, du hast es bei dir. Im Boot wirst du es finden.
Sie gaben dir deinen Ariadnefaden – blutrot, lang, reißfest und seidig.“
Ich sitze auf den Hügeln der grünen Riesenberge, und schaue weit. Meine Augen sind empfindliche Makroskope. Drüber auf der Insel, hinter dem grünen Smaragdmeer, geschehen verwunderliche Dinge. Da braut sich etwas zusammen. Die Insel öffnet ihre Markisen für ein Bühnenstück, dessen Energie wie Lava weit zu euch hinaus schwappen wird, verehrte Zuschauer.
Ich weiß es, habe es schon erlebt vor über hundert Jahren. Die geheimen Zeichen sind mir vertraut. Wie Girlanden reihen sich Spitzenstücke als Muster aneinander - wozu - zu einen Ziel.
Einmal in Bewegung geraten, bringt nichts den Lauf der Dinge zum Stillstand - Kettenreaktion -!
Darf ich ihnen zunächst die Hauptakteure vorstellen? Da ist die junge Frau Marie, die kennen sie schon. Nicht der Zufall ließ sie hier landen.
Noch schäft und träumt sie vom blutroten Ariadnefaden.
Sie liegt so weiß, weich und fast unschuldig, gefangen in ihrer knospenden Schönheit im Rumpf ihres Bootes unter dem Mondbaum.
Dort lebt Karinopula, die Große, ihres Zeichens weise Schleiereule auf der Insel der Feuergnome. Sie kennt die Inselgeschichte und die verborgenen Zeichen, wie ich. Wir gehören zusammen: sie hütet die Kleinodien und Schätze der Insel, ich schaue von fern, was über das Meer an Freude und Leid uns droht.
In den Vollmondnächten fliegen wir gemeinsam unsere Schutzrunden und halten Rat mit den anderen Tieren des Eilands.
Mein Name: Korinapolo, der Mächtige, der bunteste Vogel der Welt. Schaut nur mein Gefieder, wie es glänzt und im ersten Sonnenlicht Funken sprüht. Kein anderer Vogel gleicht mir.
Ach, wie ich sie liebe, meine Karinopula. Gemeinsam werden wir auch diese Hürde nehmen. Und dann feiern wir ein Fest und beginnen von vorn. Neu werden wir geboren!
Die Feuergnome, sie leben im roten Berg - sind schon seit Tagen aufgewacht. Ihre Trommeln werden lauter, drängender, elektrischer. Von tausend tanzenden Beinen vibriert die Erde.
Marie ist aufgewacht. Sie reibt sich die verwirrenden Träume aus den Augen. Ein Gedanke bleibt hängen: Aradnefaden, suchen, finden, im Boot!
Darüber hinaus kann sie nicht denken. Sie folgt, wie eine Marionette, geführt von ferner Hand, den Anweisungen einer stummen Stimme. Sich aufrichtend greift sie unter die Plane, die ihr Reisebett deckt, da ist etwas, der Faden. Sie zieht und zieht, es nimmt kein Ende. Ein dickes Knäul wickelt sie, seidenglatt und reißfest. Wo sind Feder, Smaragd, Zündhölzer und das Gehäuse der Wellhornschnecke? Es ist keine Zeit zu verlieren. Alles drängt.
Es ist so weit!
3. Dezember 2005
Schwester, Clarisse!
Es ist soweit! Alles zieht mich! Bin ich ein Magnet? Bin ich eine Marionette, die ein ferner kalter Gott lenkt und leitet? Bin ich Spielfigur, in einem Spiel, dass andere dirigieren?
Ich muss hinaus.
Unter dem Mondbaum kann mein Obdach nicht länger sein.
Doch diesen einen Augenblick wiederstehe ich dem Zug und kehre ein bei mir. Vor meinem inneren Auge erscheint dein Gesicht. Du, der sich die Dinge eröffnen - glasklar. Streu mir Eis auf feurige Wege. Der Weg, dem ich folge, er macht mir Angst. Ach könnte ich deine lächelnde Stimme vernehmen. Ach dürfte ich einmal noch deine warmen Hände berühren.
Wie kann ich dich erreichen über weite Distanzen? Mir ist, als breite sich der sanfte Duft deines Körpers wie ein Schleier über mir aus - beschützend. Meine Gedanken versuchen dich zu erreichen. Ja, ich spüre, die Luken sind geöffnet. Vielleicht denkst auch du in diesem Augenblick an mich. Segne mich, gib mir gute Wünsche mit auf den Weg.
Und wenn wir uns im irdischen Leben nicht wiedersehen - verzeih, und habe Dank für all die Zeit, die wir miteinander teilen durften. An einem anderen Ort, in einer anderen Zeit werden wir uns wiedersehen.
4. Januar
Wie in Trance lief Marie über die Insel. Ihre Schätze lagen in einem Lederbeutel, der um ihren Hals hing.
In der Luft lag Spannung, die sich von Minute zu Minute steigerte. Unter den Füßen vibrierte der Boden. Das Meer hatte sich weit zurück gezogen und lag spiegelglatt am Horizont. Marie hört ihr Herz viel zu laut schlagen. Angst verspürte sie, aber an Flucht war nicht zu denken, denn etwas Unfassbares zog sie wie ein Magnet. Im Kampf gegen die aufsteigende Angst, die in Panik umzuschlagen drohte, gebot sie ihren Gedanken Einhalt und ließ nur noch die Stimme des Delphins in sich sprechen:
"Marie, du hattest die Bilder schon vor dir. Du wirst zum Feuerberg gehen. In der Vollmondnacht zeigt er ein janusköpfiges Portal. Habe keine Angst vor den züngelnden Flammen. Sie brennen nicht. Es sind Farbtäuschungen. Es wird dir gelingen, den Türknopf, er ist nicht heiß, zu bewegen. Tritt ohne Furcht hinein, folge den Trommeln: Behalte sie immer im Ohr. Dein Weg wird dich in ein Labyrinth führen. Dort lauern Gefahren, aber du bist gut gewappnet. Vergiss deine Schätze nicht. Du wirst sie brauchen können. Etwas fehlt noch! Nimm ein Seil mit und vertaue es auf deinem Weg durch das Labyrinth.
Wenn du es schaffst, den Ausgang zu finden, wirst du auf einer grünen Wiese landen. Erschrecke nicht, denn dort geht dein Weg weiter, er ist noch nicht zuende. Bis du findest, was du tief in deinem Herzen suchst, brauchst du Mut, Geduld und Gelassenheit."
Um diese Gedanken zu verstärken, griff sie in den Lederbeutel, holte den Smaragd heraus und behielt ihn in der geschlossenen linken Hand. Seine kühle Temperatur vermittelte sich dem Körper über die Nervenbahnen und beruhigte. Der Tag war fortgeschritten und das Abendrot nahm überwältigende Dimensionen an: der Himmel zeigte sich blutrot. Die Berge, auf die Marie zurannte, glichen einem Flammenmeer.
Nicht eine einzige Vogelstimme war zu hören und nicht einmal ein neugieriges Kaninchen kreuzte ihren Weg.
Alles um sie herum schien den Atem anzuhalten.
War Marie das einzige Wesen, dass sich über die Insel bewegte? Nein, nur nahm sie außer den Trommeln nun nichts mehr wahr. Schon bald sah sie den Fuß des höchsten Berges der Felsenkette. Vom Laufen wechselte sie zum vorsichtigen Gehen. Langsam näherte sie sich dem Berg. Von weitem sah es aus, als trage er ein Gesicht. Eine weiße Wolke bekränzte sein vulkanisches Haupt.
Zur gleichen Zeit...
Karinopula, die weise Schleiereule und Korinapulo, der bunte Mächtige flogen kreisend über die Insel. Unter sich sahen sie zwischen der üppiggrünen Vegetation ab und zu die laufende Frau in ihren roten Gewändern blitzen. Sie hatte es eilig. Die beiden alten Vögel waren aufgeregt. Beide wußten, dass die Ereignisse, von denen das Überleben der Insel abhing, nicht aufzuhalten waren und Marie ihrer vorbestimmten Aufgabe entgegenlief.
Sie spürten Maries Angst und waren besorgt: Würde die Rotgewandete ihrer Aufgabe gewachsen sein?
Clarisse entzündet die ersten Kerzen in ihrem Badezimmer. Draußen verabschiedet sich ein grauer Dezembertag.
"Bald ist Weihnachten" , denkt Clarisse, "wie schnell das Jahr wieder vergangen ist,"
Über der großen Stadt öffnet sich das Firmament. In der frostklaren Nacht glänzen die Sterne wie frisch poliert.
Blaues Licht umarmt die Stadt.
Clarisse genehmigt sich Auszeit und einen männerfreien Abend.
Jetzt läßt sie sich ins warme Badewasser gleiten. Der Champagner steht bereit, auch die Sektschale, die wie eine Blüte geformt aus einem grünen zartem Stengel empor wächst. Die Frau schließt ihre Augen und entspannt sich. Über der Heizung warten großräumige flauschige Handtücher.
Rund um den Badewannenrand stehenen leuchtende Teelichter in bunten Gläsern. Über die Duftlampe, die bereits entzündet vor dem Spiegel steht, verströmen sich die Aromen von Sandelholz, Orange und Vanille.
Auf dem Glastischchen neben der Wanne steht ein hübscher amphorenförmiger Flakon mit ihrem Lieblingsparfum. In einer Schale wartet die rosenduftende Körperlotion darauf, sich auf frischgewaschener Haut zu verteilen. Perlmutfarbener Lack steht bereit, um Finger-und Fußnägel zu schmücken. Auf dem Hocker daneben liegt der silberfarbene Satin-Pyjama, den Clarisse so gerne trägt. Die Lichter spiegeln sich in den blitzsauberen Kacheln des Badezimmers.
Entspannt liegt Clarisse im warmen Badewasser und greift mit der linken Hand nach der gefüllten Sektschale. Plötzlich taucht vor ihrem inneren Auge das Bild von Marie auf. Clarisse glaubt, Angst zu spüren und ist irritiert. Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, das Wasser erscheint ihr plötzlich zu kalt.
"Immer mit der Ruhe, Clarisse". mahnt sie sich selbst, "das ist doch nur ein Hirngespinst." aber die Angst will nicht weichen. Schwebt Marie in Gefahr? Was kann sie tun?
Die nackte Frau im warmen Bad konzentriert sich auf ihr drittes Auge - oben über der Nasenwurzel - Sie spürt die Energie und lenkt sie mit ihren Gedanken zu Marie.
Innerlich jubelnd registriert sie, dass die Energie ihr Ziel erreicht und angenommen wird. Da ist Verbindung.
Draußen im Meer springt ein grüner Delphin verspielt durch die Wellen. Mit einem gewissen Abstand umkreist er die Feuerinsel. Wartet auch er auf das, was dort im nächsten Augenblick geschehen wird?
Seit Wochen hat Knut nur Wasser gesehen. So gern er sonst auf dem Meer unterwegs ist, so sehr sehnt er sich nun danach, für eine Weile wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Bald ist Weihnachten und er wird für einige Wochen zu Hause sein. Kurz streifen seine Gedanken Clarisse, seine vertraute Kurtisane. Meist vermeidet er die Gedanken an ihren Körper - den er so begehrt - mit Gewalt, denn sie halten in nur von der schweren Arbeit ab, lassen ihn die unbefriedigten körperlichen Bedürfnisse besonders schmerzhaft spüren.
Der letzte Satz fiel ihm ein, den sie ihm mit auf den Weg gegeben hatte:
"Finde Marie, wenn du kannst. Ich habe Angst!"
Knut runzelte die Stirn. Das Meer war groß, wo sollte er Marie finden? Clarisse hatte gut reden. Es war als suche man eine Stecknadel im Heu.
Er stand an der Reeling seines Schiffes und beobachtete einen grünen Delphin, der im sich wiederholendem Spiel durch die Wellen sprang. Noch nie hatte Knut einen grünen Delphin gesehen. Sehr sonderbar!
In der Ferne waren die Gebirgsspitzen eines Eilands zu sehen. Auf der Seekarte hieß diese Insel "Furiosa". Wer der Insel wohl diesen seltsamen Namen gegeben hatte?
Auf der Seekarte wirkte die Insel wie eine grüne Riesenschildkröte mitten im blauem Meer.
Merkwürdig, es schien, als brenne die Insel.
In der Höhle!!
Während Clarisse ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich selbst richtete, aus dem abgekühlten Badewasser stieg - denn ihr fröstelte - und sich in die vorgewärmten Handtücher hüllte, Smaragd weiter aufmerksam seine Runden um die Insel drehte und Knut sich das Gehirn über den grünen Delphin und das seltsame Licht der Insel zermarterte; näherte sich Marie dem wolkenumkränzten Berg:
es gab jetzt kein Zögern mehr - die Angst hatte sich soweit gelegt, dass ein überlegtes Handeln möglich war.
Marie war erstaunt, dass die innerliche Unruhe einer tiefen Sicherheit Platz machte, die ihr das Gefühl vermittelte, genau das Richtige zu tun. Tranceartig schritt sie auf das janusköpfige Portal zu.
Aus einer gewissen Entfernung heraus betrachtet, sah es aus, als schreite Marie durch ein Flammenmeer.
Doch wie der Delpphin es der jungen Frau im Traum prophezeit hatte, waren die Flammen kühl und brannten nicht. Marie drehte beherzt den Knauf des Tores. Die schwere Eisentür öffnete sich knarrend. Unter den Füßen knirschte es, als sie eintrat, so als habe jemand mit Absicht zerbrochenes Glas verstreut.
Das Tor schloss sich hinter ihr. Es war dunkel in der Höhle. Vorsichtig tastete sie sich voran, stolperte und erschrak, als sie ein Rauschen vernahm und etwas Unbekanntes sie streifte.
Die linke Faust öffnete sich reflexartig und der grüne Edelstein glitt aus ihrer Hand, fiel dumpf auf lehmigen Grund. Der Aufprall erzeugte ein Echo, das sich weit in die Tiefen der Höhle fortzusetzen schien und zusammen mit den Trommeln der Feuergnome einen reizvollen Klangteppich erzeugte.
Erstaunt registrierte Marie, dass der Stein leuchtete. Sie hob ihn auf und konnte nun die Umrisse der Höhle sehen - erkannte, dass sie einer Art Vorhalle betreten und eine ganze Schar Fledermäuse aufgeschreckt hatte. Erleichtert lächelte sie.
Die weise Schleiereule und der bunte Mächtige hatten inzwischen die Spitze des Feuerberges erreicht.
Etwas Neues bemerkte sie an sich!
Im Licht des grünen Edelsteins erschloss sich ihr eine riesige Halle. Sie folgte einem Gang nach links, der abwärts zu führen schien. Von dort klangen die Trommeln zu ihr herauf.
In der Höhle war es kühl. Marie fröstelte in ihren dünnen Kleidern. Aber etwas war mit ihr geschehen: die Angst war von ihr abgefallen. Ruhe - klare wohltuende Ruhe hatte sich in ihr breit gemacht. Kurz fragte sie sich, ob das auch der Wirkung des magischen Steins zuzuschreiben war?
Der Weg vor ihr wurde jetzt sehr verschachtelt - sie war im Labyrinth gelandet.
Sie erinnerte sich an den Ariadnefaden, nahm ihn aus ihrem Lederbeutel und befestigte ihn an einer Felsennase.
Eine Weile blieb sie stehen, holte tief Atem und konzentrierte sich auf das Vibrieren der Trommelklänge. Eine neue Eigenschaft nahm sie an sich wahr.
Kantig, kühl und spitz, wie ein Diamant fühlte es sich an. Zuversicht und Gelassenheit begleiteten dieses Gefühl. Sie lachte laut und das Lachen halte aus den unterschiedlichen Schichten des inneren Felsens zu ihr zurück. Es perlte, da lachte eine, die sich nicht unterkriegen ließ - eine, die wußte, was sie wert war und eine, die es im Augenblick selbst mit dem Teufel aufgenommen hätte. Was auch immer am Ende des Weges auf sie wartete, sie war bereit und sicher, es war das, was sie schon lange suchte.
Aber da war noch etwas: hinter ihr ging ein belebender Schatten.
12. Januar
Claire hat einen Traum!
In der Ferne weiß sie ihre Schwester Marie. Sie sorgt sich, fühlt Ohnmacht. Was kann sie tun? In ihrer Wohnung läuft sie auf und ab, wie eine Löwin im goldenen Käfig, wartet auf etwas. Nichts geschieht. Die Unruhe steigt - der Innendruck- wohin mit sich selbst? Gerade ist sie wieder in ihrer kleinen Küche gelandet. Auf der Anrichte aus hellem Holz liegt ein rotes Herbstblatt - schon ganz trocken. Es zerbröselt in ihren Händen, als sie es hochnimmt und darunter eine glänzende Bohne entdeckt:
Heute bin ich die Frau, die in einer braungesprenkelten Bohne lebt. Ganz klein habe ich mich gemacht. Durch den Spalt in der Seite bin ich hineingeschlüpft: wie kühl und erfrischend mich dass mehlige Fleisch umhüllt.Wie nahrhaft es duftet. Ich verharre. Von außen gelangen keine Geräusche an mein inneres Ohr. Die Bohne liegt unter einem verwelktem Blatt vom letzten Herbst. Zwischen Heckenzweigen hat es sich gut gehalten. Ich will allein sein - bei mir sein - aber so richtig ruhig sein kann ich auch nicht. Es ist eng und mein Bewegungsdrang groß, als hätte ich Angst, hier für alle Zeiten einzuschlafen.Immer wieder empfängt mich der Schlaf süß und erfrischend, aber nach einer Weile zucke ich zusammen, als habe eine innere Alarmanlage angeschlagen. Ich will mich aufrichten, doch die Bohnenstube ist zu niedrig, und schon stoße ich mir den Kopf. Nichts zieht mich nach draußen, obwohl am Himmel eine Wintersonne strahlt. Ich atme - lausche - atme - lausche - ich höre einen Ton und folge seinem Klang - ich atme tief, werde ruhiger ,etwas entspannt sich - ich lausche, atme, und der Klang windet sich in mein Ohr, wandert weiter durch den ganzen Körper - überall schlängelt er sich hin. Der Körper, eine Klangschale, vibrierend, mitschwingend - ich lausche, atme, werde ruhig - ein grüner Keim wächst im Inneren der Bohne. Er will zum Licht. Eine Weile noch - hab keine Angst - singt er in meinem Blut, dann wird das helle Leben auch für uns wieder Lichtwunder wirken.
Nach dem Traum
Claire wacht auf! Was für ein seltsamer Traum, denkt sie bei sich. aber er brachte Entspannung und Schlaf . Sie liegt auf ihrem roten Sofa, eine leichte Decke bedeckt ihren ruhenden Körper. Durch das Fenster an der gegenüberliegenden Wand huschen die ersten Morgenstrahlen durch die Vorhänge und blenden Claire ein wenig.Sie blinzelt. Es ist noch ganz ruhig. Ab und zu fährt ein Auto an, Frühaufsteher vielleicht, die den Sonntag für besondere Aktionen nutzen wollen. Hier und da eine Kohlmeise, die tschilpt und im Geäst nach Futter sucht.
Maries Freundin spürte noch der Bohnenwohnung nach: wohlgefühlt und geborgen hat sie sich dort gefühlt, wie in einem ganz besonderem Schatzkästchen. Welcher Reiz liegt doch in den kleinen banalen Dingen des Lebens, wenn man bereit war, sich darauf einzulassen. Wären ihre Gedanken nicht in die Bohne geschlüpft, nie hätte sie erfahren, welches kraftvolle Leben darin seinen Zauber spinnt. Noch hört sie die Melodie des wachsenden Keims und sieht, wie er sich streckt, wächst, kräftig wird und schließlich, die harte Bohnenschale durchbricht - dem Licht entgegen.
Claire reckt und dehnt sich, schüttelt Schlaf und Decke ab und beschließt aufzustehen, um die Vorhänge zu öffnen und sich einen starken Kaffee zu kochen.
Sie denkt an Marie - zuversichtlicher jetzt, abwartend - nichts kann sie tun.
Sicherheit ist gewachsen: Marie wird ihren Weg gehen.
Halt, halt; da war doch noch was!
Der Traum war doch noch gar nicht zuende erzählt:
Die Bohnenfrau ist aufgewacht, der Schlaf war erfrischend. Sie streckt ihre Glieder. Kopfschmerzen wüten noch im Kopf, parallel dazu quirlt ein silbriges Fischchen in den Eingeweiden und gibt keine Ruhe."Ich lebe!" ruft es mit heller Stimme. Wie Quecksilber ist es im ganzen Körper unterwegs. Das Fischchen spricht vom Frühling, vom Genesen, von der Kraft, die noch da ist. Fast etwas arg übermütig. Da winden sich zwei gegeneinander drehende Spiralen ineinander, schlagen das Sonnenrad und kaleidoskopieren Licht. Die Bohnenfrau ist überfordert mit dieser Situation.
Sie beschließt, den engen Wohnraum zu verlassen und sich eine nahrhafte Suppe aus braungesprenkelten Bohnen zu kochen und erinnert sich, dass in ihrer Küche frischer Knoblauch liegt und ein Bund duftendes Bohnenkraut an der Decke hängt. Erdknollen - Kartoffeln hat sie im Keller und Zitrone - ein wenig Zitrone muss unbedingt an die Suppe.
Während sie sich erinnert, läuft ihr das Wasser im Munde zusammen und sie merkt, dass sie wirklich Hunger und Appetit hat. Schließlich sagt ein altes Sprichwort: "Essen hält Leib und Seele zusammen."
Sie klettert am Keim empor zum Licht nach draußen.
Ach ja, Marie; fast hätte ich sie vergessen!
Nehmen wir den Faden also wieder auf:
Aber da war noch etwas: hinter ihr ging ein belebender Schatten. Schon lange hatte Marie gespürt, dass irgend etwas sich hinter ihrem Rücken abspielte, als schaute jemand sie an. Dieser Blick hinterließ ein zwiespältiges Gefühl; sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich beschützt oder beobachtet fühlte.
Jetzt nahm sie zum ersten Mal eine körperliche Anwesenheit von Etwas wahr, Atem? Energie?
Es war, als flüstere etwas mit winzigkleinen Kräuseln in ihr Ohr - eine Art Morsesprache. : "Gehe weiter, betrete jetzt das Labyrint!" schien die Stimme zu sagen.
Marie stoppte den Impuls, sich umzudrehen und betrat zügig die verschachtelte Halle . Unter ihr gab der Boden nach, schien mit etwas Weichem belegt, indem ihre Schritte gedämpft wurden und versanken. Der Pfad führte sie abwärts in einen scheinbar trichterförmigen Schacht. Von dort vernahm sie die Trommelklänge der Feuergnome. Mit der rechten Hand führte sie den Ariadnefaden, in der linken trug sie den grünen Stein , ihre Lichtquelle, ein Augentrost, beruhigende Strahlen, die Zuversicht schenkten. Was das nur für ein Wesen, das in ihrem Schatten ging. War es ihr Schutzengel?
Sie wagte es: "Bist du mein Schutzengel?"
Als Antwort spürte sie wieder zarte Morsekräusel in ihrem Ohr. Wie gesagt, sie hörte nicht, sie spürte.
"Glaube an mich! Ich bin in dir, neben dir, bei dir. Achte auf meine Zeichen. Stelle keine Fragen. Wisse, was du in deinem inneren Sein verankerst, ist da und wirkt. Niemand kann es dir nehmen. Fürchte dich nicht!"
Marie blieb abrupt stehen. Hallo, dachte sie, was ist das? Will mir da jemand Vorschriften machen, was ich zu tun und zu lassen habe? Wer sagt, dass ich dieser Stimme glauben kann. Wo ein Engel wandeln und wirken kann, ist möglicherweise der Teufel nicht weit"
Sie atmete tief ein und aus, ließ den Atem durch ihren Körper streifen. Da vernahm sie einen Schrei.
13. Januar
Der Schrei ging Marie durch Mark und Bein, versetzte sie in Panik. War es ein Kind, was da schrie oder ein gequältes Tier? Ohne zu Zögern folgte sie der Richtung, aus der sie der Schrei erreichte
"Nein, " , kräuselte es in ihren Ohren, "gehe nicht dorthin, der Weg ist gefährlich."
Marie wurde wütend, der Adrenalinspiegel stieg. Sie traute diesem seltsamen Wesen nicht. Wollte es tatsächlich bestimmen, wie sie handeln sollte?
Am liebsten hätte sie sich Stöpsel in die Ohren gesteckt. Die ganze surrealistische Situation war schon schwierig genug; verwirrende Stimmen konnte sie wirklich nicht gebrauchen.
Der Stein in ihrer Hand flackerte, als wolle er etwas sagen. "Nichts übereilen". dachte Marie bei sich.
Der Stein ist etwas anderes. Smaragd, der treuer Delphin schenkte ihn ihr. Sie erinnerte sich an seine Worte: "Folge immer dem Klang der Trommeln."
Marie lauschte, aber der Schrei war verstummt. Aus welcher Richtung war er an ihr Ohr gedrungen?
In welche Richtung ging sie jetzt? Sie hatte sich doch spontan in die Richtung gedreht, aus der sie den Schrei hörte. Erleichtert stellte sie fest, dass sie immer noch den Trommeln folgte.
Vorsichtig ging sie weiter, setzte Schritt vor Schritt. Der Stein in ihrer Hand flackerte nicht mehr. Ganz fern sah sie jetzt einen Lichtschein im Schacht, bemerkte, dass es wärmer geworden war.
Sie wollte eine Pause einlegen, etwas trinken und essen. Vor sich lag eine kleine Nische. Der Fels schuf dort eine natürliche Sitzbank, auf der Marie sich nun niederließ. Ihr Blick wanderte zu den Felsenwänden, entzückte sie: mindestens zwanzig tanzende, lebendig wirkende Pferde - gemalt mit Kohle und Erdfarben aus Bodensedimenten von Ocker bis Rötel - hatten ehemalige Höhlenbewohner dort als Kunstwerk hinterlassen.
Marie ließ sich von den Bildern einfangen und spürte nicht, dass eine große Müdigkeit sich ihrer bemächtigte. Sie sank auf der Felsenbank zusammen und fiel in tiefen Schlaf.
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich all jenen Menschen, die mich in einer schwierigen Zeit sanft und fürsorglich begleitet haben.