1
Nicht die Nacht hatte dem Tag meine Worte gestohlen. Kein Wind entführte die Lieder in ein anderes Land.
In der blauen Stunde zwischen Tag und Nacht öffnete sich ein Spalt wie ein Trichter.
Sie schlitterten hinein, die Töne und Klänge, als sei eine Rutschpartie angesagt.
Es ging schnell. Kaum schmeckte ich den Beerengeschmack der Worte im Mund, schon sprudelten sie perlend über die Lippen in den dunklen Trichter hinein.
Lautlosigkeit und das Verstummen der Zeit ließen mich erstarren.
In dieser Bewegungslosigkeit war mir, als sei ich ein Baum im Winterwald. Der Gedanke daran, wo die Sprache geblieben war, verflüchtigte sich über Wurzeln und Zweige und mischte sich mit dem Atem der Zeit.
Da blieb Fühlen nur und Spüren - einzig.
2
In der Nacht hat der Spalt sich über den Worten geschlossen, sie unter frisch aufgeworfener Erde begraben.
Wer sein Ohr der Erde nähert hört sie wispern. Die Wolken lösen sich auf und verregnen den neuen Tag. Im Regen verschwimmen die Worte, die neu geboren nach außen schlüpfen. Kleine Rinnsale und Kanäle schlängeln sich durch die braunen Feldern, Gedanken tauchen auf und ab. Wie gut die Erde riecht.
Lass es schweigen, gebietet die innere Stimme. Diese Zeit lebt ohne Worte und lässt der Sprache Zeit. Sei still und spüre den Dingen auf den Grund, fühle ihr Sein.
Bis der Regen zu Schnee wird, lass uns die Worte meiden, Liebste. Manchmal führen sie nur weg von uns selbst.
Im Ein-und Ausatmen der Welt liegt schweigsame Größe - nicht zu erfassen - und du bist Teil von ihr.
3
Wenn ich Baum bin im Winterwald, spüre ich mit Wuzeln die Worte unter der Erde: die vergraben sind, vergessen, gemieden.
Sie sind nicht still und kitzeln meine wachsenden Enden. Morsezeichen tackern sie in mein Holz. Bis ich verstehe, ihre Zeichen aufnehme, sie trinke. Langsam fließen sie durch den Stamm in die Zweige.
Und da kommst du, Liebste, lehnst dich an meinen Stamm.
Mit den Fingerkuppen zeichnest du Borke nach.
Du staunst, denn sie ist warm mitten im Frost. Während du verharrst und die Hände mich ermessen, spürst du das Pochen der Worte unter der Rinde. Was erzählen die Fingerkuppen? Welche Bilder und Gesänge schicken meine biegsamen Zweige? Das Harz an den Händen duftet stark und gut. Es klebt.
Du bist still und ruhig.
Die Zeit hat dir Schweigen geboten. Ein verirrter Sonnenstrahl vergoldet die letzten Blätter und streichelt dein rehbraunes Haar.
Ich, dein Baum, du liebst mich, ich fühle.
Nicht mit Worten spreche ich zu dir.
4
Es ist kurz nach Mitternacht. Die Zeit hat ihre Seite gewechselt. Zwischen den Wolken zeigt sich nur ab und zu der Mond. Unter dem Baum im Moos haben sich die gefallenen Blätter zusammen gekuschelt. Die Nacht ist still, als warte alles auf ein besonderes Ereignis. Es liegt schon in der Luft, hat sich von der anderen Seite der Nacht herüber geschmuggelt. Es ist kalt. Mit den Wurzeln tastet der Baum sich tief in die Erde hinein. Dort ist es warm. Er leitet die Wärme hoch in die Spitzen der Zweige, in denen es schon zu frieren beginnt. Der Baum weiß, was er zu tun hat. Sein braunes Haupt denkt nicht. Er lebt unter dem wechselnden Mond und lässt die Jahreszeiten gelassen an sich vorbei ziehen. Inzwischen fast kahl finden sich nur vereinzelt noch Blätter im Geäst. Die Vögel sind längst in den Süden gezogen. Kohlmeisen, Amseln, Rotkehlchen, Spatzen und Elstern haben vor Stunden schon an geschützten Plätzen den Kopf unter das Gefieder gesteckt. Im Laubhaufen raschelt und schmatzt ein Igel.
Plötzlich setzt sich von oben etwas in Bewegung! Kleine weiße Schneeflocken - spärlich noch - lassen sich zwischen die Verzweigungen fallen, segeln sanft ins gelbe Gras.
Hinter den Hecken ist die kleine Ana erwacht. Etwas ist anders, denkt sie, huscht aus dem Bett und rennt auf nackten Füßen zum Fenster. Es schneit!
5
Zwischen Tag und Nacht haben sich die Gedanken verirrt.
Ihr Klang hatte sich schon gestern in den lauten Geräuschen der Stadt verloren. Und die Worte, die aus ihnen geboren waren, hat der Wind verweht.
Der Gedanke los gelöst von den Wortkindern und dem Klang, steckte fest. Es war dunkel, nass und kalt und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in die Hagebuttenhecke neben meinem Haus zu flüchten und die Nacht ab zu warten. Ich habe sie gesehen! Zusammen gerollt, wie ein Knäuel brauner Wolle, verschränkten sie sich in einander und trösteten sich gegenseitig.
"Unsere Kinder sind schlau, sie werden zuerst den Klang finden und dann uns." warf einer von ihnen in die Runde, und ein anderer gab zu Bedenken:
"Ihr wisst doch, die Worte finden uns immer wieder."
und ein dritter meinte.
"Und wenn sie uns nicht finden, dann erfinden wir bessere und ausdrucksstärkere Worte mit einem ganz neuen Klang."
Verhakt an den Dornen der Hecke, konnten sie sich selbst nicht verloren gehen.
"Wie praktisch das ist." staunten sie gemeinsam
Und schon nach kurzer Zeit waren die Gedanken zur Ruhe gekommen und hatten sich in ihre Träume geflüchtet.
In der Zwischenzeit wehte der Wind die Wörter in den höchsten Baum der Stadt : der Weihnachtsbaum aus dem Norden, der mitten auf dem weihnachtlich geschmückten Platz vor der alten Kathedrale stand.
Wie Lametta und bunte Sterne schmücken sie die dunkelgrünen Nadeln, immer bereit beim nächsten vertrauten Klang herab zu regnen. Ihre Aussicht ist gut:
die Menschen eilen hektisch durch die engen Gassen zwischen den Bretterbuden. Ganze Gruppen mit roten Weihnachtsmannmützen auf dem Kopf und dem Glühweinglas in der Hand schlendern vergnügt an den Auslagen vorbei. Auf der Bühne mittendrin singt ein jugendlicher Gospelchor
"oh freedom.." und "we shall overcome". Das klingt nicht schlecht, aber der verlorene Klang ist es nicht, denken sich die Worte und schauen weiter dem fröhlichen Treiben zu.
"Sicher werden wir unseren Klang erkennen, wenn die Bretterbuden schließen und die Menschen nach Hause gehen." flüsterte ein Wort seinen Geschwistern zu.
6
Hast du vergessen, wie das damals war? Weißt du, als die Zeit noch in der Spur war und dahin floss, unaufhaltsam, nicht einzufangen manchmal, behäbig und gelassen an anderen Tagen. Ja ich weiß, im Frühling und im Spätherbst hatte sie wiederkehrende Launen. Da zog man sich am besten in sich selbst zurück. Es waren Stunden und Minuten des Aufbegehrens; im Flug überbrückte Jahre; ein Erinnern bis an die Wurzeln und darüber hinaus
"Warum nur," fragte sich die Zeit, "soll ich immer in die gleiche Richtung laufen.
Und sie machte mich jung:
plötzlich sitze ich zwischen Narzissen und Krokussen im Blumengarten meiner Oma. Mein Haar ist lockig und honigfarben. Ganz in der Nähe bei den Märzbechern liegt noch etwas Schnee.
Der Boden unter mir ist kalt. Aber das spüre ich nicht, denn ein dickes Windelpaket schützt mich gut.
"Ana - Ana, wo bist du?" höre ich meine Mutter besorgt vom Hof her rufen. Sie biegt um die Ecke, nimmt meine Hand und zieht mich gegen meinen Willen ins Haus - Szenenwechsel:
eine alte Frau sitzt auf der Kante eines Krankenbettes. Ihr Haar ist dünn und weiß. Gestern war sie noch sehr krank. Sie lag unter den weißen Laken und sah sehr blass aus. Sie weiß, ihre Tage sind gezählt. Trotzdem ist sie zufrieden, denn sie ist älter geworden, als sie vor dreißig Jahren gedacht hat.
Damals als alles so hektisch war, und sie unter einem engmaschigen Zeitplan fast erstickte und die Zeit aus dem Takt zu geraten drohte. Der Körper hatte ernste Zeichen geschickt und Alarm geschlagen. Alles war in Aufruhr.
Es klopft an die Tür: "Ur-Omi, Omi, ich hab dir was mit gebracht."
Da stolziert der Sonnenschein mit einem Strauß aus Narzissen und Tulpen in den Raum. Wie der Frühling duftet!
Die alte Frau lächelt. Das kleine Mädchen, kaum drei Jahre alt, trägt honigblonde Locken und schaut sie aus großen braunen Augen an.
Sie kennt diese Augen. Es sind ihre eigenen.
7
Dieser Tag hat ein Besonderes: vom Schnee, der am frühen Morgen gefallen ist blieb in den Vororten der großen Stadt keine Spur. Um zehn Uhr morgens tragen nicht einmal mehr die Dächer der Reihenhäuser, die dicht zusammen gekuschelt der Kälte zu trotzen scheinen, einen pulvrigen Rest vom Weiß. Die Nacht hatte den Morgen wie eine weiße Wolke in den Tag entlassen.
Der Duft von Schnee bleibt haften und wirkt unbewusst besänftigend.
Ein Tag, um bei sich zu sein, leise, fast zärtlich vergehen die Stunden: keine Hetze, kein Stress und diese Fröhlichkeit, die still ist und sich dem genauen Beobachter nur in den winzigen Veränderungen um den Mund herum und in den Augen verrät. Es sind nicht die theatralischen Gesten und Auftritte, einer großen Bühne angemessen, die diesen Tag umkränzen, es sind die knappen und abgezirkelten Bewegungen und Abläufe, die kein Publikum brauchen, die dem Tag Struktur geben. Eben diese kleinen unscheinbaren Dinge: der Zauber erster Schneeglöckchen in ihrem unschuldigen Weiß , fröhliche Stimmen am Telefon, ein besonderer Brief und der Duft einer nährenden Suppe auf dem Herd in der samstäglich geordneten Küche mit den frisch geputzten Fliesen, die schon den Sonntag würdigt, der etwas zu versprechen scheint. Vom Karnevalstrubel verschont, dringt kein Lärm in die Stadtrandoasen, die manchmal kleinkariert und bieder vorgeben, das Größte zu sein und mich fast zur Verzweiflung treiben.
Aber da ist - nur ein paar Schritte entfernt - noch Feld und Weite, ein kleiner Wald, und in der Nähe ein See. Bald werden die Lerchen wieder fliegen. Die Amsel sang gestern ein betörendes Lied.
8
Manchmal fallen Momente zwischen die Zeiten und jede Pore scheint Auge, Ohr und Nase zu sein - weit und geöffnet - aufnehmend.
Keine Spuren zeichnet das diffuse Licht. Es ist still, denn die Klänge haben aufgehört zu klingen, und die prachtvollen Farben lassen das Herz überfließen. Diese Schönheit, geschenkt für kurze Zeit, ist wie ein Ruf der Ewigkeit, der keine Worte braucht und ahnen lässt, wie weit die blaue Seele fliegt im stillen Raum der Gefühle, Ahnungen und Erinnerungen.
Nie bist du den Sternen näher, die wie Geschwister sind und einst ihr Lied in deine Seele gravierten, lange vor der Zeit, damit du es findest in dunklen Stunden, wenn alle Worte schweigen.
Da wo die Stille zwischen den Zeiten verborgen, beginnt ein Abenteuer.
9
Im Traum herrscht Stille - durch die hohe runde Glaskuppel schaue ich in die Nacht - die Musik, die ich höre, kommt von innen, findet ihren Rhythmus im Tanz der Sterne. Bewegt, wie die Wellen im Meer schwingen meine Bewegungen ein in den Unterwasserreigen einer nachtblauen Welt. Wie leicht ich bin. Gleich einer Daunenfeder - vom Wind verweht und ohne Gewicht, wirbele und schwebe ich leichtfüßig durch den Raum - endlos Platz, nichts was mir im Wege steht. Die Halle – anonym - ist ein langer Schlauch - breit und mit hellen Fliesen belegt. In den Fugen wächst Moos. Ich ertanze mir seine Dimension, breite mich aus, nehme Raum - nicht abgezirkelt, sparsam und eng, nein ausufernd, überschäumend, opulent und üppig verschenkend. Nichtbeengtes fließt frei und rund. Das versteckte Neonlicht wirft keine Schatten an die kahlen weißen Wände, die glatt sind und schimmern wie Seide. Sie halten den Blick nicht auf. Er dringt durch sie durch in einen weitverzweigten Wald mit dichtem Unterholz und Dornengestrüpp. Die Vögel haben sich längst zur Ruhe gelegt - nur der Ruf eines Käuzchens dringt ein in den Gesang der Gestirne - schaurig-schön. Die Halle ist wie ein Raum zwischen den Welten. Nebenan, in den erleuchteten Kabinetten pulst das Leben ungestört an mir vorbei. Hier bin ich mit mir allein - mein liebstes Spielzeug - gedankenfrei.
10
Und in mir sprach eine Stimme:
"Komm!"
Ich folge dem Klang bis zum Grunde meiner Seele, dorthin - wo das Echo nur noch flüstert.
In einem wilden Garten unter dem Meer wuchert es farbig. Zwischen exotische Gewächse pflanze ich Herzsteine, gieße mit Tränen und begrabe unter dem Seegras einen Schatz. Zwei Seepferdchen streichen wie tröstend um die Fesseln – das wogende Meer nimmt mich mit - trägt mich.
Zwischen Ebbe und Flut wachsen mir Kiemen. Aus Beinen werden starke Flossen. Zwischen kleinen Fischen mit staunenden Augen schwimme ich weit hinaus in die blaue Unendlichkeit. Das langes Haar kräuselt sich zu Algen - schwebt auf dem Wasser, wie ein goldener Schleier. Am Ende der Nacht stimmte ich ein in den Gesang der Wale.
Und deine Stimme verebbt in den inneren Räumen.
11
Es ist nur der Moment zwischen Tag und Nacht – wie schnell es dunkel wird im Herbst – vom See bläst Wind durch das geöffnete Fenster. Es flüstert:
„ Manchmal sind Stille und Schweigen die besten Freunde“
Ich fühle die Silben auf der Haut und spüre ohne Worte die Gesten des Friedens und schicke schweigend Segen und zu den Sternen - dankbar.
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Einst hatte die Stille mehr Dichte, umfing mich wärmer, so wie ein schützender Mantel. Jetzt ist sie oft ein frostiger Ort. Ein fadenscheiniger Umhang mit Löchern, ausgefranst und notdürftig geflickt. Ich suche die Stille dennoch in jeder Stunde und sehne mich nach dem DU, dass sie mit mir - in mir - außen und innen teilt und erträgt.
Warum sind sie so laut, die rastlosen Menschen? Haben sie vergessen, dass die wirkliche Wahrheit oft hinter den Worten liegt?
Vielleicht bin ich die kleine Gerda aus dem Märchen „Die Schneekönigin“ und unterwegs zum Eispalast im hohen Norden. Der Wind ist frostig. Sie sucht Kay, den die Königin in ihren silbernen Palast entführt hat, nachdem die Scherbe des Teufelspiegels Kays Herz traf und ihn blendete.
Kay ist ein Teil von Gerda, der Zwilling, die andere Seite des ICH.
Zusammen sind sie ganz.
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Einst träumte ein Mensch
Und heimlich schmunzelte der Fisch und sprang aus seinem Goldfischglas
„Und die Wellen brandeten an den Strand - nah der Dünen wuchsen mir Flossen, und ein Schuppenkleid hüllte mich ein. Das wogende Wasser nahm mich mit. Ich wuchs, wurde riesengroß. In der neuen Welt fand ich meinen Platz, doch ich war allein. Einen Fisch wie mich gab es noch nicht. Und ich suchte verzweifelt zwischen Algenwäldern und Muschelbänken. Kleine blausilberne Fischchen wirbelten wie Schleier um mich herum - Ringe über Ringe – sich weitend.
Im Bauch wuchs Raum - hungernd - einer leeren hallenden Höhle gleich. Dann sah ich dich: wie du im Wasser gegen die Strömung getanzt hast und durch Algen Feueraugen blitzten – augenblicklich stand ich unter Strom - Flossen wedelten wild.
Mein Maul öffnete sich vor Staunen und schwups - schwammst du hinein, als sei nun dein Zuhause in mir - in dem leeren gierigen Raum. Nun war ich nie mehr allein – es bewegte sich in mir, purzelte quirlig im Bauchraum, bescherte mir fremde Gefühle – auch Schmerz – nie warst du ruhig und du bist gewachsen – es ging lange gut, und wir wuchsen aneinander – während Flossenstöße Erdbeben in meinen Eingeweiden auslösten, verlorst du die Worte und wurdest stumm. Nur noch Reibung spürte ich.
Wann wurde der Raum zu eng? Wuchs ich nicht schnell genug? Ich war ja schon groß wie ein Wal. Du tobtest, deine Ausschläge schmerzten heftig, als zwischen innen und außen kein Raum mehr war, und wir nicht mehr unterscheiden konnten zwischen DU und ICH - fragte ich mich, verschlang ich dich oder verzehrtest du mich?
Ich spuckte dich aus – fast wärst du in meinem Hals steckengeblieben. Erleichtert, schwamm ich zum Strand zurück, verlor Schuppenkleid und Flossen, überquerte auf Beinen die Dünen und sah Land.
Vielleicht - irgendwann, wer weiß das schon, werden mir Federn wachsen und Flügel und ich fliege hinaus ins weite Himmelsblau.“
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Vom blauen Fisch
Ich sah den Fisch im Wasser dümpeln. Er schaute mich an.
"Närrin" nannte er mich "warum nur wanderst du mit Gewitterwolken über der Stirn durch diesen makellosen Tag?"
"Und wer bist du, dass du mich fragst?"
"Erkennst du mich nicht, Fischerin vom belebten Meer?"
Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. es war der blaue Fisch, der mir einst durch die Maschen geschlüpft war - damals - als ich danach fischte, mich selbst zu verstehen. Wie kam er hierher, in den Seerosenteich?
"Wenn die welt mich zerreißt, lieber Fisch, bin ich nicht ganz bei mir. Ich sehe die Schönheit des berauschenden Grüns nicht, spüre die streichelnden Halme nicht an meinen Waden.
Die Vögel zwitschern nur für andere Ohren, und der Wind, der mir das Haar zerzaust, findet meine Aufmerksamkeit nicht."
"Warum lässt du es geschehen? Nur du selbst kannst dich zerreißen.
Geh in deinen stillen Garten und schließe alle Türen.
Lass niemanden hinein,
damit du dich wiederfindest in den Blüten der Kastanie über deinem Haupt.
Wenn du bei dir angekommen bist und dein atem dich wieder trägt, wie den Fluss die Wellen, dann kehre zurück und lasse das Gewitter dort."
"Huch" dachte ich, "Du hast mich kalt erwischt."
Und mein Blick suchte den Fisch, aber der war nicht mehr da.
Und ich schloss ihn einmal mehr in mein Herz und grüßte mit freundlichen gedanken.
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Seltsamerweise ist es still in den Nächten der Winde. Die luftigen Gesellen haben sich in den dichtbelaubten Bäumen zusammengerollt wie müde Schlangen. Ab und zu fällt eine Sternschnuppe. Und in diesem ultrakurzem Lichtblick siehst du ihre stummen Münder. Schnell sprichst du den geheimen Wunsch, der eine Beschwörungsformel ist. Ihre Magie erfüllt die Nacht mit der vibrierenden Energie von vierzig Trommeln, aber kein einziger Schlag ist zu hören.
Es ist die Zeit, wenn Schemen durch die Welt geistern und am Tor zu deinen Träumen Schlange stehen. Sie klopfen nicht. Still und leise schleichen sie hinein, in die wunderlichen Räume und bevölkern sie. Nicht alle werden sichtbar für dich, aber du weißt, sie sind da, vielleicht spricht einer mit Hut zu dir oder die Frau - dein Spiegelbild - nimmt deine Hand und begleitet dich in fremde Gestade, die dir dennoch hier und da vertraut erscheinen. Der Mann mit Hut wacht über dich, und die Spiegelfrau lässt dich geheime Dinge tun. An einem spiegelglatten See schöpfst du Wasser auf ihr Geheiß und gießt die Flüssigkeit in einen Kelch, den sie dir reicht. Sie trinkt und du schöpfst und gießt nach, während dein Kopf eine Acht in den Himmel malt und die Hüften sich um den immergrünen Stab winden, der plötzlich Blüten trägt.
Noch im Erwachen begleitet dich der exotische Duft und ein bleibendes Gefühl von Kraft.
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Ich nehme den kleinen abendroten Fluss mit in meine Träume. Er erinnert mich an Apfelsinen und den Süden, wo Winde wärmer wehen. Mir fallen kleine mondförmige Bonbons ein, die ich im Dorfladen meiner Kindheit geschenkt bekam. sie schmeckten nach Zitrone oder orange. Mir läuft gerade das wasser im mund zusammen.
Vielleicht wird der Fluss im Traum wachsen, ein orangeroter Limonadenfluss, der Zitronenduft verströmt und mich ins Schlaraffenland führt. Ich habe Segel gesetzt, mich in deine schimmernde Brokatdecke gehüllt und einen roten Lampion an den Mast meines Bootes gehängt. Die Nacht darf mir Samt und Seide um die Schultern legen.
Zwischenzeiten sind wesentlich. Sie enthalten den Keim für neues Wachstum. oft sind sie mit Schmerzen und Angst verbunden - Wachstumsschmerzen, Angst vor dem Ungewissen - du klebst auf der Schwelle: nicht mehr im Gestern und noch nicht im Morgen hält Zeit dich gefangen. bis du dich löst und aus deiner Verpuppung schälst; Flügel ausbreitest und in neue Kreise fliegst.
Texte: Texte: Angelika Röhrig
Fotos: JanWal
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für Aurora, die Lichtbringerin