Darya drückte sich eng
an die Wand und hielt den Atem an. Nur nicht auffallen, nur nicht entdecken lassen – dann ist alles vorbei!
Schwere Schritte kamen in ihre Richtung, der Kerzenleuchter des hässlichen Mannes warf einen unregelmäßigen Schein. Mit Fingern aus Feuer schien das blakende Licht nach ihr zu greifen.
Die gequälte Brust des Mädchens brannte und war dem Platzen nahe. Vorsichtig öffnete sie den Mund, um ganz flach einzuatmen; doch ihr verräterischer Körper keuchte instinktiv auf, um viel Luft in die Lungen zu pumpen.
Die schweren Schritte erstarben. Hin und her bewegte sich das Licht, suchend, forschend, gefährlich nahe.
Schmerzhaft drückten die Lehmziegel in ihren schmalen Rücken, als Darya sich eng in den Spalt zwischen den beiden Verschlägen drückte.
„Ist da jemand?“, fragte der Mann misstrauisch und kam vorsichtig näher.
Ihr Herz raste so laut, dass sie glaubte, das Hämmern wäre deutlich zu hören. Behutsam atmete sie ein und aus; wie anstrengend es war, lautlos zu verharren! Nichts zu tun, sollte einem Körper am leichtesten fallen – doch Daryas ganzer Leib ächzte unter der Anstrengung, war angespannt wie der Hahn einer Steinschloßpistole und drohte sich jede Sekunde mit einer unwillkürlichen Bewegung zu verraten.
„Was ist los, Jonis?“, rief ein Stallbursche herüber, und der hässliche Mann drehte sich um.
„Hab’ was gehört“, knurrte er.
„Mäuse im Stroh; hab’ vorhin erst einen Rundgang gemacht. Komm rein ins Warme.“
Der alte Jonis rang mit sich; Sturheit wollte ihn widersprechen lassen, und vielleicht verriet ihm ein tief verborgener sechster Sinn, dass noch jemand anwesend war, ganz in der Nähe…
Aber die Wärme der Gesindestube und des dünnen Bieres lockte. Kurz nur währte der Kampf, dann spuckte er aus und wandte sich ab.
Aufgeregt bezähmte die junge Frau ihre Neugierde. Erst als sie eine Tür vernehmlich zuschlagen hörte, streckte sie den blonden Kopf hervor.
Keine Menschenseele zu sehen.
Flink eilte sie über den kleinen Platz und durch das große Tor. Erst als sie um zwei Straßenecken gelaufen war, fühlte sie sich wirklich sicher.
Entkommen.
Wieder einmal entkommen.
D
as junge Mädchen trippelte spielerisch die Schritte einer Courante
, und ihr ausgeblichener Leinenrock flog wild umher. Der Unterricht in Tanz, Haltung, Konversation und vor allem Zurückhaltung, Bescheidenheit und sonstigen weiblichen Tugenden hatte sie verärgert und mit Ungeduld erfüllt. Nun, da sie der Aufsicht ihrer Eltern und der gestrengen Gouvernante entkommen war, bewegten sich ihre Füße wie von selbst.
Pfiffe und Rufe rissen sie aus ihren Gedanken. Eine kleine Gruppe ärmlich gekleideter Männern rief ihr zotige Komplimente zu und streckte die Hände aus, um sie in ein Wirtshaus zu ziehen. Doch Darya, erfahren im Abwehren solcher Avancen, vergalt es mit einem kessen Spruch, wich den greifenden Händen aus und beschleunigte ihre Schritte. Nach wenigen Metern ging sie indes normal weiter. Das war das Geheimnis: schlagfertig, abwehrend und ein bisschen frech – aber nicht zu provozierend.
Zielstrebig suchte sie ihren Weg durch die kleinen schmut- zigen Gassen. Die ärmlicheren Viertel von St. Kitts waren ihr vertrauter als es der Tochter des Mayors gut zu Gesicht stand. Das Schicksal hatte ihr ein solches Los zugeteilt; oft schon hatte sie gedacht, dass sie glücklicher als Kind eines Fischers oder Tagelöhners sei. In diesen Tagen schien es ihr, als läge keine Frau in so engen Fesseln wie sie selbst.
An einer sauberen Hütte trat sie nach kurzem Klopfen ein. Die alte Usa hinkte bekümmert auf sie zu.
„Schönes Mädchen, du hast es dir nicht anders überlegt?“
Schönes Mädchen.
Gewiss, Darya besaß lange blonde Haare, doch weiter hatte die Natur sie nicht begünstigt. Mit ihren Augen, braun wie die Erde, und ihrer Nase, nicht gerade schmal und leicht gebogen, ließ sich kein Staat machen. Ihre kräftige Figur konnte durch kein noch so enges Korsett auf das elfengleiche Schönheitsideal zusammengeschnürt werden: zu breit waren die Schultern, zu rund die Hüften. Dass sie ansonsten mit schlanken Gliedern und makelloser Haut gesegnet war, vermochte den misslungenen Eindruck nicht zu lindern. Mutter Verania, die zweite Ehefrau ihres Vaters, wurde nicht müde, Darya diese Fehler unter die Nase zu reiben, und sie mit ihrer an Masern verstorbenen Tochter Liliana zu vergleichen.
Denn als Töchter der Patrizierschicht waren sie bloße Objekte, mit deren Verheiratung wertvolle politische Bündnisse oder Handelsallianzen geknüpft werden konnten. Erst gestern hatte Darya als Tischdame eines Kaufmannes dienen müssen – „Die Tochter des Magistrats ist zu fein für einen ausländischen Kaufmann, doch eine andere Partie wirst Du kaum machen können"
.
Veranias höhnische Worte hatten sie beinah ebenso empört wie die abschätzenden Blicke des jungen Kaufmannes mit den grauen Augen. Doch beides war nur Ausdruck ihrer ohnmächtigen Wut: ihre ohnehin begrenzte Freiheit neigte sich dem Ende zu. Vor Monaten schon hatte Darya hatte beschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen; erst jetzt mit dem Mut der Verzweiflung setzte sie ihren lange vorbereiteten Plan in die Tat um. Bei ihren verbotenen Streifzügen in die Stadt hatte sie sich mit einfacher Kleidung versehen. Inzwischen verfügte sie über mehrere Röcke und Mieder, ärmliche Unterkleidung, sogar ein Paar Hosen, Schuhe, Stiefel, einfache Bürsten und Haarbänder sowie etwas Proviant. Gegen ein Entgelt hatte die alte Usa sich bereit erklärt, die Sachen zu verwahren.
Darya wusste, dass die mehrfache Urgroßmutter das Geld weiß Gott brauchte; und doch hatte sie den Eindruck, die Alte bedauerte es, dass Darya ihr Versprechen gehalten hatte.
„Bedenke, was du tust“, sagte sie mit schwacher Stimme.
„Nonna Usa, ich habe es bedacht, nächtelang! Und ich bleibe dabei: Nun bestimme einzig ich über mein Leben! Der Hafen bietet mir die Möglichkeit zu entkommen. Ich wollte schon immer sehen, wie England aussieht!“
Übermütig küsste sie die Alte auf die Wange und tänzelte hinaus.
„Möge der Herr dich beschützen“, flüsterte Usa, und eine Träne versickerte in dem Faltennetz ihrer schlaffen Wangen.
I
m Schutze der Dunkelheit beobachtete Darya die ,Kosima', das Schiff, das sie sich am Tage ausgesucht hatte. Es sah hübscher und neuer aus als die anderen Schiffe – und einer der Matrosen hatte vor einem Wirthaus gesagt, dass England das Reiseziel sei.
Obwohl das Deck leergefegt schien, zögerte sie. So kleine Schiffe wurden üblicherweise von Piraten bevorzugt. Am Mast flaggte das Banner der englischen Krone. Unschlüssig verharrte Darya. Sie hatte einst gehört, diese würde nur aufgezogen, wenn sie sich auf einem Raubzug befänden. Und niemand, der seine Sinne beisammen hätte, würde eine Stadt wie St. Kitts angreifen.
Mit diesen Worten hatte ihre Mutter sie früher beruhigt, wenn die kleine Darya vor Angst nicht schlafen konnte. Im Gegensatz zu Verania...
Darya riss sich zusammen. Wenn sie es geschickt anstellte, würde sie morgen keinen Gedanken mehr an "Mutter" Verania verschwenden müssen!
Tagsüber hatte sie Frauen an Bord bemerkt, einige in Kleider gewandet. Vielleicht boten ihr diese auch eine Möglichkeit, während der Fahrt offen in Erscheinung zu treten. Es war doch gewiss unverdächtig, dass nach einem längeren Zwischenstopp der kleine Frauenpulk sich vergrößerte...
Umsichtig schlich sie auf das Schiff und versuchte sich zu orientieren: Unter der Brücke war die Kajüte des Kapitäns, soviel wusste sie. Links schien sich der Eingang zu den Mannschaftsquartieren zu befinden. Vermutlich befanden sich die Quartiere der Frauen in der Nähe; doch schien es nicht klug, sich jetzt schon unter sie zu mischen. War das Schiff erstmal in See gestochen, konnte man Darya schlecht wegschicken. Am besten wäre es sicherlich, erst ein Versteck zwischen der Ladung zu suchen, bis das Schiff abgelegt hatte.
Doch wohin nun, links oder rechts?
Wie die Wahl zwischen Skylla und Charybdis,
seufzte sie in Gedanken.
Als sie sich umwandte, blickte sie in ein vernarbtes Gesicht.
Stocksteif vor Angst konnte sie sich nicht rühren. Denn nun wusste
Darya, dass sie sich auf einem Piratenschiff befand. Nur Piraten trugen solche Narben! Wenn sie die Enterkämpfe überlebten.
Der Mann pfiff durch die Zähne, und drei weitere kamen herbei. Einer sah sogar noch schlimmer aus, mit einem zerstörten blinden Auge, doch die beiden anderen wirkten unversehrt. Hätte Darya sie nicht einem Piratenschiff gesehen, hätte sie diese Männer niemals für Freibeutern gehalten.
"Was machst'n hier?", fragte der Einäugige misstrauisch.
Eine Sekunde zu lange zögerte Darya, und er zog ein langes, gebogenes Messer.
"Ich will nach England", platzte sie unüberlegt heraus. "Bitte nehmt mich mit!"
"Diebin?", erkundigte er mäßig interessiert.
"Was?", fragte Darya verdutzt zurück.
"Warum willst'n weg?"
"Ich... Ähem... Mein Vater hat eine neue Frau, und sie will mich verheiraten."
"Ne Handwerkstochter?", bohrte er beharrlich nach.
Während Darya noch überlegte, ob es gut oder schlecht wäre, wenn sie diese Frage bejahte, öffnete sich die Tür der Kajüte und der Kapitän kam heraus. Er war verblüffend jung, etwas über Durchschnitt groß, kräftig, mit kurzem blondem Haar. Mit einer Fackel leuchtete er in ihr Gesicht, und ihr stockte der Atem.
Nicht wegen seines glatten Gesichtes oder der markanten Attraktivität.
Die eisgrauen Augen, die all ihre Gedanken zu lesen schienen, hatten sie erst gestern Abend angeblickt – am Tisch ihres Vaters, aus dem Gesicht des walisischen Kaufmannes.
"Da will sich jeman' einschleichen, Merfyn", lachte der Narbige, und kniff sie in die Hüfte. "Sollen wir sie mitnehmen?"
Ausdruckslos blickte Merfyn in ihr erschrockenes Gesicht.
"Du solltest lieber die Hand bei dir behalten, wenn du sie nicht verlieren willst, Domnico", gab Merfyn kühl zurück. "Der Mayor wird nicht erfreut sein, wenn seine Tochter sich über Belästigungen beschwert."
"Ouh, sag sowas nich', weißt du nich' mehr, dass ich die Nichte vom Gouverneur von San Pedrogan hatte? Hübsches Ding, mit dunklen wilden Locken, fast so wild wie..."
"Er spinnt wieder 'n Garn; das war nich' die Nichte vom Gouverneur, 's war die Enkelin vom Friedensrichter, un' sie kam wegen mir
zum Schiff..."
"Bisse sicher?", hakte der Einäugige nach, und Merfyn nickte.
"Scheiße." Wütend spuckte er aus und zerrte sie an ihrem Nacken an sich heran. "Warum haste gelog'n?"
Verängstigt starrte Darya auf die Spitze des Dolches.
"Aber, das war die Wahrheit! Ich, hm, hab nur verschwiegen wer mein Vater ist..."
"Hab' schon gemerkt, dass was faul is'. Deine Sprache is' zu fein für die Klamotten."
Nun verstand Darya auch die Bedeutung seiner letzten Frage.
"Bitte, nehmt mich mit!"
Merfyns Augen brannten sich in ihre. "Um dann wegen Entführung angeklagt zu werden? Der einzige Ort, zu dem ich Euch bringe, ist das Haus Eures Vaters!"
"Nein!", schrie Darya unwillkürlich und klammerte sich an die Reling.
"Kommt schon", seufzte der Waliser ungeduldig und griff nach ihrem Arm. Behende rannte sie um den größeren der beiden Masten. Die drei Seeleute beobachteten sie mit einem unangenehmen Glitzern in den Augen und machten Anstalten, sie zu verfolgen. Furcht prickelte in Drayas Gliedern. Da pfiff der Kapitän scharf, und sie hielten inne. Er kratzte sich müßig im Gesicht, dann ruckte er mit dem Kopf, und sie verschwanden.
Dankbar lächelte Darya ihn an; aber sein Gesicht blieb unbeteiligt.
"Ihr schleicht Euch auf mein Schiff und verlangt, dass ich meinen Kopf und den meiner Mannschaft riskiere, einfach so?"
Seine ausdruckslose, unpersönliche Stimme ängstigte sie mehr als jede Gefühlsregung, und die berechtigte Anklage machte ihr ein schlechtes Gewissen. Sie versuchte diese Gefühle mit einer heftigen Erwiderung zu verdrängen.
",Eingeschlichen' – das sagt der Richtige! Ihr habt Euch unter falschen Voraussetzungen Zugang zu meinem Vater verschafft. Nie hätte er Euch an seinen Tisch geladen, wenn er gewusst hätte, dass Ihr kein Kaufmann, sondern ein Pirat seid!"
Graue Augen, wie ein wolkenverhangener stürmischer Himmel, bohrten sich spöttisch in ihre. "Hätte er nicht? – One! Hole mir meine Schatulle aus der Kajüte!"
Und der letzte der Piraten ließ sie alleine. Die perfekte Gelegenheit zur Flucht – doch sie wollte das Schiff ja gar nicht verlassen!
Stier fixierten die grauen Augen sie und hielten ihren Blick, bis das Gewünschte vor ihm stand. Merfyn nahm eine Kette von seinem Hals und öffnete mit dem daran hängenden Schlüssel die Schatulle; ihr entnahm er ein steifes Pergament, schwer von Siegeln, das er ihr mit einer spöttischen Verbeugung überreichte.
Fassungslos entzifferte sie mühsam die geschwungene Kanzleischrift.
"Wie Ihr seht, handle ich auf Befehl von Gouverneur Stapleton. Er verabscheut selbstredend die Piraterie; wenn sich die Übergriffe gegen Spanier und Franzosen richten, billigt er jedoch stillschweigend, dass wir den englischen Warenumlauf beleben. "
"Eigen'lich sin's die Holländer, den'n wir das Fell abzieh'n soll'n", korrigierte ihn der Einäugige feixend.
"Ja, das ist eine Neuerung. Wenn wir genug holländische Schiffe aufbringen, spendiert er uns die nächste Generalüberholung der ,Kosima' und einen Sovereign pro Bord-Mitglied. Ein reichlich schäbiges Angebot; falls ihm nicht der Zufall zu Hilfe kommt, sieht es schlecht aus mit diesem Deal. Doch wenn Stapleton sein Angebot erhöht – und mit seinem Siegel beglaubigt – überlegen wir es uns noch einmal."
Ungläubig starrte sie in sein Gesicht. Seit sie laufen konnte, hatte Darya Schauergeschichten über die gesetzlosen Piraten gehört, die Geißel der Meere, und eine beständige Gefahr für die Küstenstädte. Als Kind hatte sie sich gefürchtet und Angst gehabt, die Piraten würden nachts in ihr Haus einsteigen. Nachdem sie älter geworden war, hatte Darya sie für ihr Rebellentum bewundert. Piraten hielten sich doch nicht an das Gesetz des Königs! Sie waren Freigeister, die nur nach den Regeln lebten, die sie selbst sich gesetzt hatten. Und nun, da sie einem leibhaftigen Piraten gegenüber stand, sagte dieser ihr, dass er ebenso an der langen Leine des englischen Königs tanzte wie ihr Vater, wie Gouverneur Stapleton – wie alle anderen Menschen.
"Dass Ihr Euch nicht schämt von einem englischen Gouverneur Befehle anzunehmen..."
Sein warmer Atem streifte ihre Wange, als er sich zu ihrem Ohr herunterbeugte. "Mein liebes Kind, wir Piraten leben vor allem nach einem Gesetz – nutze jeden Vorteil. Es scheint mir zweckmäßig, die Feinde der Krone zu überfallen; denn unsere Prise wird aus dem englischen Staatsschatz aufgebessert. Wir dürchten nicht den Galgen, denn diese dicken Siegel bieten zu einem gewissen Grad Protektion. Und sollte der Wind sich drehen, sollten wir mit dem Arrangement unzufrieden sein, können wir immer noch englische Schiffe oder Städte überfallen."
Mit einem kurzen Nicken beendete er das Gespräch; empört trat Darya einen Schritt auf ihn zu, da bemerkte sie die Falle, in die sie gegangen war.
Merfyn hatte nur mit ihr geredet, um Zeit zu gewinnen; Zeit für seine Kameraden, unter Deck zu gehen und alles Notwendige zu holen.
Und das Nicken hatte gleichfalls ihnen gegolten.
Der Sack, der über ihren Oberkörper gestülpt wurde, stank nach fauligen Kartoffeln, die Stricke schnitten schmerzhaft in ihre Arme. Doch sie war hilflos der Gnade der Männer ausgeliefert und konnte nicht verhindern, dass ein Pirat sich das verschnürte Bündel über die Schulter warf und vom Schiff trug.
A
ls Merfyn zur Brigg zurückkehrte, wurde von seinem einäugige Maat erwartet.
"Dacht' das dumme Huhn wirklich, se kommt nach England, wenn se sich uff unser'm Schiff versteckt?"
"Wenigstens wissen wir, dass wir uns immer noch darauf verstehen, falsche Informationen über unser Reiseziel auszustreuen", gab er abweisend zurück und zog sich in seine Kabine zurück.
One stopfte gemählich seine Pfeife und ignorierte die schlechte Stimmung seines Kameraden. Im Gegensatz zur Crew wusste er, dass Merfyn der überzählige Sohn eines walisischen Grafen war. Er war in ähnlichen Kreisen wie dieses Mädel aufgewachsen; vielleicht nahm ihn diese Begegnung deshalb so mit.
Erst später begriff der Einäugige, dass Merfyn die kommenden Ereignisse vorausgeahnt hatte.
~ ~ ~
"Schiff Backbord
Ahoi!"
Merfyn schwang sich von der Brücke hinunter und ging zur linken Seite der ,Kosima'.
"'N Dreimaster", knurrte sein Maat und reichte ihm ein Fernrohr. "Is' sicher von uns. Wir sin' ja kaum aus'm Hafen raus."
Ihr Weg führte nach Nord-Osten auf die Paso de los Vientos
, die "Passage der Winde" zwischen Cuba und Haiti; ein einsamer Kurs, der sie über den Atlantik nach Britannien bringen sollte. Zwar hatten sie eine schöne Zahl an Seemeilen hinter sich, doch Port Royal war noch immer verhältnismäßig. Dort war erneut der Piratenrat zusammen getreten; deshalb war das Karibische Meer leer gefegt und die einzigen anderen Schiffe, die ihnen begegnen konnten, mussten Freibeuter sein. Es war ein offenes Geheimnis, dass Port Royal das Zentrum der Piraten war; und durch die ungewöhnliche Ballung an Schiffen mit Totenkopfflagge verbreitete sich auch die Nachricht über die Zeit einer neuen Zusammenkunft wie ein Lauffeuer.
Die Koggen und Fleuten sahen zu, dass sie die Karibischen Inseln großräumig umfuhren oder in den sicheren Häfen liegen blieben.
Früher hatte die Kriegsmarine zu den Waffen geblasen, um die Freibeuter auf dem Rückweg abzufangen; doch seit die Regenten entdeckt hatten, dass sich mithilfe der Piraten die Friedensverträge ohne Konsequenzen brechen ließen, hielten sie ihre Galeonen in sicherer Entfernung von Tortuga.
Merfyn schrie: "Alle Mann an Deck! Waffen bereit!"
One musterte ihn fragend, dann wandte er sich erneut zu dem ankommenden Dreimaster. Die meisten Mitglieder der Mannschaft glaubten, Merfyn habe das ,zweite Gesicht', wie so viele seiner Landsleute; und tatsächlich erwiesen sich seine Ahnungen fast immer als zutreffend. Doch One war der Überzeugung, diese Ahnungen beruhten auf der Kombination von handfesten Tatsachen. Auch diesmal kam der alte Pirat im Nu auf den Grund dieser ,Ahnung': hinter der Paso de los Vientos
befanden sich Hunderte von atlantischen Seemeilen. Kein gutes Jagdgebiet für ein einzelnes Schiff. Dort verkehrten die großen Frachter der East India
und West India Company,
riesige Fernhandelsschiffe, oft flankiert von einem oder mehreren Kriegsschiffen.
Wenn der Dreimaster also nicht gerade lebensmüde war, gab es nur einen Grund, hier zu kreuzen: die ,Kosima' und ihre Besatzung.
Die meisten Piratenschiffe waren Briggs, Schaluppen oder Schoner; Schiffe mit einem oder zwei Masten, die flink und vor allem wendig waren. Zwar waren auch drei Masten ein häufiger Anblick in diesen flachen Gewässern, denn die Bark war der in der Karibik beliebteste Schiffstyp. Doch dieses Schiff hier war ungewöhnlich groß, fasste sicherlich Platz für 20 Kanonen.
Ein so großer Dreimaster aus dunkelbraunem Holz, das konnte nur Merfyns alter ,Freund' Smirk sein. Das schwelende Verhältnis zwischen den beiden Kapitänen als ,höllenschwarz' zu bezeichnen war eine Untertreibung.
"Isset der Hundeficker?", fragte One und spuckte Kautabak über die Reling.
"Möglich."
Merfyn schritt zügig aus und überprüfte die Spieren – die Rundhölzer mit denen die Segel aufgespannt waren – und die Beweglichkeit der Taue. Die Mannschaft hatte dies schon zweimal erledigt, kontrolliert vom Maat; doch als ehemaliger Marineoffizier verspürte Merfyn den Zwang, sich selbst zu vergewissern. Es half ihm seine Gedanken zu klären, bevor er in einen Kampf gezogen wurde.
One zeigte sich gegenüber den an Deck eingetroffenen Piraten mitteilsamer.
"Wenns die ,Black Shark' is', dann tun wir gut, uns nich' auf'm falschen Bein erwisch'n zu lass'n." Er dehnte seine Arme, und Gelenke knackten hörbar. "Nur dieser Hundesohn würd's wagen, uns fas' vor uns'rer Haustür zu überfall'n."
"Hat Smirk wirklich gesagt, er würde Merfyn das Gesicht aufschlitzen..." – "Von einem Ohr bis zum anderen, hab ich gehört" – "So dass man nich' weiß, welchen Spitznamen man ihm geben..." – "Er sagte, er würd' die ,Kosima' von achtern nach vorne..."
"Ruhe, ihr Landratten!", brüllte der Maat. "Bewegt euch un' zeigt, dass ihr die Heuer wert seid! Fertig machen zum Weeeeenden!
"
"Aye-Aye!"
, schallte es aus allen Kehlen zurück.
Das Bezahlen einer Heuer, zusätzlich zu dem Teilen einer Prise, war unter Piraten ungewöhnlich. Neben Merfyn schien das nur Kapitänin Ivania zu praktizieren. Und wieder einmal erwies sich, dass es tatsächlich zu weniger Ärger und vor allem: besserer Zusammenarbeit und höherer Loyalität gegenüber dem Kapitän führte. Da Merfyn in seiner Heimat an einem Kaufmannskontor beteiligt war – in dem die ,Kosima' die Beute ablud und in ehrliches (und somit wertvolleres) Handelsgut verwandelte – hatte er die Rücklagen, um diese Heuer auch in prisenlosen Zeiten zu zahlen.
Heftige Betriebsamkeit brach auf der Brigg aus.
Merfyn hatte seine Runde beendet und gesellte sich zu seinem Maat. "Es ist die ,Black Shark'. Smirk hat wohl mit Jim Sabrehand gesprochen; jetzt wissen wir, warum der sich beim Piratenrat nicht blicken ließ. Er war ein guter Mann." Merfyn bekreuzigte sich. "Ein verlogener, versoffener alter Mistkerl, aber ein anständiger Pirat."
One brüllte: "'S is' die ,Shark'! Passt uff, dass wir immer leeseits stehen – wir sin' nich' scharf auf'n alten Trick mit'm Kalkstaub!"
One prüfte mit dem Daumen die Schärfe seines Entermessers.
"Der alte Johnson is' innem neu'n Versteck?"
"Ich habe keine Ahnung, wovon du redet", sagte Merfyn abweisend und stieg hinauf zur Brücke.
One betrachtete misstrauisch die Shark, die beständig den Kurs wechselte und mit dem Wind zu ihnen kreuzte. Das hatte auf keinen Fall etwas Gutes zu bedeuten.
Schließlich
musste die ,Kosima' sich ihrem Feind stellen: die ,Shark' kreuzte beständig vor ihnen und nahm mit dem riesigen Rah-Segel den Wind. Immerhin standen sie ihr mit der windabgewandten Seite entgegen, ganz wie der Maat befohlen hatte.
"Ahoi, Käpt'n Marmorgesicht!", brüllte Big Smirk.
Schon als Jüngling musste der Mann von überwältigender Hässlichkeit gewesen sein, und das Messer, das am Werk gewesen war, hatte den Zustand nicht verbessert. Die breiten Narben auf den Wangen hatten ihm den Spitznamen ,Big Smirk', breites Grinsen,
eingebracht, und ließen ihn wie einen Dämon aus den Höllenregionen wirken.
"Was willst du, Smirk?", rief Merfyn zurück.
"Ich hab' läuten gehört, du weißt, wo ich Rob Johnson finden kann", brüllte Big Smirk zurück. "Ich will mich mal dringend mit ihm unterhalten! Also möchte ich dir einen Tausch vorschlagen."
"Das wäre?"
Smirk grinste sardonisch.
"Dein Leben, deine armselige Schaluppe und deine Mannschaft. Sagst du's mir nicht, kaper ich dein Schiff."
Merfyn verständigte sich mit einigen unauffälligen Handzeichen mit seinem Maat. "Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Und selbst wenn ich es wüsste – woher auch immer ich diese Information haben sollte – würde ich sie dir doch nie im Leben geben. Also warum warnst du mich?"
One nickte, und während Merfyn sprach, gab er die Handsignale ebenso unauffällig an die Mannschaft weiter. Das gefiel ihm nicht; die ,Kosima' hatte 65 Mann, die ,Shark' dagegen eine Besatzung von ungefähr 100. Zahlenmäßig war Smirk fast 2:1 überlegen.
Der alte Pirat hatte schon öfters die Feindseligkeiten zwischen zwei Kapitänen erlebt, und diese schmeckte bitter: Eines Tages würde es zum entscheidenden Kampf zwischen Smirk und Merfyn kommen. One hoffte nur, dass es zu Merfyns Bedingungen geschehen würde.
Dass es nicht der heutige Tag wäre, an dem sie so unterlegen waren.
"Was führst du im Schilde?", rief Merfyn gerade.
"Ich hab' nicht nur euer Leben zum Tausch anzubieten", Smirk trat zur Seite. "Sie ist mit der Zeit ganz schön langweilig geworden."
Auf dem Deck lag, von einem Lumpenbündel kaum zu unterscheiden, eine zusammengesunkene Gestalt; das zerschlissene Kleid identifizierte sie als Frau. Ihr langes blondes Haar musste einmal schön gewesen sein, bevor es so verdreckt und verfilzt war.
One bemerkte Merfyns Erstarrung – auch Kapitänin Ivania hatte blonde Haare – und mischte sich hastig in die Verhandlungen ein. "Un' - was bedeutet uns schon 'ne fremde Frau?", gab er zurück; und hoffte, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte; dass es nicht Ivania sei.
"Ich hab' läuten gehört, ihr habt ein Briefchen von Gouverneur Stapleton", gab Smirk zurück. "Und St. Kitts gehört doch dazu? Sicher wäre der Mayor erfreut, wenn er seine Tochter zurückbekäme."
Smirk riss an den Haaren der Frau, und die ,Kosima' sah das Gesicht eines jungen Mädchens. Als er losließ, fiel ihr Kopf haltlos wie bei einer Puppe zur Seite, und das gebogene Adlerprofil ihrer Nase wies sie als die Kleine aus, die sich vor einigen Monaten auf die ,Kosima' schleichen wollte.
Ausdruckslos starrte Merfyn auf das Schiff, die Augen blicklos, während er mit seinen Gefühlen kämpfte. Nichts war übrig von dem stolzen Mädchen, das ihm am Tisch ihres Vaters widersprochen hatte, und rein gar nichts von dem Übermut, der sie verkleidet in die ärmlichen Hafenviertel getrieben hatte. Wie ein Leichnam lag sie reglos auf Deck.
Merfyns Männer waren fast ausnahmslos Verbrecher; in ihrer Heimat verstoßen wegen Bruch des Heiratsversprechens, Unterschriftenfälschung, Falschmünzerei. Verurteilt wegen Diebstahl, Raub oder Mord. Betrüger, Deserteure, Halsabschneider. Doch die vollkommene Zerstörung eines so jungen Menschen, der gerade erst die Schwelle der Kindheit verlassen hatte, versetzte die hartgesottenen Männer in masslose Wut.
Lähmende Wut.
"Dafür werde ich Dich töten, Smirk!", fauchte Merfyn wie ein wütender Fuchs und zog seinen langen Säbel.
Smirk stöhnte heftig auf, als sich ein Handbeil tief in seine Seite grub. Mit einem schmatzenden Geräusch, das in der Stille sehr laut wirkte, löste es sich aus seinem Fleisch. Um dann in seinem Hals niederzufahren.
Das Blut spritzte weit auf die erstarrte Mannschaft der ,Shark', die nun – führerlos – in Handlungsunfähigkeit erstarrt war.
Als sein Körper zu Boden sank, gab er den Blick frei auf die zierliche Gestalt der jungen Frau, die auf ihren Knien hockte.
"D
afür werde ich dich töten, Smirk!", schrie eine Stimme und schnitt wie ein Messer durch den Nebel.
Die junge Frau, die einmal Darya gewesen war, hob den Kopf und nahm zum ersten Mal seit langer Zeit ihre Umgebung wahr.
Smirk stand neben dem Mast seines Schiffes, breitbeinig, triumphierend. Wie die Glieder eines Fächers hatten seine Männer sich neben ihm aufgereiht, jeder Zoll strahlte Selbstbewusstsein und prahlerische Überlegen- heit aus. Und niemand beachtete sie; zum ersten Mal seit ihrer Gefangen- nahme gab es keine wachsamen Augen, die auf ihr ruhten. Das Blitzen einer Klinge, von der gleißenden Mittagssonne reflektiert, zog ihren Blick an. Der dürre Toni hatte wie immer sein Handbeil im Gürtel stecken, halb auf seinem breiten Arsch.
Sie blickte erneut zu Smirk, der noch immer neben dem Fockmast war: selbstgefällig, unachtsam, schutzlos.
Hastig sprang sie auf, zog mit einer geschmeidigen Bewegung das Handbeil aus Tonis Gürtel und schlug mit aller Kraft zu.
Nach ihrer Gefangenschaft hatte sie unzählige Male geplant, wohin sie zielen müsste, wenn sie eine Waffe in die Hand bekäme. Doch mit den Wochen, die vergingen, hatte Gleichgültigkeit von ihr Besitz ergriffen.
Tief grub sich das Beil in Smirks Fleisch, und Darya fühlte sich so lebendig wie nie zuvor. Sie zog an dem Griff; zuerst wollte sein Fleisch die Klinge nicht loslassen, wie zwei ineinander verschlungene Liebende, die endlich zueinander gefunden hatten.
Doch schließlich gab sie mit einem Schmatzen nach und fuhr zurück. Hunderte kleiner Blutstropfen markierten den Bogen, den die Klinge beschrieb, als Darya ausholte und die Waffe in den Hals ihres Peinigers senkte. Glatt fuhr sie durch, bis sie auf Widerstand stieß.
Darya zog und zerrte, doch das Beil ließ sich nicht aus seinem neuen Bett trennen. Hartnäckig setzte Darya ihre ganze Kraft ein, unberührt von dem Tumult um sie herum.
D
er Maat der ,Kosima' löste sich als erster aus der Schockstarre und begriff, welchen Vorteil ihm dies brachte.
Smirk tot, durch eine Hand, die ihm nie eine Gefahr bedeutet hatte – One musste nur noch den Maat der ,Shark' erledigen, dann wären alle Köpfe des Ungeheuers abgeschlagen. Das Chaos wäre komplett. Und die Mannschaft der ,Kosima' hätte eine Chance zu überleben – ebenso wie Ben Jones, der als Einziger wusste, wo der Pirat Sam Longnose seine Beute beiseite geschafft hatte. Der einen alten Gefallen bei Merfyn eingelöst hatte und an einem Ort versteckt war, der nur dem Waliser bekannt war.
One riss zwei große Äxte von seinem Gürtel und sprang mit seinem üblichen Kampfgeschrei auf den Lippen über die Reling der ,Shark': "Man nennt mich ,One Fortune'
, denn 's is'n Glück für den Feind, dass ich ihn nur noch mit ei'm Auge seh'n kann!"
Mit einem gewaltigen Satz sprang er und balancierte auf der Wand des Dreimasters. Der Kopf von Mad Molly, dem Maat vom Smirk, polterte dumpf, als er auf dem Deck aufschlug.
Nur wenige Sekunden später folgten die übrigen Piraten, und schlugen wie Berserker auf die gelähmte Mannschaft der ,Shark' ein.
A
ls sie in einem anderen Winkel zog, löste sich die Klinge von dem Spalt zwischen den beiden Wirbeln, und Darya hielt ihre Waffe wieder in den Händen.
Sie wandte sich um und blickte in ein wettergegerbtes Gesicht mit einer wohlvertrauten Narbe an der Schläfe – zu oft war sie gezwungen gewesen, sie aus großer Nähe anzustarren. Wie in einem Traum hob sie ihr Beil und ließ es mit lautem Schmatzen in das Kleiderbündel fahren.
Das ganze Deck war von diesem Lumpenbündeln bedeckt; mit der wilden Freude eines Kindes an der Zerstörung hackte sie auf sie ein. Ganze Fontänen roten Wassers ergossen sich über sie, und wärmten ihre Knochen, die seit der Flucht aus St. Kitts in bodenloser Kälte erstarrt waren.
Schließlich trat One
hervor und nahm dem Mädchen die Waffe, mit der sie die Leichen verstümmelte, aus den Händen. Über und über war sie mit Blut besudelt und sah aus wie eine Metzgerin.
Sie zuckte zusammen, als sie die Berührung seiner großen rauen Hände spürte.
"Pschhhhht", murmelte er ungeschickt und versuchte sich zu erinnern, wie er seine kleine Tochter getröstet hatte - früher, in einem anderen Leben.
"Shhhh-shhhhhh-shhhhhhhh, alles ist gut, meine Kleine, du bist in Sicherheit..."
Erleichtert registrierte er, dass ihr angespannter Körper erschlaffte und ihr Kopf gegen seine Brust sank. Ihr langes Haar verdeckte die Augen, die wie zwei tote Kiesel in ihrem bleichen Gesicht saßen. Nur zu gern ließ er sich die Kleine von Sara, einer der Frauen von der ,Kosima', aus den Armen nehmen.
Dann wandte er sich zu dem Dreimaster. Solide gebaut und mit 22 Kanonen, war das Schiff alleine eine gewaltige Prise. Ganz zu schweigen von den Waffen, persönlichen Besitztümern und eventueller Ladung. Und doch verspürte er den drängenden Wunsch, diesen Ort in Tausende von Stücken zu zerschlagen – nun, da die Männer schon tot waren, viel zu schnell für das, was sie getan hatten.
Jeder braucht etwas, auf das er herabsehen kann. Für die Männer der ,Kosima' war jeder Mann, der ein Kind vergewaltigte, übelster Abschaum. Und die junge Darya mit ihrem übersprudelnden Tatendrang und ihrer unschuldigen Naivität hatte in ihren Augen die unbefleckte Seele eines Kindes.
Doch sie waren Piraten; und sie nahmen jeden Vorteil wahr. Also warfen sie die Leichen über Bord und zwangen ihre schaudernden Frauen und Schiffsjungen, das blutige Deck zu säubern, bevor sie es an der ,Kosima' vertäuten.
"Raus mit dir!"
Mit flammendem Blick verstellte Samira ihrem Kapitän den Weg in seine eigene Kajüte. "Ein Mann
ist das Letzte, was wir hier gebrauchen können!" Sie spuckte voller Abscheu auf den Boden.
"Ich kenne sie", beharrte Merfyn und schaffte es mit geradezu hypnotischer Überredungskunst, sich an ihr vorbeizuschieben, hinein zu ihrem Schützling.
Die Frauen hatten, unterstützt von den beiden Piratinnen Zora und Telovia, das Mädchen entkleidet und das Blut abgewaschen. Doch der süßliche Geruch, der in der Luft stand, ließ ihn würgen.
Mit großem Staunen hörten sie, wie ihr Kapitän nach den kostbaren Duftstoffen schicken ließ, die sie in der Ladung verstauten, und einige Unzen davon in die Lampen krümelte. Schwere orientalische Düfte überlagerten bald den metallischen Geruch.
Wider Erwarten reagierte das Mädchen nicht negativ auf das Erscheinen eines großen Mannes.
Sie reagierte überhaupt nicht.
Merfyn überzeugte die Frauen, ihn mit Darya alleine zu lassen, und sprach fast zwei Stunden lang auf sie ein.
"Antworte doch", flehte Merfyn schließlich verzweifelt.
"Ich fahre dich nach England. Ich verspreche es dir! Ich bringe dich nach London oder Oxford, oder Schottland, wohin du willst! Wenn du nur ein Wort sagst... Wenn du sagst, was du möchtest."
Darya zuckte mit keiner Wimper und kauerte leblos in dem Stuhl. Wie eine Marionette hatte sie sich zuvor bewegt – hob den Arm, wenn Sara sie ankleidete, öffnete den Mund, wenn Telovia ihr einen Löffel mit Essen an die Lippen schob – doch aus eigenem Antrieb regte sie sich nicht.
Schließlich musste der sture Waliser der bitteren Wahrheit ins Auge blicken: dass sie nie wieder ein Wort sprechen würde.
Erschöpft sackte er über dem Tisch zusammen.
Wo sie sich jetzt befinden mag... Vielleicht ist sie in ihrem Geiste endlich in England. Vielleicht ist sie bei ihrer verstorbenen Mutter, und lässt sich von ihr die Tränen trocknen, die sie hier nicht mehr vergießen kann.
Vielleicht tanzt sie an einem einsamen Strand unter einem sternenklaren Himmel...
Merfyn wusste nur, wo sie nicht
war.
Schon vor der Befreiung durch die ,Kosima' hatte das junge Mädchen einen Weg zur Flucht vor ihren Entführern gefunden.
Ihre Seele befand sich nun an einem Ort, an dem ihr nichts Böses mehr geschehen konnte.
Aller Unbill und Pein des Lebens für immer entkommen.
Nachwort
Neben den bekannten Freibeuter-Briefen sind auch die Piraten-Räte und eine Art schiffsinterner Moralkodex historisch gesichert. Von dem Kapitän Black Barty (Bartholomew Roberts) ist beispielsweise bekannt, dass er das Trinken unter Deck sowie das Würfel- und Kartenspiel und Wetten um Geld mit dem Tod ahndete. Auch war hinzurichten, wer an Land über zukünftige Unternehmungen oder das Reiseziel sprach.
Frauen an Bord wurden mitnichten per se als unglücksbringend angesehen; unglückverheißend waren vielmehr die Streitereien, falls es mehr Männer als Frauen gibt. Piratinnen sind historisch verbürgt. Einige waren Kapitäne.
Die kontinentalen Nationen England, Frankreich, Niederlande etc. benutzten tatsächlich die Piraten, um auf dem Landweg beendete Kriege unter der Hand weiterzuführen.
Der Maat - üblicherweise als der zweitniedrigste Rang der Schiffshierarchie bekannt geworden - hatte im Piratenmilieu eine andere Bedeutung. Hier bezeichnete das Wort eine hohe Stellung, die teils auch als Gegengewicht der Kapitänsgewalt diente.
Die Vorform der Betriebsräte ;-)
(Quelle: Robert Bohn: "Die Piraten", München 2005, S. 111 - 112)
Kampf:
Der Kampf mit Kanonenkugeln fand zwischen Piraten selten statt, da die Schussposition das eigene Schiff ebenso verletzlich machte.
Es war eine sehr beliebte Taktik, das Schiff mit dem Wind seinem Opfer entgegen zu stellen. Kalkstaub, der ausgestreut wurde, konnte ihnen so in den Augen brennen und die Sicht nehmen.
Piraten kämpften fast ausschließlich im Nahkampf/Enterkampf.
Der schon erwähnte Black Barty verbot darum bei Todesstrafe das Kämpfen an Deck seines Schiffes; hatten Mitglieder der Crew einen Streit, mussten sie dies an Land in einem Duell ausfechten.
Auch Kaufleute, die bei der Begegnung mit schwächeren Handels-Schiffen urplötzlich zu Plünderern wurden, sind verbürgt.
So kam mir die Idee, das Szenario andersherum aufzuziehen: ein Pirat, der ein Doppelleben führt und in seiner Heimatstadt als unbescholtener Kaufmann gilt.
Über den walisischen Merfyn gibt es inzwischen 3 ebooks, das vierte ist in Vorbereitung.
Texte: © des Textes: Meara Finnegan, Köln, 2011© des Covers: Yolana
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Yolana
Mit herzlichem Dank für 2 geniale Buchcover