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Dämonen

 

„Die Liebe zur Macht ist der Dämon der Menschen.“

Friedrich Nietzsche

Morgenröthe – Gedanken über die moralischen Vorurteile (1881)

Kapitel 1


Das Rudel kreiste ihn ein. Sein Duft war im Dunst aus Schweiß, Alkohol und Trockeneis einfach zu erkennen. Er roch süßlich wie Karamell und lockte das Rudel an wie hungrige Fliegen. Er hatte es noch nicht bemerkt, tanzte weiter gedankenverloren mit einer Blondine, die ihn um einen Kopf überragte. Getarnt durch das wogende Farbenmeer der Scheinwerfer und den Blitzen des Stroboskoplichts bahnte sich das Rudel seinen Weg zu ihm.

Dann bemerkte er sie. Ohne zu zögern ließ er die Blondine stehen und drängte sich durch die Menge zum Ausgang. Ruppig schob er Gäste beiseite, rempelte und stolperte sich seinen Weg frei und störte sich nicht daran, dass mancher Gast ihm drohte oder ihn wegstieß. Als er die Garderobe erreicht hatte, war das Rudel dicht hinter ihm. Türsteher hatten die wütenden Rufe gehört und bauten sich zwischen ihm und dem Rudel auf.

„Was ist hier los? He, Sie! Bleiben Sie stehen!“

Der Anführer des Rudels knurrte: „Wir kümmern uns darum. Er hat zu viel getrunken.“

Das Rudel witterte die Angriffslust der Männer und drängte sich zusammen. Ihr Opfer näherte sich den dunklen Vorhängen, hinter denen der Ausgang lag. Dies war ihr Revier und diese Menschen würden sie nicht aufhalten. Der Türsteher und der Anführer taxierten sich kurz. Der Anführer grinste und blickte über eine Schulter zu seinen Brüdern. Die Macht des Rudels entfaltete ihre Kraft, pflanzte Angst in die Gedanken der Türsteher. Sie wichen zurück und bildeten eine Gasse, durch die sich das Rudel den Weg zur Tür bahnte. Ohne Eile folgten sie ihrem Opfer.

Ihr Opfer lief. Die Gassen der Altstadt waren voll mit Menschen. Immer wieder blickte er sich um und sie wussten, dass er sie problemlos ausmachen konnte. Sie folgten seiner Fährte wie Bluthunde. Ein Späher hatte sich von der Seite an ihn herangepirscht. Er grinste breit und beobachtete, wie seine Beute an ihm vorbei lief, während er lässig seinen Krawattenknoten löste und seine Hemdsärmel aufrollte.

Wie gerne würden sie ihm den Kopf von den Schultern reißen und sein Blut kosten, doch sie durften nicht. Das war die Arbeit der Hexe. Es ging nicht nur darum, seinen Ungehorsam zu bestrafen. Es sollte eine Machtdemonstration für andere Dämonen sein. Und das Zünglein an der Waage des Machtgleichgewichts war die Hexe.

Also trieben sie ihr Opfer aus der Stadt hinaus, dorthin, wo die Hexe auf das Rudel und seine Beute wartete.


~*~


Auf einem unbeleuchteten Parkplatz am Stadtrand parkte ein schwarzer Sportwagen. Das Standlicht warf kleine Lichtkegel ins Dunkel und ließ den Schatten einer Frau erkennen, die an der Motorhaube lehnte. Am Himmel machten die Lichter der Stadt dem Mond Konkurrenz, doch am Boden blieb es finster. Es war still, nur in der Ferne lärmte das Nachtleben wie an jedem Wochenende.

Die Frau seufzte und ging um den Wagen herum, um das Standlicht abzuschalten. Das Rudel war immer zuverlässig und würde sicherlich bald eintreffen. Sie sehnte den Kampf herbei, weil sie es schnell zu Ende bringen wollte. Das Warten machte sie nervös und ließ ihr zu viel Zeit, über das nachzudenken, was gleich geschehen würde.

Knirschender Kies kündigte die Ankunft der Männer an: ein Geräusch wie splitternde Eiskristalle im Schnee. Die Beute rannte. Das Rudel machte keinen Schritt zu viel. Bedächtig knackte der Kies unter ihren Füßen, dann blieben sie stehen. Das näher kommende Keuchen ihres Opfers war das Kommando für die Hexe.

Sie brauchte nur einen Gedanken, eine Erinnerung, um die Kräfte zu wecken, die ihren Gefühlen gehorchten. Einen Wimpernschlag später tänzelte ein kleiner Feuerball auf ihrer rechten Hand. Seine Flammen leckten wie Tentakel an ihren Fingern und schlugen mit jedem Atemzug ein wenig höher. Das rötliche Licht enttarnte sie und sie hörte, wie ihr Gegner seinen Lauf bremste. Kies stob auf und klackerte zu Boden. Ohne zu zögern holte sie aus und schleuderte den Feuerball ins Dunkel. Er zitterte und explodierte mit einem Zischen, während sein Licht den Parkplatz für einen Augenblick erhellte. Nun wusste sie, wo und wer er war. Er hatte seine wahre Gestalt angenommen: Pranken mit breiten Klauen, die seinen drahtigen Körper noch schmaler erschienen ließen, und ein langer, haarloser Schwanz, der hinter seinem Rücken tänzelte. Er verfügte nicht über die Kräfte, wie sie mächtige Dämonen hatten. Sie spürte nichts dergleichen und damit war er ein leichtes Opfer.

Ein neuer Feuerball wuchs in ihren Händen zu einer kleinen Sonne heran und schoss auf den Dämon zu. Ein zweiter und dritter folgten. Er duckte sich im Lauf weg, stolperte und rannte weiter. Sie hatte ihn verfehlt. Er rannte unbeirrt auf sie zu, hätte er Hörner gehabt, er hätte sie zum Angriff gesenkt. Wo war das Rudel? Warum griffen sie nicht ein? Auf einen Nahkampf war sie nicht vorbereitet.

Sie konzentrierte sich, zerrte so viel Wut zu Tage wie nötig war, um das Feuer zu nähren. Blitzschnell breiteten sich die Flammen über ihre Hände aus, krochen über ihre Handgelenke und schlangen sich um ihre nackten Arme. Vor ihrem inneren Auge wurde die Silhouette einer Frau immer klarer und mit dieser Erinnerung wuchsen die Flammen.

Dann sah sie ihn im Schimmer ihres eigenen Feuers auf sich zu springen. Für einen Augenblick schien er in der Luft zu stehen. Sein Körper reckte sich wie der einer Katze, als wolle er sie um jeden Preis erreichen, und schon im nächsten Moment peitschten seine Krallen auf sie herab. Sein Fauchen wurde zu einem Schrei, als sie ihn mit brennenden Händen packte. Die Flammen nagten an seinen Kleidern und seiner Haut. Sie spürte das warme Blut, das zäh wie Lava über ihre Wange rann, und unterdrückte den Reflex, es wegzwischen. Er war kräftiger als sie und sie wusste, dass ihn nur die Schmerzen davon abhielten, erneut auszuholen. Sie stieß ihn von sich und stolperte zurück, während zwischen ihren Händen ein neuer Feuerball wuchs. Sie holte aus und schleuderte das Feuer auf den Dämon, der verzweifelt die Flammen ausschlug. Ein Schrei des Dämons hallte über den verlassenen Parkplatz, als das Feuer ihn einhüllte und sich eine Stichflamme in den schwarzen Himmel reckte. Gierig fraßen ihm die Flammen das Fleisch von den Knochen. Ein weiterer Feuerball ließ das Feuer wachsen und auch die letzte Faser seines Körpers verschlingen, bevor seine Asche zu Boden rieselte.

Langsam beruhigte sich ihr Puls. Sie schüttelte die Flammen aus und rieb sich mit der Schulter das Blut von der Wange. Sie hasste den Geruch von versenktem Haar und Asche.

„Verschwindet!“, rief sie ins Dunkel und lauschte, wie das Rudel sich zurückzog. Es war Zeit nach Hause zu fahren.


~*~


Keira stand in der Tür zu ihrem kleinen Wohnzimmer und blickte auf zwei Umzugskartons. Ihre Hände zitterten und sie fuhr sich unruhig durch die Haare. Es war, als würde sie aus einem Albtraum erwachen. Diese Kartons hatten mehrere Jahre unangerührt im Wohnzimmer gestanden. Jetzt fand sie den Mut sie zu öffnen. Keira ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, über ein Leben hinweg, das ihr plötzlich weit weg erschien. Auf dem Sofa lag „Discours de la méthode“ von Descartes und daneben ein altes Lehrbuch für Lineare Algebra. Diese Bücher waren am Nachmittag der Anfang der Reise in ihre eigene Vergangenheit gewesen. Jetzt konnte sie nicht mehr von den Erinnerungen lassen, die sie jahrelang ignoriert hatte, und wagte sich an die Umzugskartons.

Keira seufzte und begann die Bücher aus einer der Kisten zu räumen. Nach einigen Augenblicken hielt sie inne. Ganz unten im Karton, von einer feinen Staubschicht bedeckt, lag ein gerahmtes Bild. Keira konnte nicht glauben, dass sie das Bild damals sogar noch gerahmt hatte. Sie wischte den Staub weg und blickte in das Gesicht einer Frau, die sie vom Foto anlächelte. Für diesen kurzen Augenblick wollte ihr keine der schlechten Erinnerungen, die sie sonst Tag für Tag verfolgten, in den Sinn kommen. Keira wollte herausfinden, was sie plötzlich ihr Leben mit anderen Augen sehen ließ. War dies das Leben, was sie führen wollte?

„Akzeptiere nur als wahr, was unzweifelbar gewiss ist!“, zitierte sie leise Descartes, bevor sie das Bild an der Wand anbrachte. Die strengen Regeln der Mathematik hatten ihr damals immer Halt gegeben. Vielleicht war es an der Zeit zu diesen Regeln zurückzukehren und so eine Antwort auf ihre Frage zu bekommen.

Nach und nach holte Keira weitere Bilder aus dem Karton und hängte sie auf. Es waren Bilder von ihren Eltern, ihrer Großmutter und von Orten, die ihr einmal etwas bedeutet hatten. Bis zum heutigen Abend hatte sie nie Heimweh nach Irland gehabt.

Keira stand auf und schob die Kisten beiseite. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete die Bilder an der dunkelgrünen Wand. Sie ertappte sich dabei, sich in diese Welt zurück zu wünschen, als ihr Handy zu klingeln begann. Keira wusste, wer es wagte, sie um diese Uhrzeit anzurufen. Sie nahm das Handy, das neben dem Umzugskarton lag, und meldete sich mit einem knappen „Ja.“

„Wo stecken Sie? Warum sind Sie nicht bei den Jägern? Ihr Auftrag war noch nicht beendet. Haben Sie das Memo auf Ihrem Schreibtisch nicht gesehen? Es gibt zwei Ziele“, bellte Baja und Keira hielt das Telefon ein Stück vom Ohr weg.

„Nein, tut mir Leid. Das muss ich übersehen haben“, log Keira und wunderte sich über sich selbst.

„Dann sehen Sie zu, dass Sie sich wieder in Bewegung setzen! Es ist ihr verdammter Job, die Jäger zu unterstützen.“

Keira zögerte. Es war keine gute Idee, Bajas Zorn zu wecken. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass es richtig war, Baja zu gehorchen, aber etwas in ihr wehrte sich dagegen, ihrem Befehl zu folgen.

„Ich habe keine Zeit“, sagte sie und ihre Stimme zitterte, „die Jäger werden jetzt auch allein zurechtkommen.“

Noch bevor Baja auf ihre Weigerung antwortete, wusste Keira, dass sie einknicken würde. Sie würde sich nicht von Baja lösen können.

Baja zögerte und Keira konnte vor ihrem inneren Auge sehen, wie Baja nach Fassung rang. Es war immer das gleiche Spiel.

„Sie haben mir zu gehorchen“, sagte Baja schließlich leise.

Keiras Kraft hatte Nahrung in ihrer Wut gefunden. Kleine Flammen flackerten an ihrer freien, linken Hand auf. Sie schüttelte die Hand und Flammen erloschen. „Ja“, antwortete sie gereizt und legte auf.

Sie schob das Handy in ihre Hosentasche und ging in den Flur. Während sie ihre Schlüssel vom Haken nahm, fiel ihr Blick in den Spiegel, der dort hing. Das Blut auf ihrer Wange war noch nicht getrocknet und unter den Kratzern bildeten sich bläuliche Wundmale. Keira atmete tief ein und schluckte den Schmerz hinunter.

Einige Augenblicke später schloss sie die Wohnungstür hinter sich und kehrte den Erinnerungen an ihre Vergangenheit den Rücken.


~*~


„Mama, warum rufst du um diese Uhrzeit an, wenn nichts ist? Ich habe gedacht, es wäre etwas passiert.“ Felix hielt den Hörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt und zog sich seine Schuhe an. Mit seiner Mutter hatte er morgens um kurz vor sieben nicht gerechnet.

„Du gehst ja sonst nie ran, obwohl du zu Hause bist.“

Da hatte sie absolut Recht, trotzdem verkniff er sich das empörte „Mama!“ nicht.

„Was denn? Ich kenne dich. Ich weiß, dass du zuhause rumsitzt. Es hat sich nichts geändert. Was ist eigentlich mit diesem Jakob? Triffst du den wenigstens noch?“

„Nicht so oft. Ich arbeite und er hat mit seiner Examensvorbereitung zu tun. Ich habe noch andere Freunde.“

„Mit denen du dich auch nicht triffst. Eine Freundin hast du ja auch nicht. Du musst mal wieder mehr unter Leute.“

„Mama, bitte! Das ist mein Leben, nicht deins.“

In Momenten wie diesen wusste er wieder, warum er zuhause ausgezogen war. Er liebte seine Mutter, aber ihre Fürsorge erdrückte ihn.

„Ich mein es ja nur gut. Kommst du am Wochenende?“

„Nein, vielleicht nächste Woche. Ich muss los, ja?“

Während seine Mutter sich mit „Pass auf dich auf!“, „Fahr vorsichtig!“ und „Geh mal wieder aus, wie andere junge Männer!“ verabschiedete, schob Felix mit der rechten Fußspitze die Schuhe im Schuhregal hin und her, bis alle beinahe rechtwinklig zueinander standen. Dann legte er auf und stellte das Telefon zurück in die Ladestation. Aus der Küche nahm er einen leicht fauligen Geruch wahr. Heute Abend würde er mal wieder putzen.

Einen Augenblick später fiel die Haustür hinter ihm zu und während er die drei Stufen hinunter zu seinem Fahrrad ging, zupfte er sein Hemd unter der Jacke zu Recht. Es saß schlecht, aber es gefiel ihm, weil es blütenweiß und sauber war. Mit wütendem Schwung stieg er auf seine alte Gazelle, die die Nacht angelehnt an der Fassade des Altbaus verbracht hatte. Der schwarze Rahmen zitterte unter der Kraft seiner Tritte. Es gab keine Zeit zu verlieren. Vielleicht wurde es doch ein guter Tag. Er war schließlich Felix, der Glückliche.

Nach einigen Minuten, die ihn nicht zum Schwitzen gebracht hatten, sprang er am Hauptgebäude von Baja International vom Rad. Bevor er die Gazelle mit routinierten Handgriffen an den Fahrradständer kettete, glitt sein Blick an der Fassade des roten Backsteinbaus hinauf. Auf in den Kampf! Damit er nicht wieder bei seinen Eltern einziehen und die Ratschläge seiner Mutter, hauptsächlich per Telefon, ertragen musste.

Mit schnellem Schritt ging er zum Eingang und folgte Treppenhäusern und Gängen ins Innere des Gebäudes.

Im Gang hinter der Kantine, wo es wie immer nach Bratfett und Chlorreiniger roch, sah er einen der Hausmeister, der neue Plakate im Gang anbrachte.

„Können Sie mal schauen, ob das gerade hängt?“, rief der Mann Felix entgegen. Felix nickte und blieb bei ihm stehen. Er fand die Plakate albern und musste jeden Morgen schmunzeln, wenn er an ihnen vorbei ging. Auch auf dem Neuen war Sylvia Baja, die Geschäftsführerin des Unternehmens, abgebildet. Sie hob im beigen Kostüm das Loch für einen Apfelbaum aus, während sich die Pfennigabsätze ihrer Pumps in den weichen Boden bohrten.

„Hängt gerade“, murmelte Felix und wollte weiter gehen, doch der Hausmeister drehte sich zu ihm. Felix versuchte noch seinem Blick auszuweichen, doch der Mann hatte ihn ertappt.

„Warum grinsen Sie so?“, fragte er.

Für gewöhnlich behielt Felix die meisten seiner Gedanken für sich, aber heute Morgen war ihm danach, diesen einen auszusprechen: „Sorry, ich finde die Plakate albern. Das sieht immer so aus, als würde sie mit dem Apfelbaum oder der Schulspeisung dahinten die Rettung der Welt einläuten wollen.“

Der Hausmeister zuckte mit den Schultern und machte sich daran den unteren Teil des Plakates zu befestigen: „Da haben Sie wohl Recht. Aber behalten Sie das hier im Unternehmen besser für sich!“

Felix störte sich nicht an dieser Warnung. Seit Beginn der Semesterferien arbeitete er in der Firma und war seinen Job leid. Es war eine stupide Aufgabe: Er pflegte Datensätze in die Kundendatenbank ein, korrigierte oder löschte sie. Eine Arbeit, die sicherlich ein entsprechendes Programm schneller machen könnte, wenn das millionenschwere Unternehmen gewillt gewesen wäre, Geld für einen Programmierer auszugeben.

Stumm machte er sich auf den Weg zu seinem Büro in der zweiten Etage. Wäre er nicht auf das Geld angewiesen, er hätte längst gekündigt, die Langeweile beendet und müsste sich nicht mehr über die Logik eines großen Unternehmens aufregen.


~*~


Als Felix das Büro betrat, war es nicht wie sonst verwaist. Keira saß an ihrem Platz. Er teilte sich das Büro mit ihr oder vielmehr: Sie duldete ihn in ihrem Büro. In den vergangenen Wochen hatten sie sich zwar ein wenig angefreundet, aber Keira machte keinen Hehl daraus, dass sie lieber allein wäre. Und das machte sie Felix sympathisch, denn es war eine Regung, die er verstand.

Keira starrte auf ihren Bildschirm und bemerkte ihn nicht. Er begrüßte sie mit einem kurzen „Moin“ und schlurfte zu seinem kleinen Schreibtisch, der ihrem gegenüber stand. Sein Blick blieb an Keira hängen. Er erwartete eine Antwort und sei es aus Höflichkeit. Es dauerte einen Moment, dann hob Keira tatsächlich den Blick. Unter ihren braunen Augen bemerkte er dunkle Ränder. Keira war deutlich blasser als sonst.

Sie rang sich ein Lächeln ab und begrüßte ihn, nur um sofort wieder auf ihren Bildschirm zu schauen.

Felix musterte sie weiter, während er seinen Computer hochfuhr. Er entdeckte drei langgezogene Kratzer, die sich an ihrer rechten Wange vom Ohr bis fast zum Kinn zogen. Sie waren kaum verkrustet und unter ihnen lag ein bläulicher Schimmer. Wie auch immer das passiert war, es musste ein harter Schlag dazu gehört haben. Felix setzte sich und versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen: „Alles okay bei dir?“

Normalerweise war das sowohl seine als auch ihre Standardfrage am Morgen, um ein Gespräch zu beginnen. An diesem Morgen jedoch brummte Keira nur und schwieg weiter. Felix mochte es, mit ihr zu plaudern. Es verkürzte seinen Tag, egal wie belanglos es war. Aber heute war kein gewöhnlicher Morgen, das hatte ihm bereits sein kurzes Gespräch mit dem Hausmeister gezeigt.

„Was sind das für Kratzer an deiner Wange?“, fragte er, ohne sie anzusehen, während er die Programme zur Dateneingabe öffnete. Er wusste, die Frage würde Keira provozieren. Er vermied persönliche Fragen, so gut er konnte, denn er bekam ohnehin keine Antworten darauf. Keira umging solche Fragen stets sehr charmant.

„Alles okay, nur meine Katze. Nicht so schlimm“, antwortete sie, doch Felix hörte das Zittern in ihrer Stimme. Plötzlich nahm er einen Geruch war, der nicht hierher gehörte: schwelendes Holz. Etwas stimmte nicht. „Muss ja eine verdammt große Katze sein.“ Er rollte mit seinem Schreibtischstuhl ein Stück zur Seite und suchte Keiras Blick.


Keira sah auf und bemerkte, dass Felix sie ansah. Er hatte eine ehrlichere Antwort verdient.

„Ich weiß, wir haben nie eine offizielle Vereinbarung getroffen, aber bitte stell mir solche Fragen nicht! Ich werde sie sowieso nicht ehrlich beantworten und es gefällt mir nicht, dich anzulügen“, erwiderte sie und sah ihn durchdringend an. Sie mochte ihn. Er war ein netter Kerl, der zwar aussah wie ein fröhlicher, entspannter Surfer, der aber oft zu einem verschrobenen Griesgram wurde, wenn man sich mit ihm unterhielt. Er hatte zwei Gesichter und vielleicht sogar zwei Leben, so wie sie. Wenn sie seinen Gesichtsausdruck richtig interpretierte, dann war er überrascht über ihre Offenheit und an diesem Punkt hatten sie wieder etwas gemeinsam.

„Ich weiß“, gab er zu, „sorry. Ich dachte, ich frage einfach. Es sieht nicht besonders harmlos aus.“

„Glaub mir, es ist alles okay!“ Fast hätte sie hinzugefügt, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche. Sie kannten sich erst ein paar Wochen und Freundschaft war noch das falsche Wort, um zu beschreiben, was sie verband. Er war ein feiner Kerl und sie wollte ihn nicht mehr belügen als nötig.

„Ich finde es okay, wenn du nicht über alles reden willst. Ich mache das normalerweise auch nicht.“ Nun lächelte er und Keira konnte nicht umhin, sein Lächeln zu erwidern. Heute war „Tag der offenen Worte“ und es gefiel ihr.

„Ich weiß nicht, warum ich ein Problem damit habe, dich anzulügen. Normalerweise fällt mir das leichter“, erwiderte sie und rollte zurück vor ihren Bildschirm.

„Vielleicht treffen wir eine Vereinbarung“, schlug er vor, „ich darf meine Befindlichkeiten bei dir abladen, ohne dass du dich verpflichtet fühlst, das auch zu tun, und du darfst mir weiterhin Märchen erzählen, ohne dass ich Detailfragen stelle.“

Keira sah ihr Lächeln im Monitor, aber ihre Antwort wurde von der aufspringenden Tür unterbrochen.

„O’Brennan! Mitkommen!“, bellte Sylvia Baja. Die Tür knallte hinter ihr ins Schloss.

Keira war aufgesprungen und verharrte nun doch noch einen Moment. Aus den Augenwinkeln hatte sie gesehen, wie Felix zusammengezuckt war. Sie wollte fluchen und Felix sagen, dass sie Baja auch nicht mochte, doch als er nichts weiter sagte, sondern sich seinem Computer zuwandte, verließ sie wortlos den Raum.

Während Keira Baja den Flur entlang folgte, blieben ihre Gedanken bei Felix. Sie könnte einen Freund wie ihn in ihrer Welt gut gebrauchen. Sie hatte lange keinen Freund mehr gehabt.


~*~


Baja richtete sich auf, schob die Schultern ein Stück zurück und zog ihren Blazer zurecht. Der Gedanke daran, sich beherrschen zu müssen, machte sie wütend. Noch wütender als der Gedanke, dass Keira immer respektloser wurde. Während sie den Flur entlang zum Besprechungsraum ging, blickte sie durch die Glastüren in die Büros, an denen sie vorbeikam. Im Flur war es still, doch hinter den Türen ging es emsig zu wie in einem Bienenstock. Einige Schritte vor ihr trat jemand in den Flur, entdeckte Baja und machte direkt wieder kehrt. Baja ging einen Schritt schneller und erreichte die Tür, bevor sie zufiel. Die Gespräche verstummten, als sie den Raum betrat.

„Herr Schneider, ich erwarte den Bericht zu Projekt 39 bis 12 Uhr auf meinem Schreibtisch.“

Der Mann starrte sie an und schien zu begreifen, dass er in diesem Gebäude vor ihr nicht fliehen konnte.

„Aber die Berechnung ... das Team ... ähm, wir ... haben noch keine Avislisten von den Spediteuren ... ich ... wir waren von 16 Uhr ausgegangen“, stammelte er.

Baja schüttelte den Kopf. Menschen! Nichts als hirnlose Arbeiter und Drohnen. An Tagen wie heute war sie dankbar, dass andere ihr das Tagesgeschäft abnahmen und sie nur mit einem ausgewählten Kreis ihrer Mitarbeiter zu tun hatte. „Heute, 12 Uhr“, wiederholte sie und verließ das Büro.

All die Gefühle der Menschen, die die Welt für Baja sonst in schillernde Farben tauchten, waren heute zu schwach und machten aus ihrer Welt einen Schwarz-Weiß-Film. Sie hatte gehofft, dieser kleine Abstecher würde ein wenig Farbe bringen, doch der Mitarbeiter ließ sich zu keinem Gefühl außer Angst hinreißen und Ängste lieferten selten mehr als Pastelltöne.

Einige Schritte später hatte Baja den Besprechungsraum erreicht und setzte sich. Ihre Finger begannen auf die raue Kunststoffoberfläche zu klopfen. Sie starrte die geöffnete Tür an. Keira hatte sich sonst nie so lange Zeit gelassen und Baja glaubte darin ein weiteres, trotziges Aufbäumen gegen ihre Autorität zu sehen. Dann betrat Keira den Raum und schloss die Tür hinter sich. Baja bat sie, sich zu setzen und musterte sie. Die rötliche Aura ihres Hasses umhüllte Keira, wurde aber, während Baja sie betrachtete, blasser und ließ Keiras Silhouette mit dem Grau der übrigen Welt verschmelzen. Es wäre leicht, den Hass wieder anzufachen, doch Baja tat nichts. Sie bemerkte die frischen Wunden an Keiras Wange. Es war lang her, dass jemand ihre Hexe verletzt hatte.

„Ich werde Sie für die letzte Nacht belohnen. Was brauchen Sie?“, fragte Baja und bemühte sich, ihre Stimme freundlich klingen zu lassen.

„Ich will nichts. Es war eine Nacht wie jede andere“, erwiderte Keira, während gleichzeitig ihre Aura rötlich zu flackern begann. Ein Mensch würde lächeln, dachte Baja, aber es kostete sie heute zu viel Kraft, sich wie eine von ihnen zu verhalten.

„Sie sind verletzt worden, das macht es zu einer ungewöhnlichen Nacht. Mit dem nächsten Gehalt bekommen Sie einen Bonus“, beharrte Baja und der Ton ihrer Stimme entglitt ihr, wurde zu einem Zischen. Sie war es nicht gewöhnt, Keira Belohnungen aufzuzwingen.

Keira reagierte nicht darauf, wie sie Bajas Regungen bis vor einiger Zeit meistens ignoriert hatte. Baja war überrascht. Sie hatte mit Protest gerechnet. Keira hatte sich in den letzten Tagen immer wieder geweigert, Befehle zu befolgen und diskutiert, nur am Ende doch zu gehorchen. Es war, als würde sie ihre Grenzen austesten. Dieser Moment wäre prädestiniert für ein weiteres Machtspielchen gewesen, doch Keira fragte nur:

„Was kann ich für Sie tun?“

Vielleicht war sie übersensibel. Baja konnte es nicht gebrauchen, wenn Keiras Aufmüpfigkeit irgendwann zu einem echten Konflikt würde. Sie wollte Keira nicht zum Gehorsam zwingen. Keiras Loyalität war immer freiwillig gewesen und sie sollte es bleiben, denn sonst verlor sie an Wert und Keiras Hass an Schönheit. Baja war bereit, den Preis dafür zu zahlen und sich zu beherrschen, obwohl es andere Möglichkeiten gäbe, Keira zu kontrollieren.

Baja versetzte dem Aktenordner, der vor ihr lag, einen Stoß und er rutschte zu Keira. Dann legte sie die Hände in den Schoß und verhinderte so, dass Keira die schwarzen Schatten sehen konnte, die sich um ihre Hüfte schlangen. Es war eine alte Gewohnheit, denn so hatte sie bereits als Teenager ihr wahres Wesen vor ihren menschlichen Eltern verborgen. Ihre menschliche Form konnte sie beherrschen, ihre dämonische dagegen oft nicht. Nicht offenbaren zu dürfen wer man ist, hatte Keira und sie immer verbunden. Baja hatte Keira zu der Hexe gemacht, die sie heute war. Nicht Keiras Mutter, deren Aufgabe es gewesen wäre.

Keira begann die Unterlagen durchzublättern. Baja beobachtete aufmerksam, wie Keira die Fotos und Texte im Ordner überflog.

Schließlich sagte Keira:

„Xavier Lavie. Sagt mir nichts. Er ist ein Dämon?“

Baja nickte. „Er verändert das Machtgefüge der Stadt. Sie haben es selbst gemerkt in der letzten Nacht.“

„Die letzte Nacht war nicht ungewöhnlich. Es gibt immer Dämonen, die Ihnen nicht folgen wollen und die wir beseitigen müssen. Und es wird immer Dämonen geben, die es schaffen, mich zu verletzen. Ich bin nicht unverwundbar.“

Baja musterte Keira. Es war bedauerlich, dass es weder unverwundbare Dämonen noch unverwundbare Hexen gab.

„Dass dieser Dämon noch nie an einem Kampf teilgenommen hat, dass wir ihn bisher nicht bemerkt haben, ist ungewöhnlich. Das bedeutet, dass er Potenzial hat. Er wird Dämonen um sich scharen, die sich ihm unterordnen und für ihn kämpfen.“

Keira seufzte leise und lehnte sich zurück.

„Einen solchen Dämon hatten wir lange nicht mehr.“

„Ich will nicht, dass er die Gelegenheit bekommt, sein Potenzial zu entfalten. Beobachten Sie ihn und seine Diener, falls er bereits welche hat! Und rufen Sie diesen Herrn an“, Baja schob Keira eine Visitenkarte zu, „machen sie einen Termin aus. Ich habe gehört, dass die Firma, für die Lavie arbeitet, einen Partner sucht.“

Jeder Befehl war wie ein Windstoß, der ein Feuer anfachte. Keiras Hass flammte auf und legte sich in glitzernden Farben über sie. Bajas Augen blieben starr, doch sie lächelte und folgte dem Gefühl, das der menschliche Teil von ihr empfand. Sie freute sich darüber, dass sie Keiras Hass noch immer Nahrung geben konnte, ohne dafür ihre dämonischen Kräfte anstrengen zu müssen.

„Es wird doch noch ein guter Tag“, stellte Baja fest und gab ihre aufrechte Haltung auf. Sie ließ sich zurück in den Stuhl sinken und beobachtete Keira.

„Kann ich gehen?“

Baja nickte. Keiras Hass war wunderschön. Aus dem blassen Gefühl war eine kräftige, rote Aura geworden.


~*~


Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und Felix warf klirrend sein Schlüsselbund auf die Anrichte neben der kleinen Garderobe. Während er aus seinen Schuhen schlüpfte und seine abgewetzte Ledertasche neben sein Schlüsselbund auf die Anrichte legte, begann das Telefon zu klingeln. Er ignorierte es und ließ sich stattdessen erschöpft ins Sofa fallen. Vor seinen Füßen ruhten fein säuberlich und rechtwinklig angeordnet Bücher auf dem gebohnerten Parkett. Oben auf das Standardwerk zur Baustilkunde, in dem er jeden Abend blätterte, und unten lugte das Kompendium der Volkswirtschaftslehre hervor, das er ab dem nächsten Monat wieder brauchte. Seine Mutter bestätigte ihn in seiner Entscheidung Wirtschaft zu studieren und wurde nicht müde zu betonen, dass es gut war, dass er etwas Vernünftiges lernte, wenn er Zweifel äußerte.

Für einen Augenblick starrte er an die Decke und genoss es, wie seine Gedanken verstummten. Der Anrufbeantworter sprang an: „Hey Felix. Ich bin es, Jakob. Gehst du wieder nicht ran? Bin heute Abend mit ein paar Leuten bei meinen Eltern im Partykeller. Musik und ein Bierchen. Komm rum, wenn du Bock hast!“ Die Leitung knackte und das Freizeichen piepte zweimal.

Felix seufzte. Zu Jakob in den Keller? Er war eigentlich nicht in Stimmung. Ein wenig Abwechslung würde ihm trotzdem nicht schaden, das wusste er. Schon als Teenager hatte er sich oft gezwungen auszugehen und seine Launen zu ignorieren. Und wenn ihm das nicht gelang war seine Mutter zur Stelle, die ihm einen Zwanziger zusteckte und zur Party fuhr. Am Ende tat es ihm meistens gut sich wie einer von vielen zu fühlen.

Er seufzte, stand auf und ging ins Bad. Er würde zu Jakob gehen und wenn es nur für eine Stunde war. Dann konnten ihm weder seine Mutter noch Jakob vorwerfen, er hätte es nicht wenigstens versucht. Vielleicht wurde es ein netter Abend, dachte er und wusste im gleichen Moment, dass sich diese Hoffnung selten bewahrheitete.

Felix stützte sich auf dem Waschbecken ab und blickte in den Spiegel. Sein Gesicht war wieder voller weißblonder, borstiger Stoppeln. Je unzufriedener er war, desto akribischer rasierte er sich. Er grinste, knurrte sein Spiegelbild an und schüttelte seinen Lockenkopf wie ein Löwe. Felix, das Raubtier.

Felix legte sich den Pinsel und den Rasierer auf der Glasablage unter dem Spiegel zurecht, drückte sich eine walnussgroße Portion Rasiercreme in die rechte Hand und teilte sie auf beide Hände auf. Von den Koteletten abwärts schäumte er sich in kreisenden Bewegungen mit dem angefeuchteten Pinsel die Wangen und das Kinn ein und dachte daran wie Daniel in Karate Kid Mr. Myagis Autos gewaschen hat. Auftragen, rechte Hand. Polieren, linke Hand. Dann wartete er und zählte langsam von zehn rückwärts. Er starrte sein Spiegelbild an und bei null nahm er den Rasierer und begann. Er machte es immer nach dem gleichen Muster, das ihm garantierte, dass er kein Haar vergaß. Anschließend tauschte er noch das Hemd gegen ein T-Shirt und eine Kapuzenjacke, dann machte er sich auf den Weg zu Jakob.


~*~


Als Felix in die Rosengasse einbog, war es dunkel geworden. Leichter Wind raschelte durch die Bäume, die das Kopfsteinpflaster säumten. Die Hände tief in die Hosentaschen gesteckt, die Arme eng am Körper, als könnten sie ihn wärmen, ging Felix durch das alte Wohngebiet. Hier und da war in den Häusern Licht, das sich zum milchigen Schein der Straßenlaternen gesellte, die gegen den Nebel der feuchten Abendluft ankämpften. In der Ferne hörte Felix Autos auf der Hauptstraße. Es war das wohlige Grundrauschen der Stadt. Irgendwann hörte Felix leichtfüßige Schritte, die nicht seine eigenen waren. Er nahm es wahr wie das Rascheln der Blätter und den fernen Autolärm. Er war in der Stadt. Er war nicht allein. Seine Gedanken blieben an diesen Schritten hängen, die immer mehr, mit jedem Schritt in den gleichen Rhythmus verfielen, in dem er einen Fuß vor den anderen setzte. Er blieb stehen. Plötzlich und ohne, dass es einen Grund gehabt hätte. Die Schritte verstummten. Felix ging weiter, veränderte den Rhythmus in dem er ging und ein zwei Schritte später, änderte sich auch der Rhythmus der anderen Schritte. Sie folgten ihm. Er versuchte sich einzureden, dass man ihn hier, in dieser Gegend nicht überfallen würde und doch kroch Gänsehaut seinen Nacken hinauf. Das Rauschen des Herbstwindes ließ die Bäume leise flüstern. Die tanzenden Schatten auf dem Kopfsteinpflaster wurden zu dunklen Wesen die über die Straße huschten wie dieses Etwas, das ihm folgte. Er hatte keine Angst. Das war alles nicht echt. Alles nur Einbildung. Er wiederholte diese Sätze immer wieder.

Als er den schmalen Kiesweg an der Vorstadtvilla von Jakobs Eltern entlang zum Kellereingang ging, hatte er die unheimlichen Geräusche verdrängt. Er konnte den Zigarettenqualm in seinen Lungen spüren, als er am geöffneten Fenster zum Partykeller vorbei ging. Felix hustete und atmete flacher, bis er sich daran gewöhnt hatte. Der Geruch gehörte zu Jakob wie schales Bier und der Muff der spießbürgerlichen Dekoration im Partykeller. Der Abend versprach Erinnerungen an die gute, alte Zeit zu Beginn seines Studiums, nach dem Abitur, als für einige Monate das Leben wieder neu und aufregend war. Und Felix fand es schrecklich, dass diese gute, alte Zeit erst zwei Jahre her war.

Die Tür stand offen und Felix schlängelte sich durch den schmalen Kellergang vorbei an Waschmaschine, Trockner und alten Gartenmöbeln zum Partyraum. Jakob begrüßte ihn mit einer Umarmung, doch Felix schob ihn schnell ein Stückchen von sich weg. Jakob hatte eine Fahne und ohne weitere Zeit zu verlieren, drückte er Felix ebenfalls ein Bier in die Hand und drängte ihn an die Bar zu einem der Hocker. Im Hintergrund rauschten die kratzigen Gitarrenriffe einer ihm unbekannten Band durch die Boxen.

Nur einen Augenblick später stellten sich Felix die anderen zwei Typen vor, die an der Bar saßen. Friedrich, genannt Fred, und Basti. Hauptberuflich: Jurastudenten. Nebenberuflich: Musiker. Sie sprachen mit ihm, doch Felix’ Blick wanderte an den Fotos entlang, die an der Wand hinter der Bar hingen. Jakobs Eltern mit Freunden in den wilden 80ern, bierselig und lachend. Im Hintergrund die immer gleiche Dekoration, die sich bis in die Gegenwart gehalten hatte: rote Spitzendeckchen und gusseiserne Kerzenständer. Er beobachtete Fred, der ihm von seinem letzten Auftritt im Jugendzentrum der Stadt erzählte. Mit seinen fettigen Locken und der goldenen Nickelbrille wirkte er wie die perfide Verschmelzung von Jim Morrison und John Lennon. Felix wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er wollte einer von vielen sein, aber nicht einer von diesen. Das Bier war wie Beton in der Flasche. Felix bekam es nicht runter, benetzte nur immer wieder seine Lippen, damit es wenigstens so aussah als würde er trinken. Er sagte kein Wort, ließ die Erzählungen und Diskussionen der anderen drei über sich ergehen, wie er draußen vor der Tür einen Regenschauer erdulden würde. Als es um die spirituellen Vorteile eines Plektrons ging, insbesondere des Plektrons, das Fred im Jugendzentrum verloren hatte, verkniff sich Felix einen Seufzer. Dieser Regenschauer dauert schon deutlich zu lang. Fred und Basti begannen schließlich in bemüht gewählten Worten über die Unwegsamkeiten des Spiels einer Gitarre mit und ohne Hilfsmittel zu philosophieren. Felix' begann sich zu fragen, ob er nicht einfach über etwas reden sollte, das ihn interessierte, über die Anfänge des Bauhaus vielleicht. Als das Gespräch zu einer Diskussion über die besten Surfspots in Holland wurde, begann sein Handy in seiner Hosentasche stumm zu vibrieren.

Er stahl sich kommentarlos davon und lehnte sich an die ratternde Waschmaschine, während er abnahm und verwundert erfuhr, dass es Keira war, die ihn anrief. Sie hatte ihn noch nie privat angerufen, obwohl er ihr vor einiger Zeit seine Handynummer gegeben hatte.

„Hast du Lust was trinken zu gehen?“

Ihre Stimme klang weniger begeistert als sie es bei einer solchen Frage hätte sein sollen. Da fiel Felix ihr Gespräch über deutsches und irisches Bier wieder ein und das Wort „Rettung“ schoss ihm durch den Kopf. Diese Rettung hatte er sicherlich von Keira am wenigsten erwartet, aber sie war willkommen. Er hielt es bei Jakob nicht länger aus. Der Höhepunkt des Abends stand bestimmt noch bevor und das wahrscheinlich in Form eines kostenlosen Auftritts von Fred und Basti, die unter Gitarrenbegleitung „Auld Lang Syne“ singen, bevor sie sich daran machen den nächsten Kasten Bier dem Gott des Surfens an holländischen Nordseestränden zu opfern.

Felix überlegte kurz, dann stimmte er zu. Mit der fahlen Ausrede, er sei doch viel zu müde von der Arbeit, verdrückte er sich. Jakob würde ihm nicht böse sein und ein Bier mit Keira war ihm lieber. Vielleicht hatte er Gelegenheit sie besser kennen zu lernen und wenigstens auf ein paar Fragen Antworten zu bekommen.


~*~


Keira hatte Felix die Wahl gelassen und Felix hatte sich für das Brauhaus in der Altstadt entschieden. Sie ahnte, dass er dabei an sie gedacht hatte, denn es war der einzige Ort in der Stadt, an dem internationale Biersorten ausgeschenkt wurden. Trotzdem hatte Keira zunächst eine Cola bestellt. Im Laufe des Abends war ihr Blick jedoch immer wieder auf die kleine, laminierte Bierkarte gefallen. Und schließlich bestellte sie ihr erstes Pint. Sie hatte lange kein Guinness mehr getrunken. Es erinnerte sie an zu Hause und obwohl das Gefühl zunächst stärker wurde, gelang es ihr das Heimweh mit einem zweiten Pint zu betäuben.

Die cremige Schaumkrone auf dem dunklen Bier glitzerte im Schein der Kerze, die zwischen Felix und ihr auf dem wuchtigen Holztisch stand.

„Pils ist kein Bier. Pils ist Limonade. Das“, sie deutete auf ihr Glas, „ist Bier.“

„Das unterscheidet sich von Cola doch nur durch den Schaum“, grinste Felix und nahm einen langen Zug.

Die Kerzenflamme flackerte auf, als am anderen Ende des niedrigen Raumes jemand die Tür öffnete. Über Felix‘ Schulter hinweg, sah Keira eine junge Frau, die zum gegenüberliegenden Tisch ging. Keiras Blick blieb kurz an ihr hängen, dann kehrte er zurück zu Felix. Der hatte unterdessen sein Handy hervorgeholt und blickte mit einem Augenrollen auf das rhythmisch aufleuchtende Display: „Meine Mutter, super.“

„Um diese Uhrzeit? Ist vielleicht dringend“, versuchte Keira ihn zu beruhigen, denn er war sichtlich irritiert. Keira war sich nicht sicher, ob es an dem Anruf lag oder daran, dass er glaubte unhöflich zu sein, wenn er den Anruf entgegen nahm.

„Dafür ist die Uhrzeit kein Zeichen. Das gibt nur wieder Ärger.“

Keira hatte erwartet, dass er den Anruf draußen beantwortete, doch Felix blieb sitzen und ignorierte den Lärmteppich aus Gesprächen und lauter Musik. Keira dachte darüber nach, was sie tun würde, wenn ihre Mutter anrief. Würde sie überhaupt mit ihr sprechen wollen? Sie wusste nicht, was sie ihr hätte sagen sollen.

Felix wimmelte unterdessen seine Mutter ab. Er klang genervt, seine Stimme eine Oktave tiefer als sonst. Brummig, fast trotzig gab er Auskunft, wo er war, aber nicht mit wem, nur um seine Mutter am Ende höflich auf den nächsten Tag zu vertrösten. Er war ehrlich ohne verletzend zu sein und Keira dachte, dass ihr das mit ihrer Mutter nie gelungen war.

„Sorry. Sie ist manchmal sehr … anstrengend“, erklärte Felix schließlich, während er das Handy zurück in seine Hosentasche gleiten ließ.

„Ihr versteht euch nicht?“

„Doch, aber sie kommt nicht damit klar, dass ich ausgezogen bin. Dabei hab ich ja nicht mal die Stadt verlassen. Hat deine Familie sich noch nie beklagt, dass du nicht da bist?“

„Nein. Du hast wahrscheinlich keine jüngeren Geschwister, um die sich deine Mutter kümmern kann?“

„Sprichst du aus Erfahrung?“

Als Keira nicht antwortete, fuhr er fort: „Ich bin adoptiert. Meine Eltern konnten keine Kinder bekommen. Vielleicht behandelt sie mich deswegen wie ein rohes Ei.“

„Sie will dich beschützen.“

„Das ist nicht normal. Oder kennst du das von deiner Mutter?“

Zwei Sätze, ein Angriff. Felix schien ihre Vereinbarung vergessen zu haben und touchierte ein weiteres Mal an diesem Abend ihre Grenze, obwohl er wissen musste, dass sie diese Fragen nicht mochte.

„Hm, vielleicht. Mütter sind so“, antwortete Keira ausweichend und ihr Lächeln versiegte.

Sie vertraute auf Felix' Einfühlsamkeit. Er hatte oft genug bewiesen, dass er ein Gefühl dafür hatte, wenn er bei ihr zu weit ging.

„Alle Mütter sind wie meine? Niemals. Würde deine Mutter dich nachts anrufen, um sicher zu gehen, dass du nicht zu Hause rumsitzt?“

Der erwartete Rückzug blieb aus. Angriff. Keira gab nach. Das Bier betäubte das Heimweh und es lockerte ihre Zunge. Mit jedem Schluck ein wenig mehr.

„Nein, hat sie nie und würde sie nicht. Aber ich bin auch ein Einzelkind und sehr behütet aufgewachsen.“

„Besuchst du deine Eltern oft?“

Keira musste wegsehen, um ihm antworten zu können.

„Nein, ich ...“

Keiras Blick blieb an der Frau hängen, die gegenüber saß. Sie sah Keira an. Das schummrige Licht verhinderte, dass Keira mehr von ihrem Gesicht erkennen konnte als die dunklen Schatten, die ihre Augen waren, und volle, blutrot geschminkte, lächelnde Lippen. Keira hoffte inständig, dass diese Frau nicht versuchte, mit ihr zu flirten.

„Keira? Ist etwas?“

Keira spürte ein diffuses Unwohlsein. Sie versuchte, dem Gefühl einen Namen zu geben, suchte nach einem Wort zwischen Aufregung und Angst und fand keines, das passte.

„Ähm, nein. Ich … ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne“, erwiderte sie. Die Frau lächelte sie immer noch an, stellte ihr Martiniglas ab und strich mit dem langen, rot lackierten Fingernagel über seinen Rand. Keira seufzte. Sie wusste, sie müsste einfach nicht hinsehen und die Frau ignorieren. Sie interessierte Keira nicht und selbst wenn, würde Keira es sich verbieten. Hinzu kam dieses seltsame Gefühl, das sie nicht näher benennen konnte und das sie zunehmend nervös machte. Wenn nun noch das obligatorische Augenzwinkern folgte, würde Keira … Ja, was sollte sie tun?

Sie sah zurück zu Felix und ihr Blick verschwamm für einen Moment. Dann griff sie über den Tisch nach Felix‘ Händen, lächelte ihn an und hielt sie. Er zuckte, doch sie griff fester zu und zog seine Hände in die Mitte des Tischs.

„Was wird das?“, flüsterte er irritiert, ließ sie aber seine Hände halten.

„Nicht das, was du denkst“, zischte sie und sah, dass die Frau sie völlig ungerührt weiter mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen beobachtete, „aber die Frau am Tisch schräg hinter dir flirtet mich an. Vielleicht schreckt das ab.“

Er blickte auf ihre Hände und wieder zu ihr.

„Versteh das nicht falsch, aber: Gott sei Dank!“

Keira musterte ihn und begann zu lachen.

Ihr Plan schien nicht aufzugehen, obwohl Keira sicher war, dass die Frau ihr kleines Schauspiel aufmerksam beobachtet hatte. Sie nippte an ihrem Martini und befeuchtete ihre Lippen, als würde sie auf die Eröffnung eines Buffets warten. Keira ließ Felix‘ Hände los und entschuldigte sich.

„Kein Problem …“, stotterte er, „ich meinte das nicht böse. Ich hab es nicht so mit Beziehungen … und also, ich mag dich… aber …“

Sie grinste und unterbrach ihn: „Felix! Es ist okay. Wenn du eine Frau wärst, vielleicht … aber so: Nein. Okay?“

„Gut, ähm … gut, sehr gut“, er trank einen Verlegenheitsschluck von seinem Bier und sein Gesicht bekam wieder Farbe, „hat es geholfen?“

Keira schüttelte den Kopf. Ihr Lachen erstarb, als eine Welle von Übelkeit in ihren Magen hinabschwappte. Das Bier? Ihr wurde schwindelig. Sie schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und versuchte, den Blick auf Felix scharf zu stellen. Das Bier war nicht schuld. Das Gefühl war anders. Und dann begriff sie. Sie sah auf. Die Frau lächelte und leckte sich erneut über die Lippen. Sie ist kein Mensch, dachte Keira. Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen, um besser sehen zu können. Waren das züngelnde Haare an ihren Lippen? Ein Dämon. Keira fluchte innerlich. Genau das hätte nicht passieren dürfen.

Felix stand auf und ging zur Theke. Damit verschaffte er der Frau freien Blick auf Keira. Sie lächelte nicht mehr. Im Dämmerlicht vermochte Keira nicht zu erkennen, wie ihr Blick sich verändert hatte, doch sie konnte sehen, dass die Frau sich rührte und ein schwarzes Tuch um ihre Schultern schlang. Sie stand auf und schob sich an dem schweren Holztisch vorbei.

Jemand griff nach Keiras Schulter. „Komm! Wir gehen“, sagte Felix. Er taxierte die Frau, die im Gang stehen geblieben war und sie beobachtete, wie ein eifersüchtiger Freund. Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog er Keira mit sich.

„So was Aufdringliches! Die versaut uns den Abend“, ereiferte Felix sich im Gehen, „das kann man echt besser machen, wenn man … weißt du? Selbst ich würde … ach, vergiss es!“

Keira wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Raus? Das war keine gute Idee. Wie sollte sie ihm das erklären? Sie fügte sich und folgte Felix die Gasse hinunter. Die Übelkeit war verschwunden und Keira spürte die Trunkenheit, die ihre Glieder weich und warm machte. Beim Gedanken an die Hitze, die in ihren Magen kroch, und an das Risiko, das die Dämonin darstellte, falls sie ihnen folgte, begann Keiras Kraft in ihren Händen aufzulodern. Felix warf einen Blick über seine Schulter. Keira konzentrierte sich darauf, ihre Kräfte unter Kontrolle zu halten.

„Das gibt’s nicht“, schimpfte Felix, „die folgt uns wirklich.“

Keira seufzte und überlegte, wie sie Felix in Sicherheit bringen und mit der Dämonin kurzen Prozess machen konnte. Wenn die Fähigkeiten der Frau von so geringer Reichweite waren, dass Keira sie jetzt kaum noch wahrnahm, dann war ihre dämonische Seite auf ihren Körper konzentriert und damit würde sie zurechtkommen.

„Felix“, sagte sie leise, „du musst mich nicht nach Hause bringen. Du musst da vorne links, oder?“

Felix antwortete nicht, sondern drehte sich zu ihr, grinste und sagte: „Wer sagt, dass wir nach Hause gehen?“

Keira erschrak, als Felix sie festhielt. Er drückte sie mit seinem Körper an die Hauswand, stützte sich mit einer Hand ab und näherte sich ihrem Gesicht, so dass es von Ferne wahrscheinlich aussah, als küsse er sie. Er beugte sich zu ihr herunter, so dass sein Mund an ihrem Ohr war.

„Mal schauen, ob das ausreicht!“, flüsterte er.

Keira konnte Felix nicht weg schieben. Er war zu groß und zu kräftig. Keiras Kraft brannte in ihren Fingerspitzen. Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals. Das war zu viel Nähe und zu viel Risiko. Er wollte sie beschützen? Keira schnaubte. Er war Felix. Was wollte er ihr beweisen? Er drehte seinen Kopf zur Seite. Keira hob ihre glühenden Hände und versuchte Abstand zwischen sich und ihn zu bringen. Er zuckte, reagierte vielleicht auf die Hitze, und hielt trotzdem an Keira fest. Einen Augenblick später flüsterte er: „Schau mal nach links!“

Keira gehorchte. Die Frau, ging, ohne sich umzusehen, die Gasse entlang und verschwand hinter einer Hausecke.

Felix ließ sie los.

„Du bist unmöglich“, warf sie ihm vor und rückte ihren Blazer zurecht.

Unsicher wich Felix ihrem Blick aus und erwiderte: „Jetzt sind wir quitt.“

Keira sah zur Hausecke hinüber, hinter der die Frau verschwunden war. Hatte sie sich den Dämon nur eingebildet?

„My knight in shining armor”, Keira lächelte und gab seiner Schulter einen Stoß, „und jetzt?“

Felix schob die Hände tief in die Taschen seiner Jeans und erwiderte ihr Lächeln.

„Wir ändern unsere Vereinbarung. Private Fragen: Ja. Fummeln: Nein.“

Keira seufzte und schloss die Augen. Ihre Kraft pulsierte noch immer an der Oberfläche. Sie fürchtete, dass das den ganzen Abend anhalten würde.

„Erstens: Vielleicht. Zweitens: Definitiv nein.“

„Vielleicht diskutieren wird das nicht mitten auf der Straße? Ich habe einen Pitcher Guinness an unseren Tisch bestellt. Gehen wir zurück?“

Er hatte das geplant? Keira schüttelte lachend den Kopf und warf einen letzten Blick in die dunkle Gasse. Nichts rührte sich und das seltsame Gefühl war verschwunden. Vielleicht sollte sie wirklich versuchen, sich zu entspannen. Sie stimmte Felix‘ Angebot zu und gemeinsam kehrten sie zurück ins Brauhaus.


~*~


Eine winzige Schweißperle rann an Keiras Schläfe hinab. Es war kein gewöhnlicher Novembertag. Es fühlte sich nach Frühling an und Keiras Feuer fachte die Hitze unter dem Blazer, den sie wie immer zu solchen Terminen trug, unerträglich auf. Die Firma, für die Xavier Lavie arbeitete, kam aus der Medizintechnikbranche und war damit für Bajas Geschäfte gänzlich uninteressant, aber sie brauchten das Geld eines Partners, um ein Projekt im Westen von China realisieren zu können. Baja hatte das Geld und ihr Unternehmen Beziehungen nach Xinjiang, dem Öl-Boom sei Dank, und allem voran wollte Baja an Lavie heran. Das waren genug Gründe, um den Herren ein Angebot zu machen.

Keira hatte darauf bestanden, ihr eigenes Auto zu nehmen, um Bajas Nähe nicht länger ertragen zu müssen als nötig. Nun hatte sie in gebührendem Abstand zum Gebäude geparkt und stand draußen vor dem gläsernen Büroturm und wartete auf Baja.

Es dauerte einige Minuten, bis ein silberner Mercedes mit getönten Scheiben im Fond auf die akkurat gepflasterte Auffahrt fuhr. Keira wusste, was folgte, wusste aber nicht, für welches Publikum außer ihr diese Show bestimmt war. Baja führte dieses Schauspiel in unterschiedlichen Varianten bei allen Terminen auf. Keiras persönlicher Favorit war der Auftritt gemeinsam mit dem Pressesprecher Percival Abidias, der eine milde lächelnde Baja mit lüsternem Blick und angedeutetem Handkuss aus dem Fahrzeug lockte wie eine Prinzessin zu ihrem Krönungsball. Für einen Augenblick war Keira gespannt, was sie geboten bekommen würde. Die Spannung hielt an, bis sich die Beifahrertür öffnete. Ein Mann stieg aus. Schwarzer Anzug und ein blütenweißes Hemd, auf das sich schwarzbrauner Bart hinab kräuselte. Er schob sich mit einer Hand sein widerspenstiges Haar aus dem Gesicht und sah sich um. Mit einem kurzen Nicken begrüßte er Keira, die einen Seufzer herunterschluckte und ebenfalls höflich nickte. Ileas, der jüngste Bruder des Rudels, durchzuckte es ihre Gedanken und damit erstarben gleichzeitig Keiras Hoffnungen auf ein ruhiges Verhandlungsgespräch. Wenn Baja das Rudel mitnahm, hieß das nichts anderes, als dass Baja Lavie körperlich drohen wollte. Nur in die Firma einzusteigen, für die er arbeitete, war wohl nicht mehr genug. Baja wurde nervös und Keira mochte diese Regung in ihr nicht. Es machte Baja unberechenbar.

Ileas öffnete die Tür zum Rücksitz und dem Mercedes entstieg ein weiterer Mann, der ohne weiteres als Ileas‘ Zwilling durchging. Er war breiter und größer, aber sonst unterschied die beiden nicht sehr viel. Nael war das Alphatier des Rudels, und wie erwartet wich Ileas ein wenig zurück als der Anführer sich zu voller Größe aufrichtete und seine Nase für einen Augenblick witternd in die Luft reckte. Er entdeckte Keira, grinste und machte Baja Platz, die sich aus dem Auto helfen ließ. Ihre Augen verbarg sie unter einer dunklen Sonnenbrille mit Pilotengläsern, die es Keira schwer machte, Bajas Stimmung zu lesen. Baja hatte eine dünne Ledermappe wie eine Handtasche unter den Arm geklemmt und ging zu Keira, ohne die Männer weiter zu beachten. Ihr enger, knielanger Rock ließ das kurze Stück vom Auto zu Keira zu einem Laufsteg werden, den Baja bemüht würdevoll in Trippelschritten absolvierte. Sie hielt Keira eine Hand entgegen und verzog ihre Lippen zu einem Lächeln.

Keira seufzte ein weiteres Mal innerlich. Ein Handschlag war gleichzusetzen damit, dass Baja ihre menschliche Seite betonen wollte und das Reden bei den Verhandlungen übernehmen würde. Bajas Hand war kalt. Eiskalt. Keira wusste, dass dies an ihrer eigenen Hitze lag, aber bei Baja hatte dieses Gefühl immer einen bitteren Beigeschmack.

“Das Rudel?”, fragte Keira zur Begrüßung.

Wenn Baja gekonnt hätte, sie hätte sicher gegrinst, doch Keira sah nur ein leichtes Zucken ihrer Mundwinkel.

“Natürlich, wir wollen unseren zukünftigen Partner in all seinen Facetten kennenlernen.”

Keira zögerte, dann schob sie den rechten Ärmel ihres Blazers ein Stück hoch. Sofort flackerte eine kleine Stichflamme auf. Bajas Augenbrauen senkten sich unmerklich, das verhaltene Lächeln verschwand.

“Nicht so übermütig! Sie bekommen noch genug Gelegenheiten für Ihre Zaubertricks”, zischte sie, “kommen Sie, wir wollen die Herren nicht warten lassen!”

Als Baja ihr den Rücken zugedreht hatte und in Begleitung der zwei Männer des Rudels die Stufen zum Eingang hinauf ging, lächelte Keira. Wenn Baja sie zurück an ihre Leine zwang, bestand vielleicht keine Gefahr, dass sie schon heute Lavie gegenüber treten musste. Die Tatsache, dass sie noch immer nicht mehr über ihn wusste, war Grund genug diese Begegnung weiter hinauszuzögern.


~*~


Baja fuhr mit dem Finger den Rand ihrer Aktenmappe entlang. Sie hatte Neid erwartet, schillernd bunten Neid. Gier in all seinen Facetten und Furcht, deren Farben von einer diffusen Bedrohung getränkt waren. Diese Bedrohung hatte sie selbst sein sollen. Und nun? Alles grau, alles nichtssagend und trüb. Ihre Verhandlungspartner fügten sich nahtlos in das triste Grau in Grau des Besprechungsraumes ein. Der Geschäftsführer und zwei weitere Herren, die ihnen seit zwei Stunden gegenübersaßen und sich geduldig ihre Firmenpräsentation angehört hatten, lächelten höflich, bevor der Geschäftsführer sagte: „Ich verstehe dennoch nicht, welches ernsthafte Interesse Sie an unserem Projekt haben könnten. Es geht hier nicht nur um Geld.”

Baja spürte wie es in ihr brodelte. Sie blickte zur Seite, denn dies war für gewöhnlich der Augenblick, in dem Keira sich einschaltete, doch Keira schwieg. Anders als erwartet, schien es dieses Mal kein Trotz zu sein. Keiras Aura flackerte weißlich und Baja konnte sich nicht erklären, was dieses Angstgefühl in Keira ausgelöst haben könnte.

Baja räusperte sich und legte ihre Hände in den Schoß. Ihr Dämon drängte hervor und sie wollte nicht zulassen, dass ihre Natur ihren Plan, diesen Termin mit ihrer Menschlichkeit zu absolvieren, zerstörte.

„Können wir uns einen Augenblick besprechen?”, fragte sie und hielt ihre Stimme in Zaum, die drohte sich zu überschlagen.

„Selbstverständlich. Wir lassen Sie gerne kurz allein. Eine Pause tut uns allen gut.”

Beinahe geräuschlos verließen die Herren den Besprechungsraum und Baja blickte ihnen stumm nach, während ihre Finger wieder Halt an den Kanten der Aktenmappe suchten. Als sich die Tür schloss, stand sie auf und ging langsam zu einem der großen Glasfenster an der gegenüberliegenden Seite des Raums.

„Etwas stimmt hier nicht”, brummte Baja und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Blick glitt hinaus aus dem Fenster und über die kleine Stadt, die man aus der zehnten Etage wunderbar überblicken konnte. Ihr Reich.

Keira antwortete nicht.

„Jemand manipuliert diese Männer. Sie reagieren nicht auf mich. In diesem Gebäude kann der Grund dafür nur Lavie sein.”

Baja drehte sich um und beobachtete, wie Keira sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und durchatmete. Ihre Aura schimmerte leicht rosa und Baja empfand diesen Anblick als äußerst entspannend. Er war wie ein wärmendes Wannenbad für ihre Wut. Auf Keiras Gefühle war noch immer Verlass.

„Und ich dachte, es ging um den Termin, der nicht so gut läuft”, merkte Keira an und ihre Aura flackerte kurz auf.

Baja schnaubte: „Wenn ich Recht habe und er diese Männer so im Griff hat, dann ist es unerheblich wie der Termin läuft.”

„Lassen Sie mich”, begann Keira, doch Baja unterbrach sie schroff: „Nein. Sie inspizieren das Gebäude. Ich will mehr über Lavie wissen. Nael wird sie begleiten. ”

Keira seufzte hörbar und stand auf: „Sind Sie sicher, dass das eine gute Idee ist? Wir müssen nur unsere gewohnte Strategie anwenden.”

Baja schüttelte den Kopf. „Nein. Gehen sie! Nael wird ihn aufspüren, aber ich will nicht, dass sie ihn stellen. Bremsen Sie Nael!”

Für einen Moment blickte Keira ihr in die Augen und aus der fahlen, rosa Aura war funkelndes Rot geworden, ganz ohne dass Baja bewusst ein Fünkchen zu diesem Feuer beigetragen hätte.


Keira nickte und blickte Baja fest in die Augen. Wenn Baja es so sehr wünschte, würde sie mit einem Bluthund durch das Gebäude streifen und Lavie ein wenig Angst einjagen. Wortlos ging sie zur Tür hinaus. Im Flur saßen Nael und sein Bruder an einem kleinen Tisch. Nael blätterte in einer Zeitschrift, während sein Bruder in den Gang starrte. Im Büro nebenan klimperte die Assistentin des Geschäftsführers eifrig über die Tastatur ihres Computers und der Duft von Filterkaffee zog durch den Gang. Nael sah kurz auf und Keira deutete mit einem Kopfnicken in den Flur hinein. Sofort stand er auf und warf seinem Bruder die Zeitschrift in den Schoß. Er ging mit langen Schritten an Keira vorbei. Seine Energie verriet Keira, dass er nur auf seinen Marschbefehl gewartet und längst Witterung aufgenommen hatte.

„Das wird ein Spaß“, murmelte Keira und zwirbelte eine kleine Flamme zwischen Daumen und Zeigefinger hervor.

„Du solltest in meiner Nähe nicht so laut denken“, sagte Nael und drehte sich kurz um, „ich höre mehr als du glaubst.“

Keira schloss zu ihm auf, als sie durch eine Tür in das Treppenhaus eines Notausgangs gingen und die Stufen nach oben nahmen. Von den Wänden bröckelte weiße Farbe. Ein genauerer Blick hätte sicher weitere Baumängel offenbart. Es stank modrig.

„Riechst du auch mehr?“

Kaum zu glauben, bei all dem, was Nael wahrnehmen konnte.

„Dich rieche ich quer durch die Stadt.“ Nael blieb eine Stufe über Keira stehen und beugte sich zu ihr herunter. „Du riechst nach verbranntem Fleisch.“

Keira hob eine Hand, schnippte mit den Fingern und ließ eine Flamme nah an seinen Bart springen. „Du wirst noch froh sein, dass ich in deiner Nähe bin.“

Er grinste. „Vielleicht.“

Sie gingen weiter. Das Treppenhaus schraubte sich in die Höhe. Sie hatten noch einige Etagen Luft nach oben. Es gab keine Markierungen. Keira wusste nicht, wie viele Stockwerke sie durchquert hatten. Sie folgte Nael, der zielstrebig Stufe um Stufe nahm und dabei sogar schneller zu werden schien.

„Hast du ihn?“, versuchte Keira sich zu versichern.

Nael reckte seine Nase in die Luft. „Hmm“, knurrte er, „es ist ein seltsamer Duft. Schweiß und Blut, süßlich wie Marihuana.“

Dabei lächelte er und Keira packte ihn am Arm. Sie drehte ihn zu sich. „Beeinflusst es dich?“

Seine Augen schlossen sich für einen Moment.

„Atme es doch mal!“

Er riss sich los und taumelte gegen die Wand des Treppenhauses. Farbe und Staub bröckelten auf seinen schwarzen Anzug. Keira zögerte. Eigentlich müsste sie zumindest zum Teil gegen die Kräfte des Dämons immun sein. Was auch immer er tat, Menschen und andere Dämonen beeinflusste es sofort, bei Hexen sollte er es schwerer haben. Nael war ein fähiger, aber kein mächtiger Dämon. Keira atmete tief durch. Sie roch nichts als die kalte, muffige Treppenhausluft. Nael lehnte an der Wand und murmelte Unverständliches vor sich hin. Er war völlig frei und doch schien es als presse ihn jemand mit aller Macht gegen die Wand. Mit weit geöffneten Augen starrte er an die Decke. Keira trat zu ihm, packte und schüttelte ihn. Es hatte keine Wirkung auf ihn, er grinste nur breiter.

„So schön, so wunderschön“, murmelte er.

Er sah sie an und legte eine seiner kratzigen Pranken an ihr Gesicht, bevor er sie mit dem anderen Arm an sich zog. Keira wand sich unter seiner Hand weg, deren raue Hornhaut wie ein Reibeisen an ihrer Wange lag. Bevor er Gelegenheit hatte, ihr noch näher zu kommen, entzündete der Schreck Keiras Hände. Sie drückte sich mit beiden Händen von ihm weg und sein Hemd fing dabei Feuer. Nael fauchte und begann hektisch die Flammen auszuschlagen, ohne nur für eine Sekunde mit dem Lächeln aufzuhören. Keira rang nach Luft. Was zum Teufel war das? Lavie? Auf diese Entfernung?

Als Nael mit noch immer glimmendem Kragen zu einer zweiten Umarmung ansetzte, machte Keira erst einen Satz zur Seite, nur um so schnell wie möglich die Treppen nach oben zu hasten. Sie riss die Feuerschutztür auf und rettete sich in einen Büroflur. Sie musste aus dieses Gebäude verlassen, bevor dieses Etwas auch sie beeinflusste. Es musste ein Dämon sein und die Intensität der Kraft ließ auf Lavie schließen. Aber was war das für eine Kraft? Unerheblich, dachte sie und sprintete um die nächste Ecke. Sie sah zwei Mitarbeiter und bremste blitzschnell ihren Lauf. Das Paar beachtete sie nicht. Sie lachten und unterhielten sich. Als Keira auf ihrer Höhe war, sahen sie sich an und küssten sich. Zwei Wimpernschläge später hatte der junge Mann seine Freundin gegen die Flurwand gedrückt und schickte sich an, ihre Bluse aufzuknöpfen. Keira schüttelte den Kopf. Ihr Glück. Keira nutzte den Moment und schlich an dem Paar vorbei ins nächste Treppenhaus. Sie blieb hinter der Tür stehen und zog ihr Handy aus der Hosentasche. Mit ein paar schnellen Fingerbewegungen schrieb sie Baja nur ein Wort: Gefahr. Sie mussten raus aus dem Gebäude. Sie verstaute das Handy und ging weiter. Als sie die ersten Stufen nach unten geschritten war, hörte sie Stimmen.

„Jetzt stell dich nicht so an! Hier sieht uns keiner.“

„Aber … Martin ist so eifersüchtig“, erwiderte eine Frau.

Die männliche Stimme lachte. „Er kann ja mitmachen.“

Die Frau stimmte in sein Lachen ein.

Keira zögerte und trat ans Geländer, um nach unten zu blicken. Ihre Gürtelschnalle klackerte gegen das Metall und die Blicke des Paars, das eine Etage tiefer hinter der Tür stand, richteten sich nach oben. Keira schreckte zurück. Wohin? Sie sah sich um. Ihr blieb zu wenig Zeit für eine vernünftige Entscheidung. Von unten hörte sie ein Knurren, dass sie unangenehm an einen ausgewachsenen Grizzly erinnerte. Ohne einen weiteren Blick nach unten zu werfen, rannte sie die Treppe hinauf. Die Schritte, die ihr folgten, waren keine menschlichen Schritte. Es waren die weichen Tatzen eines Bären mit Krallen, die auf den Betonboden klackerten.

„Feuer! Feuer! Ich brauche Feuer“, fluchte sie und schüttelte im Gehen ihre Hände. Flammen krabbelten an den Fingern ihrer rechten Hand hinauf. Die Angst, von einem ausgewachsenen Bären erschlagen zu werden, genügte, um dem Feuer Nahrung zu geben. Auf einen Nahkampf durfte sie es nicht ankommen lassen. Mit der linken Hand schob sie den Ärmel ihres Blazers hoch. Sie drehte sich kurz um. Sie hatte recht gehört. Ein schwarzbrauner Bär hetzte die Treppen hinauf. Aus seinem schmalen Kiefer ragten Zähne, groß wie ein Unterarm, heraus. Lavie? Keira schüttelte den Kopf. Der Bär war zu plump und sie spürte keine Kraft, die auf sie wirkte. Dieser Bär war nur ein Lakai.

Sie blieb stehen und raffte das Feuer zu einem Ball in ihren Händen zusammen. Sie holte aus und schleuderte ihn dem Dämon entgegen. Die Flammen schlugen zur Decke hoch. Der Dämon heulte auf und taumelte zurück, während sein brennendes Fell knisterte wie Tannennadeln im Feuer. Das Feuer hüllte ihn ein, aber es war nicht heftig genug, um ihn völlig zu verschlingen.

Keira nahm sich keine Zeit für einen erlösenden Todesstoß. Sie wollte nur weg. Sollte er seinem Herrn erzählen, was er gesehen hatte.

In der nächsten Etage riss Keira die Feuerschutztür auf und stolperte in den Flur. Ein Blick nach rechts, ein Blick nach links: Menschenleer. Sie lief weiter. Durch die Flure, an den Büros vorbei. Immer weiter. Es war ein Hochhaus wie jedes andere und trotzdem hatte sie die Orientierung verloren. Es kamen keine Treppenhäuser mehr, nur noch Büros und Keira konnte kein System erkennen. Alles sah gleich aus. War sie schon manipuliert? Gefangen in einem Traum?

Plötzlich hörte sie ein Säuseln, augenblicklich blieb sie stehen und schürte ihr Feuer. Wenn sie den ganzen Laden abfackeln musste, sollte es ebenso sein. Das war genau der Grund, warum sie Kämpfe in Häusern mied. Gebäude waren immer Fallen. Das Säuseln wurde lauter und Keira sah um sich, um den zugehörigen Dämon zu entdecken, bevor er sie entdeckte. Einen Moment später erschienen schwarze Schatten an den Wänden im Flur vor ihr. Sie flossen auf sie zu, sammelten sich am Boden, richteten sich kurz auf, als würden sie nach etwas Ausschau halten, dann flossen sie in die andere Richtung. Baja, schoss es Keira durch den Kopf und folgte ohne zu zögern den Schatten. Sie führten sie durch das Labyrinth an Gängen zu einem weiteren Treppenhaus. Keira rannte, nahm mehrere Stufen auf einmal, so lange bis sie das unterste Stockwerk erreicht hatten. Die Schatten flossen zu einem schmalen Strang zusammen und schlängelten sich an einer Tür hoch. Sie krochen durch das Schlüsselloch und die Tür sprang auf.

Keira lief ins Freie und hörte Reifen quietschen. Sie richtete sich auf und rollte die Ärmel ihres Blazers nach unten, als aus einer Reihe parkender Autos der silberne Mercedes hervorschoss. Er raste auf sie zu, die Rücksitztür flog auf und Keira sprang ohne zu zögern hinein.

Baja saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da und ihre Schatten sammelten sich an ihren Hüften. Sie flossen ineinander und verschmolzen mit Bajas Körper. Baja seufzte, als der letzte Schatten verschwunden war.

„Das nächste Mal machen Sie ihren Dreck selbst weg. Dieser brennende Dämon stank furchterregend“, bemerkte Baja und schob sich die Sonnenbrille in die Haare.

Keira keuchte und sank im kalten Lederpolster zusammen. Sie musste unbedingt mehr trainieren. Etwas mehr Kondition konnte nicht schaden. Sie würde von nun an wahrscheinlich öfter rennen müssen.

„Wo ist Nael?“

„Wo soll er sein?“, fragte Baja zurück, „gefressen, zerfleischt, verbrannt, was auch immer … in jedem Fall tot.“

„Eher an einer Überdosis irgendeiner Droge gestorben.“

„Lavies Kraft?“

Keira zuckte mit den Schultern. „Wenn, könnte ich ihr keinen Namen geben. Nael war komplett zugedröhnt.“

„Er hat viele Brüder. Es ist kein großer Schaden.“

Sie sahen sich an und Keira konnte sehen, dass Baja noch nicht entschieden hatte, ob sie mit dem Ergebnis dieses Tages zufrieden sein sollte.

„Der Termin?“, fragte Keira dennoch. Schlimmer konnte es nicht mehr werden.

Baja richtete ihren Blick nach draußen. „Die Herren hatten auch zu viel von einer Droge. Man nennt sie Idealismus.“ Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Die wollen in China tatsächlich etwas für die Menschen tun und kein Geld verdienen. Können Sie das glauben?“

Keira lächelte und beobachtete Baja, die weiter aus dem Fenster sah. „Nein. Wie kann das sein?“

Baja reagierte nicht und ließ nicht erkennen, ob sie die Ironie bemerkt hatte oder nicht. Keira drehte sich weg und sah ihrerseits aus dem Fenster, bis der Fahrer scharf bremste und neben ihrem Sportwagen hielt.

„Morgen früh will ich Ideen hören, O’Brennan! Ich lasse mir von ein paar Träumern nicht meine Pläne zerstören“, verabschiedete Baja sie. Keira war froh, als sie die Autotür zuschlagen konnte.

Der Mercedes beschleunigte und raste davon. Keira warf einen Blick zurück. Sie konnte nur hoffen, dass Lavie nicht in der Lage war sie aufzuspüren.


Kapitel 2


Jakob hatte sein Examen bestanden. Felix war nach dem Abend im Keller von Jakobs Eltern nicht nach der Gesellschaft von dessen neuen Freunden zumute, aber er wollte trotzdem mit ihm feiern. Und wenn es Felix nicht gelang andere Gesprächspartner als Jakobs neue Musikerkumpel zu finden, würde er einfach lächeln und nicken, egal ob es um Surfwachs oder die Noten von „Smells like teen spirit“ ging.

Sie trafen sich in einer Eckkneipe in der Stadt und es wurde spät. Mit jeder Stunde wich der Sauerstoff etwas mehr dem Nikotin in der Luft. Ein vorbei flatternder Urwaldbewohner hätte Felix nur sehr kurz verwundert. Seine Vorstellungskraft war allerdings nicht groß genug, um aus Zigarettenqualm feuchte Nebelschwaden zu machen und so näherte sich der Abend stetig absoluter Unerträglichkeit. Schweiß perlte von Felix' Hals in den Kragen seines T-Shirts

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Filipa Leemann
Bildmaterialien: Daniele Ferraro, daniele.fotografiert@gmail.com; Typographie: Hanoded Fonts
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7843-3

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Dank gilt Susanne: für's Lehren und Fordern, Daniele: für's Wünsche erfüllen, dem Großen: für's Coverboy sein Doc: Ach, du weißt schon! ... der Familie: für's "sicherer Hafen" sein ;-) und natürlich K, die immer noch nicht weiß, was ich hier eigentlich mache ...

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