Hinter der Hecke zwischen den hohen Laubbäumen ist die Spitze des Dachgiebels gerade noch zu erkennen. Eine Amsel sitzt ganz oben auf der Spitze.
Das ist ein gutes Omen, denn ich liebe Amseln und nenne sie - zumindest die Männchen - Stello Negro, rede mit ihnen und versuche zu zwitschern wie sie.
Unter grauen Dachziegeln winkt der weiße Fassadenputz. Eine Luke zum Dachboden ziert den Giebel. Fast so, wie man es von Kinderbildern kennt, die Fünfjährige immer noch auf die gleiche Weise zeichnen.
Einmal spazierte ich schon um die Hecke herum , ohne den Eingang zu finden. Es braucht seine Zeit, das ausladende Grundstück zu umrunden.
Vor vielen Jahren erzählte Oma mir von diesem Haus - ich muss damals ein Mädchen von etwa acht Jahren gewesen sein. Sie erinnerte sich gern an dieses Haus, indem sie als Kind oft zu Besuch war, denn ihre beste Freundin lebte dort mit Geschwistern, Eltern und Großeltern. Omas Geschichten vom weißen Haus hinter der Hecke müssen sich in meine Träume gestohlen haben,
denn sie waren in Bruchstücken bezwingend plastisch:
so träumte ich, dass sich im Erdgeschoss neben der großen Küche ein Kaminraum mit Holzdielenboden befindet. Die großen Fenstertüren führen zur Balustrade und öffnen den Blick in den verwilderten Garten, der vom Grün der Hecke umschlossen wird.
Omas Freundin entwickelte sich zur begabten Pianistin, die in diesem Raum viele Stunden am Klavier verbrachte, während die weißen Chiffon-Vorhänge sacht vom Wind verweht wurden.Von draußen, so stellte ich es mir vor, drang das ganze Jahr sommerlicher Blütenduft ins Haus.
"Ob das Instrument heute noch am selben Platz steht wie damals?" frage ich mich in diesem Augenblick.
"Stello" rufe ich hinauf zum Giebel, "willst du mir nicht den Eingang zum Garten verraten?"
Viele Worte und Gedanken liegen mir auf den Lippen, aber eine Antwort auf die Frage nach dem Weg, um die Hecke zu überwinden, findet sich gerade nicht. Stello hat wohl Besseres zu tun. Brutpflege ist angesagt.
Ich werde großräumiger beginnen müssen und ins Dorf zurück gehen, um beim Bäcker meine Fragen zu stellen. Denn dorthin kommt jeder, der hier lebt. Man kennt sich, weiß wo wer unter welchen Bedingungen lebt, wer geboren und gestorben ist und wer wen am Sonnabend heiraten wird. Vielleicht übersehe ich ein winziges Detail.
Ach, und überhaupt - ich habe Hunger!
Beim Bäcker, das habe ich auf dem Hinweg gesehen, gibt es frischgebackene Rosinenweckchen und Kaffee im Ausschank. Beim Gedanken an ein Frühstück läuft mir das Wasser im Munde zusammen, denn ich war heute Morgen zu ungeduldig, um zu essen.
Ich zögere nicht, und wende meine Schritte zurück über den Kiesweg, der mich zwischen den Laubbäumen hindurch hierher getragen hat.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, dringen verwehte Klänge an mein Ohr.
Nun steh ich hier und weiß nicht - gehen oder bleiben - die Melodie von Chopin - ich bin mir sicher - dringt wie von Feenhänden gespielt an mein Ohr.
Ob die Frau noch lebt, von deren Künstlerinnenhänden meiner Oma erzählte? Wahrscheinlicher wohl, es gibt eine Nachfolgerin. Ich bin wie verzaubert. Zweifellos hat der Ort Magie.
Es muss einen tiefen inneren Grund geben, hierher gekommen zu sein, um den letzten Wunsch meiner Großmutter zu erfüllen.
Sie hat mir nicht alles erzählt. Zwischen den Zeilen war immer so ein besonderes Raunen zu vernehmen.
"Lach nicht Stello Negro, ich spüre zwischen und hinter die Worte, die Menschen sprechen."
Wenn ich diesem Raunen hinter Großmutters Geschichten eine Farbe geben würde, es wäre indigoblau und seine Stimme wäre ein kehliger Bariton, die Stimme eines Mannes in den besten Jahren.
Hätte das Raunen ein Melodie, sie würde klingen, wie der Wind in den Bäumen an einem Frühlingstag.
Wie war das noch? Woher kannte Oma sie? Ich muss mich erinnern.
Ob Mama noch etwas weiß? Ich könnte sie anrufen. Das Handy ist in meiner Jackentasche.
Einstweilen bleibe ich stehen - gehen kann ich schließlich immer noch, wenn die Musik verstummt ist. Hunger und Durst sind vergessen. Durch die Zweige der Hecke wage ich einen neugierigen Blick in den verwunschenen Garten. Es beginnt zu regnen. Ein Rosenzweig streift meine Stirn. Der Dorn am Stiel hinterlässt eine Schramme.
Die verwehteMelodie, die vom Haus herüber klingt, nimmt mich mit auf dieReise. Ich werde selbst Melodie und und in mir schwingen die Töne, finden Hall und Echo. Selbstvergessen - wie Kinder es manchmal sind im Spiel - bin ich nur Ohr, Haut und Fühlen - Bewegung. Die Gedanken sind still. Als weiße Federwölkchen ziehen sie über den blauen Himmel und lösen sich auf, wie auch ich, vom Sommer aufgesogen.
Plötzlich ein warmer Druck auf den Schultern. Ich zucke zusammen und wirbele herum. Da ist nichts. Nur Wind wie Flügelschlag und Energie, die mich stärkt.
Das Klavier verstummt.
Ich fürchte mich nicht und schließe die Augen, fühle mich in diesen warmen Druck hinein, spüre Hände, die mich sanft und ohne Zwang halten - ich kann gehen, wenn ich will - stattdessen krieche ich in diese unsichtbaren Hände hinein, als seien sie ein Haus und ich der Bewohner. Die Zeit vergisst mich - bin ich immer noch da?
Nein, ich bin Teil von etwas Größerem, dass ich noch nicht erfasse. Fast würde ich sagen, ein Schatten kleidet mich in helles Licht. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als ich mit den Gedanken zurück kehre zum stillen Haus, wo die Musik verstummt ist.
Regentropfen haben mir Gesicht und Haare benetzt.
Mit langen Silberfäden streichelt der Regen den Tag, macht ihn frisch und grün. Ein Aufatmen geht durch die Welt. Das Gras richtet sich auf. Ich fühle keine Kälte. Der warme Sommerregen ist wie eine belebende Dusche. Soviel Kraft - geschenkt an einem Tag. Ich will noch ein wenig bei mir selbst bleiben, den Tönen nachhorchen, die in meiner Seele einen Abdruck hinterlassen haben und den unsichtbaren Händen nachspüren, die mir Energie geschenkt haben.
Morgen werde ich wieder kommen, und jetzt suche ich mir ein Quartier in der Nähe, um zu bleiben eine Weile.
Wie gut, dass ich Urlaub habe, mich niemand erwartet und ich frei bin, zu tun, was ich möchte.
Texte: Copyright: Angelika Röhrig
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2009
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