VORWORT
WAS IST EIN FINDEVOGEL?
Ein Findevogel findet immer etwas, ohne bewusst danach zu suchen. Im Allgemeinen ist er ein Einzelgänger, der versteckt im dornigen Gebüsch sein Nest gebaut hat. Er ist gern allein und weiß sich gut zu beschäftigen. Gelegentlich fliegt er aus, um seine Artgenossen zu treffen. Bei diesen Streifzügen findet er:
Gedanken, Ideen, lyrische Zeilen, Assoziationen und so manches Fundstück, das zunächst unscheinbar, sich in der Folge aber als Schatz entpuppt. Er hat einen Blick dafür, das muss man ihm lassen. Seine Antennen sind weit ausgefahren.
Nicht, dass ihr jetzt meint, dass Findevogel immer gelassen bleibt. Nein, er gerät aus dem Häuschen, steigert sich in einen Begeisterungstaumel hinein und ist hin und weg. Euphorisch flattert er von Zweig zu Zweig und erzählt der Hecke von seinen Fundstücken.
Was macht der Findevogel nun mit all diesen Fundstücken?
Zunächst hortet er sie in seinem Nest. Dann verwebt er alles zu einem kreativen Neuding. Wenn es fertig ist, will er es an den Mann/die Frau bringen. Er will Resonanz und Austausch. Er will andere begeistern und mit ihnen teilen. Hat er das endlich mit mehr oder weniger Mühe geschafft, zieht er sich für eine Weile in sein Nest zurück, nimmt Auszeit und träumt sich in den Tag hinein.
Er versteckt sich geschickt und wird gerne gefunden. Wenn also so ein findiger Gast sein Nest in den Dornen sichtet und sogar anklopft, kann er ganz sicher sein, dass er besondere Gastfreundschaft genießen darf.
Der Findevogel gehört einer aussterbende Rasse an und ist aufgrund seiner Seltenheit etwas Besonderes. Man sollte ein Artenschutzgesetz für ihn entwerfen. Aber schnell, bevor es zu spät ist.
Schwarz-weiß ist sein Gefieder nicht, eher passt es sich farblich der Umgebung an. Ganz sicher aber gehören er zu den rabenartigen Elstern. Er kann sich unsichtbar machen oder ein gltzerndes Gewand anlegen, ganz wie er möchte, ist aber nicht so laut und unmusikalisch, wie seine Verwandten, die ungelenken Elstern, die sich in heimischen Gärten zur Plage entwickeln und alle anderen Vögel verscheuchen.
Findevogel hat kluge Perlaugen und ist weise wie ein Rabe. Ihm entgeht so leicht nichts. Sein Körper ist mittelgroß und gut proportioniert. Auf dem Kopf trägt er ein kleines Krönchen aus weißen Federn. Die wippen bei jeder Bewegung. Jemand hat mir erzählt, er besitze heilende Kräfte. Eins weiß ich aber genau, belügen kann man ihn nicht. Er durchschaut die Masken. Er besitzt feine und sehr empfindliche Antennen, mit denen er energetische Schwingungen aufnimmt. Des öfteren gerät er in energetische Störfelder, in denen er wie ein Katalysator wirkt. Das kostet ihn soviel Kraft, dass er danach für Wochen in seinem Nest verschwindet.
Sein Futter besteht aus Samen, Körnern und Wurzeln.
Jetzt frage er ich doch gerade, ob es wohl in dieser Gemeinschaft Artgenossen gibt.
WAS TUT FINDEVOGEL, WENN ER TRAURIG IST?
Erst einmal muss man sagen, dass Findevögel alle Gefühle sehr intensiv erleben. Sie spüren alles mit dem ganzen Körper bis in die kleinste Federspitze hinein. Jeder, der ihnen begegnet, kann es sehen, denn verstellen können sie sich nicht. Auch Intrigen und ander manipulative Machenschaften liegen ihnen nicht. Auf eine gewisse Weise sind sie naiv.
Mein Findevogel will nicht, dass jemand sieht, wenn er traurig ist, deshalb zieht er sich erst einmal ganz tief in sein Nest zurück, stopft sich Moos in die Ohren und deckt sich mit einer Lage aus frischem Gras zu.
Er möchte nicht gestört werden und
mag es schon gar nicht, wenn er bemittleidet wird. Seine größte Angst ist, sich ausgeliefert zu fühlen, abhängig und beeinflussbar.
Deshalb macht er seinen Kummer lieber mit sich selbst aus. Findevogel spürt ganz in sich hinein, horcht auf das, was die inneren Stimmen ihm sagen wollen. Manchmal herrscht da ein ganz schönes Chaos und Durcheinander, und es dauert eine Weile, bis Gedanken wieder in geordneten Bahnen fließen und die Gefühle auseinander zu halten sind.
Und natürlich schmerzt es. Es tut höllisch weh! Aber Findevogel weiß, dass es Sinn macht, sich diesen Schmerz anzuschauen, ihn auszuhalten. Immer zeigt sich, dass der Schmerz ein Signal ist, das ihm etwas erzählen, auf etwas Wichtiges aufmerksam machen möchte.
Wenn Findevogel so weit gekommen ist, läßt die Traurigkeit nach, er schiebt ein bisschen Gras zur Seite, blinzelt in den hellen Tag und riecht den Duft der Heckenrosen. Nun richtet er sich auf, spitzt eine Feder und beginnt zu schreiben.
Bleibt noch zu sagen, dass Findevogel eine tiefe Sehnsucht nährt, getröstet, beschützt und umsorgt zu werden.
Zugeben würde er das allerdings nie.
FINDEVOGELGESCHICHTEN:
SPÄTSOMMERFLUG
Findevogel entstieg gut ausgeruht seinem Nest und startete zum Ausflug. Es war ein sonderbarer Tag, Nebel umhüllte das Dornengebüsch, die Sicht war begrenzt. Noch hatte sich dieser Spätsommertag nicht entschieden, was er werden wollte: sommerlich warm oder herbstlich stürmisch. Findevogel mochte den Nebel. Hinter seinen Schleiern warteten Überraschungen. Nie konnte man im Voraus sagen, was geschehen würde. Seine Seele lächelte und das Herz tanzte in seiner Brust. Was würde er heute finden?
Er drehte eine weite Runde über die vertraute Heckenlandschaft, um sich dann hoch in die Luft zu schrauben und neue Wege zu erkunden. Hoch oben war der Himmel blau. Unter ihm lichteten sich die Nebel und gaben den Blick frei auf eine Patchworklandschaft: mit Hecken abgeteilte Wiesenflächen grenzten an gelbe Stoppelfelder und an kleine Gemüsegärten, die zu den vereinzelt in der Landschaft verstreuten Häusern gehörten. In Obstgärten lockten Apfelbäume mit ihrer reifen Fracht. Es war noch sehr früh am Tag und das Leben da unten begann sich gerade erst zu regen.
Zeit eine Pause zu machen. Findevogel landete sanft in einem Apfelbaum. Aus der Ferne erreichte seine Nase der Geruch von frisch gebackenem Brot. Genüsslich sättigte er sich mit den ersten reifen Äpfeln. Die Luft war klar und die Landschaft, wie von der Hand eines Malers gemalt, in frischen Farben aus dem Nebel erstanden.
So musste es wohl gewesen sein, an jenem Tag im Paradies, als Eva der Versuchung erlag und mit Adam den verbotenen Apfel teilte.
Findevogel empfand in diesem Augenblick ein tiefes Verständnis für Eva, die sich an einem solchen Tag von der weisen Schlange verführen ließ, ihrer eigenen Eingebung folgte und den göttlichen Verboten trotzte. Solche Tage waren wohl eine Sünde wert. Aber was war schon eine Sünde?
Plötzlich vernahm er ein Geräusch er lauschte und war sich bald ganz sicher: in der Nähe weinte ein Menschenkind, es schluchzte ganz bitterlich. Findevogel hatte ein mitfühlendes Herz, und er fragte sich, was geschehen war, dass ein Menschenkind an diesem schönen Tag so traurig war. Also breitete er die Flügel aus, suchte und fand.
Ganz in der Nähe stand ein alter Kastanienbaum. Unter seinem weitausladenden Blätterdach mitten im Moos und zwischen den heruntergefallenen Kastanienfrüchten lag ein junges Mädchen und weinte bitterlich. Vorsichtig, ohne zu lärmen, landete Findevogel in dem alten Baum.
Was sollte er tun, er wollte das Mädchen ja nicht auch noch erschrecken.
Nachdem er eine Weile ruhig im Baum gesessen hatte, begann er, zunächst kaum hörbar, sein Findevogellied zu singen. Allmählich wurde seine Stimme lauter. Da hatte das Mädchen schon aufgehört zu weinen. Es schien der wunderbaren Stimme des Vogels zu lauschen, setzte sich plötzlich auf, und schaute in die Zweige, sah aber nicht gleich, woher der liebliche Gesang nun kam.
„Hier bin ich!“ flötete der Vogel, „siehst du mich nicht?“
Die rotverweinten Augen des Mädchens wurden groß. Woher kam nur diese Stimme? Sie konnte Findevogel nicht entdecken, denn der hatte die Farben des Kastanienbaumes angenommen.
Findevogel hüpfte vom Baum und ließ sich in der Nähe des Mädchens nieder.
„Wie heißt du, und warum weintest du so?“ fragte er.
„Ich heiße Mira.“ Antwortete die Kleine ohne große Angst. Zwar war sie kurz zusammengezuckt, als der Vogel neben ihr landete, aber das gab sich sofort wieder.
„Du bist ein Findevogel, stimmt´s?“
Der Vogel fühlte sich geschmeichelt, denn nicht viele Menschen wussten, was ein Findevogel ist.
„Ja stimmt,“ lispelte er, „und ich habe dich gefunden! Was ist los mit dir?
„Ich bin von zu Hause weggelaufen, weil ich etwas wiederfinden muss, aber ich habe meinen Weg verloren. Vielleicht wäre ich doch besser zu Hause geblieben und hätte auf meine Mutter gehört.“
Papperlapapp,“ lamentierte nun der Vogel,“ wenn es Zeit ist, eine Reise zu machen, muss man seinem Herzen folgen. Wo wolltest du denn hin?“
„Hast du schon einmal vom dem Wald aus wilden Rosen gehört?“
„Aber ja, ich war selbst schon dort. Zunächst muss man den Eingang in der Hecke finden.
Aber Mira, es ist gefährlich. Nur die Mutigsten kommen heil wieder hinaus.“
„Ich weiß,“ sprach das Mädchen, aber man sagt auch, wer es schafft, den Wald zu durchwandern, wird hellsichtig und kann Dinge wiederfinden, die er schon verloren glaubte. Ich habe etwas sehr Wertvolles verloren, etwas, was mir anvertraut wurde. Es gehört nicht einmal mir.“
„Hm, Mira, das hört sich gewichtig an. Möchtest du, dass ich dir etwas von diesem Wald erzähle?
Dann kannst du immer noch entscheiden, ob du es wirklich wagen willst.
„Lieber Findevogel, erzähle!“ bettelte Mira.
„Hinter dem Regenbogengebirge gibt es einen Wald aus wilden Rosen. Neben unzähligen Blüten treibt er üppige Dornen. Immergrün spotten die Blätter den Jahreszeiten.
Um ihn zu betreten brauchst du Mut und ein unbefangen wildes Herz.
Zunächst nimm dir Zeit, es braucht Geduld und ein scharfes Auge, um den versteckten Eingang zu finden. Versuch erst gar nicht, auf andere Weise einzudringen, denn selbst die Klinge des schärfsten Messers wird sich verbiegen, und das Gift der Dornen, die ihre Widerhaken in deine Haut ritzen, wird dich lähmen.
Als ich dort war, habe ich viele junge Menschen gesehen, die wie tot in den Dornen hingen.
Wenn du noch nicht genau weißt, was du dort suchst, und vor allem sein Geheimnis dich lockt, um so besser, denn eins verrate ich dir: Du wirst nicht finden, was du suchst.
Dort jedenfalls nicht.
Willst du das Abenteuer dennoch wagen, dann lass alle Gedanken mit den weißen Wolken am Himmel davon fliegen. Vertrau deiner Intuition, sie allein wird dir den Weg schon weisen.
Wenn du den Eingang gefunden hast, geh barfuss in den Wald, und lass alles Gepäck vor dem Tor. Du wirst den Wind in den Zweigen spüren und die Erde unter deinen Füßen ertasten. Der Duft der Blüten wird dich in einen Rosenmantel hüllen, und du wirst dich frei fühlen, wie nie zuvor.
Ein unsichtbarer Begleiter geht in deinem Schatten. Du fühlst, dass er da ist, wenn du nach innen lauschst, denn seine Stimme flüstert mit dem Wind. Die leichte Bewegung seiner Hände spürst du als pulsierende Energie, die über deine Schultern in den Körper fließt. Wie ein Engel wird er dich leiten!
Aber Vorsicht!
Dreh dich niemals um! Du darfst ihn niemals sehen, sonst verlierst du seinen Schutz!
Nur mit Vertrauen wirst du den Weg finden. Wenn dein Herz verzagt und ängstlich schlägt, weil du vieles, auch schweres, sehen wirst, wird er dich an deine Intuition erinnern und lehren, die Gedanken los zu lassen.
Ein rabenschwarzer Vogel fliegt in diesem Wald. Er ist gefährlich, denn er ruft und lockt. Seine Stimme ist ein Verführer. Glaube mir, ich war dort, er kennt die empfindlichsten Stellen in deinem Herz.
Wenn du diesem Ruf folgst, verlierst du den Schutz und verfängst dich im Gestrüpp von Leidenschaften und im morastigen Sumpf deiner Angst.
Wenn die Versuchung dich streift, diesem Verführer zu folgen, konzentriere dich auf die wärmende Energie, die über deine Schultern in den Körper fließt und dein Herz beruhigt.
Streife achtsam durch den Wald. Öffne und benutze alle deine Sinne. Du wirst erstaunt sein, wie scharf sie sind und was alles sie dich lehren.
Du willst wissen, was dich erwartet? Ich weiß es nicht, denn jeder findet anderes in diesem sonderbaren Wald, der wie deine Seele ist. Nur du allein schaust in sie hinein.“
Mira hatte aufmerksam zugehört. Ihre Tränen waren inzwischen ganz getrocknet. Das glatte, entspannte Gesicht hatte nichts Zögerliches mehr.
"Magst du mich zur Hecke begleiten, Findevogel?"
"Du bist ganz sicher Mira?"
Das Mädchen nickte.
"Nun gut, dann soll es so sein. Ich begleitete dich."
ES FLIRRT VOR HITZE
Findevogel hatte sich an diesem heißen Tag unter einer alten Eiche niedergelassen. Nach kurzer Zeit gesellte sich eine Frau zu ihm. Sie war gesprächig und erinnerte sich an einen Urlaub in Südfrankreich. Findevogel war ein guter Zuhörer:
„Es war unser letzter Urlaub mit den Ältesten außerhalb der Schulferien. Einige Jahre hintereinander verbrachten wir unseren Urlaub in der Provence, genauer gesagt, in der Nähe von Avignon.
Die Provence, meine Seelenlandschaft, ich weiß noch, dass ich aus diesem letzten Urlaub dort nicht mehr nach Hause fahren wollte, so gar ein Haus auf einem höher gelegenen Gebirgsplateau hatte ich mir ausgeguckt - Träume - es hatte einen Garten mit alten Obstbäumen, lag in einem kleinem Dorf, dass sich gerade wieder besiedelte.
Unter provencealisch blauem Himmel verbreitete sich ein betörendes Duftgemisch, und dazu dieses besondere, dieses magische Licht.
Alte Olivenhaine, Rebfelder, Mohnfelder, wilde Wiesen mit Kräuterduft, Lavendel, alte Ruinen, kleine verschlafene Orte mit bunten Märkten, im Wechsel - Flachland mit kultivierten Anbauflächen, Hügel, Gebirge, karge Berghänge, gefährliche Kletterwege, Schluchten, wilde Ziegen, rote Erde, kleine ungebändigte Flüsse, magische Plätze und in der Ferne das Meer
Ich kramte neulich in alten Fotos: meine Älteste, damals 6 Jahre alt mit Strohhut und buntgeblümten Trägerkleid zwischen den überwucherten Überresten einer ausgestorbenen Siedlung am Mont Ventoux. Es war ein Sonntag. Er begann strahlend und endete in einem Unwetter. Es gewitterte schon eine Weile, bevor sich die Himmelsschleusen öffneten und ihre Wassermassen, wie aus Kübeln, über uns ergossen. Flucht ins Auto - kein Picknick zwischen den Ruinen - das gab es im Auto.
Wie jung ich damals noch war, ein Foto fällt mir in die Hand - es gelingt mir nicht, die Lücke zwischen damals und heute zu schließen. Etwas ist verloren gegangen in den Jahren dazwischen. Aber vielleicht ist das so, wenn man endlich erwachsen werden muss.
15 Jahre meines Lebens, eine lange Zeit, viel geschah in dieser Zeit, in der jeder Tag randvoll war und kaum Zeit zum Atemholen ließ.
Wie mir damals doch die kleinen Dinge ins Auge fielen: der grüne Sonnenkäfer auf der weißen Blüte, die weiße Katze vor dem abgeblätterten Brettertor, eine ausladende Linde, deren Laubdach sich wie ein Schirm ausbreitete und denen Zuflucht bot, die sich von der südlichen Hitze erholen wollten.
In meiner Fantasie nahmen die alten Olivenbäume und Rebstöcke Gestalten an, mit einer eigenen Geschichte, Originale, Unikate, Männer und Frauen, Kinder. Sie erzählten Geschichten.
Und die bezaubernden Mohnblüten, in deren transparenten Blütenblättern Licht und Schatten ein besonderes Schauspiel boten.
Seelenruhe und Nerven habe ich in den Jahren dazwischen ein gutes Stück verloren.
Aber ich hole sie mir zurück - bin schon längst dabei, jetzt, wo die Zeiten wieder ruhiger werden.“
„Nun, immerhin erinnern Sie sich an all diese kleinen Dinge, an die Gerüche, die Farben,“ antwortete Findevogel, „Sie wissen noch, wie es war, die Seele baumeln zu lassen, das Leben zu genießen. Sie besitzen einen Erinnerungsschatz.“
GEWITTERWETTER
Findevogel flog in den gewittrigen Sommerabend. Langsam wurde es dunkel. Die Schwüle nahm ihm fast den Atem. Am Nachthimmel formierten sich die bleigrauen Wolken zu Unwetterfronten. Er flog an der Gartenstadt vorbei. In den vielen bunten Gärten der kleinen Reihenhäuser waren nur noch wenige Menschen zu sehen. Sein Ziel war die alte Kastanie auf dem Platz mitten im Ort. Um diesen Platz drängelten sich schiefe Häuschen dicht aneinander. Bald erreichte er sie und ließ sich in ihren Ästen nieder. Immer waren es die Kastanien, in denen er sich besonders wohlfühlte. Darunter stand eine Bank. Eine Frau saß dort und murmelte vor sich hin. Sie bemerkte den seltsamen Vogel sofort und schaute ihn aus klaren Augen an, rief ihn. Findevogel gesellte sich zu ihr, konnte ihre Gedanken lesen.
„Wer bist du?“ fragte er, „ich bin ein Findevogel.“
„Dann haben wir etwas Gemeinsames,“ entgegnete die Frau, deren Alter er in der Dunkelheit nicht richtig einschätzen konnte. Aber jung war sie nicht mehr, und sie sprach mit einer dunklen, rauen Stimme. „Ich heiße Eva und bin ein menschlicher Findevogel.“
Der Vogel war erstaunt, doch bevor er noch eine Frage stellen konnte, sprach Eva weiter:
„Ja, ich bin ein Findevogel und zur Zeit suche ich mich selbst, bin mir in der letzten Zeit verloren gegangen.
Vor einer Weile lag ich schon wie alle vernünftigen Menschen im Bett, aber ich fand keinen Schlaf. Meine Gedanken irrten ruhelos im Kopf, nicht einmal festhalten konnte ich sie. Ich versuchte es mit Atmen, tief einatmen und dem Atem lauschen, aber das Blut rauschte mir in den Ohren wie ein Wasserfall und verhinderte jede Konzentration. Eine Zahnwurzel machte sich schmerzhaft bemerkbar und auch mein rechtes Knie tat weh. Ich versuchte den Schmerz einzugrenzen, dachte an das, was ich vor wenigen Minuten gelesen hatte, von der Wurzellosigkeit der Menschen in der modernen Gesellschaft. Wo waren eigentlich meine eigenen Wurzeln, fragte ich mich. Ich spürte sie nicht. Das war schon anders gewesen. Das einzig Fassbare war der Schmerz in meinem Körper. Das Knie hatte sich acht Jahre lang nicht bemerkbar gemacht. Was war damals gewesen? Ich erinnerte mich an die Überforderung damals, das Gefühl des Gefangenseins in einer Sackgasse. Wie war ich wieder hinaus gekommen? Mühsam, aber als ich den Ausweg gefunden hatte, verflog auch der Schmerz. Sandte der Körper mir ein Signal? Auf was wollte er mich aufmerksam machen, denn im Allgemeinen bin ich eine gesunde Frau.
Plötzlich kam mir eine Idee. statt im Bett liegen zu bleiben und keinen Schlaf zu finden, wollte ich meine Runenkarten suchen. In schwierigen Situationen gaben sie mir immer hilfreiche Hinweise. Ich stand auf und fand die Karten schnell. Wann hatte ich sie eigentlich das letzte Mal in der Hand gehalten? Es war schon eine Weile her. Während ich die Karten mischte, wurde ich ruhig. Ich ließ mir Zeit. Die gleichförmige Bewegung des Mischens ließen den Schmerz in Zahn und Knie verebben. Ich fächerte die Karten auf. Seltsam, einige waren kalt, andere warm und eine fühlte sich heiß an. Die zog ich.
7: Nauthiz (Hindernisse)
Ich schlug im Handbuch nach, denn diese Karte zog ich noch nie.
„Der Pfad endete an einem Abgrund. Ich stolperte, manchmal falle ich. Begrenzungen geben uns Form, Prüfungen stärken uns. Erkenne den großen Lehrmeister hinter jeder Verkleidung.“
stand da. Ich war überrascht, als ich die Erklärungen las. Die Karte fordert mich auf, mich mit den augenblicklichen Hindernissen in mir selbst und außen auseinander zusetzen, mich auf die Schatten zu konzentrieren, die meine Schwächen repräsentieren. Es ist das Nichtentfaltete und Unterdrückte, das was bisher nicht leben durfte und das wir so leicht auf andere projizieren. Die Karte macht mir Mut, nach innen zu schauen, innezuhalten und jene Aspekte wahrzunehmen, die Unglück und Härten anziehen.
Siedendheiß wird mir in diesem Moment bewusst, dass es da einiges zu klären gibt. Jetzt ist nicht die Zeit, hinaus aufs Meer zu fahren, um Fische zu fangen. Netze müssen geflickt werden, Gleichgewicht schaffen, heißt es, wenn es zur Harmonie nicht reicht.
Meine Schmerzen wundern mich nun nicht mehr: da war etwas nicht im Fluss, Hindernisse müssen beseitigt werden, um wieder zu den Wurzeln zu finden.
Ich will mich wiederfinden. Morgen mache ich mich auf den Weg. Jeden Tag ein kleines Stück – langsam und ohne Eile.
In der Ferne grollt es, ein Gewitter zieht auf. Es bringt Erfrischung und Regen. Ich beschließe nach draußen zu gehen und das Gewitter abzuwarten. Und da traf ich dich. Jetzt gehe ich schlafen. Vielleicht besuchst du mich mal wieder, dann erzähle ich dir, wie es soweit kommen konnte. Gute Nacht Findevogel!“
Der Vogel sammelte diese neue Geschichte ein, spreizte die Flügel und flog in sein Nest.
AUF DEM WEG IN DEN SÜDEN
Findevogel war den menschlichen Zugvögeln in den Süden gefolgt. Eigentlich war der Sommer ja nicht so sein Ding, aber in diesem Jahr sehnte er sich nach Sonne und Licht. Der Winter war lang und karg gewesen. Auch der Frühling, den er in jedem Winter sehnsüchtig erwartete, hatte sich verspätet.
Obwohl Findevogel gern allein war, fehlte ihm in den langen, sich endlos hinziehenden kalten Nächten bisweilen eine Gefährtin. Findevögel gehören zur aussterbenden Rasse, waren so selten anzutreffen, wie fünfblättrige Kleeblätter, aber irgendwo mussten doch noch ein paar Artgenossen leben. Würde er sie jemals finden?
Eins wusste er sicher, in seiner Umgebung gab es nicht Seinesgleichen. Auch das hatte ihn bewogen, diese Reise zu unternehmen.
Nach dem ersten Flugtag fand er einen bezaubernden Landeplatz für die Nacht. In einem kleinen Dorf mitten zwischen Feldern und Wiesen schien es nur auf ihn gewartet zu haben. Das Dorf wirkte menschenleer, es gab weder Läden und eine Bar, aber breitangelegte Gemüsegärten und bunten Blumenschmuck vor allen noch nicht verfallenen Häusern. Das gab dem grauen Ort ein sommerliches Ambiente.
An einem wilden Bach tummelte sich allerlei Wassergeflügel. Er schaute ihm zu, versuchte die unbekannte Sprache zu verstehen. Eine behände Katze schlich am Bach entlang, eine Maus im Maul. Von dem kleinen Kirchturm läutete in regelmäßigen Abständen eine blecherne Glocke. Schwalben flogen hoch, um vor dem Dunkelwerden noch ein paar Mücken und Insekten zu vertilgen. Grillen zirpten im Gras. Ansonsten herrschte dörfliche Stille. Selbst von der etwas entfernt liegenden Hauptverkehrstraße vernahm man nur ab und zu ein Geräusch. Der Tag morgen versprach schön zu werden.
Findevogel hatte gerade den Schnabel unters Gefieder gesteckt, als er von ungewöhnlichen Geräuschen wieder geweckt wurde.
Was war das? Ein Gekrächze und Geflatter war plötzlich um ihn herum. Als er aufschaute sah er einen riesigen Schwarm Saatkrähen um sich herum kreisen. So etwas hatte er in seiner Heimat am Rande der großen Stadt noch nie gesehen.
Was erzählten sie sich, warum waren sie so aufgeregt. Anscheinend kehrten sie aus den umliegenden Feldern zurück. Nachdem sie einige Runden um das Dorf gedreht hatten, ließen sie sich in einem „Schlafbaum“ ganz in der Nähe von Findevogel nieder. Aufgeregt krächzten sie noch eine Weile miteinander, erzählten sich von den besten Futterfeldern, den Erlebnissen des Tages und handelten die Schlafordnung aus. Da gab es wohl noch einige Rangeleien um den besten Platz. So plötzlich, wie das Gekrächze begonnen hatte, verebbte es, bis wieder Stille war. Die Krähen hatten sich geeinigt und Frieden geschlossen. Seltsamerweise verstand Findevogel ihre Sprache.
Ein bisschen neidisch war er schon: die Krähen lebten in einer großen Gruppe, waren nie allein. Im Schlaf kuschelten sie sich aneinander und teilten Nähe.
Aber auch nur ein bisschen, denn wirklich und tatsächlich wollte er in einer so großen Gruppe mit ihrer Hackordnung, der unerbittlichen Sozialkontrolle und der klaren Hierarchie nicht leben. Er war eben ein Einzelgänger. Unterordnen und um seinen Platz kämpfen lagen ihm nicht. Lieber war er sein eigener Herr und Meister und traf Entscheidungen allein.
Inzwischen war es fast dunkel geworden und die Fledermäuse flügelten blitzschnell in die Nacht. Findevogel fand schnell und ohne Bitterkeit in einen geruhsamen Schlaf.
Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich den treuen Lesern meines Findevogel-Blogs