1.
Frau Mai war vorüber gegangen und hatte den blauen Regenschirm mit der Spitze aus Stahl in der Schlafzimmerecke stehen lassen. Sie war dem Biedermeiergemälde der Kunstgalerie gegenüber der großen Kathedrale entstiegen und trippelte dort nun mit ihren Stöckelschuhen die hundertsechsundachzig Stufen zum Turm hinauf.
Im Bild blieb das Bett zerwühlt. Nichts deutete daraufhin, dass dort eben noch zwei Menschen ihre Liebe gefeiert hatten - fast ein wenig schamlos für diese Zeit.
Über dem Betthaupt schwebten im goldenen Rahmen Gottes zornige Engel. Neben der Bettstatt auf einer kleinen Konsole ergoß sich ein Stillleben aus Weinkaraffe, zwei goldgeränderten Gläsern und einer Schale mit frühen Erdbeeren und ersten Kirschen. Seltsam, dachte ich, im Mai gibt es noch keine Kirschen.
Ich folgte Frau Mai unauffällig auf ihren Wegen. Draußen auf den Stufen machte es klipp-klapp, und die hochgetürmten Haare wippten bei jedem Schritt. Sie war eine moderne Frau und reckte selbstbewusst ihr Kinn. Wie war sie nur in das Gemälde hinein und wieder hinaus gekommen? Und wo war der heimliche Geliebte nur abgeblieben. Und überhaupt, was hatte sie über die Zeitenschranke hinaus zueinander hin gezogen?
2.
Ich folgte Frau Mai in den Turm. Warum ich sie Frau Mai nenne, fragst du mich - ich verweile an einer Schießscharte und schaue kurz zwei verliebten Tauben zu - es ist Mai und die Frau im grünen Kostüm hat etwas von Sturm und Drang, der sich in diesem Frühlingsmonat so eindringlich in der Natur spiegelt. Fast bin ich im Turm angelangt, aber wo ist Frau Mai?
Es scheint, als habe sie sich, während ich den Tauben zuschaute; in Luft aufgelöst.
Ich schaue hinunter und traue meinen Augen nicht: sie tanzt mit einem Harlekin über den Platz. Da ist Musik, und viele Zuschauer bilden einen lebendigen Wall um die Tanzenden herum.
In der Galerie verdeckt nun ein roter Vorhang den Blick auf das Bild.
3.
Ich beschließe auf Frau Mai´s Spuren zu bleiben und beginne sogleich mit dem Abstieg. Hundertsechsundachzig Stufen hinunter aus lichter Höhe in den dunklen sakralen Raum, in dem sich Gläubige zum Mariengebet versammelt haben. Orgeltöne erfüllen den Raum mit Energie und Klang. Weihrauch und die unzähligen duftenden Blumen rauben mir fast den Atem. Ich eile zum großen Portal aus Holz, öffne den Riegel, und schon bin ich draußen im blendenden Licht des makellosen Maientages.
Draußen pulst das Leben an diesem prachtvollen Feiertag, und von einer Bühne, die ich nicht sehen kann, erklingt beschwingte Tanzmusik. Der Rhythmus geht ins Blut und lässt musikliebende Menschen nicht still stehen. Eimal mehr frage ich mich, warum die meisten Zuschauer so unbeteiligt wirken und da stehen, als seien sie zur Salzsäule erstarrt. Ich drängle mich nach vorne, sehe Frau Mai und den Harlekin ihren Tanz beenden. Der grafisch gestaltete Fliesenbelag des quadratischen Platzes vor der Kathedrale lässt mich an ein Schachbrett denken, auf dem Dame und König, die beiden Übriggebliebenen, sich voneinander verabschieden. Harlekin lüpft seine Perrücke und wirft Frau Mai noch eine Kusshand zu, bevor er mit hohen Sprüngen und einem irren Tempo in der Menge untertaucht. Etwas fehlt mir im Bild: wo ist die langstielige rote Rosenblüte?
Derweil dreht Frau Mai sich langsam um ihre eigene Achse, nimmt gelassen die Zuschauer in den Blick und verneigt sich vor dem Publikum wie eine Primaballerina.
Ich schaffe es nicht, den Platz zu betreten, so als sei ich angewurzelt. Frau Mai dreht mir nun den schmalen Rücken zu und stöckelt zur Galerie, wo sich die Vorhänge kurz geöffnet haben und nun ein ganz anderes Gemälde die Blicke auf sich zu ziehen versucht.
4.
Viel Zeit ist vergangen, und die Menschenmassen haben sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut, als ich endlich von der Stelle komme. Die Musik mit ihren heißen südamerikanischen Rhythmen ist verklungen. Vom nahen Kirchturm läutet das Angelus. Ich schlussfolgere, dass es nun etwa neunzehn Uhr sein muss. Was hat mich in einem tranceähnlichem Zustand am Rande des schachbrettartigen Platzes festgehalten? Verfügt Frau Mai über hypnotische Kräfte?
Schon wieder ist sie mir entwischt. Zuletzt sah ich sie kurz hinter den geöffneten Samtvorhängen der Galerie erscheinen.
Ob sie wieder in einem Gemälde verschwunden ist?
Einen Moment lang sah ich ein großformatiges Dschungelgemälde hinter ihr. Zwischen den organisch geformten Blattwerk rankten sich lichte Lianen, aber vielleicht waren es auch Schlangen. In der Mitte des Bildes erahnte ich einen roten Papagei. Das Gemälde war mit breiten Pinseln und Acrylfarben gemalt. Feine Nuoncen konnte ich von der anderen Seite des Platzes aus nicht erkennen.
Niemals wäre ich imstande, Frau Mai in ihrem grünen Kostüm in diesem Gemälde wieder zu finden.
Was war mir geschehen und warum folgte ich dieser Frau, wie einem Hirngespinst, das mich an der Nase herum führte?
Ich beschloss nach Hause zu gehen und alles zu vergessen. Nur einen kurzen Blick noch, wollte ich in das Fenster der Galerie werfen.
5.
Frau Mai hatte sich von dem galanten Harlekin verabschiedet und huschte nun, auf ein Zeichen wartend, hinüber zur Galerie.
Und da war es schon, die roten Samtvorhänge öffneten sich soweit, dass sie das Dschungelgemälde sehen konnte. Nun hieß es, unbemerkt hinein zu kommen, denn der Besitzer, ein alter Mann im abgewetzten schwarzen Anzug über einem weißen Hemd, das eine rote Kravatte zierte, kam auch an den Feiertagen kurz vor dem Angelus in seine Galerie, um etwas zu verändern und nach dem Rechten zu schauen. Die Tür war für kurze Zeit geöffnet.
Während der alte Mann, den sie heimlich Herr Anton nannte, sich in den hinteren Räumen wie jeden Abend einen italienischen Espresso zubereitete, schlüpfte Frau Mai hinein. Belebend duftete es nach dem Kaffee.
Bevor sie für diesen Abend in einer Blüte des Dschungelbildes ihr Schlafgemach fand, und sich mit seidigen Blättern zudeckte, schaute sie noch einmal zum Fenster hinaus. Sie sah diese Frau auf der anderen Seite des Platzes, die ihre Schwester hätte sein können, und die ihr, das wusste Frau Mai, gefolgt wäre, wenn da nicht diese besondere Fähigkeit gewesen wäre, einen Mensch an seinem Platz zu bannen.
Frau Mai wurde nur von wenigen Menschen gesehen, denn sie war nicht aus Fleisch und Blu: Nur jene nahmen sie wahr, die die Kunst des inneren Sehens beherrschten.
Frau Mai löste kurz den Bann, indem sie mit beiden Augen kniepte und gleichzeitig einen hochkonzentrierten Gedanken zu ihrer Doppelgängerin schickte, die auch gleich in Bewegung geriet, um den Platz zu überqueren. Fast stieß sie mit dem Harlekin zusammen, der plötzlich auf einem Einrad um die Ecke gedüst kam und zwischen den weißen Zähnen eine langstielige Rose transportierte.
6.
Herr Anton, der eigentlich Dominico Ferandez hieß, war ein Mann um die fünfundsiebzig. Sein schmaler graziler Körper war der eines Tänzers. Ein grauer Haarkranz schmückte das olivfarbene Gesicht mit den warmen braunen Augen. Dunkle Bartstoppeln zierten das Kinn unter den noch vollen Lippen.
Die Galerie war sein Ein und Alles. Immer trug er einen abgewetzten schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und diverse rote Krawatten. Goldene Manschettenknöpfe in Form eines gordischen Knotens hielten die Aufschläge der Hemdärmel zusammen. Als seine Frau Monica noch lebte, unternahm er mit ihr ausgedehnte Reisen in die Kunstmetropolen Europas und fand so manche Nische, in der man das Vorhandensein künstlerischer Ambitionen so nicht erwartet hätte. Besonders zog es ihn nach Italien, Frankreich, Spanien und Portugal.
Seine Vorfahren stammten aus Granada. Sie hatten dort als Gewürzhändler, die zwischen Okzident und Orient ihre Geschäfte abwickelten, ein Vermögen gemacht. Dank ihrer Beziehungen weit über die Grenzen hinaus, kannten sie geheime Wege, verschlungene Pfade und
kühne Seewege, auf denen sie sicher waren vor Piraterei.
Dominico Ferandez liebte die südliche Lebensart und war gerde wie jeden Abend dabei, die silberne Espressomaschiene zu füllen und auf der Gasflamme des Herdes in seiner kleinen Küche zu erhitzen, als ein kaum wahrnehmbares Geräusch ihm ein koboldhaftes Lächeln ins Gesicht zeichnete. Frau Mai war wieder da. Er nannte sie heimlich Rosamunde, die Lichtgestalt seiner späten Jahre, nicht aus Fleisch und Blut, aber immer von einem Duft nach gelben Teerosen umgeben.
Insgeheim wusste er längst, woher dieseses Geschöpf wohl gekommen war. Die Großväter hatten viele Geschichten erzählt aus "Tausendundeiner Nacht" Heimlich schrieb er dieser Traumgestalt poetische Texte, die er natürlich niemanden zeigte, die aber in sich die harmonische Schönheit der Alhambra und ihrer Gärten trugen.
Seine Nase funktionierte noch gut und ein: "Ah...." kam über seine Lippen, als sich das schwarze Getränk brodelnd in den unteren Teil der Espressomaschiene ergoss.
Für einen Augenblick vergaß er "Rosamunde" und gab sich ganz diesem aromatischen Geruch hin. Schon der Duft war Lebenelexier pur, der ihn wie auf einem fliegendem Teppich in die Geschichten seiner Vorfahren hinein fliegen ließ. Er griff über sich in den blauen Hängeschrank und entnahm ihm ein klein braune Espressotasse, legte ein stück Zucker hinein und schenkte sich ein. Vorsichtig nippte er an dem brühendheißem Getränk. Gleichzeitig griff er in die große Dose mit den Amarettini.
Plötzlich wurde die Stille dieses Augenblicks unterbrochen.
Es schepperte vor der Galerietür.
7.
Bevor wir uns den Geschehnissen vor der Galerietür zuwenden, muss ich noch einige Worte über Frau Mai verlieren. Sie ist nicht ohne, die gute Frau. Und woher sie kommt, das weiß niemand so genau.
Die einen spekulieren, sie komme aus der Hölle und habe die roten Hörner unter der Hochfrisur versteckt, andere vermuten ihre Herkunft im Himmel, denn sie hat in manchen Minuten durchaus die Strahlkraft eines Engels, der sich nicht traut, seine Flügel zu entfalten. Aber sie hat etwas Schwebendes.
Ich vermute, sie stammt aus der blauen Flasche, die über das große Meer geschwommen ist, an einem Strand in der Nähe von Eckernförde an Land gespült und dort von dem kleinen Martin gefunden wurde. Neugierig, wie Kinder nun einmal sind, öffnete er den Drehverschluss der Flasche, und schon war es geschehen:
Ein luftiger Geist verließ das Gefängnis, in dem er eine unendliche Zeit verschlafen hatte. Martin wunderte sich nur über den kühlen Luftzug, der plötzlich sein Ohr streifte, um im nächsten Moment wieder verschwunden zu sein.
Die dekorative Flasche nahm er mit nach Hause. Dort dient sie seiner Mutter seitdem als Rosenvase.
Wie Frau Mai dazu kam, sich wie eine moderne Frau zurechtzumachen und was sie tat, um in der Galerie von Domenico Ferandez ein neues Zuhause zu finden, das ist eine Geschichte, die ich erst noch herausfinden muss. Aber vielleicht wird nun verständlich, warum Frau Mai in die Dinge hinein schlüpft und sich dort verbirgt.
Achso ja, bevor ich es vergesse, die Mutter vom kleinen Martin ist Bettina Schwan, jene Frau, die einen zwanghaften Drang verspürt, den Spuren von Frau Mai zu folgen.
8.
Doch jetzt zurück zu den Geschehnissen vor der Galerietür:
Bettina Schwan war über den schachbrettartigen Platz geeilt. Ihr Blick hing starr an dem Spalt zwischen den roten Vorhängen des Galeriefensters. Sie versuchte zu erkennen, was in dem grünen Dschungelgemälde mit dem roten Papagei, der sich gerade zu bewegen schien, vor sich ging. So bemerkte sie nicht, dass sich von der Strasse rechts auf einem Einrad der Harlekin näherte.
Da dieser eine Rose zwischen den Zähnen trug, konnte er nicht mal einen Warnruf abgeben, und über eine Klingel verfügte sein Gefährt nicht. Im letzten Moment gelang es ihm abzuspringen, aber nicht ohne die Sammlung unterschiedlich großer blauer Blecheimer, die vor der Galerie mit bunten Sommerblumen bepflanzt waren, zu streifen.
Sie standen neben einer rosenberankten Pergola, unter der zwei grüne Klappstühle aus Holz neben einem buntgefliester Bistrotisch zum Verweilen einluden. Einige der Eimer kippten um. Dunkle Blumenerde und abgebrochene Pflanzenteile verteilte sich auf dem Gehweg.
Dieses Geräusch verursachte das laute Scheppern, das den alten Ferandez aufhorchen ließ und Frau Mai, die sich - nachdem sie wie ein Schmetterling am Nektar genippt hatte - bereits in den Trichter einer weitgeöffneten Blüte des Gemäldes zur Ruhe begeben hatte, veranlasste, einen neugierigen Blick über den Blütenrand zu wagen.
Bettina Schwan war wie erstarrt, ihre Augen geweitet vor Schreck, als plötzlich dieser maskierte Mann im bunten Flickenkostüm vor ihr stand, der aus der Commedia dell´arte entsprungen schien. Gleichzeitig glaubte sie, im Gemälde Frau Mai entdeckt zu haben.
"Oh!" platzte es aus ihren gespitzten Lippen heraus.
Der Harlekin, der sich zum Glück nicht verletzt hatte, nahm die Rose in die Hand, verbeugte sich und überreichte sie der verdutzten Frau.
Dabei schaute er ihr so unverschämt tief in die Augen, dass sie den Blick unwillkürlich senkte und spürte, wie sich ihre Wangen rosa färbten.
„Dumme Pute“ schalt sie sich stumm, „das ist doch nur ein verkleideter Mann.“
„Gestatten Senorina, mein Name ist Truffaldino.“
Er sprach mit gebrochenem Deutsch, aber die warme, tiefe Stimme, ließ Bettina angenehm erschauern.
„Wie komme ich aus dieser Situation heraus?“ fragte sie sich stumm, und es gelang ihr nicht, auch nur einen vernünftigen Satz aus ihrer Kehle zu entlassen.
In diesem Moment öffnete Frederico Ferandez die Tür:
„Mamma Mia, zürnte er „sind wir immer noch im Karneval?“
Er schaute die verdatterte Frau an, und für einen Augenblick wirkte die Dreiergruppe wie aus dem Wachsfigurenkabinett herausgefallen.
9.
Frau Mai hatte einen geradezu teuflischen Spaß. Fast wäre sie vor Lachen vom Blumenkelchrand gestürzt. Im letzten Augenblick hangelte sie sich mit den Füßen am klebrig-rauen Blütenstempel fest. Es war ihr tatsächlich gelungen, drei Menschen gleichzeitig zu bannen; was für eine Meisterleistung. Am liebsten hätte sie sich selbst auf die Schulter geklopft.
Der Anblick auf das Geschehen vor der Galerietür war aber auch zu komisch:
Bettina Schwan hatte den Kopf wie eine Taube nach hinten geruckt, so dass ihr Kinn parallel über dem Brustbein zu schweben schien. Der Oberkörper wollte nach hinten fliehen. Ihre Lippen waren gespitzt, und die Hände zeigten mit offenen Handflächen abwehrend in Richtung Truffaldino, der ihr mit leicht gebeugten Kopf die langstielige Rose entgegen streckte und sie dabei mit großen Augen ansah.
Herr Anton, die Brille rutschte fast von der Nase, hatte den Mund noch aufgesperrt - man konnte deutlich die zwei Goldzähne erkennen. Er hatte seine Arme energisch hoch gerissen, so als wolle er sich seinen Raum zurück erobern und alle Dinge wieder gerade rücken.
Frau Mai machte sich vor Lachen fast in die Hose. Es war ein hohes schadenfrohes Gelächter, dass einer Sirene glich.
Jetzt aber wollte sie hinaus, um in Herrn Antons Küche - wie an jedem Tag - ein wenig Espresso zu nippen und um zu schauen, ob sie wieder ein paar poetische Liebeszeilen finden würde.
Aber was war das, sie klebte fest.
Sie fluchte und zappelte mit Beinen und Füßen. Ihr Zorn wurde von Sekunde zu Sekunde größer, und sie schrie: "Verdammte Kacke, so ein Mist." und der Papagei krächzte, einem Mantra gleich, immer den gleichen Satz:
"Guten Morgen Zuckerschnäuzchen."
Texte: alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 18.10.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
gewidmet der Bärin, die mich daran erinnert hat, dass es "Frau Mai" gibt, und daran, dass eine angefangene Geschichte es Wert ist, zuende geschrieben zu werden.