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EPILOG

Der Briefwechsel zwischen Jule van Maaren und Konrad Blauregen begann vor etwa zwanzig Jahren.
Heute schreiben wir den 12. Oktober 2005.
Am 21. Oktober 1985 stießen die beiden Protagonisten in einem Kölner Antiquariat aufeinander. Es war der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft.
Bis heute "siezen" sich Konrad und Jule und kommunizieren fast ausschließlich über die „Blassblauen Briefe“.
Einige Male haben sie miteinander telefoniert. Fünfmal trafen sie sich in Köln.
Jule lebt mit Mann und Familie in Wien. Sie hat gerade ihren siebenundfünfzigsten Geburtstag gefeiert, Konrad wohnt als eingefleischter Junggeselle mitten in Berlin.
Er steht kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag.


Herrn
Konrad Blauregen
10034 Berlin
Am Sperling 5


Wien, 12.10.2005

Lieber verehrter Freund,

eine Weile habe ich nichts von Ihnen gehört. Kein blassblauer Brief erreichte mich mit Neuigkeiten. Schon vermisse ich ihre so warme und zugewandte Feder. Ich hoffe, Sie sind bei guter Gesundheit und gehen mit Freude Ihrem siebzigsten Geburtstag entgegen.
So wie ich Sie kenne und mag, vermute ich einen anderen Grund für Ihr Schweigen:
Ich sehe Sie an Ihrem Stehpult verharren, tief versunken in eine Ihrer antiquarischen Kostbarkeiten, während sich neben Ihnen die Bücher stapeln.
Ja, ja, das Rentenalter hat seine Vorzüge, kann man doch endlich den eigenen Interessen nach Belieben folgen. Nun, Ihre Haushälterin wird schon gut für Sie sorgen.
Wie sehr ich Sie doch verstehe, folge ich doch gerade selbst dem Bann eines außergewöhnlichen Gemäldes, gemalt in satten roten Farben, und seiner Geschichte. Noch recherchiere ich, aber ich bin sicher, es wird eine hochinteressante, spannende Lektüre. Ein Verlag hat bereits Interesse bekundet.
Mein Mann beklagt sich bereits über meine ständige geistige Abwesenheit.
Nach fast fünfunddreißig Jahren Ehe sollte er mich eigentlich inzwischen kennen. Jetzt, wo er Rentner geworden ist, verlangt es ihn nach Unterhaltung durch mich.
Gerade eben fiel mir ein Foto in die Hände: Sie und ich an dem Tag, an dem wir uns über den Weg stolperten. Erinnern Sie sich noch? Ich muss lächeln, wenn ich daran denke, wie wir beide in diesem engen Kölner Antiquariat rückwärts gingen und erschreckt zusammenprallten.
Dann schauten wir uns an – die Blicke fielen tief, was war das nur – für mich war es, als sei ich endlich nach Hause gekommen. Ein Zuhause, von dem ich bis dahin nichts ahnte. Zwei verwandte Seelen trafen und erkannten sich, darüber waren wir uns einig, im Bruchteil einer Sekunde. Verzeihen Sie diesen nostalgischen Rückblick , aber es kommt mir so vertraut vor, als sei es gestern gewesen. Ich vermisse Sie! Wir sollten uns wieder einmal treffen.

Übrigens hat mich gestern Marle, mein Sorgenkind, besucht . Sie brachte Antonia mit. Ich erzählte Ihnen ja von der Geburt meines ersten Enkelkindes. Inzwischen ist das Kind bereits ein Jahr alt – wo die Zeit immer bleibt – und sie rennt ihrer Mutter davon.
Antonia ist ein Sonnenkind. Im Sternzeichen des Löwen geboren, strahlt sie wie eine Prinzessin und ist dabei ausgesprochen wach und aufmerksam. Wie ein kleiner Irrwisch sieht sie aus, mit ihren roten Haaren und den großen himmelblauen Augen.
Das kleine Mädchen ist mir ans Herz gewachsen. Für sie verlasse ich gerne meine geistigen Einsiedelei, um ihr beim Wachsen zuzusehen. Marle geht es nicht gut. Sie überlegt, ob sie sich von Marc, dem Vater des Kindes trennen sollte. Ich hoffe, sie wird die richtigen Entscheidung treffen. Ich versuche, mir nicht zu viele Sorgen zu machen und weiß schon genau, was Sie mir schreiben werden.

Nun mein vertrauter Freund, habe ich für heute genug geschwätzt. Vergessen Sie mich nicht! Ohne mein vertrautes Suchtmittel leide ich unter Entzugserscheinungen. Wollen Sie mich wirklich so leiden lassen? Haben Sie doch ein wenig Mitleid mit einer alten Freundin.
Herzlich und augenzwinkernd grüßt Sie, Ihre Jule van Maaren


Frau Jule van Maaren
Hinter dem Grünacker 17
A-20335 Wien


Berlin, 13.10. 2005

Liebste Freundin,

Ich sehe es ein, in der letzten Zeit habe ich Sie vernachlässigt, verzeihen Sie mir meine Nachlässigkeit?
Nicht nur zwei wirklich kostbare Buchfindlinge hielten mich gefangen; nein, wenn ich ehrlich bin, mir ging es körperlich und psychisch nicht gut. Ich habe mich arg bemitleidet. Meine Haushälterin schimpfte schon mit mir. Wissen Sie, das Alter macht sich bemerkbar, ich spreche nicht gern darüber, es ist mir peinlich, möchte ich doch auch, dass Sie mich so in Erinnerung behalten, wie beim letzten Treffen vor vier Jahren.
Männer können eitel sein, aber das wissen Sie sicher, meine Liebe, denn an Ihrer Seite lebt ein Mann und der hat Freunde..... Fast kann ich ihn ja verstehen, dass er jetzt mehr Aufmerksamkeit wünscht, er muss sich erst an diese immerwährende Freizeit gewöhnen. Die will gestaltet werden. Ich weiß wovon ich rede.
Nun im Allgemeinen, das wissen Sie ja, kann ich nicht über Langeweile klagen, aber im Augenblick wünschte ich Sie manchmal neben mir.
Ihr jugendlicher Schwung, und der Ihnen ganz eigene Charme, würden mir gut bekommen. Vielleicht könnte mich Ihre Gegenwart verjüngen. Wie schön es wäre, die Freude an meinen gesammelten Kostbarkeiten oder die Mahlzeiten mit Ihnen zu teilen...diese eigentlich so simplen Dinge! Was ist wirklich wichtig im Leben?
Ich will mich nicht beklagen.
Als eingefleischter Junggeselle muss ich nun die Suppe auslöffeln und mit der Einsamkeit vorlieb nehmen. Ich wollte es ja nie anders, ein Leben mit Frau und Kindern konnte ich mir, bei meiner Bindungsangst, nie vorstellen. Und als junger Mensch denkt man nicht ans Älterwerden.

Könnten Sie sich vorstellen, mich einmal in Berlin zu besuchen? Bisher trafen wir uns ja immer in Köln, aber sehr gern würde ich Ihnen einmal mein Berlin zeigen, solange ich noch bei guter Gesundheit bin.
Sie haben mich neugierig gemacht, werte Jule. Wollen Sie mir nicht verraten, um welches Gemälde es sich handelt? Nehmen sie es als gutes Zeichen, dass ein Verlag bereits Interesse gezeigt hat. Das klingt vielversprechend! Ich denke an Sie und schicke Ihnen ein Lächeln.

Herzlich verbleibe ich, Ihr neugieriger Freund Konrad B.


Wien, 16.10.2005

Werter Konrad,

ich hoffe doch, Sie haben sich inzwischen etwas erholt und berappelt.

Hier hält das wunderschöne Herbstwetter noch weiter an. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so goldenen Oktober erlebt zu haben. In Berlin wird es wohl ähnlich sein. Ich sehe sie durch buntes Herbstlaub wandern.
Ob ich Sie in Berlin besuchen werde, ich denke ernsthaft darüber nach. Der Dezember würde sich bei mir für eine Reise anbieten. Wenn ich Sie treffe, möchte ich ungeteilte Zeit mit Ihnen verbringen, denn sie sind so kostbar, diese seltenen Treffen. Mein Mann wird nicht gerade in Begeisterungsstürme ausbrechen, wenn er von meinen Plänen erfährt. Eifersucht könnte wieder aufflackern, gerade in seiner augenblicklichen Umbruchphase. Und doch, ich wünsche nichts mehr, als ein paar ungestörte Tage mit Ihnen zu verbringen.

Sie fragten nach dem Gemälde. Eigentlich ist es noch gar nicht gemalt. Eine Klientin, die ich berate, musisch begabt, erzählte von einem rauschroten Bild, dass sie unbedingt malen möchte, weil es ihr immer wieder im Traum begegnet.
Einstweilen arbeiten wir daran, herauszufinden, welche Gefühle das Bild auslöst und welche Geschichten dahinter stehen. Es ist ein sehr interessanter Fall, und ich habe die Erlaubnis der jungen Frau, ihre Geschichte um das rote Gemälde als Buch zu veröffentlichen. Ob das Gemälde jemals gemalt wird? Wer weiß? Lassen wir uns überraschen. Spannend wird es auf jedem Fall.

Aufmunternde Grüße aus dem Wiener Herbst sendet von Herzen,

Ihre Jule van Maaren


Berlin, 23.10.2005

Meine liebe Freundin,

was sind das für interessante Sachen, die Sie mir erzählen:
ein rotes Gemälde, das noch nicht gemalt ist, aber in den Träumen einer Frau eine große, real existente Rolle spielt...ich komme nicht mehr mit. Sie müssen nach Berlin kommen und erzählen. Der Dezember wäre auch für mich ein guter Zeitpunkt, Wir werden Weihnachtsmärkte besuchen und beim Schein unzähliger Kerzen Tee trinken und Gemeinsamkeit teilen. Vielleicht können Sie mir bei einigen Angelegenheiten ordnend zur Seite stehen. Manchmal verliere ich den Überblick.
Bereiten Sie einem alten Mann die Freude weiblicher Gesellschaft. Kommen Sie!

In freudiger Erwartung, Ihr Konrad Blauregen


Wien, 23.10.2005


Mein lieber Konrad,

Sie werden mir doch auf ihre alten Tage nicht sentimental werden. Einen festen Platz in meinem Herzen besitzen Sie längst, aber vergessen Sie nicht, eine taufrische Rosenblüte bin auch ich nicht mehr.
Dieses Spiel kommt mir bekannt vor. Wecken Sie nicht etwas, das lieber unter Verschluss bleiben sollte?
Besorgte und wohlmeinende Grüße,

Ihre Freundin Jule van Maaren


Berlin, 24.10.2005

Liebe Jule,

Verzeihen Sie! Ein alter Mann möchte kein Narr mehr sein. Wie ehrlich, werte Freundin, darf ich mit Ihnen kommunizieren nach zwanzig Jahren? Gewissheiten mag ich nicht länger leugnen, um sie als unausgesprochenes Geheimnis mit in mein Grab zu nehmen.
Wenn das Leben die letzte Wegstrecke zurücklegt, wiegen Masken und Verkleidungen schwer, behindern unnötig den schon eingeschränkten Lauf der Zeit.
Lasten ablegen, Bündel schnüren, letzte Dinge auf einen guten Weg bringen, sich frei schwimmen, das rät mir die Zeit.
Übermorgen ist mein Geburtstag. Ich werde ihn mit mir alleine feiern, denn nach einem rauschenden Fest steht mir nicht der Sinn. Ich will ehrlich mit mir sein und das neue Lebensjahrzehnt nüchtern begrüßen.
Rufen Sie mich an, Ihre Stimme zu hören, wäre ein wunderbares Geschenk. Machen Sie mir die Freude?
Ihr Konrad


Wien, 25.10.2005

Ich werde nach Berlin kommen, aber zuerst werden wir telefonieren. MORGEN!!

Aus dem 3. Brief des Johannes:
"Ich hätte dir viel zu schreiben;
aber ich wollte nicht mit "Tinte und Feder" an dich schreiben.
Ich hoffe aber, dich bald zu sehen; dann wollen wir mündlich miteinander reden. Friede sei mit dir!"
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Mag sein, lieber Konrad, dass manche Dinge nur ausgesprochen werden können, wenn wir beide - Sie und Ich - uns ehrlich in die Augen schauen, mit Respekt und vorsichtiger Distanz.

Herzlich, Ihre Jule van Maaren


Berlin, 27.10.2005

Ihre Stimme gestern am Telefon und Ihre Worte, liebe Freundin, sie haben mir ein neues Fenster geöffnet. Frischer Wind weht herein!
Mir war, als sei ich in einem Eismeer unterwegs. Es fröstelte mich - jetzt ist mir warm. Das neue Jahrzehnt kann beginnen.

Ich schicke Ihnen ein Lächeln, Konrad


Wien, 30.10.2005


Lieber Konrad,

schön zu hören, dass sich für Sie ein Fenster geöffnet hat, und der Wind frische Luft in Ihre gute Stube geweht hat. Brachte er Ihnen auch die Geburtstagsgrüße von meiner Igelschwester Jo?

Der Kartengruß lässt mich hoffen, dass es Ihnen wieder besser geht. Ich habe mich schon gesorgt um Sie. Diese runden Geburtstage machen etwas mit uns, schon wieder ein Jahrzehnt vorbei, wo ist nur die Zeit geblieben?

Wo Konrad sind die zwanzig Jahre geblieben, die ich Sie kennen? Sie waren wertvoll!
Ihre Worte am Telefon haben mich aufgewühlt. Wie wahr dürfen geschriebene Worte sein? Es ist nicht schwer, sich hinter ihnen zu verstecken. Habe ich Ihnen eigentlich schon einmal gesagt, wie wichtig Sie mir sind?
Eine müde Jule schließt für heute,

Ihre Freundin

Wien, 31.10.2005

Lieber Konrad,

nun will ich endlich die Fortsetzung meines letzten Briefes schreiben.
Meine persönliche Situation ist zurzeit angespannt. Mein Mann tut sich schwer mit der neuen Freiheit vom Berufsleben. Verständlich, dass er erwartet, dass ich viel Zeit mit ihm verbringe. Ich verhandle, bin nicht bereit, mein gewohntes Leben völlig umzukrempeln, nur weil er Langeweile hat.
Wir haben ernsthaft Streit über dieses Thema. Ich schwanke zwischen Selbstvorwürfen und dem Wunsch nach dem Erhalt meiner Eigenständigkeit. Dementsprechend schwierig gestalten sich meine Berlin - Pläne.

Ich bitte Sie herzlich, noch etwas Geduld zu haben
Sie wissen Konrad, dass ich tief in mir selbst ein wildes Pferd bin, dem man keine Zügel anlegen darf. Sofern man mich lässt, wie ich bin, bleibe ich ein treuer Mensch, der immer zurück kommt zum Stall - freiwillig und liebend! Fesseln ertrage ich nicht, sie lähmen meinen Lebensmut.
Das ist etwas, was mein Mann noch nie verstanden hat. Seine Angst vor Verlust muss tief sitzen.
Gestern besuchte ich den Friedhof, war wieder einmal am Grab meines Sohnes Leon. Fünf Jahre ist er schon tot. Es tut immer noch so weh. Heute wäre er dreißig Jahre alt geworden.
Sein Grab war mit goldenen Ahornblättern bedeckt, das hätte ihm gefallen.
Ach diese dunkler werdenden Tage, sie sind bitter-süß und machen mich melancholisch.
Ich denke an Sie

Ihre Jule van Maaren


31.10.2006

Verehrte Jule,

ich bekomme fast Mitleid mit ihrem Mann. Nehmen Sie einem alten Freund, jenseits von Weisheit und Vernunft, diese Worte nicht krumm. Haben Sie den gar kein Mitgefühl für den armen Mann?
Und wie ich ihn verstehe!
Ist etwa aus der so schmiegsamen Schlange ein feuerspuckender Drache geworden? Muss ich befürchten, dass Sie auch mich versengen, wenn ich Sie endlich hier begrüßen darf?
Sie sehen mich schmunzeln, ein unvernünftiger Freund, der sich wohl besser manchmal die Zunge abbeißen sollte,

Konrad


Wien, 2.11.2005

Das war gemein!

Sie wollen ein Freund sein? Wenn ich über meine persönliche Situation spreche, tue ich das nicht, um zu klagen, das wissen Sie genau, schließlich kennen Sie mich lange genug. Ich wollte Ihnen, werter Konrad, meine Situation verständlicher machen, und Sie bitten, Geduld zu behalten.
Beschwören Sie den Drachen in mir nicht, ich bin wehrhaft, und er könnte gefährlich werden.
Sie als mein Freund sollten es tunlichst vermeiden, sich mit meinem Mann zu solidarisieren.

Ihre zürnende Jule van Maaren


Berlin, 5.11.2005

Liebste Freundin, werte Jule,

habe ich Sie so getroffen? Das war nicht meine Absicht, wie Sie auch wissen. Spürten Sie nicht den fast zynischen Schmerz, der Ihnen eigentlich – denn sie sind sensibel, können zwischen den Zeilen lesen und die Brüche hinter den Worten erkennen - etwas über meine eigenen Wünsche und vertanen Hoffnungen erzählen sollte?
Sie sind mir teuer, liebe Jule. Den belebenden Kontakt mit Ihnen möchte ich nicht verlieren.

Kommen Sie liebe Stute, ich ahne Ihre Fluchtgedanken- wie die Ohren gespitzt sind- ich nähere mich vorsichtig- denn ich spüre das „Davonstiebenwollen“.
Nein, keine Angst, ich will Ihnen weder Zaumzeug noch Sattel oder Zügel anlegen, denn ich liebe, was frei ist und unabhängig.

Ganz sanft nur werde ich Ihren schönen Kopf streicheln und die Kletten aus Mähne und Fell zupfen. Ganz heiß weht mir Ihr Atem entgegen. Sie haben sich hitzig gerannt, fast als sei da tatsächlich im Hintergrund verborgen ein feuerspeiender Drache.
Aber ich fürchte ihn nicht – er wird mir nichts tun, denn ich bin ein Pferdeflüsterer und weiß mit galoppierenden Zeitgenossen umzugehen.

Ja, ja, mein braunes Pferdchen – schon wirst du ruhiger, ich habe dir Apfelstücke mitgebracht, denn ich weiß, du magst diese Leckereien.

Jule, wenn sich alles beruhigt hat, verzeihen Sie mir, und melden sich. Dann wagen wir gemeinsam einen ungezügelten Gedankeritt durch lichte Birkenwälder. Einverstanden?

So lange bleibe ich geduldig Ihr ergebener Freund Konrad Blauregen


Wien, 10.11.2005

Lieber Freund,

im Augenblick bin ich malade. Ich muss mich für ein paar Tage aus allem zurückziehen. Aber lieber Konrad, Ihre Worte waren wie Balsam, und sie rühren mein Herz.

Wirklich böse kann ich Ihnen nicht sein, und brechen möchte ich nicht. Ich habe einen schwierigen Verlust zu verarbeiten. Noch bin ich nicht so weit, dass ich darüber schreiben kann. Aber meine Worte werden Sie zur richtigen Zeit erreichen. Im Augenblick fühle ich mich sehr gebeutelt. Vernünftig und weise werde ich wohl nie. Manchmal möchte ich mir das Herz aus dem Leibe reißen, und es den Wölfen zum Fraß vorwerfen.
Denken Sie ab und zu an mich! Schicken Sie mir von Ihrem so unvergleichlichen Humor.

Liebe Grüße, Ihre Jule van Maaren


Nachtrag:


Lieber Konrad,

kennen Sie das? Sie haben sich in eine Spirale hineingedreht. Es zwirbelt sie immer höher und weiter. Weit oben schweben Sie!
Wenn Sie hinunterschauen, ist alles klein und fern. Eigentlich möchten Sie aussteigen, aber das kann nicht gelingen, denn Sie sind kein Vogel, und niemand lehrte Sie den freien Fall.

Nie, Konrad, brauchte ich einen Freund mehr,

Ihre Jule van Maaren


Berlin, 12.11.2005


Jule, ich bin da, denke nach, wie ich Sie unterstützen kann. Halten Sie durch! Geht es noch? Sie wissen, den Absprung müssen Sie alleine schaffen.
Ich breite mein blaues Seelentuch aus. Schließen Sie die Augen, spüren Sie die Ihnen entgegen strahlende Wärme, und springen Sie, wenn es Zeit ist. Das Tuch wird Sie sicher auffangen. Auch Jo, Ihre Kastanienschwester wartet. Beide schauen wir hoffend zu Ihnen hinauf. Nur Mut, es wird gut gehen.

Ihr doch ein bisschen banger Konrad, der froh ist, wenn Sie wieder unten sind


Wien, 15.11.2005

Lieber Konrad,


die Spindel schraubt sich weniger hektisch in die Höhe – nähert sich dem Ruhepunkt – bald wird sie sich wieder abwärts schrauben. Meine Stimmung kehrt langsam aus dem Keller zurück. Aber welche Leichen fand ich zwischen Spinnweben und Staubmäusen?

Es ist zum Gruseln! Ich möchte über die Dummheit bestimmter Menschen lachen, aber dieses Lachen bleibt mir im Hals stecken.
Meine beste Freundin, Kora, fiel mir in einer Art und Weise in den Rücken, die ich nie von ihr erwartet hätte.

Was war der Auslöser – Frauentratsch, ein bisschen Jammern über die Angetrauten, es schlug um: plötzlich griff sie mich an, warf mir puren Egoismus meinem Mann gegenüber vor. Ich war sprachlos, konnte nichts entgegnen.
Was ich spürte war, dass alle Vorwürfe - in schöne Worte gefasst - nur die Scheinfassade waren, hinter der sich etwas ganz anderes verbarg:
Neid und Eifersucht auf das Leben, das ich mir in den letzten Jahren neben der Familie aufgebaut habe. Kora neidet mir meine Kontakte und die Erfolge, die ich hier und da einsammle. Dabei hat sie so viele besondere Fähigkeiten.
Sie ist unglücklich in ihrer Beziehung, macht aber aus der Zeit, die übrig bleibt - seit ihre Kinder aus dem Haus sind - wenig. Sie übersieht völlig, dass ich einiges riskiert habe, auch die Beständigkeit der Beziehung zu meinem Mann.
Nun Konrad, Sie haben ja ein Stück meiner Entwicklung mitverfolgt, und eins stimmt: dass was ich mir mühsam aufgebaut habe, gebe ich nicht einfach auf. Für das Glück meines Mannes bin ich nur bedingt zuständig. Er ist ein erwachsener Mann, und ich nicht seine Glücksgarantie.
Beziehung gelingt am Besten, wenn die Partner nicht zu sehr klammern und ihr Glück ein Stück weit selbst die Hand nehmen.
Ich verstehe, dass Martin die Pensionierung bewältigen muss, schließlich entstehen Freiräume, die erst einmal neu gefüllt werden müssen, aber nicht ich kann ihm sagen, wie er sie füllen soll, und nicht ich, mit meiner ganzen Person kann sie füllen.
Dazu müsste ich mich ja völlig verleugnen.
Martin wird es schaffen, er ist stark genug. Es braucht nur Zeit. Ich kann nur da sein, als liebende Gefährtin und vertraute Seele.

Wie es mit Kora weiter geht? Ich weiß es noch nicht. Ich brauche Abstand zu ihr, denn sie hat mich sehr verletzt. Ich lasse eine kleine Tür geöffnet, aber den ersten Schritt werde ich diesmal nicht tun.

Übrigens, ich komme nach Berlin!
Ich könnte Anfang Dezember fliegen und etwas eine Woche bleiben. Martin möchte mich in Berlin abholen und sie endlich kennen lernen.
Ich habe mich mit Martin arrangiert. Er gesteht mir den Berlinbesuch zu und erwartet im Gegenzug, dass ich über Weihnachten mit ihm nach New York fliege.
Schweren Herzens habe ich zugestimmt – Sie wissen ja, ich bin ein Familienmensch und versammle Weihnachten gern meine Kinder um mich herum. Nun dieses Jahr wird alles anders.

Herzlich, Ihre Jule van Maaren


Berlin, 20.11.2005


Liebe Jule,

wie schön, dass Sie fast den Erdboden erreicht haben. Ich überlegte schon ernsthaft, ob ich mir Flügel anschaffen muss, um Sie wieder herunter zu holen. Im meinem Alter sind dererlei Gehirnverrenkungen nicht mehr so leicht zu bewerkstelligen. Nun, Sie sind eine starke Frau und lassen sich nicht gerne gängeln. Um Hilfe schreien Sie, aber Sie helfen Sie sich lieber selbst.
So bleibe ich ein kleiner Spatz , picke zahm Apfelstücke aus ihrer Hand und staune über diese zornsprühende Jule, ein Aspekt Ihrer Persönlichkeit, der mir bisher verborgen blieb.
Natürlich freue ich mich, dass Sie nach Berlin kommen, aber dass Ihr Mann Martin mich nun kennenlernen will, das muss ich erst einmal verdauen. Dabei wird mir ganz unwohl. Eine völlig neue Herausforderung.
Was macht das rote Gemälde, liebe Jule und wie geht es mit Ihrer Freundin Kora weiter. Eine andere Freundin von Ihnen hat mir geschrieben, Jo, sie sorgte sich um Sie. Eine couragierte Frau, will mir scheinen.
Ich verbleibe

Ihr zugewandter alter Freund Konrad


Berlin, 24.11.2005


Wann geht Ihr Flug, Jule, und wann werden Sie in Berlin sein?
Ich biete Ihnen gern mein Gästezimmer an oder helfe ein Hotelzimmer zu suchen. Ich habe Beziehungen! Schreiben Sie! Trotz der unwohlen Gefühle Ihrem Mann gegenüber, bin ich voll Vorfreude. Wir werden eine gute Zeit miteinander verbringen.
Sie sollten mich sehen, liebe Freundin, ich bin aufgeregt und fühle mich vitalisiert. Selbst in meinem Alter gibt es noch Premieren, das ist Glück, für das ich dankbar bin.

gutgelaunte Novembergrüße, sendet Ihnen Konrad


Wien, 26.11.2005


Lieber Konrad,

ich habe gebucht! Am 3.12.05 starte ich mit dem AIRBUS A 340- 320 von Wien Schwechat und lande, hoffentlich sanft, um 9.15 Uhr in Berlin Tegel. Holen Sie mich ab?
Ich freue mich so sehr. Ich denke, wir werden vorsichtig und freundschaftlich-distanziert mit einander umgehen, deshalb nehme ich das Angebot Ihres Gästezimmers gerne an.
Martin wird am 9.12.05 in Berlin eintreffen. Er hat einen Termin mit einem alten Projekt- Gefährten. Sie planen etwas. Das wird meinem Mann gut tun. Den Samstag können wir dann mit dem Kennenlernen verbringen, und um 17.55 Uhr startet unser Rückflug nach Wien.
Haben Sie keine Angst vor meinem Mann, er beißt nicht und ist im Allgemeinen kein Hahnenkämpfer, muss er auch nicht! Er ist ein Sensibler, wie Sie und Bauchgrummeln hat er auch - glauben Sie mir.
Konrad, ich wünsche uns sehr, dass diese Premiere gelingt.
Ich habe Ihnen soviel zu erzählen. Hoffentlich trage ich nicht zu viel Wind in Ihre stille Junggesellenwelt

Herzlich, Ihre Jule van Maaren


Berlin, 1.Dezember 2005

Liebe Jule, fast habe ich nicht mehr geglaubt, dass unser Treffen stattfinden wird.

Jetzt bin ich sprachlos - mir fehlen die Worte - draußen malt der Winter Frost in den Himmel. Heute habe ich mir eine kalte Nase geholt.

Bringen Sie sich warme Sachen mit. Hier ist es sehr kalt, denn ich möchte Ihnen meine Stadt zeigen. Gerade heute habe ich eine ganz besondere Buchhandlung entdeckt. Lassen Sie sich überraschen. Ich weiß, Sie wird Ihnen gefallen.
Ich werde Sie am Flughafen abholen. Ich freue mich.
Ein glücklicher Schneekönig bin ich, der über Wolken wandert und sich in Schneeflockensterne hüllt. Eiskristalle sind mein Geschmeide. Ein silberner Schlitten, ausgelegt mit den edelsten Pelzen trägt uns über die zugefrorenen Seen. Glöckchen bimmeln mit fröhlichem Klang. Wollen Sie für eine Weile Schneekönigin sein? Passen Sie auf, dass Ihre Pelzmütze nicht verrutscht, denn schnell traben die weißen Pferde.

Herzlich, Ihr Konrad Blauregen


Wien, 2. Dezember 2005


Hallo Konrad,

sie spielen auf die Schneekönigin an? Woher wußten Sie, dass dies mein Lieblingsmärchen von Andersen ist?
Ob ich Schneekönigin sein will? Ich weiß es nicht. Jene Dame hatte kein Herz im Leib. Deshalb verlangte es sie nach Herzensblut. Eine Scherbe ihres teuflischen Zauberspiegels drang in Kais Herz, und er wurde ihr hörig. Nur dem Mut der kleinen Ida ist es zu verdanken, dass Kai gerettet wurde, und zwei Rosenbäumchen wieder wachsen können.
Das Märchen hat viele Gesichter, viele Anknüpfungspunkte und Blickwinkel.
Immerhin gibt es das Sprichwort "Ich freue mich, wie ein Schneekönig!" und das tue ich. Ich packe, werde auf dem Flug morgen das Märchen wiederlesen. Dann können wir weiter debattieren.
einstweilen Schneesterngrüße von der Eisprinzessin im Hermelin,
Ihre Jule, herzlich


Wien, 12.Dezember 2005


Lieber Konrad,

ich bin noch nicht ganz wieder in Wien und im Alltag angekommen. Die Gedanken sind bei Ihnen in Berlin. Die Woche war wie ein dreiwöchiger Urlaub für mich. Nun bin ich ausgeruht und voller Tatendrang. Ich wusste nicht, dass zwei Menschen, die sich fast ausschließlich über Briefe kennen, in einer solchen Weise harmonieren können im wirklichen Leben. Konrad, Sie sind der ältere Bruder, den ich mir immer gewünscht habe. Sanft nahmen Sie mich an die Hand, ohne Druck und ohne Zwang, und ließen mich in Ihr Leben schauen. Ich bin ohne große Worte einfach nur dankbar. Vielleicht ist es gut, dass ein Treffen zwischen Ihnen und Martin nun nicht stattgefunden hat. Martin ist inzwischen wieder zurück - voll mit neuen Plänen - und wir beginnen vorsichtig, unseren Alltag wieder aufzunehmen. Wir tänzeln um einander herum, vorsichtig, so als trügen wir beide die Aufschrift "FRAGILE"

Herzlich, Ihre Jule


Berlin, 15.12.2005


Liebe Jule,

mich hat der Alltag und die Routine wieder eingeholt. Nach dieser bezaubernden Woche mit Ihnen, fühle ich mich ein wenig vereinsamt. Gerade jetzt, wo es auf Weihnachten zugeht wird mir schmerzlich bewusst, dass etwas fehlt.
Dennoch werde ich am Heiligen Abend nicht einsam sein: mein Patenkind Ina hat mich eingeladen. Ich mag ihre Familie und die lebhaften Kinder, alle intelligent, musisch begabt und herzerfrischend. Ich habe schon Weihnachtsgeschenke gekauft und bin aufgeregt, wie ein Hosenmatz, ob meine Aufmerksamkeiten wohl ankommen werden.
Ach Jule, wie schön es wäre, wenn sie etwas näher wohnen könnten und wir uns einfach ab und zu zum Tee in einen Cafe treffen könnten, oder im Museum, einen Antiquariat - smile - auf einer Lesung.

"Helle Länder sind deine Augen. Vögelchen sind deine Blicke, zierliche Winke aus Tüchern beim Abschied. In deinem Lächeln ruh ich wie in spielenden Booten. Deine kleinen Geschichten sind aus Seide. Ich muss dich immer ansehen.
Diese Sätze hat ein Herr Albert Lichtenstein geschrieben. Inspiriert schreibe ich sie einfach um für Sie:

Helle Lichter sind deine Augen, vorwitzige Vögel deine Blicke, die beim Abschied mir ein Füllhorn schenken. In deinem Lächeln ruh ich mich aus, wie in tanzenden Booten. In Samt und Seide gekleidet sind deine Geschichten.
Ich schaue dich so gerne an.

Über manche Angelegenheiten sollte man ja besser den Schweigemantel legen, aber einem alten Narr wie mir, gehorcht die Zunge nicht immer. Darf man einer entschieden verheirateten Frau solche Briefe schreiben? Ich hoffe, Sie nehmen alles mit einem Lächeln auf,

Herzlich grüßt Sie, Ihr Konrad Blauregen


Impressum

Texte: Cover: bank 2_annche2006 Hintergrund: Briefpapier (Herz)_geralt bei: www.pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch allen Lesern, die schon in meinem Blog die nostalgische Briefgeschichte zwischen Konrad und Jule begleitet, kommentiert und gelesen haben

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