NOVEMBER
Draußen ist es kalt geworden. Die Bäume sind schon fast kahl. Einzelne braune Blätter hängen noch an den Zweigen. Bald reitet St. Martin durch die Gemeinden und der Geruch von frischem Hefegebäck quillt aus den Bäckereien, erreicht meine sich genießerisch kräuselnde Nase. Auf den Friedhöfen werden die Gräber geschmückt:
In der Erinnerung an meine Kindheit auf dem Lande begannen mit dem November die Weihnachtsvorbereitungen. Schon im Oktober holte man Tannengrün aus dem Wald und verteilte es auf die Gräber, um die Pflanzen vor dem bitterem Frost zu schützen. Kränze für die Gräber der Verflossenen wurden gebunden. Plastikcallas, befreit aus eingelagerten Schachteln, schmückten die Kränze. Abends funkelten bunte Kerzenlichter wie Edelsteine freundlich auf den Gräbern. Es war, als wenn die armen Seelen selbst zu mir herüber winkten.
Damals bargen die dunklen Friedhöfe keinen Schrecken für mich. Alle waren gute Bekannte, denn jeden Sonntagnachmittag wurde ihnen ein Besuch abgestattet. Wir gingen von Grab zu Grab und Geschichten über die dort Ruhenden wurden erzählt. Der Höhepunkt des Nachmittags war das Grab von Hermännchen. Ein kleines Grab auf dem Kinderfriedhof erinnerte an sein kurzes Dasein auf dieser Welt. Hermännchen starb mit fünf Wochen, weil meine Oma ihn nicht nähren konnte und er keine Kuhmilch vertrug. Ich selbst, vielleicht fünf Jahre alt, fühlte mich ihm, dem jüngeren Bruder meiner Mutter, besonders nah. Unsere Geburtsdaten stimmten bis auf die Jahreszahl überein. Irgendwie schloss sich ein Kreis: er das verstorbene Baby meiner Oma und ich ihr erstes Enkelkind, schlossen ihn. Liebevoll wurde über diese kleinen Jungen gesprochen, und so blieb er ein lebendiger Teil der Familie.
„Weißt du eigentlich,“ sagte meine Mutter neulich zu mir, „ dass es um den Tod des kleinen Hermann auch eine Geschichte gibt?“. „ Nee, kenne keine Geschichte“ antwortete ich erstaunt.
„Der kleine Hermann starb Ende Oktober.“ erzählte sie „Meine Eltern waren verständlicherweise sehr traurig und betroffen. Es fiel ihnen sehr schwer, mit diesem Verlust zurecht zu kommen.
Zu dieser Zeit gab es im Vorgarten am Haus ein Blumenbeet, auf dem im Sommer eine wunderschöne, edle Samtrose blühte. Tiefrot war sie und duftend. In diesem Jahr trug sie erstaunlicherweise noch Ende Oktober eine einzelne voll aufgeblühte Rose. Sie wurde abgeschnitten und dem kleinen Hermann in den Sarg gelegt. Mein Vater war ein bisschen abergläubisch und befürchtete, dass diese Geste Unglück bringen würde. Er beschloss, die Rose auszugraben und zu vernichten. Nein, reiß sie nicht heraus, habe meine Oma gesagt, sie hat doch geblüht, damit wir dem Kind einen Blumengruss auf seine letzte Reise mitgeben können. Und so durfte besagte Rose noch dreißig Jahre im Vorgarten meiner Mutter blühen, duften und alle Familienmitglieder an den Tod des Kindes erinnern.“
Allerheiligen und Allerseelen waren wichtige Feiertage in unserem bäuerlichen Jahreskreis. Verwandte kamen von nah und fern, gemeinsam ging man zum Friedhof und redete über frühere Zeiten. Wie selbstverständlich nahmen die Verstorbenen zwischen uns Platz und teilten die Feiertagsmahlzeiten mit uns.
Im November backte meine Oma Dresdner Christststollen. Nur ihr stand das Recht zu, diesen schweren Teig zu kneten, die sorgfältig abgewogenen Zutaten darunter zu mischen, ihn nach dem Backen mit ausgelassener Butter zu bestreichen und mit einem Mantel aus Puderzucker zu versehen. Die Stollen wurde zum Durchziehen in Leinentücher gebettet, um Weihnachten ihr volles Aroma zu entfalten. Der Geruch des schweren Backwerks mischte sich mit dem der eingelagerten Äpfeln und dem ersten Frost. Wir Kinder drückten uns am kalten Fenster die Nasen platt und warteten auf den ersten Schnee.
War das Wetter im Oktober noch mild, kamen mit Allerseelen die ersten Frosttage. Die letzten Falläpfel und Spätzwetschgen wurden aufgelesen und die Walnüsse eingesammelt. Walnussbäume gab es in dieser Gegend selten. Ein Großonkel sammelte auf dem Rückweg aus dem ersten Weltkrieg sieben Walnüsse auf und pflanzte sie erfolgreich in den heimischen Garten. Beim Aufsammeln der noch nicht ganz reifen Früchte holten wir und schwarze Finger. Der Farbstoff ließ sich nur schwer entfernen. In der Küche auf der Fensterbank lagen sie zum Trockenen, bevor sie wie ein Schatz in einen kleinen Sack für Weihnachten eingelagert wurden. Ich erinnere mich noch gut an die Warnungen der Erwachsenen, sie nicht anzufassen und an die fröhliche Stimmung, die mit der Walnussernte einherging. Die Walnussernte war wie ein Auftakt zu noch größeren und schöneren Geschehnissen und Geheimnissen.
Im November fiel der erste Schnee und die Gänse wurden geschlachtet. In der großen Küche wurden sie gerupft und über dem Kohleofen geflämmt. An diesen Geruch denke ich nicht gern zurück. Er verursachte mir Übelkeit und so hielt ich mich lieber außer Reichweite der Familie auf. Weiße Federn bedeckten den Küchenboden, Flaumfedern schwebten durch den Raum, eine Entsprechung zu draußen, wo unaufhaltsam der erste Schnee den Boden bedeckte. Die Familie besaß in einem Haus der Genossenschaft eine gemietete Kühltruhe. Ich wurde von meinem jüngsten Onkel auf den Schlitten gesetzt und mit den zum Gefrieren vorbereiteten Gänsen erlebte ich die erste Schlittenfahrt des Jahres.
Ein letztes Schwein wurde geschlachtet, zerteilt und verwurstet, um Weihnachten frische Blut- und Leberwurst und die ersten geräucherten Mettwürste auftischen zu können. Es war eine herrlich geschäftige Zeit, die schon vom Vorweihnachtzauber sprach. Die Stimmung im Haus war fröhlich und weniger streng, Geschichten wurden erzählt und Adventslieder geübt. Dann war es endlich so weit, durch den Schnee ging es in den Wald, um frisches Tannengrün für den riesigen Adventskranz zu holen. Er wurde gebunden und mit roten Bändern und Kerzen geschmückt. Im guten Wohnzimmer baumelte er von der Decke. Eine kleine Krippe wurde aufgestellt und jeden Tag, an dem wir auf Süßes verzichteten, durften wir Kinder einen Strohhalm hineinlegen. Wir strengten uns sehr an, damit das Jesuskind Weihnachten nur ja auch ein bequemes Bettchen bekam. Jeden Abend saßen wir Kinder mit Oma in der kleinen Sitzecke im Wohnzimmer neben dem Kohleofen. Kerzen wurden entzündet. Es waren stille beschauliche Moment, die den Übergang zum Schlafengehen in den eiskalten Schlafzimmern und versteckt unter dicken vorgewärmten Daunendecken
leicht machten. An den Fenstern blühten Eisblumen und wir wussten, Weihnachten ist nicht mehr weit.
OMA
Meine Oma war eine ganz besondere Frau. Ihre natürliche Autorität wachte allgegenwärtig über uns. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals ihre Stimme hob. Würdig sehe ich sie vor mir, schon alt als ich geboren wurde. Schwarz gekleidet mit einer dunklen geblümten Schürze, war sie der Mittelpunkt des Hauses. Das weiße Haar trug sie streng in einen Knoten geschlungen. Markante Züge und eine hohe Stirn zeichneten ihr klares gütiges Gesicht. Der stattlichen, straffen Gestalt sah man an, dass sie kein „Sichgehenlassen“ duldete.
Katholisch bis ins Mark schien sie bereits auf den Weg in himmlische Sphären und über den Dingen zu schweben. Eine gewisse Kühle und Distanziertheit umgaben sie, flößten jedem Respekt ein. Scheinbar mühelos hielt sie trotzdem die Fäden in der Hand. In ihrem langen arbeitsreichem Leben hatte sie die täglichen Handgriffe perfektioniert. Die Hände arbeiteten präzise, während die Gedanken ganz wo anders zu sein schienen.
Oma duldete keine Verschwendung, denn Lebensmittel waren heilig. Etwas Schimmel auf der eingemachten Marmelade war kein Problem. Großzügig wurde der Schimmel entfernt und der Rest gegessen. Niemand wäre auf die Idee gekommen ein ganzes Glas Marmelade nur wegen ein bisschen Schimmel weg zu schmeißen. Wenn meine Mutter oder ihre Schwestern einmal die Kartoffeln zu dick geschält hatten, ernteten sie strafende Blicke. Am Fallobst des Spätsommers wurde sofort zu Kompott weiterverarbeitet. Ebenso sorgsam wurde mit allen Früchten und Gemüsen unseres großen Gartens umgegangen. Blieben vom Mittagsessen Reste, wurden sie für die Abendmahlzeit weiterverarbeitet.
Der Sonntag war für mich ein besonderer Tag. Es wurde im guten Wohnzimmer gegessen. Auf den Tischen lagen weiße Leinentücher und die Damen des Hauses trugen statt der geblümten die weiße Schürzen.
Nur an diesem Tag gab es ein Frühstücksei, weichgekocht, das heißt:
Eiweiß fest und Eigelb flüssig. Ich liebte Frühstückseier und machte meine ganz eigene Zeremonie aus diesem Frühstück. Ich aß viel Brot mit Butter und ganz wenig Ei dazu, gerade soviel, dass ich das Ei noch schmeckte, eine Angewohnheit die ich heute immer noch pflege. Langsam aß ich es, um den Genuss so lange wie möglich zu erhalten. In der Woche gab es wenig Fleisch, aber am Sonntag stand immer ein Braten oder Geflügel auf dem Tisch. Meine Oma hatte das Vorrecht, den Braten zu schneiden und das Geflügel zu teilen. Die beim Teilen abfallenden Fleischfasern oder auch kleinere Geflügelteile schob sie uns Kindern eigenhändig in den Mund. Beim Erwarten dieser besonderen Zuwendung, lief mir schon im Voraus das Wasser im Mund zusammen.
Früh Witwe geworden arbeitete Oma hart daran, Haus und Hof für die Nachkommen zu erhalten und ihre sieben lebenden Kinder durch zu bringen. In ihrem Leben hatte es wohl nicht viel Zeit für sich selbst gegeben. Als ich Kind war, lebten sechs Erwachsene und vier Kinder im Haushalt meiner Oma. Die alltägliche Arbeit auf den Feldern teilten meine beiden Onkel unter sich auf. Die Hausarbeit, das Melken und die Versorgung der Tiere und des Gartens war die Arbeit meiner Mutter und ihrer zwei unverheirateten Schwestern. Meine Oma legte immer dort Hand an, wo besonderes Fingerspitzengefühl oder besondere Erfahrung notwendig waren, wie beim Buttern. Nur in der Erntezeit mussten alle mit aufs Feld, während Oma zu Hause für die Kost sorgte. Das Heu wurde mit der Sense geschnitten, gebündelt und die Heugarben so zu kleinen Häusern aneinander gestellt dass sie gut trocknen konnten. Schnelligkeit war erforderlich, denn gutes Wetter musste ausgenutzt werden. Ich erinnere mich an den Heugeruch, die heiße Mittagssonne im Nacken und auch an die Langeweile. Es war harte schweißtreibende Arbeit.
Wir Kinder versuchten zu helfen, aber die meiste Zeit über liefen wir wie Irrwische zwischen den Erwachsenen herum. Diese gemeinsame Arbeit war etwas Besonderes, denn am Ende des Tages konnte man genau sehen, wie viel gemeinsam geschafft worden war. War das Wetter hold und das Heu trocken wurde es mit Mistgabeln auf einen großen Leiterwagen geladen. Oben drauf, auf der duftenden Last saßen wir Kinder. Das war für uns die absolute Herrlichkeit.
Im Spätherbst pflanzte meine Oma Narzissenzwiebeln in Blumentöpfe mit Erde. Die Zwiebeln bekamen einen spitzen Hut aufgesetzt und fanden Platz unter "Omas Ruh", ein kleines Sofa im guten Wohnzimmer, neben dem ein kleiner Kohleofen stand, und auf dem Oma ihre Ruhezeiten zu gestalten pflegte. Es war der Platz, auf dem sie Besuch empfing und mit meinem Bruder und mir (Vorschulalter) jeden Abend im Advent verbrachte. Wir erzählten, lachten und sangen Advents- und Weihnachtlieder. Von Oma ging viel Ruhe aus. Keiner sonst im Haus besaß ihre Gelassenheit im Umgang mit uns Kindern. Sie sprach wenig, aber ihre Nähe war wohltuend.
Ich erinnere mich gerne an diese Abende, an denen ein Adventsgesteck auf dem kleinen runden Tisch stand und der große selbstgebundene grüne Kranz von der Decke herab hing. Jede Woche brannte eine Wachskerze mehr und erinnerte daran, dass bald das ersehnte Weihnachtsfest vor der Türe stand. Die Zeit wurde uns dennoch lang.
Im Januar, kurz vor Lichtmess, fingen die Narzissen unter dem Sofa an zu grünen und zu duften. Noch heute liebe ich diesen bezaubernden Geruch. Ich denke an lange weiße Kerzen und den Frühling, der nicht mehr lange auf sich warten lässt.
DIE ZWERGENSCHULE
Meine Zwergschule lag mitten im Dorf fast neben der Kirche. Der Schulweg war kurz. Vorbei an unserem Garten, dem Nachbarsgehöft und dem Bäcker trennten mich nur noch wenige Häuser von meiner Schule. Auf dem Rücken trug ich einen schweren Lederranzen, aus dem der bunte Topflappen baumelte, den ich zum Auswischen der Schiefertafel benutzte. Von allen Seiten strömten die Dorfkinder gemeinsam mit mir zur Schule. Noch mal kurz in einen Kälberstall geblickt, und schon war ich da.
Die Zwergenschule hatte zwei Lehrerinnen und einen Lehrer, die direkt nebenan im Lehrerhaus lebten. Drei Klassen wurden von ihnen betreut. In einer wurde das erste und zweite Schuljahr unterrichtet, in der zweiten das dritte und vierte Schuljahr und in der dritten der Rest.
Die Lehrerinnen kamen mittags zum Essen in mein Mutterhaus und waren mit den noch zu Hause lebenden Tanten und Onkeln befreundet. Selbstverständlich trug ich, wie alle Mädchen, eine Schürze im Unterricht. Ich war unsterblich in meinen Klassenlehrer verliebt. Da sich jeder im Dorf kannte, machten Gerüchte schnell die Runde, und ich wurde mit diesem Verliebtsein häufig aufgezogen. Die Schule war klein und überschaubar.
Ich war ein zartes zierliches Kind und mein Lehrer sagte oft zu mir "Mädken, du musst mehr Bütterkens mit viel Schinken drauf essen, damit was aus dir wird.“ Dann kniff er mich sanft in die Wange oder zupfte mich am Ohr.
Darüber hinaus hatte er selbst einen Haufen Kinder und war Lehrer aus Leidenschaft. Ich war sehr wissbegierig, aber auch ein bisschen schüchtern. Er hat meine Lust am Lernen gefördert.
Wenn ich mittags nach Hause kam, wurden die Hausaufgaben gemacht. Ich durfte sie in unserem guten Wohnzimmer erledigen. Dort war es ruhig und nur meine Oma saß in der Ecke auf einem kleinen Sofa und beaufsichtigte mich. Manchmal hatte sie dann auch Besuch, z.B den Herrn Pastor. Mich hat das nicht weiter gestört.
Zu diesem Zeitpunkt liebte ich das Lesenlernen besonders. Meine Fibel war so schön und bunt. Aufregende Geschichten standen darin, bereit meinen dörflichen Horizont zu erweitern, denn bis zu diesem Zeitpunkt war ich immer noch fest davon überzeugt, dass hinter dem Dorf das Ende der Welt lag, der Ort an dem Hase und Fuchs sich Gutnacht wünschen. Immer wollte ich noch ein neues Kapitel im Lesebuch lernen, aber ich konnte nicht leise lesen. Es ging nur gesprochen und laut. Das nervte die anwesenden Erwachsenen sehr, und ich wurde häufig ermahnt. Es hat ziemlich lange gedauert, bis mir das stimmlose Lesen gelang. Wenn ich mit meinen Hausaufgaben fertig war und noch Zeit bis zum Mittagessen blieb, spielte meine Oma mit mir Halma. Das war ihr Lieblingsspiel und sie brachte es mir früh bei.
Der Hammer kam für mich, als ich nach Köln zog und in der 2. Klasse plötzlich mit 57 anderen Schülern in einer Klasse saß. Ich kannte keinen. 58 waren wir vorher in der Zwergenschule vielleicht insgesamt. Ich traute mich in den Pausen nicht auf den Schulhof und blieb zur Verzweiflung meiner Lehrerin einfach in der Klasse sitzen.
WEIHNACHTEN 1961
An meinem letzen Weihnachtsfest im alten Haus hatte ich die Masern. Ich war gerade sieben Jahre alt und Ostern eingeschult worden. Mein jüngster Bruder - wir waren inzwischen vier Kinder - war nicht mal zwei Monate alt, also ein richtiges lebendiges Christkind. Ich erinnere mich noch an das hohe Fieber und die Alpträume, die ich hatte: in einem legte mein Vater mich wie ein Opfertier auf einen Bock, um mir den Kopf ab zu sägen.
Ich musste unter den dicken Daunendecken im Bett bleiben. Man brachte mir Tee und Medikamente- Ich schlief viel. Draußen lag hoher Schnee. Die ganze Schule war geschlossen, wegen der zahlreichen Erkrankungen.
So kam nicht der blonde Heiner aus dem zweiten Schuljahr, den ich so bewunderte, um mir die Hausaufgaben zu bringen.
Ich hätte sie eh nicht machen können, denn mein Kopf war zu und konnte nichts auf nehmen. Schon befürchtete ich, dass ich Heilig Abend nicht am Fest teilnehmen konnte. Wie glücklich ich war, als unser Hausarzt, der einmal in der Woche ins Dorf kam, um Hausbesuche zu machen, Entwarnung gab.
So wurde ich dann vor der Bescherung in dicke Decken gehüllt und von meinem Vater nach unten getragen. Ich glaube, es war der schönste Heilige Abend, den ich je erlebte. Allein der Duft nach Äpfeln und Tannengrün, die brennenden Kerzen und dazu die ganze große Familie, die festlich gekleidet Weihnachtlieder sang, und unsere alte Krippe mit Maria und Josef und dem Jesuskind, machten mich selig. Und alle freuten sich mit , dass ich dabei sein durfte.
Was ich an diesem Weihnachtsfest geschenkt bekam, das weiß ich nicht mehr. Es war auch nicht wichtig.
Manchmal verschmelzen Ereignisse, wenn man sich erinnert.
So schrieb ich ganz frisch und aus dem Bauch heraus von meinem - so dachte ich - letzten Weihnachtsfest im alten Haus.
Hinterher kamen mir Zweifel, denn in meinem letzten Jahr dort geschahen dramatisch Veränderungen in meinem vertrauten Leben. Die Grundstücke hinter dem Haus, der Garten, die Obstwiesen und eine Weide wurden verkauft und abgeholzt. Ich kam im April in die Schule Dann heiratete im Mai mein ältester Onkel, der Hoferbe, und zog mit seiner Frau in den neuerbauten Hof außerhalb des Dorfes. Natürlich nahm er die Tiere mit. Im Juni verunglückte mein jüngster Onkel tödlich. Meine Mutter war mit dem vierten Kind schwanger. Es ging ihr sehr schlecht. Der Arzt kam fast täglich. Im Oktober wurde mein Bruder geboren. Im Dezember erfuhren meine Eltern, dass sie endlich - nach langem Warten - ein Haus im Kölner Norden beziehen können.
Was mir aufgefallen ist an meinen Erinnerungen, dass dieses Weihnachtsfest, von dem ich schrieb, so ungetrübt war, dass die Welt, in der ich lebte noch vertraut wie immer war, die ganze Familie zusammen war - Mutter, Vater, Kinder, Oma, zwei Onkel und zwei Tanten - und ich mich sehr geborgen fühlte. Wie kann das aber sein, wenn im Verlauf des Jahres so viele dramatische Veränderungen statt gefunden haben?
Ich besuchte meine Mama. Zusammen überlegten wir wie das denn wirklich gewesen war:
Sie sagte, das Weihnachten an das mich erinnert habe, das wo ich Masern hatte, war ein Jahr früher gewesen: ich war noch nicht in der Schule und wir waren tatsächlich noch alle zusammen. Es war alles wie immer.
Sie wusste auch noch, was ich zu Weihnachten geschenkt bekam: eine Jungenpuppe, die mir aber schon nach kurzer Zeit von meinem eineinhalb Jahre jüngeren Bruder abgenommen wurde. Kein Erwachsener schritt ein.
Die Puppe erhielt später den Namen des Onkels, der verunglückt ist.
Zur Freude der ganzen noch lebenden Familie wurde mein jüngster Sohn an dem Tag geboren, an dem dieser jüngste Onkel 65 Jahre alt geworden wäre.
Texte: Text und Foto: Angelika Röhrig
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich meinen Geschwistern, meiner Mama, und den verstorbenen Verwandten aus dem Märchenhaus meiner Kinderzeit