1.
Mein lieber Traumtänzer,
ich weiß, es geht dir nicht gut. Du hast dich in dein Schneckenhaus zurück gezogen. Welcher Wind hat dich diesmal umgepustet? Schade, ich hätte gern mit dir gesprochen. Leider gehst du nicht ans Telefon und antwortest nicht auf meine SMS. Vielleicht erreicht dich ja diese Mail.
Ein wenig sorge ich mich, obwohl ich ja weiß, hin und wieder brauchst du die Perlmuttzeiten - smile! Ich male dir lichte Farben ins Schneckenhaus und schicke einen zärtlichen Wind vorbei - ich habe Delphine gesichtet - und heute Abend werde ich Ylang Ylang und Sandelholz zünden, im Kerzenschein an dich denken und dir positive Energie schicken. Solltest du also heute Abend - so gegen Zehn - Funken sehen, dann kommen sie von mir.
Verbrennen sollen sie dich nicht, aber Licht in der Winternacht hat - wie du ja weißt - eine besonders magische Wirkung.
Es grüßt dich deine seiltanzende Aurora
2.
Namaste, traumtänzelnder Federfreund,
noch immer hat mich keine einzige Zeile von dir erreicht. Aber ich bin nicht besorgt, im Gegenteil, ich glaube, es geht dir gut. Gib es zu, du verträumst den Winter zwischen kuscheligen Kissen in deinem Schneckenhaus. Neben dir getürmte Stapel alter und neuer Bücher. Ab und zu öffnest du die Luke und schaust hinaus auf das bewegte Meer mit seinem ewigen Bleigrau. Fehlt dir nichts? Ich könnte dieses lange Alleinsein nicht aushalten. Na ja, so bin ich eben, nichts hält mich irgenwo fest.
Heute Morgen habe ich auf meinem Sofa gelegen und in den Garten hinaus geschaut. Es war blaue Stunde, wie selten hier. Das magisches Licht nahm mich gefangen. Es war still und obwohl frostig , konnte ich keine Rauchfahnen aus den Schornsteinen der gegenüberliegenden Häuser entdecken. Über der Terasse - verwebt und verwoben - die noch nicht beschnittenen Weinreben - schwarz durchkreuzte ihr chaotisches Gewirr das Blau.
Ein schöner Kontrast. Erhaben, fast edel. Ich engte mein Blickfeld ein und sah zwischen den Ästen einen sechseckigen Stern - so wie man in die Wolken schaut und plötzlich einen Engel entdeckt.
Ich kann dir gar nicht sagen, wie ruhig und entspannt ich beim Schauen wurde und wie fröhlich. Ich glaube, die ganze Zeit über lächelte ich in mich hinein. Kurz dachte ich an dich und da war gar nichts beunruhigendes -das war gut so.
Ein bisschen beneide ich dich ja - denn am liebsten würde ich wie der Bär in einer Höhle Winterschlaf halten. Ich bin immer müde - kaum sitze ich, fallen mir schon die Augen zu. Bücher lese ich im Moment nur zeilenweise.
Im wahrsten Sinne des Wortes laufe ich auf Sparflamme.
Genug erzählt - ich gähne schon wieder - das Bett ruft laut und deutlich. Es schreit fast. Ja, ja, ich komme!
Dich grüßt die im Augenblick nicht seiltanzende Aurora
3.
Herzallerliebster Traumtänzer,
mein Mitteilungsbedürfnis ist riesig im Augenblick Keiner will mir mehr zuhören, weil ich ständig quassele. Sie mögen oder können mir auch nicht mehr folgen. Bin schon fast über den Wolken auf dem Weg zu dir. Ich fliege ihnen davon, und sie sind zu bequem, um mich einzufangen und wahrzunehmen, welches unbezahlbare Juwel ich bin. Ich schäme mich ein wenig für diesen Satz. Nein, DU, ich sage ihn nicht, um ihn von dir bestätigt zu bekommen. Das wäre mir eher unangenehm. Zu schmalzig. Mal im Ernst, diese Art von Schleimerei haben wir beide doch nicht nötig. Oder? Wie gut, dass es dich gibt, ein Phantom, von mir erdacht und doch eine präzise Gestalt: feingliedrig und groß mit breiten Schultern und schmalen Hüften, nicht mehr jung - gerade 55 geworden - Sternzeichen: Steinbock - sehr eigen!
Ich sehe schon, du runzelst die Stirn. Wie gut, dass wenigstens du mich so nimmst, wie ich bin. Ja, ja, ich sehe dich Schmunzeln. Ach könnte ich doch zu dir ins Schneckenhaus kriechen. Die Zeit würde uns nicht lang, und das Seemannsgarn wüchse wie Gras immer höher. Könnte echt gefährlich werden, wenn unser Häuschen überwuchert und unsichtbar wäre. Ach Federfreund, deine Stimme muss ich noch erfinden: ich schwanke zwischen Tenor und Bariton. Ich glaube, du sprichst schnell und sehr betont - deine Sätze überschlagen sich und deine Mimik ist ebenso beweglich wie meine. In unseren Zügen kann man lesen, wie in einem Buch. Deine dunklen Augen blitzen und über der hohen Stirn ringeln sich die grauen Locken - ein bisschen frech siehst du aus. Das Lausbübische hast du nicht verloren. Weißt du, schon als Kind habe ich Halma, Dame und Mühle gegen mich selbst gespielt: niemand hatte Lust oder Zeit. Genauso kann ich mir Gestalten ausdenken und mein Monolog wird zum Dialog. Geben wir also die Bühne frei für eine gelingende Inszenierung. Tschüss für heute - vergiss das Schlafen nicht und grüße die Wellen, Aurora, die sich heute wieder aufs Seil getraut hat.
Hm, vielleicht gibts dich ja wirklich - irgendwo! Vielleicht auf einer Nordseeinsel als Leuchtturmwärter?
4.
Manchmal, lieber Federfreund,
stoße ich auf Zeilen im Berg der geschriebenen Worte, zwischen denen Wortgebirgen zu mir herüber v - wie Blitz, Wetterleuchten oder Polarlicht - vor langer Zeit geschrieben, schon oft gelesen, doch wieder neu berührend und aufwühlend. Neues öffnet sich im schon Bekannten - habe ich alles schon wirklich gelesen, erlebt, gespürt und gefühlt - diese Worte von dir in mir - zwischen uns, die vom Himmel fallen und aus der Erde wachsen wie Bäume?
Verändert vielleicht mein "Leben" und "Erleben" die Zeilen, so wie dein Meer den Strand im "Auf und Ab" der Gezeiten ändert?
Sicher ist es nicht die gleiche Möwe, wie immer, die ich sehe, und doch, es ist die eine - die besondere - die, die alle anderen in sich vereint.
Gestern spazierte ich durch ein Museum - abstrakte Kunst - und entdeckte ein Riesengemälde, mit Bleistift gemalt: dichte Schatten gaben den feingesponnenen Strukturen Tiefe. Vergleichen könnte man das Bild mit einem Himmel, an dem die Wolken sich jagen und ständig neu formieren, und wo das Licht sich im Sekundentakt ändert. Jenes Gemälde würde ich liebend gern in mein Wohnzimmer hängen. Wahrscheinlich reicht mein restliches Leben nicht, um alles darin zu entdecken.
Ich schaue dir in Gedanken hinterher und spüre jetzt gerade den Wind vom geöffneten Fenster. Er wirbelt die Papierschichten durcheinander, verschlägt die Seiten. Ein Hauch von Frühling liegt schon in der Luft. Vielleicht finde ich im Sommer die Zeilen wieder, die eine frische Brise gerade verblättert.
Du sitzt auf deinem gemütlichen Sofa und hörst Bach - siehst ebenso gelassen aus, wie der Buddha auf meiner Fensterbank.
Ich schaue dir zu, sehe wie du dich über den Zeitschriftenstapel beugst und etwas notierst. Die Ruhe, die von dir ausgeht, ist fassbar.
Während der volle Mond über den Wellen schwebt, streckst du deine Beine aus und lächelst mir zu.
Aurora, die gestern mit einem falschen Bein aus den Bett gestiegen ist, sich den Knöchel verstauchte und heute nicht seiltanzen kann
5.
Guten Abend, Traumtänzer,
hast du tagwärts schon Träume getanzt ? Mein Knöchel hält mich am Boden. Kein Seiltanzen heute. Stattdessen jongliere ich mit Worten. Stell dir vor, heute sind sie mir alle durcheinander gepurzelt. Der Sinn hat sich hinter dem Durcheinander versteckt. Ich wußte plötzlich nicht mehr, was ich vor ein paar Minuten noch wollte. Dabei hatte ich mit den bunten Gedankenbällen schon fast einen Regenbogen jongliert. Ich war untröstlich. Hier sind die Reste:
komm
du bi mein
erfüll mit schein
das griesegraue sein
es fließt der rhein
nach norden heim
und klebt mit leim
was fest soll sein
auf einem bein
noch ganz allein
ist es nicht klein
das du bi mein
Traumtänzer, du hast mir schon so viele Antworten gegeben. Kannst du mir vielleicht verraten, wer das "du bi mein" ist? Seit Monaten geistert es durch meine Gedanken, wie ein kauziges Irrlicht. Es spukt, poltert und klabautert. Ich mag es gern, denn es bringt mich oft zum Lachen, wenn ich gerade dabei bin, in den trüben Gedanken herum zu fischen, wie ein erfolgloser Angler. Aber so eigensinnig, wie es zu sein scheint, entzieht es sich jedem Versuch, ihm eine Form zu verpassen.
Hey, vielleicht sollte ich es mal zu dir schicken, damit es dich endlich aus deiner Winterstarre erlöst.
Du runzelst die Stirn und presst die Lippen aufeinander.
Das heißt "Nein" nicht wahr, "lass es bloß sein."
Ja, ich verstehe, du willst noch nicht. "Alles zur rechten Zeit!" rufst du mir zu.
Ist ja schon gut, aber auf Dauer sind diese Monologe unergiebig - obwohl - vielleicht auch nicht, denn dein Schweigen lässt meine grauen Zellen auf Hochtouren werken. Ich staune nicht schlecht. Gerade war die besondere Möwe an meinem Fenster. Ich habe ihr mit einem schönen Seemannsknoten ein paar Luftküsse um den Hals gebunden. Sie hat mir versprochen, sie zu dir zu bringen. Du weißt ja, dass die Vögel mich verstehen, und ich sie.
Also sei lieb, und nimm die Möwe in Empfang und natürlich meine luftigen Knutscher.
Jetzt guck mich doch nicht so streng an - da werde ich ja ganz zerknirscht. Ich bins doch nur, deine (gerade nicht) tanzende Aurora
6.
Liebster Federfuchs,
heute konnte ich schon wieder humpeln. Der Knöchel schwillt ab - hm, vielleicht gelingt es mir ja morgen , über die Schwelle zu hüpfen. Der Wind dreht sich. Ich glaube du hast dein Schneckenhaus verlassen, um den Leuchtturm zu inspizieren. Ist die Möwe gut bei dir angekommen?
Was alles so schwillt im Augenblick. Nicht nur der Fluß vor meiner Tür, in den Bäumen steigt der Saft und die Vögel spielen verrückt. Ich bin heute brav gewesen und habe still im Sessel gesessen, meinen Knöchel gekühlt und in mich hinein gehorcht. Du kennst ja meine innere Unruhe und die Schwierigkeit, still zu sitzen. Nun, heute ging es gut. Ich habe in alten Bildern gekramt - ach war ich ein süßes Baby - und eine innere Diskussion darüber geführt, ob deine Stimme nun ein Bariton oder ein Tenor ist. Keins von beiden, stellte ich fest, es ist ein Zwischending. Auch das weißt du schon, ich liebe alle Dinge dazwischen: was sich versteckt, in Spalten und Fugen; zwischen Zeiten, Diesseits und Jenseits.
Manchmal frage ich mich, warum ich es mir nicht einfacher mache und nur registriere was sicht-und fassbar ist. All dieses Unfassbare nimmt soviel Gedankenraum ein. Zugegeben, es ist viel spannender und nährt mich besser.
Neulich las ich, dass es Menschen gibt, die mehr das große Ganze im Blick haben und andere, die sich im Detail verlieren.
Ich denke gerade, wenn ich schon das große Ganze nicht erfassen kann, konzentriere ich mich doch lieber auf die hübschen Details. Wie gut, dass es zum Ausgleich dich gibt. Du bist in der Kuppel des Leuchtturms angelangt: dein Blick schaut von oben, geht weit. Siehst du mich am Rande des Meeres, jenseits der Dünen? Dort wo die Außenbezirke der Stadt am Fluss beginnen und im obersten Dachlukenfenster des kleinen blauen Hauses noch Licht brennt.
Siehst du mich? Ich winke mit der rechten Hand und schicke ein Lächeln, deine versonnene Aurora, die bald wieder aufs Seil kann
7.
Guten Abend Traumtänzer,
ich bin erledigt, dieser Tag hat mich geschafft. Sag mir, wie kann eine Wurzeln schlagen, wenn man sie beschneidet, sobald sie einen Wachstumsschub gemacht hat? Sie kann nichts dagegen tun. Wer ausgegrenzt wird, dem lässt man keine Chance, sich zu wehren. Anpassung wäre der Weg, aber für welchen Preis?
An manchen Tagen möchte Aurora nur schreien. Vielleicht hört ja jenseits von hier einer ihren Ruf und reicht ihr die Hand.
Komm tanze mit mir im Traum einen Tango - ich will Leben spüren, hier ist alles so frostig. Fahr mit mir nach Andalusien. Schwarze Tuschzeichen sammeln sich auf Chinarot und im Rhythmus des Tango lebt wieder mein Blut.
Vielleicht mein Freund sollte ich die Seile abbauen, mich auf Wanderschaft begeben und nach einem passenderem Platz Ausschau halten. Auf dem Seil bin ich sicher, und aufhängen kann ich es überall. Ich sehe ein kleines Mädchen mit rotem Sonnenschirm. Es tänzelt durch den Regen - ich liebe diese Tuschezeichnung des Malers Zeng Mi - leicht sieht es aus, doch der Weg, der sich durch graue Häuserschluchten mit blicklosen Augenfenstern schlängelt, führt ins Nichts.
Abgründiges, im Nebel versunken ist noch nicht auszuloten. Manche Gemälde vergisst man nie, dieses begegnet mir sogar im Traum. Wenn ich es im Museum betrachte, ist es, als würde ich eine alten Freundin besuchen - eine von der Sorte, die man nur in großen Abständen sieht - doch immer ist da gleich wieder die Nähe und in der verflossenen Zeit hat sich nichts an den dichten Gefühlen verändert - genauso geht es mir mit diesem Bild.
Schlaf gut - lass uns gemeinsam traumtanzen, Aurora
8.
Guten Morgen Traumtänzer,
Hast du gut geschlafen? Ich sehe dich beim Frühstück: vor dir steht ein Pott Kaffee - er dampft noch. Du siehst müde und ein bisschen verknittert aus und die Haare stehen in alle Richtungen ab, als seien sie es leid, ewig an deinem Kopf zu kleben und hätten sich entschieden, heute auszuwandern. So ähnlich sah ich heute Morgen auch aus. Der Wecker rüttelte mich unsanft aus meinem Traum. Eine Weile blieb ich noch liegen, dann trat ich ans Fenster und schaute in die Dunkelheit. Dabei sah ich mein Spiegelbild im Fensterglas. Es wr noch dunkel.
Inzwischen habe ich schon einiges erledigt, meine erste Tasse Kaffee getrunken und mich an den Schreibtisch zurück gezogen.
Mein Fuß braucht noch etwas Schonung, schließlich will ich nicht gleich wieder vom Seil fallen. Welches Netz würde mich auffangen? Ach ja die Netze, auch so ein Wort, das mir immer wieder begegnet. Dabei denke ich nicht nur an die kleinen Fische, die beim Fischfang wieder über Bord geworfen werden, weil sie zu klein sind um zu guter Fischsuppe verkocht zu werden, sondern eher an die eingefangenen Kostbarkeiten zwischen ganz ordinären Heringen.
Heute hat sich ein Seepferdchen im Traumnetz verfangen. Neulich war es ein blauer Fisch. Er tat mir leid. Deshalb schickte ich ihn wieder ins Wasser.
Was ich dann sah, wollte ich nicht glauben: er schwang sich in die Luft, verwandelte sich in einen Vogel, blaugefiedert - und flog nach Westen - in entgegengesetzte Richtung. Ab und zu, du wirst es nicht glauben, besucht er mich.
Und dann sind da noch die Menschenfängernetze, aber darüber schreibe ich ein anderes Mal. Jetzt nimmt der Alltag mich in die Pflicht. Gibt es Ziegen und Schafe auf deiner Insel?
Aurora, heute im Purpurkleid
9.
Mein liebster Traumtänzer,
hast du schlechte Laune? Bist du genervt? Die Möwe, unser heimlicher Bote, kam schnoddrig zurück. Sehnst dich zurück in dein Schneckenhaus, hm? Und kannst doch den vielen geöffneten Türen nicht widerstehen. Verstehe ich, geht mir manchmal auch so. Heute ist Schietwetter, kalt und nass - es kriecht regelrecht unter die Haut und lässt frösteln. Ich war eine Weile draußen, plauderte ein wenig mit dem Briefträger - harter Job bei diesem Wetter.
Am Morgen stand ich am Fenster und schaute hinaus - es regnete ohne Unterlass und zwischendurch fiel Schnee. Meine Hände waren ungeduldig, wollten Beschäftigung, also faltete ich lauter kleine weiße Segelschiffe. Eben nun klingelte es an der Haustür, und das Nachbarkind besuchte mich - ein schüchterner Fünfjähriger, der gerne Geschichten hört. Da kam mir eine Idee: ich zog mir Gummistiefel an und zusammen gingen wir in den Regen, ließen die kleinen Segelboote in den Pfützen schwimmen und taten so, als seien wir gefährliche Piraten und in einen Sturm geraten. Es dauerte nicht lange und wir waren durch und durch nass. Schnell wieder ins Haus, gut abgetrocknet und heiße Schokolade gekocht. Ein paar Reste Weihnachtsplätzchen fanden sich am Grunde der Blechdose mit den zierlichen Engeln. Sie schmeckten noch gut und dufteten nach Anis und Zimt. Wir hatten eine Menge Spaß miteinander
Dann holte seine Mutter ihn ab. Nun lege ich die Beine hoch, entzündee Kerzen und denke mir den Brief an dich aus.
Aus dem CD-Spieler klingt Opernmusik, Arien, und alles ganz laut.
Mein Fuß hat sich gut erholt. Wenn das Wetter morgen trocken ist, gehe ich aufs Seil, Aurora
10.
Hallo liebster Federfreund,
der Nachmittag war schön. Er brachte Sonnenschein und im Licht sahen die verregneten Straßen silbern aus. Ich hängte mein Seil auf und wagte mich hinauf. Was für ein Hochgefühl, wieder oben zu stehen und gekonnt mit der Balancierstange zu jonglieren, aber dann - wieder unten - rutschte die Stimmung in den Keller. Ich kann dir nicht sagen, wodurch es ausgelöst wurde.
Ich bin traurig und dieser Schmerz brandet in mir wie Ebbe und Flut, immer neu, unvorhersehbar, nie gleich. Glaubst du, dass man sich in einem Menschen verlieren kann? So, dass man sich nie wiederfindet? Selbst wenn man glaubt, man hat sich wiedergefunden - und schon jubiliert das Herz - kommt die nächste Welle und schwemmt einen fort.
Ich hatte mich doch längst freigeschwommen. Ich verstehe mich nicht und zürne mir.
Warum bin ich oben auf dem Seil viel sicherer, als unten auf dem Boden. Dort brauche ich ein doppeltes Netz, um den Stolperfallen zu entgehen.
Wirf mir das Netz herrüber, und zieh mich auf deine Insel. Ich möchte ganz oben im Leuchtturm neben dir sein, über das Meer schauen und deine Nähe spüren.
Gute Nacht sagt für heute Aurora
11.
Mein ferner Leuchtturmwärter,
ist es still auf deiner Insel? Gibt es andere Menschen dort? Oder lebst du ganz allein zwischen Möwen und anderem Geflügel? Ich stelle mir den Winter dort schwierig vor. Da ist mir die Stadt mit ihrer Lebendigkeit lieber, auch wenn gerade die Narren los sind, und ich mich in meinem Dachzimmerchen verbarrikadiert habe. Ich schaue von oben auf ihr buntes Treiben.
Wieder einmal werde ich nicht müde - die Worte balancieren auf einem Drahtseil in meinem Kopf. Sie sind aber nicht sicher, haben manchmal Höhenangst und purzeln dauernd herunter. Kein Netz fängt sie auf. Und so angele ich nach ihnen in der Tiefe. Wenn sie etwas gebrochen haben, kenne ich sie nicht unbedingt wieder. Sie sehen so anders aus - ein völlig anderer Sinn und nichts passt mehr.
Ich habe ein Lazarett eingerichtet für verletzte Worte.
Und überhaupt, was wollte ich noch sagen? Geht es dir auch manchmal so, dass du einen großen Bogen um den Kern der Sache machst, weil du sie nicht an dich heran lassen kannst, Angst hast, der Wahrheit ausweichen möchtest, und doch zieht es dich genau dorthin. Aber du hast nicht mit den Tücken der Gedanken gerechnet - da turnen sie plötzlich auf dem Seil herum, stürzen und du hast Mühe, sie wieder zu finden.
Es sind immer Schichten aus Gedanken, Worten, Erinnerungen, Gefühlen und Träumen, die den Augenblick wirken. Ich werde über Ginseng nachdenken und den Wert von Wurzeln. Vielleicht finde ich so den verlorengegangenen Faden wieder, und meine Worte müssen keinen Drahtseilakt mehr absolvieren.
Es grüßt dich Aurora, die ihre Worte pflegt
12.
Liebster Traumtänzer,
ich muss dir noch ganz schnell etwas erzählen: eben traf ich eine Kollegin. Sie nennt sich "Seiltänzerin der Nacht".
Endlich mal jemand, der sich auch aufs Hochseil traut ohne Netz und doppelten Boden. Ach, mein Seelenfreund, wie ist die Welt von da oben schön. Der Himmel ist nah. Ich bin versucht, die Sterne wie goldene Äpfel vom Himmelszelt zu pflücken. Möchtest du einen haben? Ich teile gern! Ich könnte mit ihnen natürlich auch auf dem Seil jonglieren. Hm?
Ich sehe dich nicht mehr. Mein Herz ist bekümmert. Über dem Ozean hängt seit gestern Nebel. Die Möwe Jonathan und der Rabe Jasu leisten mir Gesellschaft.
Ich bin so unruhig, kann nicht eine Minute mehr stillsitzen. Ich will mein Bündel packen und aufbrechen gen Süden. Wenn du am Strand bist, grüße das Meer und die Wellen von mir, ja? Ach wärest du doch eine Weile hier bei mir - könnte ich nur wirklich ein paar Worte mit dir sprechen.
Ich sehe dich nicken - eine ganz liebevolle Umarmung schickt die deine Aurora
13.
Mein liebster Traumtänzer,
kannst du mir mal sagen, warum Aurora immer wieder in die gleichen Fallen stolpert ? Jetzt bin ich es, die sich im Schneckenhaus versteckt und traurig darauf wartet, dass jemand sie vermisst, nach ihr fragt und sie sucht.
Natürlich habe ich niemanden gesagt, wo ich hingehe. Im Hausflur begegnete mir die Nachbarin. Obwohl mir nicht danach war, grüßte ich herzlich und lächelte sie aufmunternd an, sprach ein paar Worte mit ihr. Ich bin perfekt darin, meinen Schmerz und meine Traurigkeit hinter glatter Mine zu verbergen. Sie hat es nicht leicht. Ihr Mann ist ein widerlicher Tyrann, der um sich schlägt, wenn er einen über den Durst getrunken hat. Wenn es arg ist bei ihnen, schickt sie mir den Kleinen. Er ist gerne bei mir und fühlt sich hier wohl. Gestern habe ich begonnen, ihm das Jonglieren bei zu bringen. Das lenkt ab.
Wenn die Bälle im Bogen fliegen und die ganze Konzentration im perfekten Rhythmus des Auf und Ab ruht, ist keine Zeit für Traurigkeit und Wehmut. Es lebt sich leicht, und das Blut fließt ohne Hindernisse durch den ganzen Körper. Es gibt kein "Eben" und kein "Gleich", nur ein "Jetzt" und das Lächeln des Augenblicks.
Ich gehe jetzt schlafen. Hoffentlich träume ich wieder von dir.
Seiltanzend - im Nachthemd - grüßt dich Deine Aurora
14.
Lieber Freund,
meine Seele weint und das Herz tut weh. Manchmal lache ich trotzdem, denn man kann nicht immer traurig sein und vor Wehmut ganz schwach. Und dann schaue ich zum Fenster hinaus und sehe, dass der Apfelbaum treibt und die Osterglocken mir ihr freundliches Gelb schicken. Ich sehe die Veilchen unter den Heckensträuchern und viele bunte Krokusse. Ich denke an Ostern und schmücke mein Haus mit Blumen. Dann werde ich ganz leicht, öffne weit das Fenster und lasse meinen Bruder den Wind hinein. Ich mache mir Musik, lausche verschwimmenden Klängen und tanze selbstvergessen, bis ich erschöpft bin. Und dann höre ich die Amsel singen, so süß, dass mir das Herz schwer und leicht zugleich wird und die Tränen fließen. Manchmal weiß ich nicht, ob vor Glück oder vor Kummer. Verstehst du mich? Ich sehne mich nach etwas, dass ich nicht bekommen werde, und ich schaffe es nicht, mit mir ins Reine zu kommen. Manchmal hasse ich mich dafür, schimpfe mit mir, aber mein Herz lässt sich nicht betrügen. Es lässt sich nichts ausreden und es vergisst nicht. Verstehst du mich? Ich verstehe mich nicht: es ist Frühling, die Luft mild und die Tage sind schon länger.
Und ich? Ich bin ein trauernder Kloß, werde älter, meine Jugend verschwindet. Ich frage mich, wie lange noch das Seil mich trägt. Ich muss raus aus diesem geschlossenem Kreis, noch einmal etwas neues wagen. Lieber würde ich mit einem Gefährten gehen, aber da ist niemand.
Kennst du diese verzehrende Sehnsucht, nach etwas, von dem du noch nicht einmal weißt, was es ist? Du gibst ihm tausend und einen Namen, und keiner passt wirklich. Alles viel zu ungenau. Niemals schafft die Sprache es, auszudrücken, was genau ein Mensch empfindet.
Ich rolle als Trauerkloß übers Seil - immerhin muntert mich diese Vorstellung auf - das hat was, deine Aurora
15.
Liebster Leuchtturmwärter,
es wird mal wieder Zeit für einen kleinen Brief. Bin gerade aus meinem Schneckenhaus heraus geklettert. Nun strecke und recke ich mich und lasse die Muskeln spielen. Ich schaue aus dem Fenster und springe vor Freude in die Luft: es ist Frühling geworden. Bald male ich Ostereier an, lade die Kinder aus der Nachbarschaft ein und binde Blumen in mein graues Haar. Ich bin gleich raus - mit nackten Füßen - und habe mein Seil wieder aufgehängt.
Das Seiltanzen klappt noch. Ich habe mit einfachen Übungen angefangen - gemach, gemach, Schrittchen für Schrittchen - immer am Seil entlang. Ich könnte eine Osternummer einüben: Einradfahren auf dem Seil und dabei mit bunten Ostereiern jonglieren.
Nach Ostern hält mich hier nichts mehr. Ich packe mein Bündel. Im Narrengewand und den spitzen Schnabelschuhen schlendere ich los, die Flöte in der Hand und immer ein Schwarm Kinder hinter mir. Wie ich ihre aufgeweckten Gesichter liebe und die Koboldblicke, ach und die offenen Fragen. Sie sind noch so frei, die Kinder mit ihren Augen, die vor Begeisterung glühen. Wir werden alle anstecken mit unserer Begeisterung.
Und ich komme auch zu dir auf die Insel. Ja, ja, das ist gewiss. Ich sehne mich nach deiner Inseleinsamkeit. Und wenn du magst, hänge ich mein Seil auf und tanze nur für dich. Und du wirst dir deine Meerschaumpfeife anzünden, mich anlächeln und in deine Arme schließen. Dann bin ich endlich wieder zu Hause. Bei Mondlicht werden wir in den Wellen baden und die Möwen werden Spuren für uns im Sand hinterlassen.
Du befürchtest eine Störung? Nein, das wird wunderbar, bestimmt. Erst wenn du mich kennst, wirst du wissen, was du immer vermisst hast.
Luftküsse und Sternenglanzgrüße von deiner Seiltänzerin
16.
Hallo lieber Traumtänzer,
ganz gewiss bist du es, von dem ich nachts immer träume, mein echter, wirklicher Freund. Ahnst oder weißt du es? Ich bin unterwegs - hüpf - Aurora hat ihr Bündel gepackt und ist dem Alltagseinerlei entflohen. Ich fühle mich frei und gelöst, wie lange nicht, habe es geschafft, die Schwelle zu überschreiten. Hatte erst noch einen heftigen Kampf mit dem kleinen schwarzen Teufel, weißt du, der mit den roten Hörnen, der mir immer dazwischen redet, Recht behalten will und ein unleidlicher Giftzwerg ist, ein richtiger Miesepeter, Schlechtwetterprognostizierer - eben der, der mich daran hindern will, zu tun, was ich tun möchte. Diesmal habe ich ihn besiegt. Es ist so toll, so unbeschreiblich: ich wachse wie eine Riesin in die Höhe. Wie stark ich plötzlich bin. Morgen kannst du mich auf Wolke Sieben abholen. Es fühlt sich gut an, unterwegs zu sein. Dabei nutze ich alle verfügbaren Möglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs. Jetzt gerade ruhe ich mich aus, habe meinen Abendplatz gefunden. Das Zelt steht schon, und gerade habe ich im Wasser den ersten Stern gesehen. Meine Füße baumeln im Wasser zwischen den Algen und Fischen. Ach tut das gut nach dem langen Fußmarsch. Auf dem Kocher zieht frische Minze im Teewasser. Es duftet!
Seit vorgestern bin ich unterwegs. Gestern spannte ich mein Seil in einer Kleinstadt auf. zuerst waren die Kinder da, dann kamen die Eltern und die Laufkundschaft. Auf dem Marktplatz war Hochbetrieb. Alles klappte und die Zuschauer entlohnten mich begeistert und großzügig. Habe jetzt genug für eine Woche. Eine junge Frau bot mir ein Nachtlager an und bewirtete mich reichlich. Es war ein geselliger Abend, und ich schon ein wenig traurig, heute Morgen wieder aufzubrechen.
In der S-Bahn saß mir ein etwa gleichaltrige Frau gegenüber, aber von der erzähle ich dir ein anderes Mal. Sie heißt Jule und kommt aus Wien. Ich bin müde.
Und du, mein Freund, was tust du? Du läufst unruhig über die Insel. Was treibt dich so? Dich zieht es zum Festland, du brauchst Menschen, Nähe, ein bisschen Körperwärme. Dir fehlt eine Frau. Zwar bin ich nicht die deine, aber ich komme, spätestens, wenn die Klaräpfel reif sind. Du wirst es wissen; wenn sich zum ersten Mal der Herbst in den Sommer mischt, dann erwarte mich auf deiner Insel.
Ist nicht das Wasser die Weltenseele, über die wir alle miteinander verbunden sind?
Es grüßt dich von Herzen eine flohfrohe Drahtseilakrobatin.
17.
Guten Morgen lieber Seebär,
ich hoffe, du hast so gut geschlafen wie ich. Vielleicht warst du gar schon auf dem Wasser. Apropos Wasser. Gestern schrieb ich dir: "Ist nicht das Wasser die Weltenseele, über die wir alle miteinander verbunden sind?"
Vielleicht fragst du dich, wie ich auf diesen Gedanken gekommen bin . Nun ich will es dir erklären, denn ich träumte von....:
"Es war einmal ein Bauernmädchen. Das lebte in der Nähe eines munteren Baches, zwischen Feldern und Wiesen bei den Eltern, mitten in einem wunderschönen Garten. Gerade war Frühling, und auf der Obstwiese blühten die Bäume. Das Mädchen, nennen wir es Trine, saß gern unter den Bäumen im Garten und sah ihnen beim Wachsen zu. Trine war gerade zum Frühlingsbeginn dreizehn Jahre alt geworden. Sie war schon vertraut mit allen Pflanzen, den Gänsen, die sie jeden Tag zu hüten hatte, aber auch mit dem Wasser. Jeden Tag besuchte Trine - wenn alle Arbeiten erledigt waren- zuerst den Garten und schlüpfte anschließend durch die kleine blaue Heckenpforte zum Lieblingsplatz am Fluss. Dort stand zwischen zwei alten Weiden eine verwitterte Holzbank. Darauf ließ es sich wunderbar träumen. Manchmal nahm Trine ein Buch mit, oft saß sie aber einfach dort und schaute ins Wasser. Es war zu jener Zeit, als man tagsüber noch ohne große Angst überall hingehen konnte. Nur im Dämmerlicht musste man achtsam sein. Deshalb erwarteten Vater und Mutter, dass sie vor dem beginnenden Zwielicht wieder zu Hause war. Manchmal vergaß Trine die Zeit auf der Bank. Sie war so vertieft in das Wasser, dass sie fühlte, wie sie selbst zum Bach wurde: sie war in den kleinen Strudeln und in den Lichreflexen oder ritt erhitzt auf den Wellen, als seien es wilde Pferde, die mit ihr durch die kirgisische Steppe galoppierten. Oder sie schwamm mit den Wassernixen und Heckenzwergen im seichten Wasser jenseits der Brücke.
Der Bach mit allem was dazu gehört, war auch in ihr. Sie spürte sein Fließen im Blut. Ja sie konnte es vor ihrem inneren Auge sehen, wie der Bach durch die verzweigten Blutbahnen bis in Finger-und Fußspitzen schwamm. Herrlich, wie das kribbelte. So mussten sich die Bäume spüren, wenn die Wurzeln in der Erde unaufhaltsam nach Wasser suchten, und es durch den Stamm bis in die feinste Verästelungen der Baumkronen transportierten. Sie fragte sich, ob Bäume kitzelig sind, und musste über diesen Gedanken lauthals lachen, ja sie prustete und kicherte, dass sie fast von der Bank gepurzelt wäre.
Das Wasser sammelte sich unter der Erde, wurde Rinnsal, entsprang in einen Bach, wurde zum Strom und ergoss sich im Meer, verdunstete und sammelte sich in Regenwolken, die jetzt gerade über dem Rübenacker regnete. All das wusste das Mädchen. Schließlich war sie ein Naturkind und für ihr Alter sehr weise, und jetzt hatte sie die Zeit vergessen - es war schon fast dunkel - Mond und Sterne spiegelten sich im Wasser, und sie begann sich zu fürchten.
Zum Glück kam gerade Wolfi schwanzwedelnd durch die Hecke gelaufen um sie abzuholen. Die Eltern hatten ihn rechtzeitig geschickt."
Und ich? Ich habe dir jetzt den Beginn einer langen Geschichte erzählt, obwohl ich etwas ganz anderes vor hatte. Was alles in der kurzen Zeit geschehen ist, seit ich reise - Wahnsinn - wollte dir doch noch von Jule erzählen. Ich wette, du bist jetzt neugierig geworden. Schaun wir mal, wies morgen weiter geht.
Luftige Apfelblütengrüße schickt Aurora im grünen Trikot, die gleich wieder tanzen wird.
18.
Hallo lieber Traumtänzer,
ist die Sicht klar bei dir? Ich stand eben auf dem Seil und die Aussicht war überwältigend: Menschen über Menschen; Sonne und dieser Duft nach grüner Wiese und den ganzen Blüten. Überall duftet jetzt der Flieder. und die Kastanien haben ihre Kerzen aufgesteckt. In meinem Klingelbeutel klingelt´s ordentlich. Hört sich richtig gut an. Ich mache jetzt drei Tage Pause, bin in der Rattenfängerstadt Hameln gelandet und werde bei einer alten Freundin wohnen. Gestern hörte ich Jule : Vom Inhalt ihrer Lesung - sehr poetisch und bezaubernd - sind außer die Farbe Rot in allen Nuancen, vor allem Gefühle hängengeblieben: in dem Buch geht es um eine, die auszog, das Gruseln zu lernen.
" In einer zweijährigen Kunsttherapie malt eine junge Frau ihre Geschichte in übereinander gelagerten Schichten auf die Leinwand. Entstanden ist ein abstraktes Gemälde, in dem die Konturen nur angedeutet sind. Das Bild scheint den Betrachter aufzusaugen, in einen Bann zu ziehen, bis er zwischen bedrohlichen Schatten aus einem Meer voll Energie und Leuchtkraft wie neu wieder auftaucht ."
Jule hat eine faszinierende Stimme. Man möchte sich darin einkuscheln und nicht mehr weggehen.
Ich traf sie neulich in der S-Bahn. Wir saßen uns gegenüber, und sie konnte den Blick nicht von meinen grauen Rattenschwänzen lassen. Ich erfuhr, dass sie in Wien lebt und ihre Eltern im Rheinland besucht hat, bevor sie zur Prämiere ihrer Lesereise aufbrach. Wir, beide im Aufbruch, kurz vorm Durchstarten, beim Abflug - kamen schnell miteinander ins Gespräch und verabredeten uns zur Lesung.
Sie wirkt ein wenig verloren auf mich, so als habe sie viel gewagt und wenig dabei gewonnen. Hat sie einen zu hohen Preis bezahlt? In ihren weiten Kleidern scheint sie zu verschwinden. Aber das wilde kastanienbraune Haar lässt sich weder zähmen noch übersehen. Sie erzählte mir, dass sie in den letzten Monaten Boden unter den Füßen verloren hat und nun neuen Grund sucht. Dunkle Schatten liegen unter den hohen Wangenknochen und geben ihrem feingezeichneten Gesicht mit den Lachfältchen in den Augenwinkeln etwas Tragisches.
Sie und ich werden in Kontakt bleiben. Ich bin neugierig auf diesen Menschen. Und? Ja, Sie berührt mich.
Sanfte Abendgrüße schickt dir für heute Aurora
19.
Liebster Traumtänzer,
Kennst du das? Du steigst am Morgen mit dem falschen Fuss aus dem Bett, tapst ins Badezimmer und stolperst dabei über ein Paar Schuhe. Im Kopf ist Watte und kein klarer Gedanke findet hinaus. Du möchtest weinen wie ein kleines Kind und von einer Mutter getröstet werden. Du tust dir selbst so leid, dass nicht mal der Frühlingshimmel eine Chance hat, dich fröhlicher zu stimmen. Und dann stehst du im Badezimmer vor dem Spiegel mit deinem verwuselten Haar, dem Knitterkleid einer schlaflosen Nacht und den gezackten Fragezeichen auf der Stirn. Selbst die Nase wirkt spitz und die Lippen sind ein schmaler farbloser Strich. Die Wangen scheinen hohl.
Und dann schaust du dir in die Augen, streckst die Zunge heraus: da ist es wieder, das Funkeln in den Augen und plötzlich lachst du dich selbst aus. Du zeigst mit dem nackten Finger auf dein Spiegelbild und kicherst wie ein kleines Mädchen oder ein schüchterner Jüngling, wenn er die geheime Verliebte erblickt.
Du schüttelst dich und rüttelst dich, wie Goldmarie den Apfelbaum in Frau Holles Garten und begrüßt den Tag mit einem lauten Triumphgeheul.
In diesem Moment hast du gewonnen, vergessene Nachtträume sind abgeschüttelt, die Watte hat sich aufgelöst. Du bist wach und lebendig und alles ist gut. Du brühst dir Kaffee auf und beißt mit gutem Appetit in Käsebrot und Apfel. Der Tag kann beginnen.
Ich bin auf einem Schiff. Es schippert über die Weser. Gestern war ein erfolgreicher Tag. Das Wetter spielt mit. Wie schön es ist, unterwegs zu sein.
Ich umarme dich mit Überschwang - pass auf, dass du fest stehst - deine Aurora
20.
Lieber Leuchtturmwärter,
ich schwebe über das Seil durch den Frühling - alles ist so ungewöhnlich, fast surrealistisch. Manchmal zeichnen sich Male in die Gesichter der Zuschauer, ihre Münder sind weit aufgerissen und verzerrt, und in den Augen lodert Angst. Sie werden fahrig und halten den Atem an. Unter die Wangenknochen malen sich dunkle Schatten. Die Haut scheint in ein sonderbares Licht getaucht. Sie wissen nicht, dass es für mich auf dem Seil sicherer ist, als zu ebener Erde. So bin ich in ihren Augen wohl weder Mensch noch Vogel. Keine blaue Feder findet das Kind. Aber es lacht und wirft mir eine Kusshand zu. Ich verneige mich vor ihm, und es beschenkt mich mit leuchtenden Augen. Ich schlage ein wenig mit den Flügeln, gewinne Wind, und fliege mit den Gedanken, wohin ich will. Gestern war wieder Flut: wohin mit den traurigen Gefühlen, wenn der so vielversprechende Tag mit Tränenfluten beginnt? Einmal mehr stelle ich fest, dass ich nicht überall hinfliegen sollte. Es gibt Erinnerungen und Themen, die einem den Abgrund nah bringen - gefährlich!
Manchmal aber gehe ich mit Absicht in den Schmerz hinein, wie in einen dunklen Tunnel, und weiß genau, am Ende wartet Licht.
Die Menschen können einander nicht retten, aber sie können sich die Hände reichen, einander liebevoll begegnen und Trost spenden, ja sich sogar eine Weile begleiten. Denkst du mal an mich, wenn die Sonne im Meer versinkt und alles in Rotgold glänzt? Ich denke oft an dich - wie es dir wohl geht auf deiner einsamen Insel.
Aus der Ferne umarmt dich deine Aurora
21.
Hallo lieber Traumtänzer,
du bist mir abhanden gekommen, scheinst weit weg zu sein. Ich würde dich so gern erreichen. Hast du dich vielleicht für eine Weile ins Schneckenhaus verzogen? Quäl dich nicht zu sehr. Lass das Dunkle dich nicht überwältigen. Schau, ich schicke dir Licht und warme Energie. Bald ist Sommer und die Schwarzkirschen reifen.
Zwei Wochen habe ich nun meine Reise unterbrochen, Zeit zum Innehalten und Bleiben. Es war ein bisschen schwierig, aber meine kleine Schwester nahm mich auf. Ich berichte ein anderes Mal davon. Alles ist noch so frisch, muss erst sacken. Aber seit heute Morgen bin ich wieder unterwegs, muss mich halt dem Wetter fügen. Ich fließe, bin ein Fluss, der Ozean ist mein Ziel und die Insel, auf der du lebst. Morgen werde ich in Bremen tanzen, und "Die Bremer Stadtmusikanten" schauen zu - smile!
Aurora, die dem Wind in den Blättern lauscht
22.
Liebster Traumtänzer,
ich bin auf dem Weg zu deiner Insel. Ja, ja, es ist so weit, das Jahr wendet sich. Heute sah ich Feuer brennen. Wie wunderbar, sein Stoffhaus unter dem Sternenzelt aufzubauen und drüben auf der anderen Seite des Flusses die Funken stieben zu sehen. Eine turbulente und angestrengte Zeit liegt hinter mir, habe fast jeden Tag eine Vorstellung auf diversen Marktplätzen gegeben. Stell dir vor, gestern sprach mich ein Mann an, wollte wissen, ob ich Interesse daran hätte, als Seiltänzerin in einem Film mitzuwirken. Wir tauschten die Adressen aus und verabredeten uns zum Gespräch über den Film im September. Danach werde ich Jule in Wien besuchen. Das Wetter in den letzten Tagen hat mir zugesetzt. Für diesen Sommer habe ich mein Geld redlich verdient. Ich sitze vor dem Zelt und lausche auf die Geräusche: die Kinder sind still jetzt, schlafen nach dem aufregendem Ferientag, aber im Zelt gegenüber spielen zwei Gitarristen spanische Musik, und vom anderen Ufer erreichen Trommelklänge mein Ohr. Ich bin gar nicht müde. Es gelingt mir nicht, einfach den Abend mit seiner Schönheit zu genießen. Meine Gedanken sind wie Zugvögel, sie kommen immer wieder zurück. Ich vermisse ein "Du" eins, dem man sein Herz ausschütten kann; eins, bei dem die "Zugvögel" zwischenlanden können, bevor sie in den Süden ziehen; eins was einfach da ist. Es wäre so wunderbar die innersten Gedanken mit jemandem zu teilen. Du könntest dieser Jemand sein, aber real gibt es dich ja nicht. Obwohl immer unter den Menschen, bin ich allein. Die Leute verstehen mich nicht. Oder verstehe ich die Leute nicht? Ich weiß nicht, bin zuviel mit mir allein.
Bald sind die schwarzen Kirschen reif. Das Meer ist nicht mehr weit. Ich lege den Brief in eine Rotweinflasche und werfe sie in den Fluss. Vielleicht erreicht er dich. Ich vermisse die weiße Brieftaube.
Aurora, mit den Tanzbeinen
23.
Hallo, mein lieber Traumtänzer,
ich bin noch ganz aus dem Häuschen, und weiß gar nicht, wo ich mit dem Erzählen beginnen soll.
Eigentlich war ich ja unterwegs zu deiner Insel. Die Herzkirschen sind reif. Aber nun - nein es tut mir nicht Leid - muss ich meine Pläne ändern. Ich bin engagiert und ziehe mit der Akrobatengruppe des "cirque de soleil" Richtung Frankreich und über die Pyrenäen nach Spanien und Portugal. Sie sahen mich auf dem Seil, waren begeistert und sprachen gleich nach der Aufführung mit mir. Wir wurden schnell handelseinig. Es ist eine große Chance für mich, und die Rahmenbedingungen sind gut. Mein Glück ist, dass die bisherige Seiltänzerin ein Kind bekommt. Wir sind schon unterwegs Richtung Süden. Ich wohne zusammen mit der Kleintier-Dompteurin Susanna in einem himmelblauen Zirkuswagen. Ich kann es noch nicht fassen.
Und ich habe mich verliebt. Mein Herz flattert. Er heißt Miguel, ist Mitglied der Gruppe, und ich traue mich noch nicht, ihm näher zu kommen: ein schöner Mann groß, muskulös und gut gebaut mit tiefer volltönender Stimme. Er trägt die glatten dunklen Haare lang. Das Schönste an ihm aber sind die Augen. Ich könnte hineinfallen und darin versinken. Morgen trainieren wir zusammen. Vor Aufregung kann ich gar nicht einschlafen. Susanna fragte mich schon, ob ich immer so unruhig sei.
Jetzt trinken wir noch eine Flasche "Cotes du Rhone" schließlich müssen wir Einstand feiern. Es ist ein ganz besonderes Gefühl, unterwegs zu sein mit einer Gruppe von Menschen. Es behagt mir, denn hier herrscht eine gute Atmosphäre. Ich fühle mich gleichwertig und unter Meinesgleichen. Ja, ja, - ich weiß - im Augenblick erscheint die Welt mir rosarot, trotz des anhaltenden Regens.
Ein Abenteuer beginnt. Bald mehr von der glücklichen Aurora
24.
Hallo mein lieber Traumtänzer,
ich bin seit Januar zurück. Mein Herz ist schwer, denn ich musste den Liebsten ziehen lassen, eine leidenschaftliche Episode, die im Winterquartier ihr voraussehbares Ende fand: Frau und Kinder warteten dort. Ich war vorbereitet, denn Miguel machte mir von Anfang an klar, dass wir nur eine begrenzte Zeit miteinander verbringen können und egal was auch geschieht, seine Familie Vorrang hat. Ich habe mich eingelassen und nichts bereut. Seine Zärtlichkeit hat mich tief berührt - unsere Körper waren füreinander geschaffen. Und die Seelen erkannten sich. Er hat mich gelehrt, dem Leben und mir selbst zu vertrauen, jeden Augenblick wie ein Geschenk zu betrachten und die Fülle in mir selbst zu finden. Ich weiß noch nicht, was ich mit meiner Sehnsucht tun werde - im Moment brandet sie in mir wie Ebbe und Flut und die Gezeiten an deinem Strand. Es werden sich Wege öffnen. Manchmal ist ja die Sehnsucht die größte Triebfeder für kreatives Wachstum.
Miguel und ich werden uns wohl nicht wieder sehen, denn im nächsten Sommer ist er in einem anderen Zirkus engagiert, und ich werde mein Film-Projekt verwirklichen. Du erinnerst dich an die Anfrage vom Juni, bevor der Zirkus mich einfach mitgenommen hat?
Dieses Projekt wird jetzt wahr. Ich bin dankbar für alle Erfahrungen, die ich mit dem Wanderzirkus unterwegs machen durfte.
Die letzten Wochen verschlief ich, denn so ein Nomadenleben ist anstrengend, auch das ungewohnte Zusammensein mit so vielen Menschen.
Ich hoffe, du hast den Winter auf der Insel mit dem roten Leuchtturm gut überstanden. Es war ja Sturm letzte Woche. Ich sah aus meinem Dachfenster die hohen Wellen.
Ich traf Jule aus Wien zwischen den Monaten. Auf einer S-Bahnfahrt im letzten Sommer saßen wir im gleichen Abteil, beide traurig damals.
Sie befand sich auf einer Lesereise und ich tingelte seiltanzend durch die Städte.
Sie hat mich in ihrem Tagebuch verewigt, und mir diesen Text mitgebracht.
Wie sie mich beschreibt, so bin ich:
"Das Mädchen war nicht jung.
Die mausgrauen Haare trägt sie zu Rattenschwänzen gebunden hinter den kleinen Ohren. Die Augen sind von unbeschreiblicher Farbe: in einem hellen Bernsteinbraun tanzen grüne Sprenkel. Ein tiefes Grau umrahmt die Iris.
Das schmale Mädchen gleicht einem Knaben. Winzige Brüste zeichnen sich ab unter dem engen geblümten Trikot, und die kaum gerundeten Hüften wiegen sich beim Gehen. Ein langer Schal flattert feminin um den Hals und wippt mit den Zöpfen im Takt - fast, als sei er eine Fahne im Wind.
Lacht dieses alte Mädchen jemals?
Unter großen ausdrucksvollen Augen und einer zierlichen Nase wirken die zusammengepressten Lippen schmal und streng.
Die Haut ist hell. Einzelne Sommersprossen zieren die Wangenknochen.
Und doch, in diesem Wesen liegt etwas ungemein Bezwingendes.
Es schaute die Menschen an, verschenkte ohne Koketterie tiefe Blicke. Entgeht diesem Blick jemals etwas?
Wie aus heiterem Himmel lacht das Gesicht plötzlich, verzieht sich spitzbübisch, fast koboldhaft.
Faszinierend: im einem Augenblick erscheint das Gesicht uralt und im übernächsten wie das blühende Leben. Es kommt wohl auf das Licht und die Tagesform an.
Über den Augenblick schiebt sich ein stummer Film: ich sehe eine Clownin auf dem gespannten Seil. Sie dreht dem Publikum eine lange Nase.
Bevor sie aussteigt und meinen Blicken entschwindet, beugt sie sich zu mir herüber: "Übrigens, ich heiße Aurora."
Ich glaube fast, wir werden Freundinnen. Sie hat versprochen, mir beim Ordnen und Korrigieren der aufgeschriebenen Zirkuserlebnisse zu helfen.
Es grüßt dich von Herzen, deine seiltanzende Aurora
P.S. Ich werde vorerst keine Zeit mehr haben, dir zu schreiben. Aber du bleibst in meinem Herzen.
Texte: alle Rechte bleiben bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich jenen Menschen, die das Briefeschreiben lieben, sei es nun - kurz, als SMS; emailvirtuell oder so richtig handgeschrieben mit Umschlag, Briefmarke und Tinte.