Cover

1.
Früh dämmerte mir, dass der Tag besonderes verbarg. Im Morgenrot lag ein Versprechen: Ich wusste, dass es noch unter den Nebeln wartete. Etwas in mir witterte aufmerksam, und kleine Fischlein schwänzelten im Bauch. Da war doch was. Es duftete nach Moos und Algen. Meine Augen wollten sich noch nicht öffnen. Ich fühlte eine besondere Feuchtigkeit unter meinen Fingerspitzen - etwas schuppiggraues, widerspenstiges - glitt an den Händen vorbei, als sei es ein ungeduldiges Tier. Ich ließ es geschehen ohne Angst. Der Weg nach innen war leicht, und die Grenzen um mich herum fielen. Im Dämmerschlaf tauchte vor dem inneren Auge ein Schlüssel auf.
Ich entspannte mich, dachte dass ich die Schatulle finden müsse, und fragte mich wo ich bin.
"Schlafe ich vielleicht gerade in einem luftgefüllten Aquarium mitten im Ozean?"


2.
Es geschah zwischen den Zeiten.
Für einen Moment öffnete der Himmel seine Schleier - ein wie von Geisterhand entzündetes Leuchten ging durch die Welt und flammte schräg von unten Licht in jedes Blatt der halbentkleideten Bäume. Sie gaben viel von sich preis - von ihrer Struktur, der Architektur und den Wachstumsringen. Zart zitterten Blattfunken im auffrischenden Wind. Manche nahm er mit und trug sie zu mir, die am Fenster stand, und dabei war die Zeit zu vergessen. Auf der Fensterbank strahlten nun Sterne - mitten zwischen den Hochhäusern einer großen Stadt.
In diesem Augenblick sah ich zwischen dem versetzten Heben und Senken der Augenlider deine Maske fallen - in der ungeschminkten Nacktheit lag die Zerbrechlichkeit von Glas - etwas wie Erbarmen wuchs unter meiner fröstelnden Haut. So nahm ich den Nebel aus den Wäldern und legte ihn um deine zitternden Schultern. Das Kinn lag fast auf der Brust. Da nahm ich meinen Mut zusammen - denn du warst mir noch fremd - und ich hob sanft und mit der Zärtlichkeit von Müttern dein Kinn, wollte in deine Augen schauen und das Spiegeln des Lichtes darin entdecken. Du blicktest ernst. Ich wich nicht aus. So standen wir nah beieinander. Nach einer Ewigkeit - so kam es mir vor - lächelten deine Lippen mir zu. Die Haut rötete sich und in den Augen begann ein Feuer zu brennen. Zwischen den Augenpaaren vermischten sich die Funken.

Es wurde sehr warm als wir die Scheu verloren.


3.
Etwas klirrt - zersplitterndes Glas - während ich am Fenster stehe und in die Dunkelheit blicke. Gerade eben sind im alten Viertel die Lichter erloschen. Vor Auschwitz und Birkenau lebten hier die Juden der Stadt. Manchmal noch höre ich den Nachhall eines Stöhnens und das Echo ihrer Musik zwischen spitzgiebeligen alten Häusern die sich dicht zusammengeduckt haben. Manchmal erinnere ich den muffigen Geruch feuchter Räume in denen viele Menschen lebten. Im Bodenbelag der alten Straßen ragen Stolpersteine wie kleine feste Maulwurfshügel aus dem Asphalt. Erinnerung an jene die verschleppt und getötet wurden. Namen lese ich darauf die mich an etwas erinnern.

Eine liebestrunkene Katze fällt mit herzerweichendem Klagen in das Klirren ein. Fern von hier bebt der Großstadtverkehr. Das Blut rauscht mir in den Ohren als sei ich auf einer fernen Insel mitten im Meer. Ist nicht jeder eine Insel im großen Ozean? Mit einer eigenen Sprache und Worten über die eine innere Königin das Zepter schwingt? Wortreiche Gestade aus denen Zeilen mit den Wellen versendet werden um sich zu treffen in Neptuns Reich. Wie sie sich fruchtbar mischen mit Algen und Muscheln am Meeresgrund.
Lauscht nur der poetischen Brandung, dem Auf und Ab von Ebbe und Flut, meine wortgewandten Schwestern.
Und wenn es Nacht wird über unseren Reichen, lasst unsere Worte wie ein Feuerwerk sprühen und Licht sein für jene die strandeten am Ende der Welt. Vergesst nicht die Mütter und Töchter die für ihre Sprache geopfert wurden.

Was war es das zersplitterte jenseits der Zeit, zwischen Nacht und Morgen? Ein Riss zieht sich von Ost nach West und kreuzt mit einem Kondensstreifen von Nord nach Süd. Genau an diesem Kreuzpunkt kräuselt sich das Glas zur Blüte. Ein Schlüsselloch zum Himmel? Es fröstelt mich unter dem plötzlichen Zug, der meinen schlafwarmen Nacken berührt: ich sehe die alten Feuer lodern. Ein Geruch von verbrannter Haut streift meine Nase.


4.
Ich erwache mitten in der Nacht von der Stille die plötzlich da ist. Im Aufwachen vernehme ich diesen besondern Geruch den frischgefallener Schnee ausströmt. Noch bevor ich zum Fenster eile um mich zu vergewissern weiß ich:
"Es hat geschneit."
Eine kindliche Freude regt sich in mir. Wo sind Töne und Klänge geblieben?
Die watteweiche Verpackung hat alle Lieder und Farben verschluckt, auch das Ungereimte, den Dreck, die Überbleibsel städtischer Anonymität und die letzten bunten Blätter.

In die Wolken zeichnen Vögel ihre Spuren. Im Schatten der daunenleichten Federn fängt sich Wärme. Aufwind für Ziele fernab.
So trete ich vom Fenster zurück, verkrieche mich in mein warmes Bett und ziehe das Bettlaken bis zum Kinn.
Ich fühle mich geborgen wie eine Narzissenzwiebel die genug Zeit hat um unter der Erde ihr verlangsamtes Wachstum zu verträumen.
Bis du mich weckst mit dem Morgencafe - Schichtwechsel!


5.
Die Nacht hat sich hinter die Bergen verzogen. Vom Meer her nähert sich die Flut. Im Hafen gesellen sich Fischerboote zu dem einzelnen Boot im Bild. Der städtische Moloch erwacht aus der miefigen Ungelüftetheit leichtlebiger Tavernenspiele. Letzte Abenteurer der Dunkelheit wanken in ihre brettervernagelten Unterschlüpfe, während brave Bürger sich sputen.
Die giftigen Ausdünstungen gelber Schwefelwolken legen sich über die Stadt wie eine Glocke aus Glas. Im Treibhausklima gedeihen Nachtschattengewächse und menschliche Exzesse.
Am Fenster steht Olga. Sie zieht sich eine Haube über die Lockenwickler und steckt Ohropax in die Ohren.
Schichtwechsel, denn die Nacht war lang. Hinter der Theke gab es Krawall. Die Polizei war da und schloss den Laden. Man munkelt von Mafia und Drogengeschäften. In der Nähe stirbt ein junger Mann in seinem Unterschlupf. Der goldene Schuss trifft ihn vorbereitet. Sein Dealer besorgte den richtigen Stoff.
Nachbars Katze miaut, verlangt nach einem Schälchen Milch. In den Gassen hört man die ersten Stimmen der Händler. Die kleine Lisa erwacht und nuckelt am Daumen bis es hungrig wird. Das Babygeschrei weckt die ganze Straße und stoppt erst, als die Mutter herbei eilt und das Kind stillt.
Olga schließt die Fensterläden und sperrt den beginnenden Tag aus. Zum Zähneputzen reicht die Kraft nicht mehr.


6.
Die Zeit ist stehen geblieben! Die Zeiger der großen Uhr bewegen sich keinen Millimeter vorwärts.
Begonnene Bewegungen sind wie eingefroren, nur das kleine Mädchen im roten Kleid wieselt durch den Raum, schaut hier, guckt da, ruft Marie. Nichts antwortet. Selbst die blaue Katze hat aufgehört zu schnurren. Alle Geräusche sind verklungen.
Lara weiß nicht, dass ich sie aus einer anderen Zeit heraus beobachte. Das Gemälde im vergoldeten Rahmen ist in zurückhaltenden Farben gemalt. Einzig Lara im roten Kleid wirkt lebendig. Sie sperrt die Augen auf und späht verblüfft in den Spiegel der über einer Anrichte hängt. Die blaue Katze daneben hat sich eingerollt und die Augen geschlossen.
Wenn ich nun in dieses Bild hinein steigen könnte, so wie ein Gast der den Raum aus der angelehnten Tür links im Bild betritt?

Das Mädchen erschrickt und zuckt zusammen. Die blaue Katze, die ich berühre, ist nur eine Skulptur. Aber der Geist des Gemäldes, der sich in die alte Standuhr zurück gezogen hat, erwacht. Und endlich ist der Bann gebrochen.
Das Mädchen dreht sich um und fragt: "Wer bist denn du?"
Aus den benachbarten Räumen höre ich eine Stimme, die nach Lara ruft.
Auf einer Spieluhr beginnt die Ballerina mit ihrem Tanz während eine bittersüße Melodie den Raum mit Klang füllt.


7.
Eine Wolke schaut hinunter zum Meer und staunt nicht schlecht. Während sie sich ganz oben über dem Felsenkliff mit ihren Brüdern und Schwestern zu düsteren Gebirgen zusammenballte und verdichtete türmen sich die rasenden Wellen meterhoch. Wie heißblütige Pferde mit schneeweißer Mähne blecken sie jetzt das schaumspuckende Maul. Schon überspringen sie das Geröll, die Baumstümpfe vergangener Stürme, und lecken mit gierigen Zungen am Kalksandstein des Kliffs. Im Zurückweichen nehmen sie mit was ihnen der Strand zu bieten hat. Nichts bleibt an seinem Platz.
Wehe dem, der dem Unwetter strandnah zu trotzen wagt und nun versucht dem herannahenden Gewitter zu entkommen. Es bleibt zu wünschen dass es kein Leichtmatrose ist und ihn zu Hause eine warme Dusche und heißer Grog erwartet. Schon ist er nass bis auf die Haut denn es schüttet inzwischen wie aus Kübeln. Felsen, Meer und Kliff verschwimmen in einheitlichem Stahlgrau.


8.
Im Turm des Dornröschenschlosses öffnet sich über mir eine gläserne Kuppel. Die Nacht beginnt den Tag zu umarmen. Aus einer zugigen Ecke pfeift der Wind mir lau um die Ohren. Das Schloss gleicht einem Labyrinth. In der Halle zu ebener Erde bin ich vor einigen Minuten noch Teil der Gruppe gewesen die schwatzte, sich über Gott und die Welt unterhielt, frei assoziierte und gemeinsam auf die Führung wartete. Mir dauerte das Warten zu lange. Deshalb beschloss ich mich abzusetzen und auf eigene Faust auf Entdeckungstour zu gehen. Niemand achtete auf mich oder hielt mich auf. Ich stieg über schiefe Stufen, gläserne Treppen und hölzerne Stiegen, die sich wandelten und wendelten immer höher hinauf. Anfangs vernahm ich von unten noch menschliche Stimmen, Wortfetzen, die sich allmählich auflösten und nur noch Klang waren bis auch der letzte Ton in den Gewölben verhallte.

Unter mir knarzen die Stufen und schiefe Läden quietschen in ihren Angeln. Die unzähligen Türen, die sich mir aus den Gängen in den Blick schieben lasse ich links liegen, denn mein Ziel ist der Turm.
Überrascht stellte ich fest, dass es immer so ist: ich löse mich aus der Gruppe der ich mich nicht zugehörig fühle und betrete versteckte Wege.

Jetzt in diesem Moment unter der Kuppel sehe ich weit - noch sind die Konturen der umliegenden Landschaft gut zu erkennen. Rechts erblicke ich hinter dem Wall das Silberband eines kleinen Flusses der zwischen Alleebäumen dahinzutanzen scheint. Dies poetische Bild lässt mich lächeln. Vor mir versteckt ein dichtbelaubter Wald seine Geheimnisse. Links drängen sich dicht an die Mauer kleine rotgedeckte Häuser und eine weiße Dorfkirche. Gerade läutet es zum Abendgottesdienst. Gestern erst bin ich angekommen und habe unter dem Dach eines der kleinen Häuser mein Quartier bezogen.

Endlich stehe ich im Turm und frage mich einmal mehr wer ich bin und was ich will und welches sinnvolle Ziel ich anstreben könnte. So fern von allem stört niemand meine stummen Gedanken. Was wäre wenn ich für die Nacht einfach hierbliebe? Die Vorstellung dass mich keiner vermissen wird lässt mich einen behaglichen Grummelton über die Lippen hervorbringen.
Gleichzeitig denke ich über Begegnung nach und darüber, ob wirkliche Nähe nicht nur eine Illusion ist mit der Menschen sich betrügen. Waren Menschen nicht immer allein und von einer nur scheinbar überwindbaren Mauer umgeben?

Im Rucksack stecken neben Decke, Taschenlampe und Kamera auch Schreibzeug, ein Apfel und Studentenfutter.
Innerlich danke ich für die blaue Stille, die mich in ihren Armen wiegt.
Das Abenteuer kann beginnen.


9.
Noch haben sich die Gewitter weder ausgedonnert noch zu Ende verblitzt. Arglistig verstecken sie sich hinter den zusammengeballten Wolken, schicken schwüle Boten über das Land. Mit ihren spinnenfeinen Weberknechtbeinen mischen sie die Seelen der Menschen auf. Wie im Zeitraffer wendet sich das Jahr.

Spannung baut sich auf in mir, dir und uns, lässt in Worten die Funken stieben, entzündet über die Sprache gefährliche Strohfeuer. Fahrt das trockene Heu in die Scheune, es könnte Feuer fangen und lichterloh brennen. Dann bleibt nur Asche.
Aus der Asche neugeboren steigt Phönix zum Licht.
Die Johannisfeuer sind abgebrannt. Liebende bestellen das Aufgebot.

Rumpelstilzchen fühlt sich sicher in den goldenen Ährenfeldern. Es reibt sich die Hände und flackert im lodernden Tanz. Sein höhnisches Gelächter schnallt weit hinaus über die sieben Berge. Noch ahnt es nicht, dass es selbst sich in Stücke zerreißen wird, wenn der Monat sich neigt.
Niemand sollte die Handwerkstöchter unterschätzen.

Ach wären sie doch schon abgeregnet und ausgetobt, die scheinheiligen Gewitter und die Luft wieder lau und sauber - geklärt - wir würden die Köpfe zusammenstecken, freundliche Worte teilen und Wein und Brot genießen.


10.
Du, wo bist du?
Haben dich die Wellen verschluckt?
Die Nacht hüllt mich unter einer Glasglocke ein und versperrt die Sicht. Nach innen will ich schauen und dich suchen. Mitten durch mich hindurch spüre ich, du bist da.
Vielleicht zog es dich in meine inneren Gärten mit den heilenden Quellen, wo ein ewiges Feuer jene wärmt die ausgegrenzt und abgeschoben durch die Wüsten unserer Zeit vagabundieren und von dem überleben was überfließenden Müllcontainer der großen Städte herablassend verschenken.

Die Apfelgärten sind ausgestorben. Durch lebensspendende Brunnen fallen keine Spindeln mehr in Frau Holles Reich.
Im Schlaraffenland regiert Überfluss und ein Mangel an Herz.


11.
Die Nacht ist in den Tag gefallen.
Als wolle sie sich das Leben nehmen.
Ausgehaucht, der letzte Wind.

Durch den Traum zieht sich eine lange Flucht. Langsam wird das Opfer eingekreist bis kein Schlupfloch zum Entweichen bleibt. Die Schlinge zieht sich zu. Sie hätte entkommen können. Doch sie wollte aufgeben, sich ergeben, nachgeben, den Kampf beenden, keine Rechnung mehr begleichen.
Ertappt!
Fast zärtlich schiebt sich ein kaltes Stahlrohr über die Hüften nach oben zum Rücken. Es ist stockdunkel. In Erwartung des unausweichlich erscheinenden Schusses, eine unerwartet zärtliche Geste:
Sie erkennt die Frau unter ihren bebenden Fingern und am Duft, der jeder Pore ihrer Haut entströmt. Mit einer unendlich liebevollen Geste streicht sie über das Oval jenes Gesichtes im Schatten – sich ergebend, fast entschuldigend - die hohe Stirn, Wangenknochen, die Augenbrauen, Lider und die schmale Nase, die weichen Lippen, feucht und rot, den Schwanenhals - alles bis ins Detail hinein vertraut - bevor sie erwacht ohne dass der Schuss gefallen ist.

Das Fenster ist weit geöffnet, Sterne zieren den Himmel, der schon heller wird. Aus den Gärten klingen Stimmen von letzten Nachtschwärmern. Ein Auto startet. Etwas fällt.
Der schlafmüde Körper zuckt zusammen, erschrickt – Herzklopfen, dröhnend – beim Geräusch des Aufpralls ...

Ein Apfel fiel vomBaum.


12.
Als sich die Träume aus meiner Nacht lösen und wie kleine weiße Federwolken dem Morgenrot folgen, breitet sich ein neuer Gedanke aus. Er füllt den ganzen Raum und bringt seine Schwester die Liebe mit.
Wie konnte es nur geschehen, dass wir - du und ich - auseinanderliefen, entzweit?

Welche Nachtmär hast du in meinem Spiegel erblickt? Ich sah Schatten mit diffusen Rändern und floh in mein inneres Schneckenhaus.
Und nun liegst du neben mir - so fremd - und doch, wenn ich dich berühre, warm und vertraut. Ich schaue in dein Gesicht, du öffnest die Augen - verwundert.
Vielleicht ist das Ende des Albtraums erreicht.


13.
Du hast dich eine Weile mit alltäglichen Dingen beschäftigt:
Deine Küche ist geputzt, der Kuchen gebacken, die Wäsche gefaltet - du hast Brombeergelee gekocht und in Gläser gefüllt und die heruntergefallenen Äpfel aufgehoben. Auch an die Kaninchen hast du gedacht.
Nun kehrst du zurück in deine Gedanken, die du am Morgen unterbrochen hast. Den ganzen Tag über hielten sie sich am Rande des Bewusstseins, sprungbereit, wie ein Springteufel aus der Kinderzeit und dich gefangen zu nehmen sobald du dich ablenken lässt.
Es ist dir mit Mühe gelungen sie dort zu lassen, bis jetzt.
Du gehst einen kleinen Schritt durch einen dunklen Gang und biegst um eine Ecke. Eine blaue Tür wartet auf dich. Du bist dir sicher:
wenn du sie öffnest, wirst du den Raum dahinter betreten - nicht dass du weißt was dich dort erwartet - die Türe schließen, den Schlüssel umdrehen und nie wieder zurückgehen.
Du weißt es, und deshalb zögerst du.


14.
Wen siehst du hinter den Wolken, während die Bäume dir ein Lied singen?

Es ist der Wind. Er trägt die Form eines pausbäckigen Engels der auf der Stirn die tiefen Furchen des unablässig Denkenden trägt. Du spürst nur seinen unendlich sanften Flügelschlag, als warte er ab. Nichts braust, denn der Tag ist himmelblau und golddurchwirkt, und im Wasser spielen die Möwen. Die Wellen mit ihren Meerschaumspitzen wogen neugierig in den Sand.
Bäume bewegen sich im Takt mit dem Lied der Bäume. Weiße Wolken, die dem Horizont zu streben, verflüchtigen sich zu Rauch und verlieren sich in den Himmeln.


15.
Nikola sitzt am Frühstückstisch. Der Kaffee ist ausgetrunken. Im Brotkorb wartet ein letztes Sesambrötchen darauf gegessen zu werden.
Der Regen prasselt dicke Tropfen gegen die Fensterscheibe. Alles läuft an Nikola vorbei, wie ein Film, der in einem anderen Kino spielt.
Die Frau ist in Gedanken versunken, grübelt schon eine ganze Weile. Die Kinder haben bereits vor zwei Stunden das Haus verlassen um zur Schule zu gehen.
Sie merkt nicht als es aufhört zu regnen. Sie sitzt auf ihrem Stuhl wie angewurzelt und blickt ins Leere. Erst als ein winziger Sonnenstrahl durch die Glasscheibe fällt und sie an der Nase kitzelt, blickt sie auf.
Sie erhebt sich, um den Tisch abzudecken, die Kaffeemaschine auszustellen und die Spülmaschine zu bedienen.
Beim Griff zum Besen, mit dem sie die Frühstückskrümel zusammen fegen möchte, stellte sie fest, dass sie im Tag angekommen ist. Und dieser Tag darauf wartet, in Angriff genommen zu werden.
So beschließt ihre Sorgen in der schweren Schublade des alten Eichenschranks einzuschließen und das Haus zu verlassen, um frische Luft zu schnappen. Vorsichtshalber nimmt sie den roten Regenschirm mit den weißen Punkten mit.


16.
Ich sehe eine Sichel am Himmel schon früh am Nachmittag, als sich der Himmel vom Grau zum Blau lichtet. Was wäre wenn, frage ich mich, wenn eine Himmelsleiter herunter fallen würde an der ich hinaufsteigen könnte zum Mond? Die Sichel ist mein Schaukelstuhl und das Blau des Firmaments um mich herum ist wie Wellen im Ozean. Ab und zu hüllt eine Wolke mich ein, so als sei ich im Nebel an einem Novembermorgen. Vielleicht besucht mich eine Schneegans, erzählt mir vom Norden und von der langen Reise in den Süden. Wie gern würde ich dann mit ihr ziehen, wie einst der kleine Nils Holgerson. Ich sah einmal ein Bild - von einem Kind gemalt - es hing in einer therapeutischen Praxis an der Wand.
Da schwebt der kleine Nils mit seiner Zwergenmütze auf dem Rücken der Gans über den Himmel. Ich glaube, er schlummert und träumt vom Erwachsenwerden.
Vielleicht findet sich hinter dem Horizont einen Ring, der mich zwergenklein macht, wenn ich ihn am linken Ringfinger drehe, Und gleich denke ich an den Mann mit Hut - wie hieß er noch gleich? Pan Tau! Er trug immer Frack und Zylinder und wenn er seinen Hut drehte, dann schrumpfte er. An seine vielen Abenteuer kann ich mich nur schwach erinnern.
Ganz gleich ob Pan Tau oder Nils Holgerson, es hat Vorteile, klein wie ein Zwerg oder wie eine Maus zu sein.

Impressum

Texte: Titelfoto: JanWal
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
dieses Buch widme ich Marianne, Wilhelm und Jo drei Menschen, die mich auf unterschiedliche Weise berührt, gefo(e)rdert und inspiriert haben. Danke, dass es euch gibt!

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