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Mr. Jones

  1. Prolog:

Mein Blick schweifte über die gegenüberliegende Straßenseite und die sich dort befindende Fensterfront.

Ich scannte den Asphalt zu beiden Seiten der Straße, dann die schmutzige Glasfläche, nur um dann enttäuscht zu sein. Wie so oft.

Immer wieder nahm ich mir vor es nicht zu tun, nicht ständig dorthin zu sehen, nicht immer zu suchen und zu hoffen, aber es gelang mir einfach nicht.

Manchmal sah ich ihn dort, hinter der eigentlich zu stark reflektierenden Fensterscheibe, und jedes Mal hörte mein Herz dann für einige Sekunden auf zu schlagen.

Ich sah eigentlich nicht ihn, nur einen Schatten, den ich für ihn hielt, aber das alleine reichte schon.

Zu wissen, dass er dort drüben seiner Arbeit nachging, beruhigte mich, zu wissen, dass es ihm gut ging, war alles, was ich brauchte.

Für mehr würde es für jemanden wie mich eben nicht reichen, mehr konnte ich nicht erwarten. Näher als jetzt war ich ihm nie gekommen, würde es vermutlich auch nicht, und sicherlich wusste er nicht mal, dass ich überhaupt existierte.

Dass es mir je so ergehen würde, daran hatte ich nie geglaubt. Ich war nicht so, ich schmachtete nicht, und vor allem beobachtete ich keine fremden Männer, deren Leben eindeutig außerhalb meines Dunstkreises lagen.

Ich war mir meines Lebens und meinem Stand in der Gesellschaft mehr als bewusst, immerhin hatte ich mehr als dreißig Jahre Zeit gehabt, mir darüber klar zu werden, und hatte schon vor sehr langer Zeit eingesehen, dass Männer in Anzügen niemals mit Frauen wie mir ausgehen würden.

Er war mein Geheimnis, meine nie endende Suche, und tatsächlich verging kein einziger Tag, an dem ich nicht an ihn dachte.

Manchmal, an den einsamen Wochenenden, dachte ich darüber nach, trotzdem die Straße entlang zu gehen, um meine Suche nicht zu durchbrechen.

Auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering war, so konnte er auch an den Sonntagen vielleicht hier sein, und nur der letzte Funken Stolz hielt mich davon ab, die Straße auch an diesen Tagen entlangzuwandern, nur um ihn für Sekunden zu sehen.

Der letzte Funken Stolz, der verschwindend gering noch in mir schlummerte, sagte jedoch etwas anderes. Er hielt mich ab, versicherte mir, dass jemand wie er weit außerhalb meiner Möglichkeiten war, und ich mich mit all dem einfach nur lächerlich machte.

Warum ich ihn trotzdem suchte, trotzdem jeden Tag aus dem Fenster hinaus nach ihm Ausschau hielt, darüber sprach ich nicht.

Nie hatte ich mich mit einer meiner Kolleginnen darüber gesprochen, nie mit einer meiner Freundinnen. Zu dumm schien mir meine Hoffnung, er würde mich vielleicht irgendwann entdecken und mir zuwinken, zu abwegig der Gedanke, er könnte sich vielleicht geschmeichelt fühlen.

Männer die waren wie er, die trafen Frauen, die anders waren.

Frauen in Kleidern, mit perfekten Proportionen und guten Manieren. Sicher würden sie gebildet sein, sich sicher in der Welt dort draußen bewegen, und vermutlich würden sie nicht, wie ich es tat, am Ende des Monats von Nudeln mit Tomatensoße leben.

All die Lieder über Liebe, über Verlust und Begehren, über Herzschmerz und Sehnsucht, ich hatte sie nie verstanden. All die vielen Worte über dunkle Nächte, farblose Tage und die ewige Suche, es war mir immer unsinnig und wenig nachvollziehbar vorgekommen.

Erst nachdem ich ihn gesehen hatte, oder zumindest das, was ich zu sehen geglaubt hatte, bildete sich in mir eine Ahnung von all dem.

Egal was ich tat, ich dachte an ihn, und sah mich in jeder freien Minute nach ihm um. Egal wie trist meine Tage waren, sobald er auftauchte, fühlte ich mich besser.

Immer war es, als würde die Sonne aufgehen, als würde ich aus einem tiefen Schlaf erwachen, und kaum war er in meinem Sichtfeld aufgetaucht, strahlte das Licht eindeutig heller.

An Tagen an denen ich ihn nicht sah, oder an den Wochenenden, fühlte ich mich leer.

Alles, obwohl ich ihn weder je wirklich getroffen, geschweige denn ein Wort mit ihm gewechselt hatte.

Der bloße Anblick seiner Gestalt, seiner Andersartigkeit, hatte etwas mit mir gemacht. Von der ersten Sekunde an, hatte ich eine Verbindung gespürt, die mir bei praktisch allen anderen Menschen fehlte.

Ich war nicht so, ich suchte nicht danach, und doch hatte er sie geknüpft, ohne dass er sich darüber bewusst war. Schon nach dem ersten Blick auf ihn, hatte ich sie gespürt.

Er war mir nah gewesen, als würde mich ein unsichtbares Band zu ihm ziehen, und erschrocken hatte ich inne gehalten.

Ich musste wahnsinnig sein. Wahnsinnig, oder extrem verzweifelt.

Vielleicht aber auch eine Mischung aus beidem, oder die Antwort war sehr viel einfacher: Vielleicht war er mein Schicksal, aber ich nicht seins.

 

  1. Kapitel 1:

Das erste Mal hatte ich ihn vor über einem Jahr gesehen, an einem regnerischen Tag ohne Sonne, schon damals hatte mein Atem ausgesetzt, und ich hatte meinen Blick nicht von ihm nehmen können.

Eigentlich war ich nicht der Typ für so überschwängliche Gefühlsregungen, nicht mal für Schmachtereien, aber ich hatte einfach nichts dagegen tun können.

Es fühlte sich an, als ob ein winziger Teil von mir schon immer auf diese Begegnung gewartet hätte, und als hätte ich einfach vorher nie einen Grund gehabt, so zu empfinden.

Ein wenig schien es, als hätte ich einen Teil des fehlenden Puzzles meines Lebens gefunden, von dem ich nicht mal gewusst hatte, dass es existierte.

Erschrocken über mich selbst hatte ich nach meinem Brustkorb gegriffen, als würde ich den drohenenden Herzinfarkt fürchten, aber alles, was ich unter der heißen Haut spüren konnte, war, das mein Puls raste.

Gebannt hatte ich ihn beobachtet, jede seiner Bewegungen in meinem Gehirn abgespeichert, und war mir schon damals sicher gewesen, dass mir das kein zweites Mal passieren würde.

Nie und nimmer konnte man mehr als einmal jemanden treffen, der eine solch starke Wirkung auf einen hatte.

 

Erst wenige Tage hatte ich in dem etwas heruntergekommenen Friseurladen gearbeitet, ich war so froh gewesen, endlich wieder einen Job zu haben, und voller Freude hatte ich an diesem Tag einer Reihe älterer Damen Dauerwellen gemacht.

Das ich mich je darüber freuen würde Dauerwellen zu machen, damit hatte ich nie gerechnet, aber nach Monaten der Arbeitslosigkeit, hatte mir selbst das Spaß gemacht.

Ich hatte nette Kolleginnen, endlich wieder ein festes Einkommen, und die Sicherheit, dass ich in meiner kleinen Wohnung würde bleiben können.

Lange Zeit hatte es anders ausgesehen, es gab einfach keine Arbeit in dem winzigen Ort, und ich hatte mich mehr oder minder mit dem Gedanken angefreundet, dass auch ich in eine größere Stadt würde ziehen müssen.

Vielen hier war es ähnlich gegangen, die Straßenzüge wurden immer leerer, und die Anzahl der leeren Geschäftsräume war höher, als die der vorhandenen.

Die wenigen die noch überlebt hatten, der Zeitungsladen und ein Bäcker, standen kurz von der Rente. Niemand würde die Geschäfte übernehmen, niemand würde die Tradition weiter führen.

Übel nehmen konnte man es niemanden, immerhin lebte auch der Bäcker nicht von der Hand in dem Mund, und anstatt sich das Groschengrab am Ende der Straße ans Bein zu binden, hatte der Sohn des Bäckers eine Bänkerlehre begonnen.

Überall in den kleinen Städten war es so, und auch hier war der Verfall der Innenstädte deutlich zu spüren. Wer die Möglichkeit hatte, verschwand von hier, und immer weniger junge Leute blieben, aus Angst, sie würden den Absprung später nicht mehr schaffen.

Auch ich hatte mit dem Gedanken gespielt, schon nach Monat zwei meiner Arbeitslosigkeit, und ich hatte Bewerbungen an jeden nur halbwegs erreichbaren Ort versendet.

Viele meiner Bekannten hatte das Gleiche getan, hatten versucht, an einem andern Ort Fuß zu fassen, nur mich hatte es eigentlich nie in die Ferne gezogen.

Eigentlich wollte ich nie fort, dass hier war meine Heimat und mein Umfeld, und die nächste größere Stadt, würde mir als Lebensmittelpunkt sicher nicht gefallen.

Ich war ein Dorfmädchen, herangewachsen zu einer Dorffrau, und daran würde auch ein Umzug vermutlich nichts ändern. Man war, was man eben war, und jeder würde merken, dass die große Stadt für jemanden wie mich nicht gemacht war.

Große Gebäude und mehrspurige Straßen waren nichts für mich, und eigentlich machte es mir auch Angst.

Trotzdem hatte ich es in Erwägung gezogen, mich damit auseinandergesetzt, und am Ende hatte der Zufall mich praktisch in letzter Sekunde erreicht.

Das Angebot des Salons hatte mich gerettet, nicht nur wegen des bevorstehenden Umzugs, sondern auch, weil ich den Glauben an mich selbst und meine Fähigkeiten schon fast aufgegeben hatte. Frisörinnen gab es wie Sand am Meer, ich war nur eine von vielen und nichts Besonderes, und am Ende gab es wirklich keinen Grund, gerade mich einzustellen.

Auch der Salon im fünf Kilometer entfernten Nebenort, in dem ich nach meiner Lehre gearbeitet hatte, war alles andere als ein moderner Laden gewesen. Ländlich wie wir lebten, war für moderne Schnitte und Färbemittel einfach kein Bedarf vorhanden gewesen, und auch das sprach nicht für meine Fähigkeiten. In einem modernen Laden in einer großen Stadt, wäre ich damit nicht wirklich weiter gekommen, und für Fortbildungen fehlte mir eindeutig das Kleingeld.

Erdig und einfach wie die Menschen hier eben waren, hatte ich Frisuren geschnitten, die schon die Damen vor mir über Jahre hinweg genauso empfohlen hatten. Niemand hier wollte auffallen, keiner aus der Masse herausstechen, und selbst ein blondgefärbter Schopf, galt fast schon als Extravaganz.

Gekannt hatte ich es nie anders, und eigentlich hatte ich mich damit abgefunden.

So hatte ich ausgeharrt, gehofft, und am Ende war auch mein alter Arbeitsplatz dem Fortschritt gewichen. In dem Moment, in dem in einem der großen Kaufhäuser der Umgebung, einer dieser Läden eröffnet hatte, in denen jeder Schnitt nur 12 Euro kostete, war es mit uns bergab gegangen, und am Ende hatte meine Chefin den Laden schließen müssen, weil sie einfach nicht mehr von den Einnahmen leben konnte.

Wir saßen hier irgendwo im nirgendwo, nicht weit genug von der nächsten größeren Stadt, um uns nicht zu schaden, aber weit genug weg, um vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein.

Das Ganze war ein Kreislauf, den man nicht aufhalten konnte, und deren Abwärtsspirale sich unaufhörlich drehte. Die fehlenden Arbeitsplätze führten zu Abwanderung und dazu, dass die Leute außerhalb arbeiteten. Also kauften sie auch außerhalb, und sie hielten auf dem Heimweg bei den großen Kaufhäusern, deren Preise jenseits von denen eines kleinen Ladens lagen.

Also blieben als Kunden für die hiesigen Geschäfte nur die älteren Leute, die früher oder später wegsterben würden.

So makaber es klang, so war doch völlig klar, dass sie nach und nach auch noch den letzten Laden würden schließen müssen.

Dass ich nun diese Stelle bekommen hatte, weil eine andere Dame in Rente gegangen war, hatte sich als echter Glücksgriff herausgestellt. Ich konnte hierbleiben, in meinem gewohnten Umfeld und in der Nähe meiner Freunde, und dafür nahm ich Lockenwickler und Dauerwellen nur all zu gerne in Kauf.

 

Im Grunde war es auch gar nicht so schlecht, immerhin kannte ich die meisten der Kunden schon lange, und von Stress oder Hektik konnte nun wirklich nicht die Rede sein.

Ich verdiente zwar nicht viel und meine Tage waren oft lang, aber am Ende zählte für mich nur eins: Ich hatte einen Job, ein Dach über dem Kopf, und sicher würde ich kein Magengeschwür wegen zu viel Stress bekommen.

Bei uns tickten die Uhren noch anders, die Leute nahmen sich noch Zeit, und für die meisten war ein Besuch beim Frisör ein besonderes Erlebnis. Nicht wie dort draußen in den großen Städten, wo die Sekunden unaufhörlich schneller tickten.

Hier galt es nicht, den Schnitt möglichst schnell zu beenden, es ging darum, ein Erlebnis daraus zu machen.

Wie lange mein Glück andauern würde, daran dachte ich lieber nicht, denn auch meine neue Chefin stand praktisch selbst schon vor dem heißersehnten Rentenalter. Ein paar Jahre noch, und sie würde vermutlich ebenso die Türe schließen, aber vorerst gab ich mich damit zufrieden, dass ich zumindest bis zu diesem Tag in Sicherheit war.

 

So hatte ich eben auch an diesem Tag an meinem Platz in der Nähe des Schaufensters gestanden und hatte in den grauen Regen gesehen.

Die Einkaufspassage war leer gewesen, niemand ging bei diesem Wetter vor die Türe, und ich hatte auf das Schaufenster der gegenüberliegenden Kunstgalerie gesehen.

Den Platz am Fenster hatte ich mir ausgesucht, denn er gab mir das Gefühl, nicht den ganzen Tag in einem geschlossenen Raum zu sein.

So nah an der Scheibe wollte eigentlich niemand arbeiten, denn man war nicht nur auf dem Präsentierteller, sondern fühlte auch Hitze und Kälte sehr viel stärker.

Sobald die Sonne auch nur etwas schien, brannte sie durch die Scheibe auf meinen Arm, und an solchen Tagen wir diesem, kroch die feuchte Kälte durch die einfache Verglasung zu mir hinüber.

Trotzdem wollte ich keinen anderen Platz als diesen, die Aussicht und auch die Temperaturschwankungen gefielen mir eigentlich, und nur hier nahm ich am Leben dort draußen teil.

Wenn wenig zu tun war, oder ich auf das Klingeln einer der Frisierhauben wartete, beobachtete ich manchmal das magere Treiben auf der Straße, oder ich sah hinüber zu der Galerie, und verlor mich in den Bildern der Auslage.

Obwohl ich erst wenige Tage hier war, hatte ich mir jedes der Gemälde in dem Fenster bereits eingeprägt.

Am ersten Tag noch war ich verwundert gewesen, denn eigentlich passten weder die Bilder noch der Laden an diesen Ort, und ich hatte mich gefragt, warum er mir nicht schon viel früher aufgefallen war.

Ich lebte immerhin schon sehr lange hier, und war sicher tausend Mal an ihm vorbei gelaufen, ohne ihn jemals wirklich gesehen zu haben.

Wie wenig man die Dinge in seiner Umgebung wirklich wahrnahm, war mir erst da klar geworden. Alles, was schon immer unverändert war, sah man einfach nicht mehr.

Den Laden jedenfalls hatte ich nie als diesen erkannt, und vermutlich nicht ein einziges Mal in die Auslage des Fensters gesehen.

Ölgemälde waren nicht gerade mein Geschmack, und für Kunst interessierte mich auch nicht, aber würde man nicht trotzdem einen solchen Laden sehen?

Ich jedenfalls hatte es nicht getan, und verstand es einfach nicht. Es schien, als sei ich all die Jahre vorher blind gewesen oder als sei er über Nacht einfach erschienen, ohne das es irgendjemand bemerkt hatte.

Jetzt allerdings hatten die Bilder und ich uns aneinander gewöhnt, und jeden Tag sah ich hinüber, um zu sehen, ob vielleicht die Auslage sich geändert hatte.

Die Ballerina auf der Leinwand rechts, die Landschaft, die mich jedes Mal an Irland erinnerte, direkt daneben.

Ob eines der Bilder wertvoll war, zweifelte ich stark an, immerhin war ihr einziger Schutz eine dünne Glasscheibe aus den siebziger Jahren, und alles in allem wirkte der Laden, als hätte auch er schon bessere Zeiten erlebt.

Dunkel und wenig einladend hatte ich ihn gefunden, und mich sofort gefragt, wer einen solchen Laden überhaupt besuchen würde. Oder was es dort geben würde, was es nicht auch an jedem anderen Ort auf der Welt geben würde.

Gemälde wie die im Fenster, würde heute niemand mehr aufhängen, und jeder Sammler würde vermutlich ein Original wählen, bevor er sich so etwas in sein Wohnzimmer hing.

Schnell wurde mir klar, dass der Laden ebenso aus der Zeit gefallen war, wie diese ganze Stadt. Die Zeit war vor Jahrzehnten stehen geblieben, nichts hatte sich weiterentwickelt, und das würde irgendwann der Untergang von allem sein.

Genauso wie der Laden, in dem sicher niemand mehr seine Wanddeko kaufte, stand ich hier auf Pfeffer-und Salz-Linoleum. Linoleum, der ende der Sechziger topmodern gewesen war, und der schon vor einem Jahrzehnt hätte gewechselt werden müssen.

Ebenso ging es wohl dem Besitzer gegenüber. Heute bestellte man seine Wanddeko im Internet, man hing Bilder seiner Familie oder der Kinder auf, und kaum ein Mensch hatte noch ein Ölgemälde in seinem Wohnzimmer hängen.

Die Zeiten für Gemälde waren sicher vorbei, genauso wie die Zeiten, in denen man Kunst wie diese überhaupt als ansprechend empfand.

Warum also gab es ihn noch, obwohl all die anderen schon längst aufgegeben hatten?

Wie dieser Laden überleben konnte, während selbst Pizzaläden pleite gingen, war mir ein Rätsel.

Anfangs war ich mir nicht mal sicher, ob er überhaupt je geöffnet war und erst, als ich ihn gesehen hatte, hatte sich diese Frage beantwortet.

Ich jedenfalls hatte den Laden am Anfang als eher abschreckend empfunden, und auch die Bilder hatten mich wenig angesprochen. Zu altmodisch, zu staubig, und einfach nichts, für die einfache Landbevölkerung.

Bis ich ihn sah, und mein Leben einen ganz neuen Sinn ergab.

Der Hut war es gewesen, der mir als erstes aufgefallen war. Ich hatte mich gewundert, denn niemand trug in dieser Zeit noch einen.

Ich hatte die Straße hinab gesehen, so wie ich es immer tat, und hatte die Silhouette langsam näher kommen sehen, bis zu dem Punkt, an dem ich erkannte, wie ungewöhnlich sie war.

Ich hatte den Kopf gereckt und versucht, in all dem Grau etwas zu erkennen, und stellte überrascht fest, dass nichts an diesem Mann in die heutige Zeit passte.

Sein Anzug war ebenso grau wie der Tag gewesen, und fast schien er mit der Fassade des Hauses und dem Asphalt der Straße zu verschmelzen.

Er ging schnell, als hätte er es eilig, und seine langen Beine gefielen mir sofort. Lang und schlank, mit festen Schritt, souveräner, als ich es jemals sein würde.

Überhaupt fand ich ihn ansprechend, jedenfalls seine Figur, denn vielmehr als das sah ich ja nicht. Große, schlanke Männer sprachen mich an, auch wenn ich mir, was das betraf, keine Illusionen machte.

Ich war alles andere als der Prototyp einer Traumfrau, und sicherlich hatte jemand wie ich, kaum Chancen auf so einen eleganten Mann.

Der Hut verdeckte sein Gesicht, und alles was ich überhaupt erkennen konnte, war die stahlblaue Krawatte, die in all dem Grau hervorstach.

Wie ungewöhnlich er wirkte und wie außergewöhnlich seine Anwesenheit an diesem Ort eigentlich war, hatte mein Gehirn in diesem Moment ausgeschaltet.

In einer kleinen Stadt wie dieser, gab es keine Männer in Anzügen, schon gar nicht an einem normalen Wochentag, und erst recht nicht mit Anzügen, die so perfekt passten.

Nicht mal der Mann in der örtlichen Bank trug einen Anzug, höchstens vielleicht ein Hemd mit Krawatte, und mehr würde hier auch gar nicht hinpassen.

Dass er allerdings nicht nur den Anzug und den Hut trug, sondern außerdem noch Krawatte und Einstecktuch, hatte mich wirklich erstaunt.

Fast schien es, als sei er aus einer Zeit lange vor meiner hierher katapultiert worden, und als würde er selbst nicht bemerken, wie wenig er in das Bild der Stadt passte.

Man passte sich einander an, man versuchte, nicht aus der Masse herauszustechen, und doch konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieser Mann jemals etwas anderes tragen konnte.

Ich hatte wortlos auf den Mann gesehen, inständig gehofft, er würde auch nur einmal aufsehen, damit ich sein Gesicht sehen konnte, aber es war nicht geschehen.

Stattdessen war er in Windeseile in der Galerie gegenüber verschwunden, und die Türe hatte sich hinter ihm geschlossen.

 

Von diesem Tag an hatte ich hunderte von Malen zu der Galerie gesehen. Wann immer ich Zeit hatte oder auch nicht, hatte ich Ausschau gehalten.

Manchmal sah ich ihn wieder, immer trug er Anzug und Hut, und nie sah ich sein Gesicht.

Manchmal ging ich nach der Arbeit hinüber auf die andere Straßenseite, und sah durch die Glasfront in den Laden, in der Hoffnung, ihn dahinter zu entdecken.

Leider sah ich ihn nie, nicht mal einen anderen Menschen, und um den Laden zu betreten, fehlte mir der Mut.

Auch wenn ich seine Schatten manchmal hinter der Scheibe vermutet hatte, so hatte ich ihn nie dort drin gesehen, und manchmal fragte ich mich, ob überhaupt jemand dort arbeitete. Nie sah ich Kunden oder irgendjemand anderes dort, und nie schien das Licht im Inneren des Ladens.

Wie man unter diesen Umständen damit Geld verdienen sollte, dass verstand ich nicht. In meinen Augen mussten Läden geöffnet sein, hell und einladend wirken, und vor allem mussten sie Angestellte haben.

Hier allerdings schienen alle diese Theorien hinfällig, und egal wie sehr ich mich vor dem Schaufenster reckte und streckte, dort war einfach niemand.

Selbst wenn ich ihn erst kurze Zeit vorher hatte in den Laden gehen sehen, und panisch über die Straße gehechtete war, um einen Blick auf ihn zu werfen, war der Laden immer leer gewesen.

Es war, als hätte dieser ihn verschluckt, als sei er durch den Laden hindurch in ein anderes Universum geflüchtet, und meine Suche daher völlig sinnlos.

Anfangs glaubte ich schon fast, ich hätte mir ihn und seine Anwesenheit nur eingebildet, aber auch das ergab keinen Sinn.

Sicherlich hatte ich irgendwann mal von Männern geträumt, mir den Traummann ausgemalt, aber nie hatte er einen Anzug getragen, und nie war er Besitzer einer staubigen Galerie gewesen.

Überhaupt hatte ich aufgehört von Männern zu träumen, schon vor sehr langer Zeit, und auch einen Prinz mit einem Gaul erwartete ich nicht mehr.

Vielmehr war völlig klar, dass ich vermutlich nicht für die ganz große Liebe gemacht war.

Ich war betrogen worden, verletzt und erschüttert, und hatte selbst ähnlichen Schmerz zugefügt. Nie war eine meiner Beziehungen problemfrei gewesen, was zugegebener Maßen auch an mir lag, und irgendwann hatte ich es aufgegeben.

Und jetzt stand ich fast jeden Abend nach der Arbeit vor der Fensterscheibe der Galerie, glotzte hinein, und suchte nach dem Unbekannten.

Mehr als einmal versuchte ich meine eigene Angst zu überwinden und einzutreten, aber nie schaffte ich es.

Was sollte eine wie ich, die lediglich die Haare irgendwelcher Leute schnitt, in einer Kunstgalerie? Es gab nichts, was ich hätte sagen können, nichts, was ich hätte tun können, was nicht völlig sinnlos und deplatziert gewirkt hätte.

Auch wenn der Laden nicht gerade nobel war, so würde ich trotzdem nicht dorthin gehören, und zu allem Überfluss hatte ich auch keinerlei Ahnung von Kunst.

Ich hätte keine clevere Frage stellen können, nichts sagen können, was ihn vielleicht zum Lachen gebracht hätte.

Mal abgesehen der wirklich bekannten Gemälde, und den Namen, die wohl jeder kannte, wusste ich über diese Welt absolut nichts.

Wer gerade genug zum Überleben hatte, gab sein Geld ganz sicher nicht für Gemälde aus, und vermutlich würde ich mich beim Versuch, mit ihm in ein Gespräch zu beginnen, völlig lächerlich machen.

 

Monate vergingen so, ohne das ich die Chance gehabt hatte, an all dem etwas zu ändern. Er kam, er ging, nie sah ich sein Gesicht, und egal wie lange ich aus dem Fenster starrte, nie sah er zu mir herüber.

Fast hatte ich mich an diesen Zustand gewöhnt, er war mir vertraut wie alles andere in dieser Straße, und ihn aus der Ferne zu sehen, reichte mir am Ende.

Ich lächelte, wann immer ich ihn sah, und manchmal stellte ich mir vor, er würde zu mir in den Laden kommen. Nur leider geschah das nie.

Irgendwann in all der Zeit hatte ich Grete, meine Chefin, nach dem Besitzer des Ladens gegenüber gefragt. Sie hatte mit den Schultern gezuckt, und ratlos ausgesehen, ohne meine Frage zu beantworten.

Lediglich das es den Laden ewig gab, wusste sie, und meine Frage danach schien sie zu verwundern. Als hätte sie selbst sich die Frage nie gestellt, als hätte sie selbst den Laden ebenso wenig wahrgenommen, wie ich es einst getan hatte.

Dass sie ihn weder kannte, noch weiter erwähnte, wunderte mich.

Frisörläden waren Informationszentren, eine Tatsache, die sich vermutlich nie ändern würde. Was der Frisör nicht wusste, das gab es nicht, und was der Frisör nicht weitertratschte, dass auch nicht.

Jede noch so kleine Information wurde zwischen Stuhl und Schere weitergegeben, reflektiert und diskutiert. Das gerade Grete nicht mal wissen sollte, wer ihr direkter Nachbar war, konnte ich kaum glauben.

Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich mir kaum vorstellen konnte, dass ihr ein Mann wie dieser, nicht aufgefallen sein sollte.

Direkt nach ihm zu fragen traute ich mich nicht, aus lauter Angst die anderen könnten mich damit aufziehen.

Einem Mann im Anzug hinterherzuschmachten, der eindeutig nicht der gleichen Liga angehörte, würde genug Tratsch für Wochen liefern. Für meine Schwärmerei belächelt zu werden, oder am Ende noch als Stalkerin zu gelten, machte mir Angst.

So schwieg ich, wartete auf die wenigen Momente, in denen ich ihn sah, und hoffte einfach, dass auch er irgendwann auf mich aufmerksam werden würde.

 

  1. Kapitel 2:

Ich hörte das Knacken meiner eigenen Knochen und spürte, wie der Airbag sich in voller Wucht gegen meinen Oberkörper drückte.

Den Knall hatte ich nicht gehört, nicht mal den Aufprall auf den anderen Wagen, und auch an das Geschehen an sich, konnte ich mich nicht erinnern.

Was war passiert?

Noch vor wenigen Minuten hatte ich glücklich den Laden verlassen, weil Grete mir frei gegeben hatte. Der letzte Termin hatte abgesagt, sonst lag kein weiterer an, und ich hatte beschlossen, einzukaufen.

Mir etwas besonders zu gönnen von dem Trinkgeld des Tages, weil ich das sonst nie tat, und mich dazu in meinen winzigen Wagen gesetzt.

Nur in den nächsten Ort, nur wenige Kilometer mit dem Wagen, bis hin zu dem kleinen Kaufhaus, in dem ich die meisten meiner üblichen Einkäufe tätigte.

Ein wenig Brot, vielleicht etwas Käse und Obst, eine Kleinigkeit, für die ich sonst einfach zu geizig war.

Glücklich und zufrieden war ich gewesen, mit mir, meinem Leben und den Menschen darin.

Ich hatte ihn gesehen, das bedeutete für mich, es war ein guter Tag, und auch sonst waren die Stunden gut verlaufen. Die Kunden waren freundliche gewesen und ich hatte mehr Trinkgeld als sonst bekommen, was mich für meine Verhältnisse übermütig gemacht hatte.

Ich gönnte mir selten etwas, ich sparte eisern, immer aus Angst, die nächste Welle Unglück würde mit der nächsten Jahreszeit kommen. Nur heute hatte ich mir vorgenommen, mir selbst etwas Schönes zu gönnen. Vielleicht ein Halstuch, oder nicht ganz so teures Parfum, irgendetwas, was ich mir sonst nicht kaufen würde.

 

Ich war gefahren und sicher nicht zu schnell gewesen, aber irgendetwas war passiert, und jetzt hörte ich die Sirenen des Krankenwagens leise in weiter Ferne.

Mühevoll hatte ich den Kopf gehoben und er schien tonnenschwer. Dumpf hörte ich Stimmen und Unruhe auf der Straße, ohne das sie zu meiner Welt zu gehören schienen. Es fühlte sich an, als sei ich in einer Blase eingeschlossen und als hätte ich die Welt dort draußen ausgeschlossen.

Selbst Zeit schien keine Rolle zu spielen, denn obwohl mir alles wie Sekunden vorkam, musste es sehr viel länger gewesen sein. War ich ohnmächtig gewesen?

Mein Körper schien taub, und ich sah hellrotes Blut auf dem weißen Airbag. Blut?

Woher kam all das Blut?

Panisch suchte mein Geist nach Schmerz, nach irgendetwas, dass sich nach einer ernsthaften Verletzung anfühlte, aber dort war nichts.

Mühsam versuchte ich, einen Arm oder nur irgendein anderes Körperteil zu bewegen, aber es gelang mir einfach nicht. Bleischwer schien alles an mir, und es kam mir vor, als würden schwere Steine als Last darauf liegen.

Ich hörte die Sirene näher kommen und hob den Kopf, um nach dem weißen Wagen zu sehen, aber alles, was sich sah, war der andere Wagen, der direkt vor meiner eigenen Fensterfront klebte.

Durch die gesplitterte Scheibe konnte ich den anderen Wagen kaum erkennen, und nur die Umrisse ließen überhaupt darauf schließen.

Dass er da war, das wusste ich allerdings, denn der Rauch des Motors drang durch das leicht geöffnete Fenster zu mir in den Innenraum.

Auch den anderen Fahrer sah ich nicht, nicht mal, ob es überhaupt einen gab, und vom Seitenfenster aus erblickte ich endlich den Krankenwagen. Er stand in einiger Entfernung hinter einer Reihe anderer Autos, und ich sah das Blaulicht aufgeregt leuchten.

Es würde Hilfe kommen, endlich.

Der erneute Versuch einen Arm zu heben, um auf mich aufmerksam zu machen, misslang. Tonnenschwer tat er seinen Dienst nicht, und egal wie sehr ich mich auch konzentrierte, er reagierte einfach nicht.

Es gelang mir einfach nicht, ihn zu heben oder auch nur zu bewegen, und dumpf hörte ich Stimmen.

„Holt Hilfe, sie verblutet!“

Die Stimme klang panisch, und ich versuchte, den Kopf weiter zu ihr zu drehen.

Eine junge Frau stand direkt vor dem Fenster und sah auf mich hinab, aber es sah nicht so aus, als würde sie mich wirklich wahrnehmen. Ihr Blick haftete auf dem Blut, und hektisch versuchte sie, die Tür meines Wagens zu öffnen.

Das Klacken des Türgriffs ergab einen absurden Takt, fast hätte ich darüber gelacht, aber auch das gelang mir einfach nicht.

Jeder Muskel meine Körpers schien schlapp und reglos, und eigentlich verstand ich nicht mal die Aufregung um mich herum.

Es tat mir nichts weh, auch wenn dort Blut war, und außer der immer größeren Müdigkeit, ging es mir eigentlich ganz gut.

Zu sprechen gelang mir nicht, die Worte fanden einfach keinen Weg nach draußen, und so langsam hätte mich die Panik übermannen sollen, tat es aber einfach nicht.

Stattdessen spürte ich tiefe Ruhe, fast wie kurz vor dem Einschlafen, und meine Augen schienen schwerer und schwerer zu werden.

Sekunden rannen wie Minuten an mir vorbei, jedes Zeitgefühl schien praktisch ausgelöscht, und erneut fragte ich mich, warum noch immer kein Arzt oder Ersthelfer zu sehen war.

Stand der Krankenwagen nicht bereits seit Ewigkeiten dort? Hatte ich ihn nicht schon lange vorher gesehen, und müsste nicht schon längst jemand anderes versuchen, die verdammte Türe endlich zu öffnen?

Erneut sah ich auf die Frau, deren Gesicht panisch glühte, während sie weiter erfolglos versuchte, die Türe des Wagens endlich zu öffnen.

Es ruckelte, sie wendete viel Kraft auf, aber nichts geschah.

In Anbetracht des anscheinend schweren Unfalls wunderte es mich nicht, dass es ihr nicht gelang. Sicher war der Rahmen verzogen, und sicher würde sie diese Türe nicht alleine öffnen können.

Ein Mann kam dazu, offenbar ein Sanitäter, und ich fühlte, wie seine Hand zu meinem Hals glitt. Er sprach mit mir, aber ich hörte die Worte nicht wirklich, während ich mir alle Mühe gab, die Augen offen zu halten.

Die Müdigkeit schien übermächtig, als würde sie mit aller Macht an mir saugen, und kurz war ich in Versuchung, ihr einfach nachzugeben. Hilfe war da, es würde in Ordnung sein, die Augen zu schließen. Es würde in Ordnung sein, der Müdigkeit nachzugeben, und endlich in ihrer Dunkelheit zu verschwinden.

Alles schien in Zeitlupe an mir vorbeizuziehen, und eigentlich verstand ich nichts davon.

Was auch immer das Blut verursachte, es konnte nicht so schlimm sein, denn Schmerz war dort keiner. Lediglich diese schreckliche Müdigkeit und das dumpfe Gefühl in meinem Kopf, dass jedes Wort unmöglich machte.

Was war mit dem Fahrer des anderen Wagens? Warum rief niemand nach Hilfe für ihn?

Ich versuchte erneut zu sprechen, irgendwie auf mich aufmerksam zu machen, aber kein Ton drang aus meiner Kehle. Stattdessen drang ein Schwall Blut aus meinem Mund, und fühlte die warme Flüssigkeit mein Kinn hinabrinnen. So viel Blut!

„Sie stirbt!“

Die Frau zerrte noch immer an der Tür meines Wagens und ich sah aus dem Augenwinkel zwei weitere Sanitäter nähereilen.

Hilfe, dort war Hilfe. Sie würden mir helfen und die Dinge in Ordnung bringen.

Der Sog verschluckte mich, keine Chance, weiter dagegen anzukämpfen. Ich musste schlafen, die Augen endlich schließen, und diesen schlimmen Traum endlich hinter mir lassen.

Ja, vermutlich war es ein Traum, einer von der schlimmen Sorte, die einem so wahnsinnig realistisch vorkamen.

Wenn ich jetzt die Augen schloss, endlich schlief, dann würde ich später aufwachen, und all das hier wäre vergangen.

Die Dunkelheit verschluckte mich, zusammen mit den Stimmen um mich herum, die ich einfach nicht verstand.

 

Erschrocken rang ich nach Luft und griff mir an den den Hals. Wo war ich?

Blitze aus Erinnerungen flammten auf, und ich versuchte mich aufzurichten, was mir erstaunlich leicht gelang.

Kein Schmerz, kein Blut, nichts, was an den Unfall erinnerte. Hatte ich nur geträumt?

Ich sah mich um und erkannte ein Krankenzimmer, aber keinen anderen Menschen.

Einzig und alleine ein kleiner Kasten neben mir piepte in einem konstanten Ton, und ich sah die grüne Linie auf dem ansonsten dunklen Monitor.

Meine Hände lagen auf dem Laken, unter mir eine weiche Matratze, deren Stoff ich deutlich zu spüren schien. War ich in einem Krankenhaus?

Praktisch zeitgleich riss jemand die Türe auf, und erschrocken sprang ich aus dem Bett auf den Boden des Zimmers.

„Sofort reanimieren!“

Ein junger Mann im weißen Kittel und zwei weitere Frauen liefen an mir vorbei in Richtung des Bettes, und sich sah zu, ohne zu verstehen, was hier gerade geschah.

„Adrenalin und Sauerstoff, beeilt euch!“

Die aufgeregte Stimme verstand ich nicht, immerhin ging es mir doch ganz gut, und ich öffnete den Mund um ihnen zu sagen, dass alles in Ordnung war.

Moment. Ich sah auf die Gestalt in dem weißen Krankenbett und sofort wurde mir schlecht. Das war ich, jedenfalls eine mir sehr ähnliche Person, und ich sah wirklich alles andere als gesund aus. Dem Impuls mich zu übergeben widerstand ich, und krallte mich stattdessen an den Türgriff der neben mir liegenden Toilette.

Was war hier los, und warum sah ich mich selbst in diesem Bett liegen?

In dem Gewusel aus Menschen, die offenbar versuchten, die Person in diesem Bett wiederzubeleben, konnte ich mich selbst erkennen.

Eine Version von mir selbst, die mir unheimlich war, denn sie schien weder zu atmen noch zu reagieren.

Leblos schlaff, als sei alles Blut bereits aus ihr verschwunden, lag die mir so ähnlich sehende Puppe dort, und schien doch nichts mit mir gemein zu haben.

Ich sah auf meinen Arm, der noch immer mein Arm war, und dann auf den der Frau in dem Krankenbett. Ja, das war ich, die dort lag, eindeutig an der schmalen Narbe am Unterarm erkennbar, die von einem Armbruch herrührte.

Ich erinnerte mich genau an dien Tag, an dem sie entstanden war, als ich von dem kleinen Mauervorsprung in den Garten des Nachbarn gesprungen war, und die Höhe einfach unterschätzt hatte.

„Wie konnte das passieren?!“

Der junge Mann, der offenbar der Arzt war, klang aufgebracht. Er kletterte auf das Bett und ich sah, wie er begann eine Herzdruckmassage zu machen. Die Beine über meinem Körper beugte er über mir, und der weiße Kittel bedeckte meine Beine fast gänzlich.

„Ich weiß nicht, vorhin ging es ihr noch ganz gut. Die ganzen letzten Wochen waren konstant gewesen, ich weiß nicht, was da los ist!“

Auch die Frau klang aufgebracht, und beide sahen ratlos auf meinen leblosen Körper.

Wochen? Der Unfall war doch gerade erst passiert?

Nur allzu deutlich erinnerte ich mich an den weißen Airbag, das Blut, und an die aufgeregten Stimmen.

Ich schluckte und versuchte, die Fetzen von Erinnerungen aneinanderzureihen. Ich hatte einkaufen wollen, war mit einem anderen Wagen kollidiert, und dann wohl ohnmächtig geworden. Vor ein paar Stunden, wie es mir vorkam, keinesfalls länger.

Diese Leute mussten sich irren, vermutlich verwechselten sie mich mit jemand anderem, aber das konnte ja vorkommen.

Vielleicht war all das hier ein riesen Irrtum, eine Verwechslung, und wer überhaupt wusste, ob nicht noch eine ganze Menge anderer Menschen eine Narbe auf ihrem Arm mit sich trugen?

Ich trat näher an das Bett und erkannte den Ansatz dunkler Haare auf dem Kopf der Person, die dort vor mir lag.

Das war ich, keine Zweifel. Es waren meine Haare, meine Gesichtszüge, meine Ohren, die für den Rest meines Kopfes noch immer zu klein schienen.

Kurz war ich in Versuchung den dunklen Ansatz zu berühren, aber ich traute mich einfach nicht.

Noch immer saß der Arzt auf mir, gab sich alle Mühe etwas zu beleben, bei dem es nichts mehr zu beleben gab, und alles an das ich denken konnte, waren die Zentimeter dunkler Haare, die dort einfach nicht sein konnten.

Das konnte nicht sein. Ich hatte sie blondiert, gestern erst.

Als Frisörin konnte man sich solche Dinge nicht erlauben, so glaubte ich zumindest, und ich achtete penibel auf solche Details. Dorfladen hin oder her, ich selbst war das Aushängeschild meiner Arbeit.

Haare wuchsen etwa 1cm pro Monat, und wenn ich das hier richtig sah, war der Ansatz sicherlich seit mindestens einem Monat nicht gefärbt worden. Vier Wochen!

„Das sieht nach einer Embolie aus! Warum war niemand bei ihr!“

Ja, genau, warum war niemand bei mir gewesen? Ich nickte still, als wolle ich dem jungen Arzt recht geben, und bemerkte erst dann, dass irgendetwas an dieser Situation mehr als falsch war.

Das war ich in dem Bett, und auch ich, die daneben stand. War ich etwa tot? Oder kurz davor?

In Filmen war das oft so gewesen, dass man selbst sich beim Sterben zusah, und war es bei mir nun auch so?

Starb ich hier gerade, und musste mir selbst dabei zusehen?

Ich schlug die Hände vor den Mund und fühlte den Schauer meinen Arm hinauf kriechen. Was, wenn ich wirklich starb? Was würde dann mit mir passieren?

„Wir haben alle zwei Stunden nach ihr gesehen, aber wir können doch nicht immer hier sein! Immerhin liegt sie hier schon vier Wochen, und die ganze Zeit ging es ihr gut!“

Die junge Frau rammte äußerst unsanft eine viel zu große Spritze in meinem Arm und ich sah, wie der Arzt noch immer voller Inbrunst auf meinen Brustkorb drückte.

Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um in Panik zu verfallen, schoss es mir durch den Kopf.

Ich war anwesend bei meinem eigenen Tod, und konnte lediglich dabei zusehen, wie dieser junge Mann alles dafür tat, dass ich vielleicht doch noch würde zurückkommen können.

Er schien daran zu glauben, jedenfalls machte es den Eindruck, also glaubte auch ich daran.

Gib nicht auf! Ich versuchte, alle Kraft in den Gedanken zu legen, damit er ihn vielleicht würde hören können. Alles was mir blieb, war auf seine Fähigkeiten zu vertrauen.

Er schien jung zu sein, sicherlich nicht viel älter als ich, und für mich sah das alles stimmig aus. Auch wenn ich natürlich keine Ahnung von all dem hatte.

Gab es da nicht dieses Ding mit dem Elektroschock? Was sie in Filmen immer verwendeten, und bei denen alle Anwesenden vom Verletzten zurücktreten mussten? Warum benutzten sie das nicht?

Ich sah mich um und erkannte, dass es ein solches Gerät hier nicht gab. Was für eine Schlamperei. Wenn ich jetzt starb, nur weil sie dieses Ding hier nicht hatten, dann wäre das ja wohl ein Skandal.

Gib nicht auf! Mach weiter!

Ich hörte das Knacken meiner Rippen, immer dann, wenn er einen weiten Druck ausübte, und sah, wie anstrengend es für ihn war.

Er schnappte nach Luft, aber der Monitor blieb weiter schwarz.

„Dr. Krietsch, ich glaube, es ist vorbei. Sie kommt nicht zurück.“

Die zweite Schwester, die bis jetzt noch keinen Ton gesagt hatte, legte sanft eine Hand auf die Schulter des Arztes.

„Nein! Weitermachen, geben sie ihr mehr Adrenalin!“

Fast automatisch trat ich um das Bett herum zu dem Mann, der gerade all das tat, obwohl ich ihn nicht kannte. Nie hatte jemand sich so für mich eingesetzt, und jetzt würde ich ihm nicht mal dafür danken können.

Meine Wut über das fehlende Gerät, von dem ich geglaubt hatte, es würde mich retten, verschwand augenblicklich.

Der leblose Körper hob und senkte sich unter dem Druck seiner Hände, und ich sah, wie eine der Schwestern die Schläuche aus meinem Mund und der Nase entfernte.

So schnell ging das? Sie entschieden es war vorbei, und schon war es vorbei?

Auch diese Situation hatte ich mir immer anders vorgestellt, sehr viel spektakulärer und auch irgendwie weniger einfach.

Wie entschied man einfach so, dass es vorbei war?

„Das funktioniert nicht, sie ist schon viel zu lange weg!“

Die Schwester legte erneut eine Hand auf den Arm des Mannes, der augenblicklich aufhörte, meinen Brustkorb weiter zu bearbeiten.

Sofort sank er in sich zusammen, und jede Emotion verschwand aus seinem Gesicht.

Wo ich eben noch Panik und Aufregung gesehen hatte, war jetzt nur noch Resignation zu sehen. Er blickte vorbei an dem leblosen Körper auf das weiße Laken darunter, und schien, als hätte er soeben einen großen Kampf verloren.

Ein wenig stimmte das ja auch, immerhin hatte er um mich gekämpft, und auch wenn ich schon vorher vermutlich dem Tod sehr viel näher als dem Leben gewesen war, beeindruckte mich sein Kampfgeist.

Er hatte an mich geglaubt, bis zu letzten Minute, und er hatte auch geglaubt, dass ich es würde schaffen können.

„Warum hab ich es nicht gesehen?“

Es klang, als gebe er sich die Schuld an meinem Ableben, und ich horchte auf. Hatte er versagt, und ich stand deshalb jetzt gerade neben meinem toten Körper?

„Ich habe sie selbst überprüft, vor gerade mal einer Stunde. Sie hatte gute Vitalwerte, und auch ihr Blutdruck war stabil. Wenn es eine Embolie war, dann konnte keiner von uns das ahnen.“

Die Schwester zog den Mann von meinem Körper, und ich trat einen Schritt zur Seite, weil er nun direkt vor mir stand.

Ich konnte sein Aftershave riechen, eine Sorte, die mich an irgendjemanden aus meinem Leben erinnerte, und nahm die Wärme seines Körpers deutlich wahr.

Nur er schien mich weder zu sehen noch zu spüren.

„Sie war doch noch so jung, sie hätte es schaffen müssen.“

Er schien aufgelöst, eine Reaktion, die ich nicht von einem Arzt erwartet hatte. Er, der sicher hunderte ähnliche Fälle erlebt hatte, würde doch nicht immer genau so reagieren?

Sofort tat er mir leid, immerhin war ich der Grund für seine Niedergeschlagenheit, auch wenn ich daran ja wohl kaum hätte etwas ändern können.

„Sie war schon fast tot, als sie hier ankam. Das wissen sie doch selbst. Und hier zu liegen, im Koma, hat mit „schaffen“ so wirklich nichts zu tun. Selbst wenn sie irgendwann aufgewacht wäre, wäre ihr Leben nicht mehr existent gewesen. Ihr Gehirn hatte viel zu lange keinen Sauerstoff, und vermutlich hätte sie nur noch vegetiert. Es ist sicher besser so, glauben sie mir.“

Was für eine absurde Situation. Eine Schwester erklärte einem Arzt, wie all das hier lief? War er erst so kurz in seinem Job, dass er all diese Dinge noch nicht kannte?

Schlagartig fühlte ich mich noch schlechter, auf keinen Fall wollte ich die Erste sein, mit der er einen solchen Moment erlebte. Wenn ich die Erste war, die er verloren hatte, würde er sich für immer an mich erinnern.

Die Frau strich erneut über seinen Arm und ich beschloss genau in diesem Moment, dass ich sie nicht mochte. Das sie glaubte, mein Leben sei nicht mehr wichtig gewesen, fand ich eine fürchterliche Frechheit.

Immerhin war es mein Leben, so klein wie es vielleicht auch gewesen war. Sicher hatte auch ich kein Interesse daran, komatös in einem Krankenhaus zu liegen, aber trotzdem.

Der Arzt allerdings tat mir leid. Er hatte alles versucht, hatte um mich gekämpft, und schien nun ernsthaft geknickt.

„Mag sein. Aber es gibt auch immer Wunder.“

Er strich sich durch die blonden Haare und schien verzweifelt, was mich dazu brachte ihn ebenfalls am Arm zu fassen. Er schien Trost zu brauchen, etwas das ihn aufmunterte, und es war mir ein Bedürfnis, ihm das zu geben.

Mein Geist formte die Worte „es ist in Ordnung“, und ich gab mir alle Mühe es zu transportieren. All meine Kraft legte ich in diesen einen Gedanken, und blendete dabei alles andere aus.

Sekunden später griff der junge Mann sich an den Arm, an genau die Stelle, die ich berührte, und ich zog erschrocken die Hand zurück.

Hatte er mich gespürt? Hatte er meine Hand gespürt?

Das Gefühl von Glück stieg in mir hoch, und ich wollte auf der Stelle hüpfen. Er hatte mich gespürt, also war ich nicht wirklich tot, und wenn er es konnte, dann würde vielleicht auch irgendjemand anders merken, dass ich noch immer hier war.

Glücklich sah ich auf meine Hand, und dann auf den jungen Mann, der irritiert auf die Stelle an seinem Oberarm sah, als könnte er sich das Gefühl nicht erklären.

 

Die Schwester schob den toten Körper, der vor nicht all zu langer Zeit noch meiner gewesen war, aus dem Zimmer.

Ich sah zu, und verstand einfach nicht, warum ich mich so gar nicht darüber aufregte.

Sicher wäre das der Zeitpunkt für Panik, und wenn schon nicht dafür, dann doch zumindest für Angst.

Aber nichts davon war der Fall. Es war, als sei das hier nicht die Realität und als beträfe es mich nicht wirklich.

Gut, ich war tot, oder zumindest war es mein Körper, aber warum regte es mich nicht auf? Warum verfiel ich nicht in Panik, schrie herum oder heulte, und fühlte mich stattdessen zufrieden?

Ich sah an mir hinab, alles schien dort, wo es sein sollte, und wer auch immer dort gerade über den ellenlang Flur rollte, konnte unmöglich mit mir zu tun haben.

Eigentlich war meine Stimmung gar nicht mal so übel, das Erlebnis mit dem jungen Arzt hatte mich in Euphorie versetzt, und mal abgesehen davon, dass ich keine Ahnung hatte, wie es jetzt weitergehen würde, ging es mir ja nicht wirklich schlecht.

Warum rief ich nicht um Hilfe? Warum war ich überhaupt noch hier, und klopfte nicht an irgendeine Himmelspforte?

Ich war nie sonderlich gläubig gewesen und schon gar keine Kirchgängerin, aber irgendwie hatte ich geglaubt, der Tod würde anders sein.

Wenn das hier wirklich das „Danach“ war, dann verstand ich nun wirklich nicht, warum irgendjemand sich davor fürchtete. Es tat nichts weh, niemand hielt mir meine Sünden vor, von Feuer und Qualen keine Spur.

Alles was ich sah, war täglicher Trott, gepaart mit all dem, was man vermutlich auf jedem Krankenhausflur dieser Welt sah.

Wohin ging man, wenn man nicht mehr da war?

Was würde mit meinem Körper passieren, meinen Sachen, und meinem Job?

Schlagartig wurde mir klar, dass ich nicht würde wissen wollen, was nun mit meinem Körper geschah. Ich würde nicht sehen wollen, wie sie ihn in irgendeinem kalten Raum lagern würden, und erst recht nicht, wie sie ihn begruben.

Aber wo sollte ich jetzt hingehen?

Ohne Körper hatte ich auch keine Wohnung mehr, und vermutlich auch keine Sachen.

Ich sah erneut an mir herab, auf die Jeans und das weiße Shirt, was ich am Tag meines Unfalls getragen hatte. Warum überhaupt hatte ich diese Sachen an, und nicht das bescheuerte Krankenhauskleid?

Der Körper auf dem Bett hatte eins getragen, und wieso stand ich hier, in Sachen die vermutlich gerade ihren Weg in die nächste Mülltonne fanden?

Insgeheim war ich froh darüber, wer wusste schon, ob ich mich in diesem Zustand würde umziehen könne, und auch wenn mich aktuell noch keiner sah: Krankenhausbekleidung ohne Unterwäsche würde mir sicher nicht weiterhelfen.

Was also jetzt tun?

Ich sah den Flur hinab, wo die Schwester mit meinem Körper in einem der Fahrstühle verschwand, und überlegte, was jetzt zu tun sei. Wo konnte ich hingehen, wo mich vielleicht irgendjemand wahrnehmen würde?

Wer würde mir jetzt helfen, damit ich endlich wissen würde, wie es jetzt mit mir weiterging?

Wenn es hier kein helles Licht gab, keine Pforte und auch keinen Engel, woher sollte ich es dann wissen?

Planlos trat ich von einem Bein auf das andere und überlegte krampfhaft, wie ich die nächsten Stunden, Tage, vielleicht Wochen herumbringen sollte.

Was, wenn ich einfach niemanden finden würde, der mir jetzt den richtigen Weg zeigte? Was, wenn mein Höllenfeuer war, dass ich auf ewig auf diesem Flur stehen musste?

Eigentlich war ich mir keiner Schuld bewusst, ich hatte nie irgendetwas wirklich Schlimmes getan, und daher mit der Hölle ganz sicher nicht gerechnet.

Aber wenn ich nicht in die Hölle kommen würde, wohin dann?

Wusste überhaupt irgendjemand, wie es mit mir jetzt weiterging? Oder musste ich es selbst rausfinden?

  1. Kapitel 3:

Seit mehr als zwei Stunden stapfte ich nun schon hinter dem jungen Arzt her, und versuchte mit aller Macht, ihn auf mich aufmerksam zu machen.

Ich hatte jede Station durchforstet, jede Schwester und jeden Arzt angesprochen, und niemand hatte reagiert.

Zuerst hatte ich es freundlich versucht, dann flüsternd, direkt an ihrem Ohr, doch niemand schien mich zu hören.

Auch schreien hatte nicht funktioniert und alle meine Versuche, jemanden ordentlich durchzurütteln, waren sofort gescheitert.

Ein wenig war es, als würde meine Hand aus Pudding bestehen, als hätte sie einfach nicht die Kraft genug Druck auszuüben, und so langsam glaubte ich, ich hätte mir das Erlebnis mit dem jungen Arzt bloß eingebildet.

Vielleicht war es ein Zufall gewesen, nur eine dumme Einbildung, dass er meine Hand auf seinem Arm tatsächlich gespürt hatte.

Auch die Patienten hatte ich angesprochen, aber niemand sah mich und keiner reagierte auf meine Berührungen.

Niemand schien meine Anwesenheit zu bemerken, niemand spürte meine Hand.

Frustriert hatte ich praktisch alles versucht, was einer übrig gebliebenen Seele wie mir vielleicht noch blieb, aber einfach nichts funktionierte.

Immer wieder hatte versucht die Menschen zu berühren, aber jede Reaktion drauf blieb aus, und auch auf meine Worte, selbst wenn ich sie schrie, reagierte absolut niemand.

Wütend hatte ich mit den Fuß aufgestampft, aber auch das hatte natürlich nichts gebracht, und am Ende musste ich einsehen, dass eben einfach nicht mehr da war.

Weg, ein Geist, nur noch eine Erinnerung in den Köpfen von wenigen Menschen.

Was mich zuerst beunruhigt hatte, frustrierte mich nun wirklich, und so langsam wurde ich stinksauer.

Voller Wut hatte ich versucht, eine Tür zuzuknallen, aber auch das hatte nicht funktioniert. Sie hatte sich bewegt, wenigstens ein bisschen, aber es hatte lediglich gewirkt, als hätte ein winziger Windstoß sie um Millimeter geschlossen.

 

Meine Eltern hatten mich zu einem pragmatischen Menschen erzogen, einem der die Dinge annahm, wie sie eben waren, und nicht zu viel in Frage stellte. Das schien mir nun zu Gute zu kommen, denn ich hatte recht schnell eingesehen, dass ich aus dieser Sache nicht so schnell rauskommen würde.

Manch anderer wäre vielleicht schon an diesem Punkt in Panik verfallen oder verrückt geworden, aber meine Erziehung sah einfach anders aus.

Egal was in meinem Leben Schlimmes passiert war, egal wer gestorben war, mein Vater hatte mit einer hochgezogenen Augenbraue reagiert. Immer wieder hatte er mir klar gemacht, dass es zwar schlimm, aber unumgänglich war, und dass Panik an der Situation absolut nichts änderte.

Jetzt musste ich ihm damit recht geben, es brachte einfach nichts, und änderte an bestehenden Tatsachen herzlich wenig.

Er war sicher kein gefühlloser Mensch gewesen, jedenfalls hatte ich nie so empfunden, aber Überschwänglichkeit lag ihm eben auch nicht.

Er hatte die Lage sondiert, nach einem Ausweg gesucht, und dann Entscheidungen getroffen.

Auch ich hatte versucht, mein Leben genau so zu leben, das schien mir sicherer, als jedes Mal in der Mitte des Monats in Panik zu verfallen, ohne eine Antwort auf die Lösung zuhaben.

Es ging immer irgendwie weiter, manchmal in die eine oder auch in die andere Richtung, und vermutlich würde es auch jetzt so sein.

Für Menschen wie mich, deren Leben praktisch immer einem Drahtseilakt ähnelte, war das die einzige Lösung.

Was nicht hieß, das ich mich nicht trotzdem darüber ärgerte, und mich nicht darüber aufregte, dass die Dinge so gar nicht nach Plan liefen.

 

Wie kompliziert der Tod sein konnte, hatte ich nicht mal geahnt. Körperlos und ohne Sprache, war ich einfach nur anwesend. Nicht mal Platz nahm ich weg, und das war äußerst frustrierend.

Nachdem ich stundenlang so erfolglos mit meiner Suche nach Aufmerksamkeit gewesen war, hatte ich nach dem jungen Arzt gesucht, und einfach gehofft, dass es bei ihm anders sein würde.

Ich hatte mich an seine Fersen geheftet, ihn berührt und versucht etwas umzuwerfen, aber es gelang mir einfach nicht. Selbst unter Aufwendung all meiner mentalen Kräfte, hatte er nicht auf mich reagiert.

Er stand unter Strom, immerhin drehte sich der Krankenhausalltag auch nach meinem Ableben weiter, und er schien sich alle Mühe zu geben, das Erlebte hinter sich zu lassen.

Ich merkte es an seinem Verhalten, den Sekunden, die er manchmal verharrte, und nachzudenken schien. Machte er sich Vorwürfe, weil er vielleicht hätte anders handeln müssen?

Wortlos stapfte ich hinter ihm her, von Raum zu raum, und mehr und mehr empfand ich Sympathie. Er mochte seinen Job, seine Patienten, und was er tat. Er fertigte die Menschen nicht ab, er nahm an ihren Problemen teil, und vermutlich hatte er es auch bei mir getan.

Wochenlang hatte ich dort gelegen, er war dort gewesen, und im Gegensatz zu all den anderen hier, schien er sich etwas aus meinem Ableben zu machen.

Vielleicht war das der Grund dafür, dass er mich gespürt hatte, denn in dieser Minute hatte seine Konzentration alleine bei mir gelegen.

Jetzt allerdings, wo das nicht mehr der Fall war, hatte ich einfach keine Möglichkeit mehr.

Ich nahm ihm das nicht übel, immerhin gab es hier Menschen, die noch lebten und eine Chance hatten.

Trotzdem hatte ich beschlossen, ihm weiter zu folgen, schließlich war die Chance bei ihm am höchsten, dass er mich vielleicht doch noch bemerkte, und schnell merkte ich, dass ich ihn wirklich mochte.

Er war ein guter Arzt, so zumindest meine Einschätzung, und er schien seine Arbeit zu lieben.

Er nahm sich Zeit für seine Patienten, hörte ihnen zu, und nie hatte ich das Gefühl, er würde sie nicht ernst nehmen.

Wir hatten uns gemeinsam von Zimmer zu Zimmer gekämpft, von Krankheit zu Krankheit, und eigentlich fand ich es ganz interessant.

Zu sehen wie er Menschen half, oder es zumindest versuchte, war eindeutig besser, als erfolglos zu versuchen, ein Glas Wasser umzuwerfen oder jemanden anzusprechen.

 

Dr. Krietsch war witzig und nett, und ich hatte den Eindruck, dass auch die Patienten ihn sehr mochten. Immer war er bemüht, die Gespräche nicht zu ernst zu gestalten, und er transportierte bei jedem davon Mitgefühl.

Im Gegensatz zu den anderen hier, nahm er Anteil und fragte auch nach den Menschen, die sich sorgten, ganz anders, als ich es sonst von Ärzten gewohnt war.

Er versuchte, ruhig zu bleiben, aber auf eine nicht unangenehme Art, und ich fand wirklich, dass er seine Sache sehr gut machte. Ich jedenfalls vertraute ihm, und war mir am Ende sicher, dass er alles getan hatte, um mein kleines Leben zu retten.

Dass er nach dem Erlebnis mit mir und meinem Tod doch so schnell wieder zu seiner Routine fand, beeindruckt mich irgendwie. Sicher war ich nicht die erste Sterbende für ihn gewesen, aber in Anbetracht der Mühe, die er sich gemacht hatte, fand ich es doch eine echte Leistung.

Im Gegensatz zu den meisten Ärzten, die ich zu Lebzeiten getroffen hatte, war er offen und freundlich, und schien jedes noch so kleine Problemchen ernst zu nehmen. Er tat nichts ab, fragte immer wieder nach, und schon nach kurzer Zeit war ich vollkommen hingerissen.

Dass er auch mein Arzt gewesen war, machte mich im Nachhinein glücklich. Sicher hatte er sich all die Wochen vorher um mich auf die gleiche Weise gekümmert, und ich hatte es nicht mal gewusst.

Dass sich überhaupt jemand um mich gekümmert hatte, war schon ein Wunder gewesen, denn normalerweise war ich ein eher einsamer Mensch gewesen. All die Zeit meines Lebens alleine zurechtzukommen, war schwer gewesen, aber es tröstete mich, dass es wenigstens in den letzten Wochen nicht so gekommen war.

 

„Ich werd jetzt Feierabend machen, wir sehen uns dann morgen!“

Die graue Kladde verschwand in der Halterung vor ihm, und sofort ergriff mich Panik. Wo ging er hin, und vor allem: Wo würde ich jetzt hingehen?

Natürlich war mir klar, dass auch er nicht hier übernachten würde, aber das wollte ich auch nicht. Alleine in diesem Zustand auf einem Krankenhausflur, das schien mir mehr als unheimlich.

„Alles klar. Wir sehen uns dann morgen! Und Alex: Es war nicht deine Schuld, die Kleine war schon vorher praktisch tot.“

Erschrocken sah ich auf den zweiten Arzt in dem kleinen Zimmer und dann auf den jungen Mann neben mir. Sprachen sie über mich?

„Ich weiß. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.“

Er sah traurig aus, als hätte man an ihn an eine äußerst schmerzhafte Niederlage erinnert und sofort tat er mir noch mehr leid.

Der junge Arzt namens Alex war eindeutig ein guter Mensch, einer der den Tod nicht gut verkraftete. Warum hatte jemand wie er einen solchen Beruf gewählt? Er schien mir eigentlich zu weich für einen so harten Job, ganz anders, als ich es erwartet hatte. Oder glaubte er, er könnte genau mit diesem gegen den Tod ankämpfen?

Immer hatte ich geglaubt, Ärzte würden sich aus dem Ende eines Lebens nichts machen, aber er belehrte mich eines besseren.

Vielleicht war er aber auch einfach noch nicht wirklich abgestumpft, und er machte sich deshalb so viele Gedanken, weil er selbst noch daran zweifelte, ob er wirklich alles in seiner Macht stehende getan hatte.

Auch das tat mir leid, denn sicher fühlte sich das nicht besonders gut an.

In meinen Augen, auch wenn ich nicht wirklich Ahnung davon hatte, waren seine Bemühungen genug gewesen. Ich hatte gesehen, dass er gekämpft hatte, hatte die Panik in seinen Augen gesehen und die Sekunden des Nachdenkens in den Stunden danach.

Für mich war er ein Held, ein ganz besonderer Mensch, und ihn jetzt so zu sehen, machte mich wirklich traurig.

Zu gerne hätte ich ihm all das gesagt, ihm seine Zweifel und Schuldgefühle genommen, aber ich sah einfach keinen Weg dazu.

 

Ja, ich war tot, aber irgendwie auch nicht. Der Körper in dem weißen Bett hatte mir nicht leidgetan, und eigentlich fand ich es auch nur halb so beängstigend, wie es eigentlich der Fall sein sollte.

Tot zu sein, darüber hatte ich nie nachgedacht. Aber wer tat das schon?

Ich hatte nie extrem an meinem Leben gehangen, den Tod immer als natürliches Ende angesehen, und Angst hatte ich eigentlich auch keine davor.

Sicher hatte ich Freunde, die vermutlich auch trauerten, aber keine Familie, denen es das Herz brechen würde.

Meine Eltern waren ebenfalls tot, und Geschwister hatte ich keine. Niemand würde wirklich leiden, und meine Freunde würden darüber hinweg kommen, falls sie nicht schon mit mir abgeschlossen hatten.

Der Tod war das Ende des Lebens, aber nichts, was man würde ändern können.

Jetzt wusste ich, dass es nicht mal das Ende war, und irgendwie enttäuschte es mich. Irgendwie hatte ich geglaubt, es würde irgendetwas Sensationelles passieren, oder es würde mich zumindest irgendwas oder irgendwer in Empfang nehmen.

Was stellte man an, wenn man anwesend war, aber nichts tun konnte?

Und wo waren bloß all die anderen Leute, die bereits vor mir verstorben waren? Wandelten sie alle, genauso wie ich, in der Welt herum, und versuchten erfolglos, auf sich aufmerksam zu machen?

Der Gedanke war irgendwie witzig, wenn auch verstörend, und ich beschloss, dass ich nicht panisch weiter versuchen würde, irgendwen auf mich aufmerksam zu machen.

Wie immer im Leben, zumindest in meinem, würden die Dinge sich von alleine regeln.

Ich würde schon merken, wie es jetzt weitergehen würde, und irgendwie würde es das schon. Nichts stagnierte, sicher nicht mal der Tod, und vielleicht hatte, wer auch immer dafür zuständig war, einfach vergessen mich hier abzuholen.

Vielleicht gab es gerade viel zu tun, oder aus irgendeinem andern Grund verzögerte sich meine Aufnahme in die Riege der Verstorbenen.

Erst jetzt dachte ich zum ersten Mal darüber nach, was jemandem wie mir dabei blühen könnte: War ich ein guter Mensch gewesen, und würde daher im Himmel landen, falls es denn einen gab?

Oder hatte ich genug schlimme Dinge getan, dass ich dort gar nicht erst um Einlass bitten durfte?

Auf jeden Fall würde ich nicht alleine in diesem Krankenhaus bleiben, schon gar nicht über Nacht.

Ich würde Alex folgen, wo auch immer er hingehen würde, und dann entscheiden, was ich mit meiner Nicht-Existenz anfangen könnte.

 

  1. Kapitel 4:

Die Wohnung war fast noch kleiner als meine und ich sah mich erstaunt um. Wieso wohnte ein Arzt, der sicher das Dreifache meines eigenen Gehaltes bekam, in so einer Bruchbude?

 

Hektisch war ich ihm gefolgt, hatte mich an ihm vorbei ihn seinen Wagen gequetscht, und dabei bemerkt, dass ich eindeutig nicht durch geschlossene Türen würde gehen können.

Auch da machten Filme einen etwas anderes glauben, dort konnten tote Menschen durch Türen oder sogar Wände gehen, aber die Wirklichkeit sah wohl anders aus.

Ich hatte versucht, auf der Beifahrerseite in den Wagen zu gelangen, und dabei bemerkt, dass ich eben nicht diese Sorte Geist war.

Da Alex jedoch schon fast im Wagen saß, hatte ich panisch den Wagen umrundet, und war in letzter Sekunde über sein Schoß auf die Beifahrerseite geklettert.

Er hatte nichts von all dem mitbekommen, obwohl ich den Eindruck hatte, er würde den Druck auf seinem Körper bemerken.

Für Sekunden hatte ich auf ihm gesessen, und hatte mir eingebildet, er würde seinen Körper unter mir anspannen. Ich hatte den Atem angehalten und versucht mehr Druck auszuüben, aber seine Reaktion hatte sich nicht geändert.

Er hatte den Wagen gestartet, und ich war weiter gerutscht, weil ich unsinnigerweise glaubte, er würde sonst die Straße nicht sehen. Wie sehr ich doch immer noch an meinen menschlichen Gedanken hing, wurde mir schlagartig klar. Ich war nicht mehr hier, nicht mehr sichtbar, und trotzdem hatte ich angst vor einem weiteren Unfall.

Wie lange es wohl dauern würde, bis ich all diese Dinge abgelegt hatte? Erwarten durfte ich da wohl nicht zu viel, immerhin war ich erst wenige Stunden tot, und musste mich an all das erst gewöhnen.

Trotzdem ärgerte ich mich, weil ich so eigentlich nicht war. Ich war immer ein Mensch gewesen, der sich schnell an neue Situationen gewöhnte, erst recht, wenn diese unabdingbar waren.

Wann immer etwas in meinem Leben passiert war, versuchte ich, mich der Situation anzupassen, ohne zu viel darüber nachzudenken. Wenn ich es ohnehin nicht ändern konnte, machte darüber nachdenken einfach keinen Sinn.

Auch das hatte mein Vater mir beigebracht, und auch wenn wir kein wirklich inniges Verhältnis gehabt hatten, konnte ich ihm jetzt nur dafür danken.

Viele andere Menschen, deren Leben weniger katastrophal als meines verlaufen waren, würden sich mit all dem hier schwerer tun. Ich jedoch, die praktisch immer alleine gewesen war, stellte einfach keine Anforderungen.

Mein Leben war wie ein Fluss mit hoher Geschwindigkeit an mir vorbeigerauscht, ich hatte die Wellen einfach ausgehalten, und war immer irgendwie damit durchgekommen.

Wenn ich eins gelernt hatte, dann, dass ich den Fluss einfach nicht aufhalten konnte. Dinge geschahen, manchmal auch schlimme, und man konnte sie nicht verhindern. Man konnte nur versuchen, die Welle zu erwischen, sich mit ihr tragen zu lassen, und zu warten, bis diese vorbei war.

Auch jetzt geschah genau das, ich musste das hier einfach aushalten, und irgendwann danach, würde es dann besser werden.

 

Jetzt, in seiner winzigen Wohnung, fühlte ich mich allerdings wie ein Eindringling.

Während er sich ein Brot schmierte, und dabei die Nachrichten im Radio anhörte, saß ich auf der ramponierten Couch, und fühlte mich schlecht.

Warum hatte ich geglaubt, dass das hier eine gute Idee sein würde?

Mit einem fremden Mann nach Hause zu gehen, auf die Idee wäre ich zu Lebzeiten nie gekommen, und auch jetzt schien das eine wirklich dumme Idee zu sein.

Es fühlte sich an, als würde ich spannen oder ihn beobachten, und schon jetzt hatte ich ein unfassbar schlechtes Gewissen.

Ich hatte mich umgesehen, obwohl es wirklich nicht viel zu sehen gegeben hatte, und hatte es mir dann auf der Couch gemütlich gemacht.

Zumindest das fühlte sich halbwegs vertraut und normal an, zum ersten Mal an diesem Tag.

Alles in der Wohnung schien zweckmäßig, aber wenig heimelig. Dass hier ein Mann wohnte, sah zumindest ich auf den ersten Blick. Keine Dekoration, keine gemütlichen Kleinigkeiten, nicht mal eine einsame Pflanze auf einer der Fensterbänke.

Warum jemand so reduziert lebte, der sich eigentlich sicher etwas anderes leisten konnte, ergab für mich keinen Sinn.

Oder arbeitete er so viel, dass für alles anderen keine Zeit blieb?

Mehr als einmal hatte ich von den langen Schichten und der schlechten Bezahlung in Krankenhäusern gelesen, aber keinen der Berichte wirklich ernst genommen. Schlechte Bezahlung lag im Auge des Betrachters, und wenn irgendjemand wusste, was schlechte Bezahlung wirklich hieß, dann ja wohl ich.

Ich, die sich ohne Trinkgeld an der unteren Grenze der Nahrungskette befand, konnte von Geldnot ein Lied mit zehn Strophen singen.

Sicher kannte er Geldsorgen nicht, da war ich mir sicher, aber anscheinend sah sein Leben doch nicht so rosig aus, wie ich es mir vorgestellt hatte.

In meiner Vorstellung waren Ärzte etwas anderes gewesen, ihnen ging es gut, und sie konnten sich all die Dinge leisten, von denen ich nur träumen konnte.

Alles in allem fand ich es merkwürdig. Die Wohnung mit mir darin, und die dunkle Atmosphäre aus Trostlosigkeit, waren verstörend.

Alex hingegen schien müde, was mich nicht wunderte, und nur zu gerne hätte ich ihm eine warme Mahlzeit gekocht. Jemand wie er, der so hart und voller Leidenschaft arbeitete, hatte mehr verdient, als ein lieblos belegtes Brot.

Für Sekunden hatte ich sogar mich selbst in ihm gesehen, was wirklich traurig war, denn er schien ebenso einsam und verlassen wie ich.

Wir beide arbeiteten für Menschen, gaben uns alle Mühe sie glücklich zu machen, und saßen am Ende unserer Tage trotzdem alleine da.

Auch Ärzte hatte ich als mögliche Partner nie in Betracht gezogen, immerhin waren sie viel klüger als ich, und auch bei ihnen glaubte ich, dass ich einfach weit unter ihnen stand.

Allerdings stellte ich diese Theorie jetzt wirklich in Frage, denn all das hier sah so gar nicht nach Reichtum aus. Vielmehr wie eine ungemütliche Version meiner eigenen Wohnung, und nicht mal annähernd wie ein Zuhause.

Warum lebte er so? Oder mochte er das hier wirklich?

Alex nahm neben mir Platz, ganz nah, und ich sah auf das lieblos dahingezimmerte Brot auf dem Teller.

Er hatte mehr verdient als das. Mehr als diese Wohnung, mehr als dieses traurige Dasein.

Ich versuchte erneut, ihn zu berühren, und mit aller Macht zu transportieren, dass ich noch immer bei ihm war.

Leider reagierte er auch darauf nicht, und stellte stattdessen den Fernseher an.

 

Eine Ewigkeit später saß noch immer am gleichen Platz auf der Couch und sah ihm beim Schlafen zu. Warum er nicht mal ins Bett gegangen war, wusste ich nicht. Er hatte sich einfach irgendwann zusammengerollt, die Decke über seinen Körper gezogen, und war dann in einen unruhigen Schlaf gefallen.

Sein Kopf lag dicht an meinen Beinen, und obwohl er es nicht spürte, strich ich unablässig über die blonden Haare.

Auch wenn er es nicht fühlte, mich tröstete es, und vielleicht würde sein Unterbewusstsein es trotzdem bemerken. Die weichen blonden Strähnen rannen durch meine Finger und beides fühlten sich echt an, nie und nimmer hätte ich daran gezweifelt, wenn ich es nicht besser gewusst hätte.

Seit Jahren war ich keinem Mann mehr so nah gewesen, ich hatte nicht mal eine Verabredung gehabt im letzten Jahr, und irgendwie war es schade. Dass ich nun hier saß und tot war, gab all dem einen sehr dunklen Anstrich.

Ich hatte all die Zeit geglaubt, dass ich einfach für niemanden die Richtige würde sein können. Arm und dumm, war ich nicht mal für den Dachdecker der hiesigen Firma die richtige Wahl, und hatte jeden Annäherungsversuch im Keim erstickt.

Als ich arbeitslos gewesen war, hatte ich mich selbst noch kleiner gemacht. Eine arbeitslose Frau, die schon ab der Mitte des Monats nichts mehr im Kühlschrank hatte, war für niemanden eine angemessene Begleitung.

Aus mir unerfindlichen Gründen hatte sich diese Meinung verfestigt, selbst als ich schon längst wieder in Lohn und Brot gewesen war, und ich hatte einfach beschlossen, dass ich niemanden mehr treffen würde.

Manchmal, wenn einer der Kunden mit mir geflirtet hatte, war ich darauf eingestiegen, weil es sich gut angefühlt hatte. Aber nie hatte ich eine der Einladungen angenommen, und immer sofort das Weite gesucht.

Wie dumm das war, wurde mir erst jetzt klar. Jetzt, wo ich diese Chance nie mehr haben würde, und wo mir klar wurde, dass einem tatsächlich die Zeit davonlaufen konnte.

All die Zeit davor hatte ich geglaubt, irgendwann würden auch für mich andere Zeiten anbrechen. Zeiten, in denen ich Verabredungen haben würde, in denen es mir besser gehen würde, und in denen ich es würde genießen können.

Jetzt war es für all das zu spät, und ich ärgerte mich. Ich hätte die Möglichkeiten nutzen sollen, mir weniger Gedanken über Geld und Gesellschaft machen, und mein Leben genießen sollen.

Genauso wie der Mann neben mir, dessen Leben bei genauerer Betrachtung noch trauriger schien, als mein eigenes es gewesen war. Auch er sollte ausgehen, Menschen treffen, und nicht seine wenige Freizeit in diesem Wohnalptraum verbringen.

In einer grauen Wohnung zu leben, über all die schrecklichen Schicksale des Tages nachzudenken und dabei fernzusehen, schien mir der Gipfel der Trostlosigkeit.

Alex brummelte neben mir ein paar unverständliche Worte, und ich strich ihm erneut eine Strähne weicher Haare aus der Stirn, was ihn sofort verstummen ließ.

Mein Herz setzte aus, weil ich glaubte, er hätte mich gespürt, und sofort fühlte ich das Glück in mir laut aufschreien.

Er hat dich gefühlt!

Alles in mir strahlte in einem hellen Licht, und ich hatte Hoffnung. Es gab einen Weg, einen aus dieser Unsichtbarkeit, und ich würde ihn finden. Egal wie, ich würde einen Weg finden, um den Menschen klar zu machen, dass ich noch immer bei ihnen war.

Ich berührte erneut seine Stirn, die warm und glatt unter meinen Fingern war, und sah dabei zu, wie sein Gesicht in zufriedene Entspannung fiel.

 

Zwei Stunden später fühlte mich noch immer nicht müde, vermutlich war man es tot einfach nicht mehr, und ich langweilte mich. Was sollte jetzt bloß aus mir werden?

Würde ich jetzt in dieser ewigen Langeweile ausharren müssen bis in alle Ewigkeit?

Oder würde irgendwann jemand kommen, und mich endlich abholen?

In Filmen und Büchern stand das gar nicht zur Debatte, immer tauchte jemand auf und kümmerte sich um den übriggebliebenen Menschen. In Filmen gab es ein weißes Licht, jemanden der einen abholte, oder zumindest den Ansatz eines Auftrages.

Ich hatte weder ein Licht gesehen, noch irgendwen anderes, der war wie ich, und einen Auftrag hatte ich wohl auch nicht.

Welchen auch? Es gab weder einen Mann in meinem Leben, noch irgendwen anderes, der meine Hilfe vielleicht noch brauchen würde.

Mein Blick fiel auf den Fernseher, der noch immer lief, und ich fragte mich, ob das jetzt meine Zukunft war.

Alex hinterherzulaufen, mit ihm fernzusehen, und auf ewig darauf verbannt zu sein, einfach nicht gesehen zu werden.

Meine eben noch existierende Energie war deutlich abgeflacht, und so langsam fragte ich mich, was es bringen sollte, jemanden auf mich aufmerksam zu machen. Was sollte dieser jemand dann mit der Information anfangen? Was sollte es mir bringen?

Selbst wenn Alex wusste, dass es mich gab, was würde uns beiden das bringen?

Sicherlich wollte und brauchte er keinen Geist in seiner Wohnung, und waren wir doch mal ehrlich: Ich war zu nichts mehr nutze.

Sicher war er ein guter Kerl, ein wirklich netter junger Mann, aber wie lange sollte das so laufen?

Auch wenn ich ihn süß fand, und durchaus der Meinung war, er könnte einen guten Geist wirklich gut gebrauchen, so war das sicher keine Dauerlösung.

Irgendwann würde er eine Frau treffen, ein Date haben, und ganz sicher wäre ich dabei überflüssig.

Ein guter Geist würde ich auch nur dann sein, wenn ich tatsächlich würde helfen können, und aktuell war das nicht der Fall. Ich saß herum, sah zu, wie er schlief oder aß, und vermutlich würde ich ihm am nächsten Morgen beim Duschen zusehen.

Alles Dinge, die nicht wirklich angebracht waren, aber etwas anderes konnte ich ja nicht.

Tot sein war ermüdend, zumindest emotional, so viel stand fest.

Ich kuschelte mich tiefer in die Couch, schloss die Augen, und legte meine Hand um den schlafenden Körper. Wenn ich auch aktuell zu nichts gut war, so würde ich doch zumindest eins können: Trost spenden.

 

Der nächste Morgen war hektisch. Mehr als das.

Vollkommen panisch spurtete Alex durch die Wohnung und putzte sich die Zähne, während er parallel versuchte, seine Jeans über die Beine zu ziehen.

Was genau das Problem war, ob wir verschlafen hatten oder er einfach so war, ahnte ich nicht.

Es gab ja diese Sorte Menschen, die immer zu spät aufstanden, und dann in Panik verfielen. Ich selbst war nicht so, ich brauchte meine Zeit, um aufzuwachen, und stand daher völlig überfordert all dem gegenüber.

Das Klingeln des Weckers hatte mich unsanft aus meinen Gedanken gerissen, und Alex war hektisch aufgesprungen, was mich sofort ebenfalls in Hektik fallen ließ.

Total unnötig, bei genauerer Betrachtung, immerhin gab es für mich absolut nichts zu tun.

Mein Körper sah aus wie gestern, meine Haare sah niemand, und selbst meinen üblichen Kaffee würde ich in diesem Zustand kaum zu mir nehmen können.

Zu duschen war ebenso unnötig, denn vermutlich würde das Wasser absolut nichts für mich tun, und vermutlich würde ich es gar nicht spüren.

Ebenso hektisch wie er rannte ich hinter ihm her durch die Wohnung und ging mir dabei selbst auf die Nerven. Warum tat ich das überhaupt?

Wieder ärgerte ich mich maßlos, weil er nichts Anständiges aß, und sich stattdessen in Lichtgeschwindigkeit eine Schüssel Cornflakes einverleibte. Warum gab es hier niemanden, der ihm etwas richtiges kochte? Warum war hier niemand, der ihm liebvoll eine Brotdose mit Leckereien vorbereitete, und warum konnte ich es nicht mal?

Warum hatte ein netter Typ wie er keine Freundin?

Mit verschränken Armen sah ich der Szenerie zu, und verstand die Welt nicht mehr.

Der junge Mann war süß, nackt sogar noch süßer, und trotzdem kümmerte sich niemand um ihn.

Er traf doch sicherlich tausende von Frauen in seinem Job, und die ein oder andere würde ihn sicher genauso nett finden wie ich.

Noch vor einer halben Stunde hatte ich mich schlecht gefühlt, weil ich ihn beim Duschen beobachtet hatte, obwohl sich das sicher nicht gehörte. Die Neugier hatte allerdings gesiegt, und wenn ich mir nun einer Sache sicher sein konnte, dann der, dass an diesem Mann absolut nichts falsch war.

Dass er trotzdem alleine war, tat mir aufrichtig leid.

Vielleicht wäre ich gut für ihn gewesen, wenn ich denn noch leben würde. Ich hätte gekocht für ihn, mich um ihn gekümmert, und hätte ihm sein Leben einfacher gemacht.

Er hätte nicht mehr alleine auf der Couch sitzen müssen, wir hätten es gemeinsam getan, und jeden Abend hätte ich ihn abgelenkt.

Mehr hatte ich mir zu Lebzeiten nie gewünscht, genau das hatte ich mir immer vorgestellt, und nun würde es nie mehr so weit kommen.

Ich hätte diejenige sein können, die ihm sein Essen hätte zubereiten können, und die ihm mit einer Brotdose mit liebevollen Zetteln voller Stolz auf die Arbeit geschickt hätte.

Mit mir hätte all das hier anders ausgesehen, er hätte sich an einen gedeckten Tisch gesetzt, und sich vermutlich darüber gefreut.

Auch hätte ich Abend mit ihm gesprochen, er hätte seinen Tag Revue passieren lassen können, und am Ende hätten wir vielleicht gelacht.

Über ihn, seine Arbeit, vielleicht auch über meine Erlebnisse des Tages.

Unsere Leben wären nicht mehr grau gewesen, sie hätten bunt sein können, und nun war diese Chance vergangen.

Vielleicht war ich es, die hätte mehr kämpfen sollen. Vielleicht war es mein Fehler gewesen, dass ich im richtigen Moment nicht genug an meinem Leben gehangen hatte.

Wenn ich aufgewacht wäre, genau so, wie er es von mir erwartet hatte, dann wären die Dinge vielleicht anders verlaufen.

 

Alex griff nach dem Schlüssel auf dem Küchentisch und ich überlegte, ob ich einen weiteren Tag im Krankenhaus überleben würde. So sehr ich ihn auch mochte, und so dankbar ich für die letzte Nacht auch war, ich würde nicht weiter hinter ihm herlaufen können.

Weiter zu versuchen, ihn auf mich aufmerksam zu machen, würde ihn vielleicht verwirren, und mich würde es frustrieren.

Aber was sollte ich sonst tun?

Die einzige logische Schlussfolgerung war, dass zu tun, was ich immer getan hatte. Ich würde zur Arbeit gehen, wie ich es immer getan hatte. Zu den Menschen, die ich kannte und mochte, und dann bei denen ich mich wohlfühlte. Vielleicht würde ich dort Antworten finden, oder zumindest erfahren, was eigentlich mit mir geschehen war.

 

  1. Kapitel 5:

„Fass das nicht an!“

Grete pampte die fremde Frau unfreundlich an, und ich musste schmunzeln. Sie hatte schon immer eine Art an sich, mit der viele Menschen nur schwerlich umgehen konnten. Ihre ruppige und etwas unfreundliche Art war es allerdings gewesen, die mir persönlich diesen Job einfacher gemacht hatte.

Grete gehörte zu den Menschen, von denen man von der ersten Sekunde an wusste, was man zu erwarten hatte. Ruppig und ungefiltert wie sie war, hatte sie zumindest mir gefallen. Ich fand es gut, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm, und jedem ihre Meinung ins Gesicht posaunte. Egal ob es ihm gefiel oder nicht.

Sie ließ sich nichts gefallen, auch nicht von Kunden, und schmierte niemandem Honig ums Maul. Im Gegensatz zu vielen anderen Salons, wo der Kunde immer recht hatte, und grundsätzlich jeder Wunsch erfüllt wurde, war es bei uns nie so gewesen.

Was Grete nicht wollte, wurde nicht gemacht, und wer ihr krumm kam, flog im hohen Bogen.

Schon Sekunden nach dem ich den Laden durch die offene Tür betreten hatte, hatte ich mich besser gefühlt. Es war wie heimkommen, ankommen, oder wie das Ende einer Reise, und ich hatte mich freudig auf meinen leeren Platz neben dem Fenster sinken lassen. Das hier war mein Stuhl, mein Arbeitsplatz, und der Spiegel, auf den ich Tage und Stunden gesehen hatte.

Meine Freude hatte allerdings nur kurz angehalten, denn ich hatte die fremde Frau mit meinem Rollwägelchen aus der anderen Ecke kommen sehen. Das meinen Job nun vielleicht jemand anderes haben könnte, darüber hatte ich nicht nachgedacht, aber es ergab natürlich Sinn.

Ich war tot, nicht mehr da, aber die Arbeit würde nicht weniger werden.

Wenn ich wirklich schon seit Wochen nicht mehr hier gewesen war, und stattdessen in dem Bett gelegen hatte, dann ergab eine Nachfolgerin wirklich Sinn.

„Warum? Ich dachte, ich kann den benutzten?“

Die junge Frau mit den roten Haaren blieb stehen und zeigte auf das Rollwägelchen voller Utensilien, dass ich selbst zusammengestellt hatte. In all den Jahren als Frisörin hatte ich alles Notwendige gesammelt, und all die Dinge dort verstaut, die ich in meinem Arbeitsalltag so brauchte.

Eisern hatte ich auf all die Scheren und Bürsten gespart, und am Ende voller Stolz in genau diesen Wagen gelegt.

„Nein! Stell das weg, das gehört dir nicht!“

Gretes Stimme klang nun wirklich sauer, und ich klatschte ihr insgeheim Beifall. Das war mein Wägelchen, und es würde immer so sein. Dass sogar Grete, die normalerweise eher praktisch veranlagt war, um eine Erinnerung an mich kämpfte, fand ich wirklich süß.

„Aber das ist doch doof, ich muss doch meine Sachen irgendwo hintun?“

Die junge Frau schien nicht zu verstehen, und ich stand auf um näher an sie heranzutreten. Sie war jünger als ich, flippiger, und eindeutig nicht schüchtern. Ob sie mit Grete zurechtkommen würde, zweifelte ich stark an.

Ich hatte mich, wie es eben meine Art gewesen war, immer bedeckt gehalten. Widerworte oder Diskussionen hatte ich immer vermieden, nicht nur in meinem Arbeitsleben, und Grete hatte mich dafür geschätzt.

„Aber nicht dieses, das gehört Spencer. Nimm ein anderes, und stell es an seinen Platz zurück!“

Der Klang meines Namens war ungewohnt, denn niemand hatte mich mehr angesprochen. Zumindest nicht, seit ich tot war.

Immer hatte ich den Namen gehasst, schon weil es eigentlich ein Jungenname war, und mein Leben lang hatte er mich genervt.

Dass meine Eltern mich Spencer genannt hatten, war allerdings kein Zufall gewesen. Beide hatten nach einem seltenen Namen gesucht, einem der international war, und mit dem man sowohl in England als auch Amerika gut überleben würde können. Weil beide geglaubt hatten, dass dieses Kaff am Ende der Welt nicht unser Endpunkt sein würde.

Mein Vater hatte bei einer Computerfirma gearbeitet, war sogar erfolgreich gewesen, und man hatte ihm schon früh in Aussicht gestellt, dass er irgendwann an einen anderen Ort versetzt werden würde.

Leider war es so weit nicht mehr gekommen, denn meine Eltern starben bei einem Unfall, als ich gerade mal zwölf Jahre alt gewesen war.

Wie absurd, dass nun auch ich auf die gleiche Weise das Zeitliche gesegnet hatte.

Ich landete bei meiner Tante, einer in sich gekehrten, einfachen Frau, und musst fortan mir dem merkwürdigen Namen im Dorfleben überleben.

Dass ich jemals aus diesem Kaff herauskommen würde, hatte ich mir spätestens mit fünfzehn abgeschminkt, denn meine Noten waren alles andere als gut. Meine Tante konnte mir nicht helfen, und Geld war auch nie vorhanden.

Wir kamen gerade so über die Runden, und immer hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass sie sehr glücklich mit der Situation war.

Sie hatte mich angenommen, weil einfach niemand sonst für mich hatte sorgen können, aber sie selbst hatte sich nie Kinder gewünscht.

Das sie dann mich an der Backe hatte, das Kind mit dem exotischen Namen, schien ihr alles andere als angenehm. Auch wenn sie mich gut behandelte, und mich irgendwie doch groß bekam, wirklich nahe hatten wir uns nie gestanden.

Sie, die weder Mann noch Kind gewollte hatte, hatte nichts mit mir anzufangen gewusst, und meine zurückhaltende Art hatte es nicht besser gemacht.

Wir hatten uns angeschwiegen, nebeneinander her gelebt, wie Fremde in der gleichen Wohnung, und so hatte ich mir die Einsamkeit praktisch anerzogen. Ich machte Dinge mit mir selbst aus, machte mir alleine einen Reim auf das Leben und seine Hürden, und war am Ende völlig verkorkst. Zumindest kam ich mir so vor, und rückblickend war an dieser These sicher etwas dran.

Mein ganzes Leben lang war ich mir vorgekommen, als sei ich sehr viel weniger Wert als all die anderen Menschen dort draußen, und erst jetzt sah ich ein, dass es einfach nicht so war.

Der junge Arzt hatte es mir gezeigt, mein Horizont war einfach viel zu klein gewesen, und auch ich hätte für jemanden eine wichtige Rolle spielen können.

Trotzdem war ich meiner Tante dankbar gewesen, wer weiß wo ich ansonsten gelandet wäre, und ich hatte versuchte, mein Leben mit ihr so unauffällig wie möglich zu führen.

Die meiste Zeit hatte ich mich bemüht unter dem Radar zu fliegen, möglichst nicht negativ aufzufallen, und vor allem, niemandem zur Last zu fallen.

Als dann auch noch meine Tante starb, stand ich von Heute auf Morgen alleine da, und stellte erschrocken fest, dass sich eigentlich nicht wirklich etwas geändert hatte.

Noch immer war ich das schüchterne Mädchen mit nur wenig Freunden, noch immer war ich eine miserabele Schülerin, und noch immer kämpfte ich mit dem bescheuerten Namen.

Praktisch jeder machte sich darüber lustig, niemand sprach ihn richtig aus, und mehr als einmal hatte man mich für einen Jungen gehalten.

Selbst als Erwachsene hatte man mir noch Kataloge mit der Ansprache „Herr“ geschickt, und ich hatte irgendwann aufgehört, das Missverständnis klar zu stellen.

Für mich war es nur ein weiterer Beweis dafür gewesen, dass ich im Grunde ein Niemand war, und dass es einfach keinen Weg gab, daran etwas zu ändern.

 

Jetzt gerade fühlte sich der Name zum ersten Mal gut an, denn es klang vertraut.

„Aber sie ist doch tot, sie braucht ihn doch nicht mehr. Es wäre doch schade, wenn die Sachen nicht mehr benutzt werden würden.“

Ich sah zu der jungen Frau, die kaum älter als zwanzig schien. Sie hatte recht, ich würde den Wagen sicher nicht mehr brauchen, und eigentlich würde es mich vielleicht sogar freuen, wenn jemand meine Sachen übernehmen würde. Wozu sollten all die Utensilien und die teuren Scheren denn sonst noch gut sein?

„Nein! Ende der Diskussion!“

Grete machte eine scheuchende Handbewegung und die junge Frau schob den Wagen schulterzuckend zurück in die Abstellkammer im hinteren Teil des Ladens.

Wenigstens hatten Grete mich noch nicht vergessen, wenigstens dachte hier noch jemand an mich.

Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich darüber nach, wie lange es dauerte, jemanden zu vergessen.

Meine Eltern hatte ich nie vergessen, die Erinnerungen, obwohl es nur wenige waren, waren so präsent wie eh und je.

Mit meiner Tante allerdings sah es anders aus. Obwohl ich den größten Teil meines Lebens mit ihr verbracht hatte, hatte ich sie zwar nicht vergessen, aber immerhin nicht mehr über sie nachgedacht.

Schon ein paar Wochen nach ihrem Tod, als all der Papierkram und die Überbleibsel bei Seite geräumt waren, verschwendete ich kaum noch einen Gedanken an sie.

Manchmal, aber nur selten, erinnerte ich mich an Anekdoten mit ihr, aber im Rest der Zeit war sie praktisch ausgelöscht.

Ähnlich ging es mir mit Männern, selbst bei denen, die ich länger in meinem Leben gehabt hatte. Mit der Zeit verschwamm die Erinnerung, sie flackerte nur manchmal auf, und irgendwann war sie nur noch ein Dunst am Rande meiner Gedanken.

Wie lange also würde es dauern, bis ich ebenfalls vergessen war? Bis ich nur noch ein Name in Gretes Erinnerung war, und bis niemand mehr sich an meine Zeit hier erinnern würde?

Vielleicht erinnerten sich einige Kunden an mich, würden vielleicht sogar nach mir fragen, aber wie würde es in einem Jahr sein? Würde irgendjemand dann noch nach mir Fragen?

Und was geschah mit mir, wenn die Menschen mich vergaßen? Würde ich dann einfach verschwinden?

Auch diese Version schien bei genauerer Betrachtung möglich. Vielleicht war ich nur noch hier, weil die Menschen sich an mich erinnerten.

In ein paar Monaten jedoch würde ich blasser werden, fast durchsichtig, und dann einfach verschwinden. Vielleicht binnen Stunden oder Tagen, aber ich würde mich einfach auflösen.

Weil andere Gedanken die Erinnerung überlagerten, neue Erinnerungen mich verdrängten, andere Schicksalsschläge größer waren.

 

Zwei Stunden später langweilte ich mich noch immer. Obwohl ich über den Tratsch der Stadt wieder auf dem neuesten Stand war, machte die Herumsitzerei mir so gar keinen Spaß. Nichts zu tun, nur da zu sitzen, und den anderen zuzusehen, war eindeutig keine Dauerbeschäftigung.

Ich hatte meinem Ersatz bei der Arbeit zugesehen, und fand durchaus, dass sie Potenzial hatte. Sie arbeitete schnell und sicher, und auch ihr Umgang mit den Kunden gefiel mir ausgesprochen gut. Sie lachte und scherzte, sehr viel mehr, als ich es getan hatte, und immer war sie offen, ohne dabei aufdringlich zu wirken.

Im Verlauf der Gespräche fand ich heraus, dass ihr Name Lisa war, und dass ebenfalls aus dieser Stadt kam.

Sie erinnerte mich an mich selbst, irgendwie mochte ich sie, und obwohl sie ein ganz anderer Typ Mensch zu sein schien, hatten wir doch unsere Gemeinsamkeiten.

Ihr Humor war wie meiner, auch wenn ich ihn nie so nach außen getragen hatte, und auch ihre Ansichten deckten sich mit meinen.

Sie war ähnlich einfach wie ich gestrickt, hatte sich mit ihrem Leben abgefunden, und war ernsthaft bemüht, sich in der kauzigen Gemeinde ihren Platz zu erhalten.

Mich beruhigte das, immerhin hatte mein Tod damit jemandem ermöglicht hier zu bleiben, und ich beschloss, sie schon alleine dafür zu mögen.

Sie flüchtete nicht, sie kämpfte um ihren Platz, und so weit ich das beurteilen konnte, gelang ihr das weit besser, als es mir gelungen war.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sie meine Sachen gerne übernehmen können, aber ich sah aktuell keine Möglichkeit, irgendetwas für sie zu tun. Wie sollte ich auch Greta klar machen, dass es in Ordnung war?

 

Ich sah aus dem Fenster hinüber zu der Galerie, dessen Auslage noch immer unverändert war. Die Ballerina tanzte noch immer still, und auch die Landschaft stand noch immer auf ihrem Platz.

Ob er wohl dort drüben war, und wie immer einen Anzug trug?

Seit meinem Tod hatte ich nicht mehr an ihn gedacht, und jetzt wunderte es mich. Er war immer der Inhalt meiner Gedanken gewesen, jeden Tag war ich hierher gekommen, hatte auf ihn gewartet, und jetzt hatte ich ihn einfach vergessen.

Die letzten beiden Tage hatte ich keine Sekunde an ihn gedacht, nicht eine einzige, dabei sahen meine Mittel doch jetzt ganz anderes aus.

Jetzt, wo ich die Chance hatte, einfach so in den Laden zu spazieren, und nach ihm zu sehen.

Ruckartig stand von meinem Platz auf der Heizung auf, auf dem ich die letzten Stunden verbracht hatte, und trat näher an das Schaufenster.

Ja, ich würde rüber gehen können und ihn vielleicht ohne Hut sehen. Zum allerersten Mal.

Euphorie ergriff mich, denn diese Chance war unglaublich. Nach Monaten der fernen Beobachtung, lag die Lösung jetzt direkt vor mir.

Dass es allerdings doch nicht so einfach sein würde, wurde mir sofort klar. Ich, die keine Türe öffnen konnte, würde dort nicht so einfach reinkommen.

Aber warum konnten andere Geister es? Warum glaubten die Lebenden, dass Geister so etwas konnten? Irgendeinen Grund musste es doch haben, und immerhin hatte Alex mich gespürt. Er hatte meine Hand gefühlt, und daher musste doch irgendwas an all dem dran sein.

Wenn er mich spürte, dann musste es doch auch einen Weg geben, etwas zu berühren oder zu bewegen, ähnlich wie ich es in all meiner Wut mit der Tür im Krankenhaus geschafft hatte. Zwar hatte diese sich nur Millimeter bewegt, aber immerhin.

In praktisch jedem Film konnten Geister durch Wände gehen, Dinge bewegen, Menschen auf sich aufmerksam machen.

Natürlich gab es Sagen, vielleicht auch Märchen, aber wie konnten alle diese Geschichten sich so sehr gleichen, wenn doch am Ende nichts Wahres dran war?

Oder stellte ich es einfach falsch an?

Ich beschloss, dass alles nochmal ganz von vorne zu beginnen, begonnen bei dem ersten Mal, als er mich gefühlt hatte.

Was war anders gewesen, als bei all meinen anderen Versuchen? Warum funktionierte es manchmal, und dann wieder überhaupt nicht?

Aufregung. Ich war aufgeregt gewesen und hatte Mitleid gehabt. Der junge Arzt hatte mir leidgetan, weil er den Kampf verloren hatte. Ich selbst war aufgeregt gewesen, weil ich nichts von all dem verstanden hatte, und mein toter Körper vor meinen Augen in sich zusammen gefallen war.

Ich suchte nach irgendeiner Erinnerung, die mich wirklich aufregte, und fand sie sofort. Das letzte Mal, bei dem ich mich wirklich aufgeregt, und bei der ich vor Wut fast geplatzt war, war ich genau hier gewesen.

Eine Situation, die mich an den Rande des Erträglichen gebracht hatte, und bei der mein Herschlag sich binnen Sekunden verdoppelt hatte. Eine Kundin hatte mich so weit gebracht, und Grete hatte sie am Ende im hohen Bogen auf die Straße gesetzt.

Sie hatte auf Karminrot bestanden, obwohl ich ihr dringend davon abgeraten hatte, und hatte mich danach beschimpft, weil ihr die Farbe dann doch nicht gefiel.

Rote Haare standen nicht jedem, was ich ihr auch sagte, aber die Dame zeigte sich uneinsichtig. Als sie das Ergebnis dann sah, den Alarmknopf auf ihrem Kopf, war sie erst blass geworden, und dann völlig aus der Haut gefahren.

Das Gespräch war unschön verlaufen, und sie hatte sich bei Grete beschwert, die zu all dem nur mit den Schultern zuckte.

Ich hatte mich geärgert, weil ich das Unheil hatte kommen sehen, und weil ich es nicht verhindert hatte.

Die Dame hatte mir schlimme Dinge vorgeworfen, allen voran, dass es meine Absicht gewesen war, sie zu verunstalten.

Ich hatte die Wut still hinuntergeschluckt, weil ich keinen Ärger hatte haben wollen. Wortlos hatte ich neue Farbe angemischt und das Rot überfärbt, ohne auch nur ein Wort der Verteidigung zu verlieren.

Trotzdem war die Kundin unzufrieden geblieben, hatte genörgelt und nicht zahlen wollen, bis zu dem Punkt, an dem auch Grete dann der Kragen geplatzt war.

Wütend wie bei dieser Gelegenheit, hatte ich auch sie noch nie erlebt, und hatte geschockt dabei zugesehen, wie Grete die Jacke der Kundin in hohem Bogen auf den Bürgersteig vor unserem Laden geworfen hatte. Das Ganze begleitet von einer Schimpftirade, die jeden Seemann neidisch gemacht hätte, und mit dem gebrüllten Vermerk, dass sie bitte niemals wiederkommen sollte.

Ich selbst hatte still zugesehen, und mich dabei schlecht gefühlt. Weil ich es nicht geschafft hatte, die Kundin zufrieden zu stellen, und weil die Worte mich verletzt hatten.

Darüber nachzudenken reichte aus, um meine Wut erneut aufflammen zu lassen.

Was bildeten sich manche Leute überhaupt ein? Was dachten sie, wer sie sind, und was glaubten sie eigentlich, was sie sich erlauben konnten?

Glaubten die Leute wirklich, dass man mich so behandeln konnte, nur weil ich ich war?

Ich stapfe im Laden umher, versuchte, die Wut größer und mächtiger werden zu lassen, und gab ihr jede Kontrolle über meinen Geist. Wenn ich nur wütend genug war, dann würde diese Kraft vielleicht reichen, um irgendeinen Gegenstand hier zu bewegen.

Wut war eine starke Emotion, eine die schwer zu kontrollieren war, und ich würde diese Kraft nutzen.

Mir fiel die Kaffeetasse einer Kundin auf, die achtlos aus dem kleinen Tisch neben dem Spiegel stand, und ich beschloss, es damit zu versuchen. Wenn ich sie würde bewegen können, dann würde ich sicher auch andere Dinge bewegen können.

Und dann würde ich vielleicht die Türe auf der anderen Straßenseite öffnen können.

Ich trat an den kleinen Tisch und konzentrierte mich auf die Tasse und auf den Löffel, der auf dem Teller darunter lag.

Mit dem Finger stupste ich dagegen, aber nichts geschah.

Egal wie sehr ich mich bemühte, egal was ich veranstaltete, weder Löffel noch Tasse bewegten sich, und nicht mal der Rest Kaffee in der Tasse bewegte sich im Takt meiner Bewegung.

Nicht mal eine winzige Bewegung auf der Oberfläche brachte ich zustande.

Die Frustration war fast übermächtig, und irgendwann hämmerte ich völlig sinnlos auf die Tasse ein, mit der absolut nichts geschah. Ich spürte allerdings auch nicht die das Porzellan unter meinen Fingern, und auch nicht den Tisch darunter.

Anders als es bei Alex gewesen war, dessen Stirn ich ganz deutlich gespürt hatte, fuhr mein Finger durch das Material, ohne dass ich es fühlte.

Warum war das so?

Ich fluchte vor mich hin, aber auch das half nicht, und irgendwann kam ich mir selbst dumm vor. Dumm, weil ich wie eine Irre auf die Tasse gehämmert hatte, und weil ich vor lauter Wut begonnen hatte, auf und ab zu springen.

Wut war es also nicht, mit der ich Dinge bewegen konnte.

Ich gab auf, und zog mich geknickt zurück auf meinen Platz auf der Heizung, während niemand von all dem etwas mitbekommen hatte.

Lisa strich Strähnchen in die Haare einer Frau, und Grete plauderte mit dem Postboten über das Wetter. Alles wie immer, alles wie an jedem anderen Tag, und alles, als hätte es mich hier nie gegeben.

 

Ich sah zu, wie Grete nach ihrer Handtasche griff, und dabei den Lichtschalter betätigte.

Der Tag war anstrengend gewesen, auch für mich. Ich hatte nachgedacht, geglotzt, und war keinen Schritt weiter gekommen.

Kurz hatte ich überlegt zurück zu Alex ins Krankenhaus zu gehen, es aber dann doch gelassen. Die Situation war ohnehin frustrierend genug, und würde in seiner traurigen Wohnung kaum besser werden.

Außerdem kam ich mir auch etwas gemein vor, denn immerhin wusste er weder von meiner Anwesenheit, noch ahnte er etwas davon.

Ihn als mein persönliches Trostpflaster zu nutzen, nur damit ich nicht so einsam war, kam mir ebenso falsch vor.

Mich an die Fersen von jemanden zu heften, der das noch nicht einmal ahnte, war einfach nicht fair.

Ich huschte vor ihr aus dem Laden, aus lauter Angst sie würde mich sonst hier einsperren, nur um kurz darauf zu merken, dass dies nicht die beste Idee meines Lebens gewesen war.

Wieder hatte ich keine Ahnung, wo ich hin sollte, und jetzt war der Laden zu. Der einzige Ort, der mir vertraut war, war damit unerreichbar, und würde es auch bis zum nächsten Morgen bleiben.

Planlos sah ich die leere Straße entlang und erst jetzt wurde mir klar, wie lang die Stunden einer Nacht sein konnten, wenn man keine Ahnung hatte, wie man sie herumbringen sollte.

Wo also sollte ich hingehen? Wäre es nicht besser gewesen, im Laden zu bleiben?

Ich ärgerte mich, dem Impuls nachgegeben zu haben, und sah zurück in den Laden, der jetzt im Dunkeln lag. Verdammt.

Kurz dachte ich darüber nach in meine eigene Wohnung zu gehen, aber ich verwarf ihn sofort wieder.

Zu groß war meine Angst, dass dort einsam und alleine meine Sachen standen, um die sich nun niemand mehr kümmern würde.

Mal abgesehen vom gleichen Problem wie hier, denn rein würde ich wohl kaum kommen.

Dass irgendjemand in meiner Wohnung sein könnte, war unwahrscheinlich. Niemand hatte einen Schlüssel, außer vielleicht der Vermieter, und keiner goss meine Blumen, wenn ich mal nicht da war.

Was ohnehin, wenn wir mal ehrlich bei all dem waren, so gut wie nie der Fall gewesen war, denn nur äußerst selten war ich länger als einen Tag von hier fort gewesen.

Wer also hatte sich überhaupt um meine Sachen gekümmert? Oder hatte man sie schon längst eingelagert oder entsorgt?

Beides lag im Bereich des Möglichen, allerdings glaubte ich nicht wirklich daran, dass man einen Tag nach meinem Tod meine persönlichen Gegenstände schon einer Müllpresse übergeben hatte.

Der Gedanke das es trotzdem passieren würde, war alles andere als angenehm. Auch wenn es dort keine Reichtümer gab, so waren es doch meine Schätze. Bilder meiner Eltern, Erinnerungen an schöne Erlebnisse oder Menschen, die mir mal wichtig gewesen waren.

All das würde jemand anderem nichts bedeuten, und er würde der Wert nicht erkenne. Das würde nur jemand, der mich gut kannte.

Es gab nicht wirklich jemanden, jeder in meiner Familie war schließlich tot, und ob wirklich einer meiner Freunde meine Wohnung auflösen würde, wagte ich zu bezweifeln.

Sicher kannte ich Leute, hatte auch Freunde, aber mir fiel niemand ein, dem ich nah genug stand.

Die Vorstellung, dass fremde Menschen meine Sachen packten, war schrecklich, und ich wollte es ganz sicher nicht sehen. Das alleine war Grund genug, in meine Wohnung nicht mehr zurückzukehren.

 

Nun stand ich also hier, und hatte keine Ahnung, was zu tun sei.

Mein Blick schweifte zu der Galerie, und ich huschte über die Straße hinüber zu dem großen Schaufenster. Wenigstens eine Sache, die sich nicht verändert hatte. Wenigstens eine Konstante, in diesem absoluten Chaos.,

Wie immer gab es kein Licht im Inneren, und wie immer, sah ich auch keinen Menschen. Wie deprimierend.

Ob die Menschen wussten, wie deprimierend der Tod wirklich war?

Ich strich mit dem Finger über das schmutzige Glas, ohne dabei einen sichtbaren Abdruck zu hinterlassen.

Wenn ich zu Lebzeiten geglaubt hatte, einsam zu sein, dann wusste ich jetzt besser. Einsamer als ich konnte man wohl kaum sein, und deprimierender als das hier, konnte wohl kaum ein Dasein sein.

Nicht mal einen Ort zu haben, nicht mal ein Dach über dem Kopf, das fühlte sich wirklich nicht schön an.

Der Wunsch, die Galerie zu betreten, war übermächtig, aber unrealistisch. Wer nicht mal eine dusselige Kaffeetasse bewegen konnte, würde erst recht die Türe nicht öffnen können.

Sehnsüchtig sah ich in den Innenraum auf das alte Sofa darin.

So nah, und doch so unerreichbar fern.

Ich ließ mich an der Scheibe hinab auf den Asphalt sinken, und merkte, wie sehr mich das doch alles mitnahm.

Nie vorher war ich bewusst in einer ähnlich aussichtslosen Situation gewesen. Immer hatte es irgendeinen Ausweg geben, irgendeinen Lichtblick, und selbst in den dunkelsten Momenten meines Lebens, war es irgendwie weiter gegangen.

Nur jetzt sah es nicht danach aus. Ich würde rastlos, ohne einen Platz, den ich Zuhause nennen konnte, ewig ruhelos sein.

Tränen rannen über meine Wangen, und ich schluckte den Klos in meinem Hals hinunter. Wo sollte ich nun hin? Und was sollte mit mir werden?

 

Minutenlang heulte ich, ohne wirklich zu wissen, was das eigentlich bringen sollte. Niemand würde mich hören, niemand würde darauf reagieren, und besser werden würde damit auch nichts.

Aber manchmal heulte man eben auch einfach so, damit man sich hoffentlich danach besser fühlte.

In meinem Fall war das nur leider absolut nicht der Fall, und ich fühlte mich eher schlechter als besser. Schlechter, weil dort niemand war, der mich trösten würde, und weil mir noch immer jeder Plan für meine Zukunft fehlte.

Hatte man als übrig gebliebener Geist überhaupt so etwas? War ich vielleicht einfach vergessen worden, und deshalb noch immer hier gefangen?

Schon die ganze Zeit hatte ich überlegt, dass bei mir irgendetwas schief gelaufen sein musste, und ich deshalb noch immer hier herumdümpelte.

Vielleicht hatte auf der anderen Seite jemand ein Formular nicht anständig ausgefüllt, oder meinen Antrag auf Aufnahme verschlampt, und ich musste daher hier unsichtbar herumsitzen?

Ganz abwegig schien mir das nicht, immerhin glaubte ich kaum, dass die Regeln dort andere seien als hier. Irgendwoher musste die viele Bürokratie ja kommen, und sicher würde diese auch auf der anderen Seite nicht weniger werden.

Ja, so musste es sein. Irgendjemand hatte meine Aufnahme verschlampt, oder sie lag auf irgendeinem Aktenberg und staubte vor sich hin.

Wie ärgerlich das für mich war, würde niemanden interessieren, und auf Nachfrage würde man mir sicher antworten, dass ich eben dran war, wenn ich dran war.

Wie vielen Toten es ähnlich ging, darüber wollte ich lieber gar nicht erst nachdenken. Vermutlich war die Liste lang, und ähnlich wie auf den sonstigen Behörden, würde nur ein zuständiger Mitarbeiter daran arbeiten.

Also würde ich wohl warten müssen, bis auch meine Akte dran war, und die Zeit eben so lange totschlagen müssen.

Wie viele Menschen starben an einem normalen Wochentag? Hunderte? Was also, wenn der Sachbearbeiter für die Überführung von Toten in Urlaub war, und deshalb dort gerade niemand arbeitete?

Und was war, wenn mein Antrag doch verloren gegangen war, und unter Ablage F statt C lag? Würde ich dann nie abgeholt werden?

Der Gedanke war fast noch schlimmer als die Einsamkeit, und trug zu meiner Laune nicht wirklich bei.

Schnell versuchte ich an etwas anderes zu denken, etwas weniger Dramatisches, und vor allem, endlich aufzuhören zu heulen.

Vielleicht war ich aber auch einfach zu plötzlich gestorben, immerhin hatte nicht mal Alex meinen Tod erwartet, und vielleicht war deshalb einfach noch gar kein Antrag für mich vorhanden.

Mit diesem Gedanken konnte ich mich anfreunden, immerhin konnte es bedeuten, dass ich einfach noch etwas Zeit brauchte, und gleich fühlte ich mich besser.

Ich raffte mich vom Boden auf und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.

Ja, ich würde eben abwarten, irgendwer würde schon über mich stolpern.

Irgendwann würden sie mich holen, und dann würde alles gut werden, und so lange das nicht der Fall war, würde ich versuchen den Mann mit dem grauen Anzug zu finden.

Das einzig Positive an all dem war die Tatsache unsichtbar zu sein, und diese würde ich nutzen.

Wenn schon alles so schrecklich war, und ich ohnehin nichts anderes zu tun hatte, dann würde ich endlich herausfinden, wie sein Gesicht aussah.

Dass er gut aussehen würde, da war ich mir sicher. Jemand mit einem solchen Auftreten musste gut aussehen, und endlich würde ich auch herausfinden, was genau er hier tat.

Ich straffte die Schultern und wischte die Tränen und den Rotz an meiner Jeans ab.

Ja, ich würde es in Angriff nehmen, und ich würde sein Geheimnis lüften.

 

  1. Kapitel 6:

Ich stapfte vor der Galerie auf und ab, und so langsam ging mir selbst das auf den Geist.

Mein Kämpfergeist war schon deutlich abgeflacht, immerhin latschte ich schon sicher eine halbe Stunde die Straße auf und ab, ohne einen echten Plan.

Kein Mensch lief an mir vorbei, die Straße vor mir war leer, und auch im Inneren tat sich einfach überhaupt nichts.

Schon vorher war er nur unregelmäßig hierher gekommen, und nie hatte ich ein Muster dahinter entdecken können.

Schon zu meinen Lebzeiten hatte ich versucht, mir die Zeiten zu merken, immer auf die Uhr gesehen, aber nie hatte sich eine Art Regelmäßigkeit daraus ergeben.

Er kam an jedem Tag zu einer anderen Zeit, er ging auch immer zu anderen, und manchmal hatte ich ihn tagelang nicht gesehen.

Meist glaubte ich dann, ich hätte ihn verpasst, aber war das wirklich so gewesen? War er nicht vielleicht einfach gar nicht da gewesen, und würde das bedeuten, dass ich jetzt Tage hier würde warten müssen?

Der Gedanke war noch frustrierender als alles andere, denn die Aussicht die ganze Nacht hier herumzulungern, war alles andere als angenehm.

Erneut dachte ich daran, dass ich doch besser zurück zu Alex gegangen wäre. Ich wäre mit ihm in seine Wohnung gegangen, wir hätten ferngesehen, und am Ende hätte ich ihm beim Schlafen zugesehen. Eigentlich eine ganz angenehme Vorstellung, im Gegensatz zu dem hier.

Aber jetzt war es zu spät, sicher war er schon längst daheim, und alleine im Krankenhaus auf den Fluren rumzustehen, war auch nicht besser als das hier.

Wie lange also würde es dauern, bis er diesmal hierher zurückkehren würde? Oder war er vielleicht dort drinnen, und würde irgendwann raus kommen?

Was würde ich dann tun? Ihm folgen?

In meinen Gedanken war ich ihm immer in die Galerie gefolgt, und nie hatte ich darüber nachgedacht, dass auch er vielleicht, statt rein zu gehen, nach Hause gehen würde.

Ich lehnte mich gegen die Türe, weil mir einfach nichts Besseres einfiel, und merkte, wie sie dem Druck nachgab. Erschrocken sprang ich zur Seite, weil ich es nicht glauben konnte. Hatte sie sich tatsächlich bewegt, oder hatte ich mir die winzige Bewegung nur eingebildet, weil ich sie mir so sehr wünschte?

Mein Finger fuhr über den Messingknauf und ich drückte leicht, worauf die Tür mit einem leisen Klacken aufsprang. Nur Millimeter, aber eindeutig offen.

In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, und ich schloss die Tür, nur um zu sehen, ob ich es konnte. Es klackte, sie war zu.

Warum konnte ich das? Warum konnte ich diese Türe öffnen, obwohl es mir bei keiner sonst gelungen war?

Erneut drückte ich gegen den Knauf, und das Klacken drang durch die Stille der leeren Straße.

Das konnte wirklich nicht wahr sein. Seit Stunden stand und saß ich hier herum, und dann ging diese Tür so einfach auf?

Ich drückte sie auf, so dass ich eintreten konnte, und sofort schlug mir der etwas muffige Geruch von alten Möbeln und Farbe entgegen.

Der Raum war dunkel und irgendwie staubig, und nur wenig Licht von der Straße drang durch das Fenster hinein.

Vorsichtig schloss ich die Türe hinter mir, und fragte mich, warum diese nicht verschlossen war. Wer ließ den eine Ladentür in seiner Abwesenheit einfach offen stehen? Hier war ja schließlich niemand, und wer passte dann auf die vielen Gemälde auf?

Ich sah mich um, und entdeckte eine Reihe Bilder auf dem Boden und den Wänden. Alles sah unordentlich und wenig sortiert aus, und nicht so, als würde hier wirklich etwas verkauft werden.

Was war das bloß für ein merkwürdiger Laden?

Ich trat durch den Verkaufsraum in das kleine Hinterzimmer, aber auch hier sah es nicht besser aus.

Mal abgesehen von der Tatsache, dass ich hier noch weniger erkennen konnte, sah es auch hier aus wie auf einem Schlachtfeld. Sicher an die fünfzig Bilder standen aufgereiht an den Wänden gelehnt, und auch die Wände selbst, waren bis in die letzte Ecke zugepflastert. Jeder Ritze war mit großen und kleinen Bildern gefüllt, und fast glich es einem Mosaik aus nicht zusammenhängenden Motiven.

Von Ausstellung konnte hier keine Rede sein, und ich fragte mich ernsthaft, wozu all das gut sein sollte.

Keines der Bilder passte zum anderen, und die schiere Masse erschlug einen einfach. Einladend war das nicht, von übersichtlich ganz zu schweigen, und es ergab einfach keinen Sinn.

Für dieses Chaos hätte eine Lagerhalle gereicht, es gab ohnehin kein System, ein Laden war in meinen Augen überflüssig.

Die zugekleisterten Wände überforderten die Augen, man fand weder einen Anfang noch ein Ende, und es viel mir schwer mich auf ein einzelnes Bild zu fokusieren.

Ich sah Landschaften und Orte, Wiesen und Szenen aus praktisch jeder Epoche, und keines glich dem anderen.

Selbst die Malstile unterschieden sich, und vermutlich war jedes der Gemälde von einem anderen Künstler.

Moderne wurden von altertümlichen abgelöst, und ganz am Rand erkannte ich ein Bild, von dem ich nicht mal eine Ahnung hatte, was es vielleicht darstellen konnte. Graphische Muster reihten sich in einem wilden Tanz aneinander, ohne wirklich etwas darzustellen.

Ich legte den Kopf schief um es aus einer anderen Perspektive zu betrachten aber mein Eindruck änderte sich nicht. Für mich waren das Dreiecke und Rechtecke, nicht mehr und nicht weniger, aber was wusste ich auch schon?

Direkt daneben sah ich eine Landschaft, die der aus dem Schaufenster ähnelte. Der Landschaft, die ich jeden Tag von meinem Platz am Fenster betrachtet hatte. Auch wenn ich keine Ahnung von Malerei gehabt hatte, so hatte dieses Bild mir noch immer am meisten gefallen.

Die grüne Wiese mit dem kleinen Haus hatte mir gefallen, und auch das Meer dahinter, hatte mich angesprochen.

Oft hatte ich darüber nachgedacht, dass ich dort gerne leben würde. Die Ruhe, die das Bild ausstrahlte, hatte mich immer wieder gepackt, und immer wenn mein Tag nicht gut verlaufen war, hatte ich auf das Bild gesehen, und mich dorthin gewünscht.

Ob auf dem Bild wirklich Irland zu sehen war, wusste ich natürlich nicht, aber in meiner Vorstellung war es so.

Für mich war der Ort auf dem Bild in Irland, nah an einer Klippe vor dem Meer, und wenn ich aus dem Fenster sehen würde, wäre die Gischt des Meeres unter der Klippe zu hören.

Ein rauer Ort, geerdet und weit weg von all dem Ärger und den schlechten Menschen, an dem man abschalten und ruhen konnte.

Es gäbe auch Schafe, auch wenn man sie auf dem Bild nicht sah, und immer würde ein leichter Wind durch das Gras vor dem Haus rauschen.

Man würde das Meer riechen, weil es so nah war, und im Haus würde ein Kamin für die nötige Wärme sorgen.

All das hatte ich in dem Bild gesehen, obwohl das meiste davon meiner Phantasie entsprungen war, und zum ersten Mal in meinem Leben, hatte ich eine Ahnung bekommen, was Menschen an Gemälden faszinierte.

Es war nicht das, was man darauf sah, sondern das, was vielleicht dahinter steckte.

Jedes Bild war nur ein Ausschnitt von etwas, und die Interpretation davon, lag in der Phantasie jedes einzelnen.

Für mich war das dort Irland, für einen anderen würde es vielleicht Ostfriesland sein.

 

Ich sah mich weiter um, aber es gab keinen weiteren Raum außer diesem. Lediglich eine Abstellkammer, aber auch diese war bis zur Decke gefüllt mit Gemälden.

Er war also nicht hier.

Entmutigt nahm ich auf einem Stuhl im Verkaufsraum platz, und überlegte, ob sich ein Hierbleiben für mich lohnen würde.

Der Funken Hoffnung wurde blasser, was absolut nicht zu meiner Laune beitrug, aber immerhin hatte ich ein Dach über dem Kopf und musste nicht in der nächsten Mülltonne auf den nächsten Tag warten.

Es konnte Tage dauern, bis der Mann wieder kam, und ob es so sein würde, wusste ich auch nicht.

Was wusste ich schon, was während der letzten Wochen passiert war?

Vielleicht kam er nicht mehr hierher, und ich würde völlig ohne Grund hier warten?

 

Bevor ich weiter Zeit hatte, mir darüber Gedanken zu machen, hörte ich, wie das Klacken die Stille erneut durchbrach.

Erschrocken sprang ich auf, nur um mir dann klar zu machen, dass ich absolut keinen Grund zur Panik hatte. Immerhin war ich unsichtbar, und hatte eigentlich nichts zu befürchten.

Ich sah die dunkle Silhouette mit dem Hut, und mein Herz hörte wie jedes Mal auf zu schlagen. Obwohl es eigentlich nicht sein konnte, spürte ich es noch immer.

Es schlug wie eh und je, bildete ich mir zumindest ein, und er brachte es zum Stillstand.

Die Silhouette wand sich zu mir, und ich spannte mich an.

„Was zum...!“

Die dunkle Stimme klang erschrocken, und auch ich zuckte ebenso erschrocken zusammen. Sah er mich etwa?

„Was machen sie hier!?“

Der Mann kam näher, und ich wich zurück, weil mich nun echte Panik ergriff. Wenn er mich sehen konnte, was eigentlich außerhalb des Möglichen lag, dann stimmte auch mit ihm etwas nicht.

„Sie sehen mich?“

Meine Stimme klang belegt, und ich räusperte mich sofort.

„Natürlich sehe ich sie! Was tun sie hier, und wie sind sie hier reingekommen?“

Noch immer lag sein Gesicht im Schatten der Hutkrempe, und ich konnte nicht erkennen, wie wütend er wirklich war. Auch wenn seine Stimme verärgert klang, so schien er mir nicht wirklich gefährlich.

Die Frage verstand ich im Grunde auch nicht, immerhin war es doch wohl gewesen, der die Türe hatte offen stehen lassen.

Den Hinweis, dass ich ziemlich bis gänzlich Tod war, und er mich daher eigentlich nicht sehen können sollte, sparte ich mir an dieser Stelle. Zu groß war meine Freude, dass überhaupt jemand mich sehen konnte.

„Durch die Türe. Sie war offen, ich dachte, der Laden sei geöffnet?“

„Der Laden ist NIE geöffnet. Seit wann sind sie tot?“

Der Mann klang noch immer wenig begeistert, und ich verschränkte die Arme vor dem Körper.

Kein Grund so unfreundlich zu sein, immerhin hatte ich weder etwas angefasst, noch kaputt gemacht.

Dass er wusste, dass ich tot war, beunruhigte mich nicht wirklich. Alles in allem schien mir das sogar sinniger als alles andere. Wenn er mich sehen konnte, dann würde er vielleicht auch wissen, wie ich aus dieser Sache wieder herauskam.

„Seit gestern Mittag, glaub ich. Woher wissen sie das?“

„Hierher kommt niemand, der nicht tot ist. Was ist mit ihnen passiert, arbeiten sie nicht eigentlich gegenüber?“

Der Mann drückte einen Schalter neben der Tür und eine kleine Lampe in der Mitte der Decke sprang an. Warmes Licht erhellte den Raum, und sofort brannten meine Augen. Nach all der Zeit im Halbdunkel war selbst diese kleine Lampe zu viel für sie.

Ich selbst war gar nicht auf die Idee gekommen den Lichtschalter zu betätigen, weil ich viel zu beschäftigt gewesen war, mich selbst zu bemitleiden.

Was ich hier tun konnte, oder auch nicht, darüber hatte ich keine Sekunde nachgedacht.

Natürlich lag es nah, dass ich, wenn ich die Türe öffnen konnte, auch das Licht einschalten konnte, aber woher hätte ich das wissen sollen?

All das hier war irrsinnig, total unlogisch, und am Meisten wunderte es mich, dass er tatsächlich wusste, dass ich gegenüber arbeitete.

Er kannte mich? Mein Gehirn versuchte, die Information zu verarbeiten, und eigentlich freute ich mich darüber. Er kannte mich, wusste, wo ich arbeitete, und das war doch schon mal gar nicht schlecht.

„Ja, aber ich hatte einen Unfall. Schon vor einer Weile, ich glaube, es ist etwa vier Wochen her, aber ich bin erst gestern gestorben.“

Ich rieb mir über die Augen und sah zu ihm, der noch immer unverändert in der Nähe der Türe stand. Das Gesicht hatte er abgewendet, als sei es seine Absicht, es mir nicht zu zeigen, und der Hut warf einen Schatten auf seine untere Gesichtshälfte.

„Und warum sind sie jetzt hier?“

Seine Stimme klang etwas sanfter, was mich beruhigte, und ich zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Ich wusste nicht wohin, und da kam mir der Laden in den Sinn. Ich wollte sie wirklich nicht beunruhigen, aber die Türe war offen, und da bin ich....“

„Schon gut. Es ist in Ordnung.“

Der Mann unterbrach meinen Erklärungsversuch und klang resigniert, was mir sofort noch mehr das Gefühl gab, an diesem Ort unerwünscht zu sein. In meiner Vorstellung war unsere erste Begegnung immer anders abgelaufen, weniger wütend und verärgert, und enttäuscht musste ich feststellen, dass er mich zwar kannte, aber anscheinend nicht mochte.

„Also ich denke, ich werde dann besser gehen...“

Ich nahm die Arme nach unten und machte einen Schritt nach vorne, aber der Mann hielt mich zurück.

„Nein, es ist in Ordnung, sie müssen nicht gehen.“

Nicht gehen? Ich konnte mein Glück kaum fassen, und sah zu ihm nach oben. So groß hatte ich ihn nicht in Erinnerung gehabt, ich reichte ihm gerade mal bis an die Schulter, und ich sah stahlblaue Augen in dem Schatten unter der Hutkrempe.

Das gleiche stahlblau wie das seiner Krawatte, schoss es durch meinen Geist.

„Wirklich? Aber ich will sie nicht stören...“

Ich sah noch immer zu den Augen, die gütig und freundlich wirkten, und so gar nicht zu dem eben gehörten Tonfall zu passen schienen.

„Wo sollten sie sonst hin? Haben sie eine bessere Alternative, als diese hier?“

Nein, hatte ich nicht. Keinen Ort an den ich konnte, keinen Plan B.

„Nein.“

Dass er so schnell seine Meinung ändern würde, hatte ich nicht erwartet. Eben noch war er verärgert gewesen, jetzt hielt er mich zurück.

Der Mann nahm den Hut ab, als sei es die normalste Sache der Welt, und erschrocken schnappte ich nach Atem.

Das war der Mann, dem ich monatelang hinterhergeglotzt hatte?

Nie vorher hatte ich ein so markantes Gesicht gesehen, so perfekte dunkle Haare, und so stechende Augen.

Wenn ich geglaubt hatte, er würde gut aussehen, dann hatte ich mich geirrt. Gut traf es nicht mal ansatzweise. Gut reichte für diesen Man einfach nicht aus, und selbst perfekt war eine Untertreibung.

Ähnlich perfekt wie die Gemälde, schien auch er gemalt. Jeder seiner Züge angenehm, keine Unterbrechung durch irgendeine Eigenschaft, die sich nicht perfekt in das Gesamtbild einfügte.

„Ist was nicht in Ordnung?“

Die wundervollen Augen sahen mich an, und ich schüttelte mechanisch den Kopf.

„Nein, alles gut.“

Nichts war gut, gar nichts. Warum um Himmels willen, verdeckte jemand mit diesem Aussehen, sein Gesicht hinter einem zu tief sitzenden Hut? Und warum um Himmels willen, hatte ich ihn nicht zu Lebzeiten angesprochen? Zu Zeiten, in denen ich vielleicht noch etwas davon gehabt hätte?

Weil er außerhalb deiner Möglichkeiten liegt, beantwortete ich mir meine Frage selbst.

Weil Männer wie dieser Katalogfrauen hatten, und sicher nicht mit einer wie mir ausgingen.

Mehr und mehr machte sich die Vermutung breit, dass all das hier nur ein Traum sein konnte. Unmöglich konnte er echt sein, unmöglich war die Vorstellung, dass all das hier für mich bestimmt war.

Ich sah zu, wie der Mann die Jacke seines Anzugs über die Lehne des Stuhls hing, und wie die Muskeln seiner Schultern sich unter der Weste und dem Hemd abzeichneten. Der Impuls in zu berühren war übermächtig, aber ich gab mir alle Mühe.

Ihm nach all der Zeit so nah zu sein, war einfach mehr, als ich ertragen konnte.

„Also meine Liebe, verraten sie mir ihren werten Namen?“

Ich schluckte und fand schon die Fragestellung merkwürdig. Wer sprach heute noch so geschwollen? Oder wollte er mir damit nur klar machen, dass wir beide in völlig unterschiedlichen Ligen spielten?

„Spencer. Mein Name in Spencer.“

Der Mann hob eine Augenbraue, und ich fühlte mich fatal an meine Zeit als Lebende erinnert. Würde das nicht mal im Tod aufhören?

„Ungewöhnlich. Ist das nicht eigentlich ein Jungenname?“

„Nein, es gibt auch eine weibliche Form davon.“

Er nahm auf dem Stuhl platz, während ich noch immer stand, und das unwohle Gefühl breitete sich in mir aus. Was auch immer hier geschah, wirklich gut lief es nicht.

„Also Spencer, wie sind sie gestorben?“

Die Frage klang, als sei sie völlig natürlich, und die Absurdität der Situation stieß mir sauer auf. War das so, dass man sich über solche Dinge im Tod austauschte, wie man es sonst über Wohnorte tat?

„Autounfall, also das war nicht die Ursache, aber das war der Anfang. Ich glaube, ich hatte eine Embolie, das hat zumindest der Arzt vermutet.“

Der Mann nickte, und ich sah mich nach einer Sitzmöglichkeit um. Wenn ich hier schon verhört werden sollte, dann musste doch zumindest das noch drin sein.

Auch wenn ich hatte gehen wollten, eine wirklich Alternative war das nicht, und so lange auch nur die geringste Chance bestand, dass ich doch noch eine Weile bei ihm bleiben konnte, würde ich diese nutzen.

Wegen ihm, der so lange Teil meiner Träume gewesen war, und auch wegen mir, die ansonsten einfach völlig planlos war.

Wenn er wusste, was es mit all dem auf sich hatte, dann musste ich es wissen. Alles, von der ersten bis zu letzten Zeile.

An der Wand neben dem Schaufenster sah ich das alte Sofa, aber auch dieses war über und über mit Bildern belagert. Ob ich diese würde wegräumen dürfen, dem war ich mir nicht sicher.

„Darf ich?“

Ich zeigte auf das Sofa, und der Mann nickte.

„Fühlen sie sich wie zu Hause, Spencer.“

 

Das staubige Sofa war nicht wirklich bequem, und eingekesselt zwischen all den Bildern, fühlte ich mich auch nicht wirklich wohl, aber immerhin saß ich.

Während ich all die riesigen Rahmen beiseite geräumt hatte, hatte er keinen Ton gesagt, und mir natürlich auch nicht geholfen. Wie unhöflich.

„Wie ist ihr Name?“

Ich rieb die Hände auf den Oberschenkeln und sah zu dem übernatürlich schönen Mann, der ebenfalls die Hände auf den Oberschenkeln rieb. Fast schien er mich zu spiegeln, und ich hörte sofort damit auf.

„Leonard Jones, aber nennen sie mich ruhig Leo.“

„Also gut, Leo, ich denke, sie sollten mir erklären, was hier gerade mit mir passiert. Sie scheinen es zu wissen, und ich weiß es nicht, daher würde ich sie dringend bitten, hier etwas Licht ins Dunkel zu bringen.“

Meine eigenen Worte beeindruckten mich. Selten war es mir gelungen, meine Forderungen so klar zu kommunizieren, und dabei weder Schimpfwörter noch sonstiges zu verwenden. Sprechen war nie eine meiner Stärken gewesen, klare Worte schon gar nicht, und meistens stand ich mir selbst im Weg.

„Sie sind tot, aber das haben sie ja bereits selbst bemerkt, meine Liebe. Und nur Tote können diese Tür da drüben öffnen. Deshalb dürfen sie mir meinen Schreck nicht übel nehmen, immerhin bekomme ich hier nicht sehr oft Besuch.“

Er zeigte auf die Eingangstür, und ich nickte, obwohl ich es nicht verstand. Wenn nur Tote sie öffnen konnten, warum konnte er es dann? Immerhin hatte ich ihn gesehen, auch schon zu Lebzeiten, und daher konnte er wohl kaum tot sein.

Wäre auch äußerst schade um so einen schönen Mann, fügte ich im Geiste hinzu.

„Und sie? Warum können sie es dann?“

Er sah mich an, und ein Blitz durchzuckte mich. Wie nur konnte ein Mensch so blaue Augen haben? Er mochte vielleicht Mitte dreißig sein, also absolut perfekt für mich. Auch seine Haare fand ich traumhaft, sie fielen aus einem wunderbar geraden Scheitel über seine Stirn und warfen dabei leichte Locken.

Ich, die ihren Beruf liebte, hätte nur zu gerne hineingegriffen. Sicher waren sie dicht und weich, und noch sicherer würden sie sich bei Nässe noch mehr locken. Einen Mann wie ihn, den hatte ich mir in meinen Künsten Träumen nicht ausgemalt, und nie hatte ich erwartet, dass einen solchen überhaupt geben würde.

„Warum? Aus dem gleichen Grund, warum sie es können?“

„Aber sie sind nicht tot, ich hab sie doch gesehen, auch schon als ich noch gelebt habe!“

Sofort richtete er sich auf und schien alarmiert, was mich ebenso in alarmbereitshaft versetzte.

„Sie haben mich gesehen? Wann?“

„Immer, fast jeden Tag. Sie sind in dem grauen Anzug die Straße entlang gekommen, und dann im Laden verschwunden.“

Leonards Augen weiteten sich, und ich ahnte, dass meine Ausführungen ganz und gar nicht seinen Erwartungen entsprachen.

„Wirklich? Niemand hat mich mehr gesehen, seit einer sehr langen Zeit.“

„Aber ich hab es. Sie tragen immer diese blaue Krawatte, und sie nehmen nie den Hut ab. Ich hab mich oft gefragt, was sie hier treiben, und manchmal nach der Arbeit durch das Fenster gesehen, aber nie war hier jemand.“

Seine Haltung änderte sich, er wirkte offener und freundlicher, und schien sich enorm darüber zu freuen, dass ich ihn gesehen hatte. Wie glücklich das machen konnte, verstand ich nur all zu gut. Warum ich ihn allerdings gesehen hatte, obwohl niemand anderes es gekonnt hatte, dafür hatte ich keine Erklärung.

„Ich lebe hier. Wie sie selbst wissen, braucht man dringend einen Ort, um zu existieren, und meiner ist eben dieser. Warum haben sie mich gesehen, warum gerade sie?“

Er schüttelte ungläubig den Kopf und sah mich aufmerksam an, als könne ich die Antwort auf diese Frage geben.

Ein wenig verletze es mich. Nicht wegen der Frage an sich, aber wegen dem was sie eigentlich aussagte. Warum hatte gerade ich ihn gesehen, und nicht eine Frau, die besser war als ich?

Darauf gab es keine Antwort, und ich ließ aus lauter Selbstmitleid den Kopf hängen.

„Ich weiß nicht. Es war einfach so. Ich hab sie beobachtet, aber sie haben mich nie gesehen. Dachte ich zumindest bis eben.“

„Natürlich habe ich sie gesehen, ich bin zwar tot, aber nicht blind. Und an Grete und ihrem Organ, kommt auch ein Toter nicht vorbei.“

Mein Mund verzog sich zu einem Lächeln, obwohl ich es nicht wollte. Mehr als einmal hatten wir Witze darüber gemacht, dass Gretes Geschrei sicher auch Tote aufwecken würde, aber wie wahr es tatsächlich war, daran hatte keiner von uns gedacht.

„Sie ist eine gute Frau, wirklich. Woran sind sie gestorben?“

„Gehirnschlag. Ein schöner Tod, kann ich nur empfehlen. Man merkt absolut gar nichts.“

Er sprach, als würden wir über die Empfehlung eines guten Weines sprechen, und ich fragte mich ernsthaft, ob alle meine Gespräche jetzt so laufen würden. Würde man, wenn man denn einen anderen Toten traf, immer über solche Dinge sprechen?

„Wie lange ist das her?“

„Was für ein Jahr haben wir?“

Erschrocken riss ich die Augen auf. Was für ein Jahr? Wie lange saß er nun schon in seinem Anzug hier herum?

„2016?“

„Lassen sie mich überlegen... Es müssten jetzt etwas über 58 Jahre sein.“

Was!? So lange? Panisch überlegte ich, in was für einem Jahr er gestorben war, und wie genau die Welt damals ausgesehen hatte. Ende der fünfziger Jahre war alles noch anders gewesen, vermutlich hatten die Männer damals wirklich diese Sorte Anzüge getragen, und trugen Hüte wie seinen.

„So lange?! So lange hocken sie nun schon hier, und niemand hat ihren Antrag bearbeitet?“

Die Worte waren aus meinem Mund geflossen, ohne das ich darüber nachgedacht hatte.

„Antrag? Welchen Antrag?“

Er sah ratlos aus, was ich ihm nicht verübeln konnte, und ich ärgerte mich, dass ich einfach zu wenig nachdachte. Meinen Gedankengängen zu folgen, war sicher schwierig, und selbst mir fiel es manchmal schwer.

„Ich dachte, es gibt doch bestimmt auf er anderen Seite eine Stelle, bei der man gemeldet werden muss? Irgendein Amt, wo der Antrag auf Übertritt bearbeitet wird? Ich meine, warum sonst sind wir noch hier, und nicht längst woanders?“

Wie dumm meine Theorie war, wurde mir nun selbst klar, und auch sein Blick sagte eigentlich alles. Fast mitleidig sah er mich an, und ich glaubte, Belustigung zu sehen.

„Es gibt kein Amt und auch einen Antrag. Ich weiß nicht mal, ob es eine andere Seite gibt. Wenn es sie gibt, dann haben sie mich auch vergessen, und viele andere auch. Aber die Idee finde ich gar nicht übel, so ein Amt wäre dringend nötig.“

Er schnippte mit dem Finger einen Fussel vom Stoff seines Hosenbeins, und ich sah, wie dieser durch die Luft auf den ohnehin schmutzigen Boden flog.

„Andere? Wie viele andere gibt es denn? Und wo sind all die anderen?“

Dass es eine Parallelwelt neben der eigentlich geben könnte, eine in der es mehr Menschen wie ihn und mich gab, bedeutete Hoffnung. Meine größte Befürchtung war es gewesen, dass es niemand geben würde, um sich zu unterhalten, aber dem war anscheinend nicht so.

„Sie gehen, wohin der Wind sie treibt. Oder bleiben in der Nähe ihrer Familien. Jedenfalls die, die ich kenne. Aber die meisten verschwinden irgendwann, aber fragen sie mich nicht wohin. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob es eine andere Seite wirklich gibt. Ich habe in all den Jahren nie jemanden getroffen, der sie gesehen oder davon gehört hat.“

Scheiße. Ich spürte wie die Wut in mir aufstieg, und wie mein Kopf drohte zu platzen. Wenn es keine andere Seite gab, oder niemand wusste, wie man dort hingelangte, dann sah das hier wirklich übel aus. Ich würde sicher nicht die nächsten fünfzig Jahre hier herumgeistern, und am gleichen Ort ausharren.

„Das klingt... Nicht sehr verlockend, wenn sie mich fragen. Ich hatte es mir irgendwie anders vorgestellt.“

Leonard griff nach seiner Krawatte und lockerte diese, anscheinend entspannte er sich gerade, und auch ich ließ mich auf dem Sofa in die ranzigen Kissen gleiten. Wenn das hier das Ende war, dann würde ich jetzt tatsächlich Angst vor dem Tod haben. Das hier war elend, langweilig, und absolut unnötig. Herumzusitzen und absolut nutzlos zu sein, das war die Höchststrafe.

„So schlecht ist es nicht. Es gibt Wege, um sich zu beschäftigen, und Orte wie diesen, um dem Trott zu entfliehen. Sie dürfen das nicht zu schwarz sehen, es ist ein anderes Leben, aber es kann auch Spaß machen.“

Nach Spaß sah es bislang nicht aus, eher nach der Hölle, die ich sicher nicht verdient hatte, und auch die Galerie schien mir keine Alternative.

Was an einem staubigen Gemäldeberg interessant oder erstrebenswert sein sollte, dass verstand ich nun wirklich nicht.

„Orte wie diese? Nehmen sie es mir nicht übel, aber das hier sieht nun wirklich nicht nach Spaß aus.“

Ich strich mit dem Finger über die Staubschicht eines der Rahmen, und erst jetzt wurde mir klar, dass ich diesen ja eigenhändig zur Seite gestellt hatte. Ich hatte ihn von der Couch gehoben, er war schwer gewesen, und ich hatte ihn abgestellt.

Auch den Staub auf meinen Finger sah ich mehr als deutlich, und mit offenem Mund sah ich zu Leonard, der schmunzelnd noch immer auf seinem Stuhl saß.

„Genau deshalb ist es ein besonderer Ort. Weil hier die Regeln außer Kraft gesetzt sind, und aus tausend anderen Gründen auch. An keinem Ort außer diesem, kann ich die Krawatte lockern oder die Jacke ausziehen, und an keinem anderen etwas berühren.“

Noch immer sah ich auf den grauen Staubklumpen auf meinem Finger und pustete ihn dann weg. Das kleine Bündel flog durch die Luft und landete dann auf dem Boden, ganz so, wie ich es gewohnt war. Als ich noch gelebt hatte.

„Warum hier? Warum dieser Ort?“

Ich sah mich um und sah den Raum und die Dinge darin mit völlig anderen Augen. Ich würde alles anfassen können, ich würde den Stuhl verschieben können.

Hier würde ich mich normal fühlen, genau wie alle anderen dort draußen, und tatsächlich war das genau das Gefühl, was ich aktuell am dringendsten brauchte.

„Wenn ich es wüsste, dann würde ich versuchen, andere Orte zu diesem zu machen. Aber ich weiß es nicht, und deshalb kehre ich hierher zurück. Es gibt andere Orte wie diesen, aber keiner hat mir so gut gefallen wie dieser.“

Andere Orte? Es gab Orte, an denen ich existieren würde? Die Aussicht darauf versetzte mich in Euphorie, immerhin würde ich vorerst nicht an Langeweile sterben, und ich stieß glücklich mit dem Finger gegen einen Kugelschreiber, der auf dem Beistelltisch neben meinem Sitzplatz lag. Er fiel zu Boden, und nie hatte ein so leises Geräusch mich so glücklich gemacht.

 

 

 

 

 

 

 

  1. Kapitel 7:

„Was tun sie hier, wenn sie hier sind?“

Ich hob den Kugelschreiber vom Boden auf und legte ihn zurück an seinen Platz auf dem kleinen Tisch.

„Ich ruhe mich aus, die Welt dort draußen ist für jemanden wie mich ziemlich unübersichtlich geworden. Oder ich reise. Ja, meistens reise ich.“

Mein Blick schweifte über den kleinen Raum und den Schmutz.

„Reisen? Wohin denn?“

„In die Bilder. Ich seh mir die Orte an, an denen sie entstanden sind.“

Hörte sich für mich ziemlich absurd an, aber vermutlich meinte er damit, dass er sich die Bilder ansah, und sich dabei vorstellte, dort zu sein. Ich hatte das ebenfalls getan, mit dem Bild aus dem Schaufenster. Immer wieder hatte ich mich auf die grüne Wiese mit dem kleinen Haus gewünscht, und mir vorgestellt, wie der Wind durch meine Haare strich.

Diese kleinen Fluchten hatten sich immer gut angefühlt, und ihm schien es ebenso zu gehen.

„Deshalb sind es so viele?“

Vermutlich hatte er in den letzten fünfzig Jahren genügend Zeit gehabt, um sich jedes einzelne mehr als genau einzuprägen.

„Auch, ja. Aber die meisten habe ich gemalt, daher sieht es hier so aus. Die meisten sind Kopien bekannter Maler, aber einige sind auch auf meinem Mist gewachsen.“

Ich hob eine Augenbraue. Ein Maler, offenbar sogar ein begabter. Auch mit einem solchen Menschen war mein Leben nie kollidiert, Kunst und dergleichen hatte ich nur aus der Ferne bewundert, und nie jemanden getroffen, der tatsächlich solch wunderbare Fähigkeiten hatte.

„Kopien? Sprechen wir dann nicht über Fälschungen?“

Tatsächlich war ich angemessen beeindruckt, immerhin schien er Talent zu haben. Ich selbst konnte gerade mal einen geraden Strich mit der Hilfe eines Lineals malen, und er erschuf all diese Bilder. Auch wenn ich vielleicht mit den Motiven nichts anfangen konnte, so bewunderte ich doch seine Fähigkeiten.

„Ich bevorzuge den Begriff Kopien. Um eine Fälschung würde es sich handeln, wenn ich es signieren würde, und zwar mit dem Namen des Künstlers. Ohne dass, sind es Kopien. Aber es spielt auch eigentlich keine Rolle, denn ich verkaufe sie ja nicht, ich nutze sie nur für meine Zwecke.“

„Nehmen sie es mir nicht übel, aber stundenlang auf ein Gemälde zu sehen, entspricht nicht meiner Vorstellung von Spaß.“

„Ich denke, sie verstehen mich falsch. Ich sehe es mir nicht an, ich besuche den Ort. Das ist ein großer Unterschied. Sie haben einen falschen Eindruck vom Leben als Toter, die Grenzen sind hier völlig anders, aber ich verstehe schon, dass sie sich von ihrem alten Leben noch nicht verabschiedet haben.“

Mein Herz setze einen Schlag lang aus, und Hitze stieg in meinen Kopf. Was wolle er mir damit sagen? Hieß das, die Grenzen meiner Vorstellungskraft wären noch weiter weg, als ich es ohnehin schon erlebt hatte?

War meine Welt jetzt noch verrückter, als einfach unsichtbar und körperlos zu sein?

Erzählte er mir gerade, dass er in das Bild EINTAUCHTE?

Wie in einem Fantasy-Film?

„Sie besuchen das Bild? Wie?“

Ich sah auf die Landschaftsaufnahme neben mir, und schlagartig ergab alles einen Sinn. Er war hunderte von Malen in diesen Laden gegangen, und immer wenn ich nachgesehen hatte, war er nicht mehr hier.

Wenn das, was er sagte, stimmte, dann war das die Erklärung dafür.

Es gab keinen zweiten Ausgang, ich hatte es selbst gesehen, und wenn das, was er sagte, stimmte, dann war er all die Male einfach in einem der Bilder verschwunden.

„Ja. Ich finde es interessant, und es ist eine nette Abwechslung. Möchten sie es versuchen, Spencer?“

Ich? Ich schüttelte sofort den Kopf. Zu absurd war die Vorstellung, in ein Bild zu tauchen, dessen Motiv mir fremd war.

„Nein, ich denke nicht.“

„Warum? Fürchten sie sich?“

Ja. Ja, ich fürchtete mich. Das alles war mehr, als ich aktuell ertragen konnte, und mehr als mein neues totes Ich aushalten konnte.

Was, wenn ich mich dort nicht zurechtfand, oder den Weg zurück nicht mehr fand? Was, wenn ich die Sprache nicht verstand, oder irgendetwas geschah?

Und was war, wenn ich gar nicht erst dort ankam? Landete ich dann vielleicht an einem Ort dazwischen, an dem es noch trostloser war?

„Ich denke nicht, dass ich an einem dieser Orte gut aufgehoben wäre. Ich habe keine Ahnung von Kunst, und bei den meisten dieser Bilder habe ich nicht mal eine Ahnung, was oder wo es sein könnte.“

„Das ist unerheblich. Man muss keine Ahnung von Kunst haben, um sie zu mögen. Aber glauben sie mir, sie würden es mögen.“

Er machte eine ausladende Handbewegung über all die vielen Möglichkeiten und ich folgte ihr mit den Augen.

Das zweifelte ich arg an. All die staubigen Gemälde aus längst vergangenen Zeiten, das konnte nicht wirklich mein Ding sein.

Ich hatte mich weder je sonderlich für Geschichte noch Gemälde interessiert, und auch sonst hatte ich ganz gerne im hier und jetzt mit all seinen Vorzügen gelebt.

„Vielen Dank für das Angebot, aber ich verzichte. Aber tun sie sich keinen Zwang an, ich will sie wirklich nicht weiter aufhalten.“

Ich stand auf und konnte es selbst kaum glauben. Ich war im Begriff denn tollsten Mann, den ich je getroffen hatte, auf der Stelle zu verlassen. Weil ich sicher war, dass er verrückt war, und das irgendetwas mit ihm ganz und gar nicht stimmte.

Realistisch betrachtet, mal ganz abgesehen von der idiotischen, lächerlichen Situation in der ich mich befand, erzählte er mir gerade, das er seine Zeit in Ölgemälden verbrachte.

Er musste verrückt sein, oder ich war es ebenfalls, und es war sicher besser, dass Weite zu suchen, so lange ich noch konnte.

Was für eine bodenlose Frechheit, dass mir selbst im Tod nicht mal ein anständiger Mann begegnete. Spätestens jetzt wäre doch der richtige Zeitpunkt gewesen, um auch mir endlich ein wenig Glück zu gönnen.

„Tun sie nicht, wirklich nicht. Und ich verstehe ihre Angst, glauben sie mir. Aber die Ewigkeit ist ein sehr langer Zeitraum, und die Welt dort draußen wird sie vergessen. Falls sie es nicht schon längst getan haben. Noch halten sie die Menschen dort draußen hier, aber schon bald wird das nicht mehr der Fall sein.“

Ihm zu sagen, dass dort niemand mich hielt, wagte ich nicht auszusprechen. Es gab diesen jemand nicht, der vielleicht mit aller Macht um die Erinnerung an mich kämpfte, und der voller Wehmut an mich denken würde.

„Ist das so? Ich dachte immer, als Geist hätte man einen Auftrag?“

„Dachte ich auch, aber falls ich einen hatte, dann hab ich ihn nicht verstanden. Ich bin nach meinem Tod zurück zu meiner Familie, aber ich musste schnell einsehen, dass deren Leben auch ohne mich weitergeht, und dass sie keinen Geist in ihrer Mitte brauchen. Viele von uns sehen das nicht ein, sie bleiben dort und hoffen, dass jemand sie wahrnimmt. Aber was soll das bringen? Was soll es bringen, wenn jemand einen Windzug spürt, oder die Berührung ihrer Hand auf seiner Wange? Wenn sie glauben, dass es tröstet, dann irren sie sich. Es erinnert, und das ist falsch. Die Leben der Menschen müssen weitergehen, sie müssen vorankommen, und wenn sie sie stoppen, hilft es ihnen nicht weiter.“

Ich dachte an Alex, und seine Reaktion auf meine Hand an seinem Arm. Er hatte mich gespürt, aber mit der Information nichts anfangen können. Hatte auch Leo ähnliche Erlebnisse gehabt?

„Hat sie schon mal jemand gespürt?“

„Ja, sicher. Ganz am Anfang. Aber wie schon gesagt, es hilft den Menschen nicht weiter, und hindert sie am Weiterkommen. Deshalb tue ich es nicht mehr, und ich bin fest davon überzeugt, dass es so besser ist.“

„Aber wozu sind wir denn dann gut? Wenn wir keinen Auftrag haben, und uns nicht bemerkbar machen können, wozu taugen wir dann noch?“

Das Zucken seiner Schultern war deutlich zu sehen, und ich sah, wie die Krawatte sich im Takt dazu bewegte. Die blauen Augen sahen ratlos aus, als würde auch er die Antwort nicht kennen, und ich atmete alle Luft aus meinen Lungen. Kein Auftrag, kein Job, nichts. Ich war komplett nutzlos, und hatte keine Ahnung, wie lange es andauern würde.

Mein Fluchtreflex erstarb augenblicklich, und ich verharrte still in meiner Position. Er hatte recht, es war sinnlos, dort draußen herum zu geistern. Auch wenn er nicht ganz dicht war, so lag er doch mit dieser Einschätzung wohl richtig.

„Ich weiß es nicht. Es gibt niemanden, den man fragen kann, und alle anderen wissen genauso wenig wie man selbst.“

„Wohin gehen sie, wenn sie nicht hier sind?“

Für mich ergaben seine Ausflüge noch weniger Sinn, als die Geschichte mit den Bildern. Wenn es nichts gab, was er tun konnte, warum ging er dann überhaupt?

„Hier und dort hin. Ich beobachte die Menschen, und manchmal versuche ich, mich unter die Menge zu mischen. In Kaufhäusern gelingt mir das manchmal, ich fühle mich dann wie einer von ihnen. Niemand achtet auf den anderen, und keiner sieht den anderen direkt an. Es fühlt sich dann an, als würde ich auch dazu gehören.“

Ich ging zwei Schritte auf die Türe zu, aber hielt dann doch wieder an. Ich verstand, was er meinte, und hatte es ähnlich erlebt. Unter Menschen zu sein hatte sich echt angefühlt, und ich hatte mich weniger tot gefühlt.

Vielleicht waren wir beide nur noch das Echo unserer Seelen, der Hall der nach unserem tot übrig geblieben war, und es fiel uns deshalb so schwer, die Tatsachen einfach hinzunehmen.

Wir hatten Leben gehabt, alles war echt gewesen, und jetzt waren wir nichts weiter, als ein langsam verhallender Schall.

Ein wenig kam es mir vor, als hätten wir mit aller Macht vor unserem Tod geschrien, und jetzt war dieser Hall das Einzige, was nun noch an uns erinnerte.

Aber warum war er dann nach so langer Zeit noch hier? Warum war das Echo nicht verklungen, und hatte ihn samt seines Anzugs verschwinden lassen?

Wenn ich jetzt ging, was sollte ich dann tun? Zurück zu Alex gehen, und weiter der Geist in seiner Wohnung sein?

„Würden sie mir bei einer Sache helfen, Leonard?“

Ich sah ihn an und er richtete sich auf.

„Kommt drauf an, um welche Sache es sich handelt?“

Auch wenn ich vielleicht keinen offiziellen Auftrag hatte, so gab es doch für mich noch Dinge zu erledigen.

Lisa sollte mein Rollwägelchen erhalten, und ich musste wissen, was mit dem Fahrer des anderen Wagens passiert war. War auch er tot, oder hatte er es überlebt, und lebte jetzt mit dem Gedanken, dass er Schuld an meinem Tod war?

Beides war mir eben erst in den Sinn gekommen, aber jetzt erschien es mir als die wichtigsten Sachen überhaupt. Das Rollwägelchen brauchte einen neuen Besitzer, und ich MUSSTE wissen, was mit dem anderen Fahrer war.

Nichts schien mir aktuell wichtiger, und ich würde beides erledigen. Mit oder ohne Leonard, mit oder ohne Hilfe.

„Ich möchte dort drüben etwas erledigen, etwas, das mir sehr wichtig ist. Würden sie mir dabei helfen?“

Auch er stand auf, und ich sah, wie er unschlüssig die Hände in den Hosentaschen versenkte. James Bond wäre eifersüchtig gewesen, und auch Cary Grant wäre vor Neid vermutlich geplatzt.

Der Mann, der einem alten Film entsprungen schien, sah perfekter aus, als alles, was ich je vorher gesehen hatte.

„Sich in die Welt der Lebenden einzumischen ist ein Risiko. Was bekomme ich dafür?“

Ein Deal? Verhandelte er gerade mit mir über einen Deal? Ich hob eine Augenbraue und überlegte, was genau er von mir verlangen würde.

„Nennen sie mir einen Preis, und ich denke darüber nach.“

„Sie wollen meine Hilfe, also gehe ich davon aus, dass sie einen Plan haben. Wenn er funktioniert, und ich ihnen dabei wirklich helfen konnte, dann reisen sie mit mir. Ich wähle das Bild, und sie kommen mit mir.“

Einen Plan hatte ich nicht, nicht mal einen halben. Schon alleine, weil ich keine Ahnung hatte, wie eng unsere Grenzen tatsächlich gesteckt waren. Trotzdem nickte ich, und hielt ihm die Hand entgegen.

„Abgemacht.“

Er schlug ebenso ein, und ich spürte die Wärme seiner Hand und festen Druck. Wie ungewohnt es war, weil er sich so schrecklich lebendig anfühlte, drang sofort in meinen Geist.

Sein Zeigefinger lag auf meinem Puls, und ich nahm auch dort den Druck wahr. Mein Blick schweifte darauf, und sofort nahm er den Finger von seinem Platz.

„Entschuldigen sie, das ist so eine Angewohnheit. Puls zu spüren ist selten, und daher genieße ich es.“

Das ich selbst als Tote noch einen hatte, verstand ich zwar nicht, aber tatsächlich hatte es sich gut angefühlt. Ich griff nach seiner Hand und legte die Finger auf sein Handgelenk. Ruhig und gleichmäßig spürte ich den Takt, und sofort begann ich, meine Atmung an diesen anzugleichen.

Minutenlang standen wir so da, und als ich wieder aufsah, hatte er seine Augen geschlossen.

Das ich nach all den Monaten des Schwärmens hier jetzt mit stand, konnte ich kaum glauben. Er war nett, wenn auch etwas merkwürdig, und aktuell wohl mein einziger Freund auf der Welt. Wenn man ihn denn so nennen konnte.

In meiner Situation konnte man nicht wählerisch sein, was Freunde betraf, und auch wenn er vielleicht nicht ganz dicht war: Irgendwie mochte ich ihn.

Er war jedenfalls der Einzige, der mich sah, und der mir vielleicht weiterhelfen konnte.

Ich zog meine Hand zurück, und sofort fühlte es sich falsch an. Als hätte ich etwas verloren, und als hätte man mich beraubt.

„Also haben wir eine Abmachung?“

„Haben wir. Was ist der Auftrag?“

 

Ich überlegt krampfhaft wie ich das mit dem Wägelchen anfangen sollte. Warum ich mich gerade darauf versteift hatte, konnte ich nicht mal wirklich erklären.

Ab dem Moment, in dem mir der Gedanke daran gekommen war, hatte es nichts Wichtigeres mehr gegeben, und es kam mir vor, als sei vielleicht genau das meine noch zu erledigende Aufgabe.

Vielleicht musste es das Wägelchen sein, vielleicht war das meine Aufgabe, damit wenigstens dieser kleine Teil meiner Existenz weiterleben konnte.

Am Ende konnte es mir doch eigentlich völlig egal sein, ob irgendjemand meine Sachen weiter benutzen würde. War es aber nicht, und es regte mich auf.

Nicht einfach rüber gehen zu können, den Wagen an seinen Platz am Fenster zu schieben, und einen Zettel darauf anbringen zu können, regte mich auf.

So einfach wie die Lösung war, so unerreichbar war sie doch aktuell für mich.

Ich stiefelte vor der Fensterfront der Galerie auf und ab, während Leonard noch immer neben seinem Stuhl stand, und wirklich überhaupt nicht auf mich reagierte.

Sicher wäre es einfacher, ihn nach der Lösung zu fragen, immerhin befand er sich schon sehr viel länger in diesem unsäglichen Zustand, aber irgendetwas hielt mich zurück.

Ich wollte es selbst schaffen, selbst eine Lösung finden, und es nicht jemanden anderen für mich tun lassen.

Andere um Hilfe zu bitten war noch nie mein Ding gewesen, immer war ich alleine auch irgendwie durchgekommen, und selbst jetzt schien sich daran nichts zu ändern.

Für jemanden, der immer alleine gewesen war, war das sicherlich eine völlig normale Reaktion, aber verdammt, ich war tot!

Dass ich nicht mal jetzt einfach fragte, ergab einfach keinen Sinn.

„Ich hab keinen Plan.“

Ruckartig blieb ich stehen und sah ihn an. Nie war mir etwas schwerer über die Lippen gekommen. Immerhin hatte ich es so aussehen lassen, als bräuchte ich lediglich Unterstützung bei all dem, aber das war wohl untertrieben.

„Was ist denn das Ziel, meine Liebe?“

Er schien ruhig und lachte nicht, was sich gut anfühlte. Erwartet hatte ich etwas anderes, nämlich, dass er sich über mich lustig machen würde.

Immer hatte ich geglaubt, um Hilfe zu fragen wäre ein Zeichen von Schwäche, etwas, das andere sofort als diese erkennen würden, aber da irrte ich mich wohl. Er jedenfalls machte nicht den Eindruck, als würde er es sehr schlimm finden, und auch ich fand die Frage nicht mehr ganz so skandalös. Etwas nicht zu wissen, war nicht schlimm.

Schlimm war, zu dumm zu sein, um andere nach einer Lösung zu fragen, und das würde ich nun ändern. Jetzt, in diesem neuen Leben, würde ich die Dinge anders handhaben.

Mein lebendes Ich hätte anders gehandelt, ich hätte einfach aufgegeben, und die Sache mit dem Wagen zu den Akten gelegt, aber auch das durfte nicht passieren.

„Dort drüben gibt es Dinge von mir, gute Dinge, die ich gerne an meine Nachfolgerin übergeben würde. Leider möchte Grete das nicht, und ich weiß nicht, wie ich das ändern soll.“

„Dinge?“

Ich erklärte in knappen Worten, worum es sich handelte, und merkte selbst, wie dämlich sich das anhörte. Immerhin ging es hier nicht um wirklich wertvolle Sachen, sondern nur um ein Plastikwägelchen mit Plunder.

Sicherlich waren die Scheren und auch einiges anderes nicht gerade günstig gewesen, aber es gab auch keinen Grund, um all das so ein Theater zu machen. In einigen Jahren würde nichts mehr davon brauchbar sein, und vermutlich würden neue Arbeitsgeräte einziehen.

Für mich allerdings war das alles mein wertvollster Besitz, und daher das Einzige, was ich als mein Erbe an jemanden weitergeben konnte.

„Also geht es hier um den Fortbestand ihres Arbeitsmaterials?“

Ich nickte eifrig und fand seine Ausführung ganz wunderbar. Er nahm mich ernst, etwas, das ich ebenso wenig erwartet hatte. Viele andere hätten sicher gelacht, mich vielleicht für komplett wahnsinnig erklärt, aber er tat das nicht.

Dass mich jemand ernst nahm, sich mit mir Gedanken machte, fühlte sich wirklich gut an.

„Sie wissen schon, dass das Bewegen von Dingen nicht einfach ist?“

Nicht einfach“ war nicht unmöglich.

Ich ließ mich wieder auf das Sofa sinken, und mein Magen zog sich zusammen. Wenn er wissen würde, wie man Dinge bewegte, dann würde ich es vielleicht auch lernen können? „Nicht einfach“ hieß, dass es einen Weg dazu gab, und ich musste es einfach wissen.

„Aber es ist nicht unmöglich?“

„Fast unmöglich. Es ist nicht vorgesehen, dass wir eingreifen. Aber ich hab es selbst erlebt, ebenso wie die Berührungen. Allerdings weiß ich nicht, ob es nicht vielleicht auch ohne das Bewegen geht. Vielleicht gibt es eine Lösung, die weniger aufwendig ist.“

Mein Mund klappte auf, und ich schloss ihn sofort wieder. Dinge bewegen war also schwierig, aber nicht unmöglich. Aber wenn ich nichts bewegte, wie sollte es dann funktionieren? Wie kam dann der Wagen an seinen Platz, und wie machte ich klar, dass dieser nun wieder seiner ursprünglichen Funktion zu dienen hatte?

„Wie sieht die Lösung ihrer Meinung nach aus?“

„Sie lagen im Koma? Hat sie jemand besucht?“

Gute Frage. Hatte mich jemand besucht in all den Wochen? Ich erinnerte mich nicht daran, eigentlich ja an nichts nach dem Unfall, und eigentlich schien es mir eher unwahrscheinlich. Ob Grete einen Krankenbesuch tätigen würde, das bezweifelte ich. Wir waren zwar Kolleginnen, aber keine Freundinnen, und so nah standen wir uns eigentlich nicht.

Grete hasste Krankenhäuser und Ärzte, und ob sie dann gerade mich besucht hatte?

Andererseits: War das nicht üblich und irgendwie doch naheliegend?

Selbst das mit dem Koma wusste ich nicht mal sicher, aber es klang schlüssig. Ich war weg gewesen, so viel stand fest, und mitbekommen hatte ich ja auch nichts.

„Ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht.“

„Sie könnten ein Testament geschrieben haben. Wenn niemand weiß, wie lange sie wirklich im Koma gelegen haben, dann wäre das eine Möglichkeit.“

Klang logisch. Irgendwie. Irgendwo am Rande meines Verstandes ergab das Sinn. Oder auch nicht, denn warum um Himmels willen, sollte jemand, der absolut nichts besaß, ein Testament schreiben?

„Könnte ich. Vielleicht. Aber wie sollen die dort drüben es bekommen?“

Selbst wenn ich es mit seiner Hilfe schaffen sollte eins zu schreiben, wie gelangte es dann in die richtigen Hände? Wir würden ja kaum mit dem Stück Papier hier herausspazieren können, um es dann auf den Frisiertisch gegenüber zu legen.

Uns selbst wenn wir das schafften, wie sollte sich erklären, wie es dort gelandet war?

Würde überhaupt jemand glauben, dass es wirklich von mir kam?

„Das ist allerdings etwas kniffelig. Es zu schreiben, und dabei echt aussehen zu lassen, das ist leicht. Aber ich kann es nicht durch die Türe transportieren. Wann immer ich versucht habe, eines der Bilder an einen anderen Ort zu transportieren, hat die Türe mich aufgehalten. Also müsste jemand herkommen, und den Brief dann finden.“

„Wer sollte das tun? Sie haben doch gesagt, kein Sterblicher kann durch diese Türe kommen?“

„Stimmt auch. Aber der Besitzer kann es, er kann die Galerie betreten.“

Leonard formte mit der Spitze seines Schuhs eine Linie auf dem schmutzigen Boden und ich sah fasziniert auf das Geschehen. Hier waren wir existent, die Handlungen, die wir ausführten, waren real.

Dass nicht er der Besitzer des Ladens war, wunderte mich. Warum sollte jemanden diesen Ort so herunter kommen lassen, und sich einfach nicht darum kümmern?

In meiner Empfindung hatte es nur ihn hier geben, nie hatte ich eine andere Person hier gesehen, und daher hatte ich natürlich die Vermutung gehabt, dass er der Besitzer war.

„Wer ist er? Ich habe hier nie jemand anderen gesehen? Und warum kümmert er sich nicht darum?“

„Er ist alt, steinalt, um genau zu sein. Aber er weiß, dass dieser Ort etwas Besonderes ist, und darum verändert er ihn nicht. Manchmal kommt er her, und sieht sich die neuen Bilder an. Immer wenn ich etwas Neues gemalt habe, stelle ich es neben die Türe. Wenn er dann kommt, sieht er es sich an, und manchmal spricht er auch darüber. Er weiß vermutlich nicht, was genau hier vor sich geht, aber er hinterfragt es nicht.“

Wie merkwürdig. Ich würde im Dreieck springen, wenn irgendein Unsichtbarer mir Bilder in meinen Laden stellen würde.

Dass jemand das alles einfach so hinnahm, konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

Jeder halbwegs klar denkende Mensch würde bei dieser Vorstellung doch dem Wahnsinn verfallen, und ganz sicher würde niemand das alles als völlig normal einstufen.

„Aber wieso kann er hierher kommen? Es muss doch einen Grund geben, warum er es kann?“

Er hob die Hände um Unwissen zu signalisieren, und ich ahnte, dass auch er eigentlich gar nicht so genau wusste, in was für einer Zwischenwelt wir uns hier bewegten.

„Keine Ahnung. Vielleicht weiß er es auch, und ich weiß es nicht. Er spricht ja nicht mit mir, und er sieht mich auch nicht. Ich weiß nur, er kann durch die Türe hineinkommen, und er kommt auch wieder raus, und zwar, mit was auch immer er hier rausgehen will. Er hat Bilder mitgenommen, manchmal auch Zeichnungen, und nie hat die Türe ihn aufgehalten.“

Nun gut. Viel verrückter konnte es ja nicht mehr werden. Also würde ich auch diese Kröte vorerst so schlucken. Also bestand die Möglichkeit, hier etwas zu erschaffen und es auch hier rauszuschaffen. Aber wann?

„Wie oft kommt er her? Wir können doch jetzt nicht Monate hier auf ihn warten?“

„Das kann ich nicht sagen, Spencer. Er kommt unregelmäßig, manchmal wochenlang nicht. Aber wir könnten vorbereitet sein, wenn es so weit ist.“

Schlagartig wurde ich mir der Unendlichkeit meines Daseins bewusst. Wochen, Monate, Jahre, all das würde ab jetzt keine Rolle mehr spielen. Der Brief, wenn er dann geschrieben sein würde, konnte für eine sehr lange Zeit auf seinen Boten warten.

„Ich weiß gar nicht, wie ein Testament aussieht?“

Im Leben hatte ich mir über solche Dinge keine Gedanken gemacht, warum auch, und selbst hatte ich nie eins in Händen gehalten.

Selbst meine Tante hatte mir nichts hinterlassen, gegeben hätte es vermutlich auch nichts, und alles, was ich über Testamente wusste, war, dass es sie gab.

„Ich aber. Und ich bin, wie sie bereits selbst bemerkt haben, ein sehr guter Fälscher. Wir werden es vorbereiten und hier platzieren, und irgendwann wird Bertram kommen, und ihn abholen.“

„Bertram?“

„Das ist sein Name. Bertram Bergmann. Er wird kommen, ihn finden, und ihn dorthin bringen, wo wir ihn hinhaben wollen.“

„Warum sind sie sich da so sicher?“

„Weil ich selbst schon Nachrichten auf diesem Wege versendet habe?“

Ich schluckte und sah ihn an. An wen hatte er Nachrichten versendet, und vor allem, warum?

„Was für Nachrichten?“

„Keine wie ihre. Aber ich habe vor sehr langer Zeit ein Bild gemalt und ihn beauftragt, es an meine Frau zu liefern.“

Natürlich, eine Frau. Was auch sonst. Wie hatte ich auch glauben können, es würde keine Frau im Leben des übernatürlichen Mannes geben?

Der Gedanke war romantisch, wenn auch verstörend, aber irgendwie passte es zu ihm. Wer auch sonst sollte ein solches Vermächtnis hinterlassen, wenn nicht ein Maler?

„Wie haben sie das gemacht?“

Er stand auf und ich hörte, wie der Stuhl unter ihm leise knarzte. Mit unglaublich geschmeidigen Schritten kam er zu mir und der Couch herüber, nur um dann neben mir Platz zu nehmen. Aufgrund des eigentlich zu spärlichen Platzes zwischen mir und den Bildern, saß er mir fast auf dem Schoß. Unsere Beine berührten sich, ebenso wie unsere Arme, und ich schluckte hart.

Seine Anwesenheit und die Wärme seines Körpers konnte ich spüren, auch wenn es eigentlich unmöglich sein sollte. Wir waren tot, lediglich das, was von uns beiden übrig geblieben war. Vielleicht die Seele, wenn man denn an so etwas glaubte, aber kein Körper mehr mit Blut und Puls.

Auch wenn wir uns genau das einbildeten, wenn wir es beide gespürt hatten, so hatte ich den Körper doch tot auf dem Bett liegen sehen. Was also war es, was von uns übrig geblieben war?

Allerdings musste ich mir eingestehen, dass es mich tröstete. Nicht allein zu sein war gut, sich normal zu fühlen, tat gut, und so langsam gewann ich den Eindruck, es ginge ihm ähnlich.

Vielleicht war er ebenso froh jemanden zu haben, auch wenn es nach dem ersten Schock auf mich anders gewirkt hatte.

Aber sicherlich hätte ich nach Jahrzehnten voller Einsamkeit ganz ähnlich reagiert.

Vermutlich hätte auch bei mir der Schock alles überlagert, bis zu dem Punkt, an dem mir klar geworden wäre, dass ich nun nicht mehr alleine war.

Warum hatte er sich nicht den anderen toten Seelen angeschlossen? Warum war hier, und nicht an einem anderen Ort, wo es andere von uns gab?

Ich würde ihn all diese Dinge fragen, irgendwann.

„Dazu müsste ich etwas ausholen, und die ganze Geschichte erzählen. Ich nehme an, sie haben Zeit, Spencer?“

Ich nickte. Wenn es etwas gab, was ich vermutlich jetzt ihm Überfluss hatte, dann wohl Zeit.

Vermutlich würde selbst die Ewigkeit kein Problem mehr sein, und ich zog die Beine auf die Sitzfläche der Couch. Ja, hier würde ich es aushalten können. Mit ihm, dem perfekten Mann, und der Geschichte, die er zu erzählen hatte.

 

 

 

 

 

 

  1. Kapitel 8:

„Wie sie wissen, bin ich Ende der fünfziger Jahre verstorben. Sie dürfen die Stadt von damals nicht mit dem Heute vergleichen, damals tobte hier das Leben.“

Er machte eine ausladende Handbewegung in Richtung der Fensterscheibe, hinter der die Straße still und von Dunkelheit eingehüllt lag.

„Gerade hier reihte sich ein Geschäft an das andere, und jeden Tag war reger Betrieb in jedem von ihnen. Hier war schon damals eine Galerie, aber natürlich auch anders als jetzt. Ein gut gehender Laden, mit vielen Kunden, der seinen Besitzer gut ernährte. Ich selbst arbeitete als Maler, wenn man es denn arbeiten nennen konnte. Schon damals war Malerei ein eher schlecht bezahlter Job, aber da ich nichts anderes konnte, war es eben meiner.“

„Wie wird man denn Maler?“

Ich schlug die Hand vor den Mund, immerhin hatte ich ihn unterbrochen, aber er schien nicht sauer darüber. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass jemand sich für so einen Beruf entschied. Maler war für mich abstrakt, irgendwie substanzlos, und sicher ging es nicht nur mir so.

Die Menschen wurden Handwerker, Bänker, vielleicht sogar Autoren. Aber wer wurde bloß Maler? Musste man nicht verschroben und irgendwie merkwürdig sein, um sein Leben als Künstler zu führen? Und war man überhaupt ein Künstler, wenn man lediglich die Bilder anderer Künstler kopierte?

Ebenso schwer fiel mir die Vorstellung, dass diese Stadt irgendwann mal anders gewesen sein sollte. Sicherlich kannte ich die Erzählungen, und noch immer sah man die Spuren der Geschäfte in den Straßen. Trotzdem konnte ich sie mir nicht mit vielen Leuten, Geschäften oder sonstigem vorstellen.

„Man wird es nicht, so glaube ich. Man ist es einfach. Ich war immer gut darin, und habe Kunst studiert. Nicht gerade zur Freude meiner Eltern, die hätten lieber einen Arzt oder Anwalt in mir gesehen, aber nun gut.“

Sofort dachte ich an Alex, der diesen angesehenen Beruf zwar hatte, aber trotzdem ein mehr als trostloses Leben fristete. Irgendwann einmal war ein Arzt ein herausragender Mensch gewesen, zu dem man aufsah. Sicherlich war es in seiner Zeit so gewesen, ein Arzt hatte über der restlichen Gesellschaft gestanden, aber auch diese Epoche war längst vergangen.

„Und weiter?“

„Ich habe diese Galerie entdeckt, und damit auch Bertram. Er hat einige meiner Bilder ausgestellt, und schnell gemerkt, dass ich etwas anderes noch sehr viel besser konnte, als eigene Motive zu malen. Meine Fähigkeiten lagen eher in der Kopie, in der Reproduktion, und bald schon stellte er mich ein. Ich arbeitete Aufträge ab, meistens Kopien der großen Meister, und eigentlich war ich nicht unglücklich damit. Ich konnte meine Familie ernähren, es machte mir Spaß, und auch Bertram war ein angenehmer Mensch.“

Ich nickte, obwohl mir all das fremd war. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass Menschen sich Bilder malen ließen, um sie dann daheim aufzuhängen. Aber heute gab Drucke, schon zu Spotpreisen, und kaum jemand hatte noch ein Ölgemälde in seinen eigenen vier Wänden.

„Als ich dann starb, völlig überraschend und ohne Vorwarnung, war ich sicherlich genauso verwirrt wie sie. Ich sah mich selbst, wie sie mich vom Boden vor dem Laden aufrafften und wegschleppten, und verstand nicht, was dort mit mir geschah. Ich ging nach Hause, was mir sinnig erschien, aber niemand konnte mich sehen. Nicht meine Frau, nicht meine Eltern, nur die Katze fauchte, und ich flüchtete in Panik. Wo also sollte ich hin? Der einzige Ort, den ich kannte, und der in meinen Augen Zuflucht sein konnte, war dieser. Und so bin ich hier gelandet, und erstmal geblieben.“

„Aber sie sind doch wieder nach draußen gegangen, zu ihrer Familie?“

„Später, sicher erst nach Tagen. Ich hockte hier, und irgendwann fiel mir die Decke auf den Kopf. Egal wer hier ein und aus ging, keiner sah mich. Die Leute sprachen über mich, über das, was mit mir passiert war, aber egal, was ich auch anstellte, niemand nahm mich wahr.“

„Nicht mal Bertram?“

„Nicht mal er. Obwohl wir uns gut kannten, und sicherlich auch Freunde waren, konnte auch er meine Anwesenheit nicht spüren. Oder zumindest ließ er es mich nicht merken. Irgendwann wurde es mir zu bunt, und ich beschloss, zu meinen Leuten zurückzugehen.“

„Das muss schrecklich gewesen sein, die haben doch sicher sehr getrauert?“

Um mich hatte niemand geweint. Die Einsicht tat weh, und machte mir meine Einsamkeit noch mehr bewusst. Um mich hatte niemand geweint, jedenfalls nicht wirklich, und vermutlich hatten die Leute nach dem ersten Schock ihr Leben einfach weitergelebt.

Jemand wie er, der Frau und Familie hatte, um den hatte man getrauert. Sicher war seine Frau am Boden zerstört gewesen, seine Eltern hatten geweint, und er hatte sie nicht trösten können.

„Zuerst ja. Aber nachdem ich Tage auf meinem Sofa gehockt hatte, immer in der Hoffnung meine Frau würde mich bemerken, musste ich einsehen, dass auch ihr Leben einfach weiterging.“

„Haben sie nicht versucht, sie zu berühren?“

Ich hatte es versucht. Ich hatte es so sehr gewollt, dass Alex mich gespürt hatte. Würde man nicht bei einem Menschen, den man geliebt hatte, ein noch sehr viel stärkeres Bedürfnis danach haben?

War es nicht logisch, dass jemand der dich aufrichtig liebte, dich dann auch spüren würde?

„Sicherlich. Ich berührte sie im Schlaf, in alltäglichen Situationen, und manchmal funktionierte es auch. Nur leider reagierte sie mit Trauer, und jedes Mal fühlte ich mich danach schlecht. Ich erinnerte sie an mich, und sie zog sich zurück, von unseren Freunden und auch allen anderen. An dem Punkt sah ich ein, dass es nur für mich ein gutes Gefühl war. Nur mir ging es damit besser, ihr nicht.“

Der Klos in meinem Hals wanderte nach oben und es gelang mir nicht, ihn herunter zu schlucken. Wie traurig.

Aber tatsächlich musste ich ihm Recht geben. Es brachte nichts, sich an den Menschen die noch lebten festzuhalten, denn zurückkommen würde man ohnehin nicht.

Festzuhalten brachte da nichts, und jemanden immer wieder an das Unglück zu erinnern, war sicher nicht fair.

„Aber warum denn dann das Bild? Das erinnerte sie doch ebenso?“

„Tat es, tut es vielleicht noch immer. Nachdem ich hierher zurückgekommen war, fiel mir das Malen wieder ein. Ich hatte es immer geliebt, es war mein Leben gewesen, und ich sehnte mich danach. Festzustellen, dass ich es hier noch immer konnte, war unglaublich befreiend. Ich malte viele Bilder in dieser Zeit, und irgendwann fielen selbst Bertram die vielen neuen Leinwände auf. Er wunderte sich, aber ich bin sicher, er erkannte meinen Stil. Manchmal stellte er eins der Bilder ins Schaufenster, oder er verkaufte sie, und eigentlich arbeiteten wir genau so weiter, wie wir es in den Jahren vorher gehalten hatten. Ich malte, er verkaufte, und manchmal gab er mir einen Auftrag, den ich dann erfüllte. Er sagte den Menschen nicht, wer die Bilder gemalt hatte, aber er wusste es sicher. Die ersten Jahre sprach er noch mit mir, als sei ich hier und noch immer da, aber irgendwann dann nicht mehr. Vermutlich, weil er niemanden hatte, der ihm eine Antwort gab.“

„Warum haben sie nicht versucht, ihm eine Notiz zu schreiben? Einen Brief oder Ähnliches?“

„Was hätte ich den schreiben sollen? Dass ich als Geist noch hier war, und mich einsam fühlte?“

Gute Frage. Was schrieb man, wenn man zwar da, aber nicht anwesend war? Beantworten konnte auch ich das nicht, auch wenn ich vermutlich versucht hätte, doch auf mich aufmerksam zu machen.

„Was war dann mit dem Bild für ihre Frau?“

„Eine ganze Weile später, sicher zwei Jahre, hörte ich im Laden, dass sie wieder heiraten würde. Der Schock war unfassbar, aber irgendwie beruhigte es mich auch. Für eine junge, alleinstehende Frau war es damals nicht einfach. Wir hatten keine Kinder, und eigentlich war das immer ihr Wunsch gewesen. Zu wissen, dass sie sich diesen vielleicht doch noch erfüllen konnte, freute mich für sie. Auch wenn es mich schmerzte, dass nun jemand anderer bei ihr sein würde. Wir waren lange zusammen gewesen, schon seit wir sehr jung gewesen waren, und ich wusste, dass sie sich diese Entscheidung sicher nicht einfach gemacht hatte. Ich wollte, dass sie sich frei fühlte, ihr Leben genießen konnte, deshalb malte ich das Bild. Eine Landschaft, die wir beide kannten, einen Ort, den wir beide mochten, und mit dem wir Erinnerungen verbanden. Das war das einzige Bild, was ich je signiert habe, mit meinem eigenen Namen. Daher wusste Bertram, von wem es war, und er hat es genommen und ihr gebracht. Das es bei ihr angekommen ist, da bin ich mir sicher, denn einige Tage später tauchte sie hier auf, und ich sah sie zum letzten Mal.“

Ich schniefte still und mir fehlten die Worte. Kein Liebesroman dieser Welt hätte eine traurigere und schönere Liebesgeschichte schreiben können. Wie wunderbar er doch war und wie einzigartig diese Geste. Wie sehr musste man jemanden lieben, um ihn gehen zu lassen? Die meisten Menschen hätten sicher versucht, es zu verhindern, oder hätten aus Eifersucht ganz anderes gehandelt. Jemanden frei zu geben, um ihm ein gutes Leben zu ermöglichen, schien mir eine wirklich große Leistung.

„Das ist... unfassbar romantisch.“

„Finden sie? Ich hoffe, sie hat es auch richtig verstanden, und nicht geglaubt, ich wolle sie damit von all dem abhalten. Erfahren habe ich es nie, sie ist nie hierher zurückgekehrt, und ich bin auch nie wieder zu ihr gegangen. Ich wollte einfach glauben, dass ihr Leben schön werden würde, und sie bekam, was sie verdient hatte.“

„Aber dann weiß Bertram doch, dass sie hier sind!“

Schlagartig wurde mir klar, dass er es doch wissen musste. Er musste doch dann wissen, dass Leonard noch hier war!

„Er weiß es, bestimmt. Aber hat keine Erklärung dafür. Ich kann nur froh sein, dass er diesen Ort erhält, sonst wüsste ich nicht wohin.“

„Also lässt er hier alles so, weil er weiß, dass sie noch immer hier sind?“

„Vermutlich. Aber es wird nicht mehr auf ewig so sein, befürchte ich. Er ist alt, und irgendwann wird auch er sterben. Was dann mit mir und den Bildern wird, weiß ich nicht.“

„Vielleicht wird er auch ein Geist? So wie wir?“

„Das glaube ich nicht. Ich hab andere getroffen, keiner von ihnen ist eines einfachen Todes gestorben. Alle die sind wie wir, sind plötzlich, unerwartet, und eigentlich zu früh gestorben. Ich glaube, nur diese Sorte wird wie wir, nicht die, deren Zeit irgendwann gekommen ist.“

Ich sah zu Seite und versuchte seinen Blick aufzufangen, aber er sah auf die Wand neben uns. Stimmte das? War das der Grund für unser Dasein? Weil es zu früh war, und unsere Zeit noch nicht gekommen war?

Auch ich hatte in meinem ersten Impuls genau das gedacht, meine Zeit war doch einfach noch nicht gekommen, aber hatte diesen Gedanken sofort wieder verworfen.

Wer legte schon fest, wann die Zeit abgelaufen war?

 

„Möchten sie, wenn wir denn schon all den Aufwand veranstalten, noch etwas anderes in ihrem Testament vermerken?“

Ich sah auf ihn, der ein leeres Blatt auf der Tischplatte neben sich hatte, und dann auf den Kugelschreiber in seiner Hand.

Alleine das setzte mich schon unter Druck, immerhin hatte ich nie etwas ähnliches tun müssen, und sein spontaner Entschluss, jetzt schon einen ersten Entwurf dafür zu machen, schien mich völlig zu überfordern.

Mein Blick schweifte über die Galerie und ihn, und so sehr ich mich auch anstrengte, es fiel mir nichts ein. Eine Möglichkeit, ein einziger Versuch, und niemand, der dem ich hätte etwas mitteilen können.

Sicher hätte ich Grete etwas schreiben können, vielleicht auch Alex oder einem meiner wenigen Freunde, aber was? Was sollte ich schreiben, was sich nicht wie totaler Wahnsinn anhören würde?

„Mir fällt niemand ein, und es gibt auch nichts, was ich sonst vererben könnte. Ich bin nicht reich, und ich besitze nichts, was es wert wäre, weiter zu geben. Es gibt auch niemand, der eine Nachricht bekommen könnte, der sie nicht als totalen Unsinn abtun würde.“

„Keine Familie? Keinen Freund oder Mann?“

Er sah erstaunt aus, und ich schämte mich. Niemand.

„Nein. Freunde, ja, aber keine, denen ich etwas mitteilen könnte.“

Leonard griff nach meiner Hand und ich zuckte. Die Wärme tat gut, aber sie sorgte auch dafür, dass ich mich noch schlechter fühlte.

Er hatte Mitleid mit mir, das spürte ich, und genau davor hatte ich mich immer gefürchtet. Ja, ich war einsam. Ja, es gab einfach niemanden, für den ich wirklich wichtig war. Dass jemand anderes das sah, es hörte, fühlte sich absolut schlecht an.

Nie hatte ich so wirken wollen, immer hatte ich getan, als würde mir das alles nichts ausmachen, als hätte ich genau dieses Dasein für mich gewählt, aber auch diese Fassade bröckelte nun.

Das weiße Hemd an meinem Arm fühlte sich steif an, fast als sei es frisch gebügelt, und ich fragte mich, ob seine Sachen je dreckig werden würden. Sechzig Jahre in dem gleichen grauen Anzug, der gleichen Krawatte, das würde mich wahnsinnig machen.

„Setzen sie sich nicht unter Druck. Denken sie nach, und entscheiden sie dann. Wir haben Zeit, sie müssen das nicht jetzt entscheiden.“

„Muss ich jetzt für immer das T-Shirt und die Jeans tragen?“

Ich wollte nicht über Nachrichten und nicht vorhandene Kontakte nachdenken. Die Idee mit der Nachricht kam mir immer dämlicher vor, und eigentlich war es auch sinnlos. Selbst wenn Lisa meinen Wagen bekam, was sollte das ändern?

Sie kannte mich nicht, würde keine direkte Verbindung zu mir herstellen, und daher würde sich trotzdem niemand an mich erinnern. Dass ich glaubte, jemand würde mich wegen eines Plastikwagens an mich erinnern, schien mir jetzt extrem armselig.

Alles was von mir übrig geblieben war, war ein lausiger kleiner Wagen. Ganz anders als bei ihm, der ein Meer wundervoller Gemälde hinterlassen hatte.

„Sieht so aus, zumindest außerhalb dieser Räumlichkeiten. Glauben sie mir, hätte ich das gewusst, hätte ich sicher auch etwas anderes an diesem Tag getragen.“

„Aber ihnen steht der Anzug gut.“

Schon wieder. Schon wieder war mein Mund schneller als mein Gehirn gewesen, und ich sah verschämt zur Seite. Wann immer ich in beobachtet hatte, war er mir vorgekommen, wie diese Männer in den Katalogen. Groß und schlank, gut proportioniert, makellos und perfekt. Daneben ich, in einer billigen, verwaschenen Jeans, und einem T-Shirt, was die besten Zeiten eigentlich nie gehabt hatte.

„Danke. Aber bequem ist es nicht, und auch nicht mehr zeitgemäß. Aber zu meiner Zeit, da trug man eben solche Sachen. Trotzdem bin ich immer froh hier zu sein, meine Krawatte lockern und auch den Hut abnehmen zu können.“

In meinem Geist sah ich ihn die Straße herabgehen, wie in all den Monaten, in denen ich ihn aus der Ferne beobachtet hatte. Ich hatte gerade den Hut besonders gemocht, weil niemand sonst einen trug. Ich fand es speziell und extravagant, und nie hatte ich darüber nachgedacht, dass er den Hut vielleicht gar nicht mochte.

„Können sie nicht hier etwas anderes tragen? Hier gelten diese Gesetze doch nicht?“

Ich hatte Hoffnung irgendwann das T-Shirt los zu werden, auch wenn ich aktuell noch keine Ahnung hatte wie. Bis in alle Ewigkeit ein billiges weißes T-Shirt zu tragen, schien mir alles andere als passend.

„Rein theoretisch ist das wohl möglich, aber wie soll das funktionieren? Wie soll ich ein anderes Kleidungsstück in diesen Raum bekommen?“

Bertram. Wer sonst? Die Frage stellte sich mir im Grunde nicht wirklich, schließlich gab es nur diese eine Möglichkeit. Wenn der derjenige war, der Dinge hinein- und hinausbefördern konnte, dann auch ganz sicher ein anderes Hemd oder eine Jeans.

„Sie könnten ihren Freund darum bitten?“

Er lachte und zog die blaue Krawatte nun endgültig über seinen Kopf, nur um sie dann auf den Tisch vor sich zu legen. Er öffnete den ersten Knopf seines Hemdes, und fast glaubte ich, er würde auch dieses ausziehen, aber leider geschah es nicht.

Mit großen Augen blickte ich auf ihn, denn das war ganz sicher das anziehendste, was ich in den letzten Jahren gesehen hatte. Das eine einzige Handlung mich so sehr irritieren konnte, sprach ganz sicher auch nicht für mich.

„Ich könnte Bertram um so vieles bitten, aber was sollte das bringen? Bertram hat ein Leben, und es würde ihn nur verwirren. Ich denke, für ihn ist all das schon Last genug, immerhin lebt er nun schon so lange mir dem Wissen, dass hier etwas vor sich geht. Ich möchte seine Freundlichkeit wirklich nicht überstrapazieren.“

Verstand ich. Auch wenn es mich ärgerte. Ich wollte definitiv nicht für immer so aussehen, und vermutlich würde kein Mann dieser Welt das verstehen. Wenigstens eine Strickjacke oder einen Pullover, das wäre schön gewesen.

Ob ich wirklich jemals frieren würde, da war ich mir zwar nicht sicher, aber manchmal sorgte eine Jacke auch einfach dafür, dass man sich besser fühlte. Sie hüllte einen ein, spendete Trost, und man fühlte sich weniger nackt. Ja, eine Strickjacke würde mir gefallen.

Dass ich keine getragen hatte, obwohl ich das sonst immer tat, ärgerte mich in Nachhinein. Am Tag meines Unfalls war es nicht mal sonderlich warm gewesen, aber ich hatte in der Hektik des Tages einfach nicht daran gedacht. Wie weitreichend diese Entscheidung allerdings sein würde, damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

„Ich bin müde.“

In Gedanken wischte ich mir mit dem Handrücken über die Augen und hielt dann erschrocken inne.

Müde? Ich war seit meinem plötzlichen Ableben nicht mehr müde gewesen, hatte nicht geschlafen, und jetzt war ich müde?

„Verständlich, es ist schon sehr spät. Ich denke, wir sollten schlafen gehen. Kommen sie, sie können sich ein Bett aussuchen.“

Verwirrt sah ich auf die Hand, die er mir reichte und griff dann danach. Ihn schien meine Müdigkeit nicht zu überraschen, und ich fragte mich sofort, ob nur ich dieses Problem mit dem Schlafen hatte.

War ich so aufgedreht gewesen, dass ich deshalb die Müdigkeit einfach nicht verspürt hatte? Oder hatte ich einfach so lange geschlafen, dass ich nun diese elendlange Zeit wach gewesen war, ohne auch nur den Hauch von Erschöpfung zu verspüren?

Er zog mich sanft von der Couch nach oben und ließ es geschehen, obwohl ich wirklich keine Ahnung hatte, was nun passieren sollte.

Ein Bett? Ich hatte kein Bett gesehen, schon gar nicht mehr als eins, und jetzt sollte ich eines aussuchen?

„Warum bin ich hier müde, und dort draußen nicht?“

„Aus dem gleichen Grund, warum sie hier Hunger verspüren werden, und dort draußen nicht. Weil hier die Dinge sind, wie sie immer waren.“

Er schmunzelte und zog mich in den hinteren Raum, nur um dann in einem Berg von Bildern an der Wand zu kramen.

Auch Hunger spürte ich dumpf, aber nicht auffallend. Irgendwo in mir verspürte ich ihn, aber es war nicht so, wie ich es gekannt hatte. Nach mehr als einem Tag ohne essen hätte es anders sein sollen, aber ich fragte nicht danach.

Wortlos stand ich neben ihm und sah zu, wie er ein Bild nach dem anderen zur Seite stellte, weil mir einfach nichts mehr dazu einfiel. Sollte ich jetzt in einem der Bilder schlafen?

„Wie möchten sie Nächtigen? Eher rustikal, oder mit Blick auf die See?“

Ich sah, wie er ein Gemälde hochhielt, auf dem ein riesiges Bett vor einem Fenster mit Seeblick stand. Das Bett nahm fast das ganze Bild ein, und eigentlich sah es ganz gemütlich aus. Trotzdem fürchtete ich mich vor dem Gedanken, alleine zu sein, und noch mehr vor der Tatsache, dass ich dort vielleicht nicht mehr herauskommen würde.

„Ich will da nicht rein! Was, wenn ich nicht mehr dort wegkomme?“

„Das ist noch nie passiert, und es wird auch nicht passieren. Fürchten sie sich etwa?“

„Ja, natürlich fürchte ich mich!“

Was für eine dämliche Frage. Jeder würde das.

Niemand auf der Welt würde diesen Vorschlag einfach hinnehmen, ihn nicht hinterfragen, und sich nicht vor dieser irrsinnigen Vorstellung fürchten.

„Müssen sie nicht. Soll ich mit ihnen kommen?“

Was war nun schlimmer? Alleine dort zu sein, oder mit ihm? Ich sah auf das Bild, und dann auf ihn, und beschloss, dass ich auf keinen Fall mit ihn dort sein wollte.

Er, der eindeutig zu gut für mich aussah, würde mich vermutlich ohnehin nicht schlafen lassen. Schon so war seine Anwesenheit eher Strafe als Gewinn, auch wenn er wirklich freundlich war. Ein Mann, der so war, so aufmerksam und gut erzogen, konnte einen Dinge glauben machen, die nie Realität werden würden.

Noch vor wenigen Minuten hatte ich geglaubt, es müsse eine Verbindung zwischen uns geben. Weil er mich berührt hatte, wir zwei der gleichen Art in dieser fremden Welt waren, und weil wir eben nur uns hatten.

Jetzt allerdings strafte mich mein Geist deswegen ab. Er hatte eine Frau gehabt, sie sehr geliebt, und keine Sekunde lang, hatte er auch nur ansatzweise Interesse an mir gezeigt. Jedenfalls keins, was ich mir vielleicht gewünscht hatte.

„Nein, ich denke, ich bleibe hier. Ich werde auf der Couch schlafen. Unser Deal war, dass ich diese Dinge hier erst tun werde, wenn der Auftrag erfüllt ist. Gehen sie schlafen, aber ich werde hierbleiben.“

Leonard sah überrascht aus, aber er nickte.

„Gut, wie sie wollen. Es ist ihre Entscheidung, und die akzeptiere ich. Das hier ist mein Nachtlager, wenn etwas ist, oder sie sich unwohl fühlen, dann finden sie mich hier.“

Er zeigte auf ein kleines Bild mit einem einfachen Bett, in einem Raum, der völlig unauffällig war. Zimmer wie diese gab es sicher tausendfach, und ich fragte mich, warum er gerade ein so banales Nachtlager gewählt hatte. Auf dem Bild war kein Fenster, kein Schrank oder sonstiges zu sehen. Ein einfaches Bett, vor einer Wand mit etwas schrulliger Tapete, und nicht mal ein Nachttisch war zu sehen. Lediglich ein Stuhl an der Seite, dessen Lehne nur zur Hälfte zu sehen war.

„Und wie kann ich mich bemerkbar machen, wenn sie dort sind?“

„Sie berühren das Bild, und schließen die Augen. Der Rest erledigt sich von alleine.“

Er tippte gegen das Bild, schloss die Augen, und nur Sekunden später sah ich den Mann auf dem Gemälde neben dem Bett.

Leonard, unverkennbar. Noch jetzt sah er aus wie er selbst, und ich sah mit offenem Mund auf die Linien aus dickflüssiger Ölfarbe.

Der Anzug stimmte, auch das Hemd, und noch immer stand der erste Knopf davon offen. Wie in Zeitlupe bewegte sich sein Arm, als wolle er mich grüßen, und sofort ergriff mich Panik.

Was war das? Was geschah hier?

Ich berührte das Bild, aber ich schloss die Augen nicht. Zu groß war meine Angst, es würde auch mich in sich aufsaugen.

Die Figur bewegte sich, langsam aber sichtbar, und die Weste fand ihren Platz auf der Lehne des Stuhls.

Ein wenig erinnerte es mich an ein Musikvideo von Aha aus den 80ern, in dem der Sänger nur in Form einer Zeichnung zu sehen war. Konnte das hier alles wirklich passieren?

Er würde sich doch nicht jetzt hier vor mir ausziehen?

Meine Panik wuchs, und sofort trat ich von dem Bild zurück. Das wollte ich nicht sehen, auf keinen Fall, und beschloss daher, besser doch zu meinem Platz auf der Couch zurückzukehren.

 

Die vielen Eindrücke hatten mich noch müder gemacht. Nie vorher hatte ich eine solche Schwere und erdrückende Müdigkeit gespürt. All das, war mehr, als ich ertragen konnte.

Das mein Leben mal so enden würde, in einem solchen Durcheinander, damit hatte ich einfach nicht gerechnet. Geister, die in Bilder wandelten, dieser Ort und seine Geschichte, nichts davon verstand ich.

Ich kugelte mich auf der Couch ein, den Kopf auf einem der staubigen Kissen, und sofort bereute ich diese Entscheidung. Es roch merkwürdig, fast wie auf dem Dachboden meines Hauses, und auch von Bequemlichkeit konnte keine Rede sein.

Würden jetzt alle meine Nächte genau so aussehen? Oder war es dann doch besser, mit Alex auf der Couch zu sitzen?

Alex. Immer wieder dachte ich an ihn, sein trauriges Leben, und daran, dass er mich hatte retten wollen. Warum meine Gedanken an jemandem hingen, den ich eigentlich überhaupt nicht kannte, verwunderte mich selbst. Aber eigentlich war es logisch, immerhin war er einer der wenigen Menschen, die sich je um mich gesorgt hatten.

Eine echte Schande, dass jemand wie er mir erst jetzt begegnet war. Zu spät, um ihn wirklich kennenzulernen, zu spät, um auch für ihn etwas zu tun.

Ich klopfte auf das Kissen unter meinem Kopf und eine kleine Staubwolke stieg auf.

Sofort musste ich husten, und ich wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht, um die Luft zu reinigen.

Vielleicht war das Bild doch die bessere Alternative.

Aber nicht heute, vielleicht morgen, oder an einem der Tage, die darauf folgten.

 

 

 

 

  1. Kapitel 9:

Ich spürte die sanfte Berührung, aber konnte nicht zuordnen, woher sie kam.

Mein Nacken schmerzte, und auch meine Beine fühlten sich taub an.

Die winzige Couch war als Schlafplatz eindeutig wenig geeignet, und ich versuchte mich aufzurichten, was mir nur mäßig gut gelang.

Jedes meiner Glieder schmerzte, und mein Nacken schien in der Position zu verharren, die er die letzten Stunden eingenommen hatte.

„Ich habe ihnen gesagt, dass ein Bett für sie besser gewesen wäre.“

Die Stimme klang sanft, und erneut spürte ich die Hand auf meiner Wange.

Schlagartig wurde mir klar, wo ich war, und wer hier neben mir saß, und sofort richtete ich mich endgültig auf.

Leonard trug wieder Anzug, Krawatte und Jacke, sah aus wie das blühende Leben, und ein Lächeln auf seinem Gesicht verriet mir, dass seine Nacht wesentlich besser verlaufen war, als meine eigene.

„Wie spät ist es?“

Ich sah auf die Uhr an meinem Handgelenk, das erste Mal seit meinem Tod überhaupt, aber die Zeit, die darauf angezeigt wurde, konnte unmöglich stimmen.

„Sie funktioniert nicht, aber es ist früher Morgen.“

Er zeigte aus dem Fenster, wo die Dunkelheit der Nacht einem schwachen Grau gewichen war.

Erneut sah ich auf die billige Uhr, nur um dann festzustellen, dass sie vermutlich in dem Moment stehen geblieben war, in dem mein Körper und mein Geist sich getrennt hatten. Der große Zeiger stand auf der Eins, der kleine auf der Achtzehn.

Bei genauerer Betrachtung machte das sinn, immerhin spielte Zeit nun keine Rolle mehr, und wozu brauchte ich jetzt noch eine Uhr?

Tage, Wochen, Monate, nichts davon würde noch eine Rolle spielen, und kurz war ich in Versuchung, die Uhr einfach abzunehmen.

Ich tat es nicht, denn sie gehörte zu mir. Über Jahre hatte ich sie getragen, nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, und sie war genau wie die Zeit an sich, ein fester Bestandteil meines Lebens gewesen. Mich jetzt endgültig von ihr zu trennen, dazu war ich einfach noch nicht bereit.

„Ihnen tut doch sicher alles weh, kommen sie, ich helfe ihnen auf.“

Er zog mich am Arm in eine sitzende Position, und das Kribbeln in meinen Beinen begann genau in diesem Moment. Wie normal mein Körper doch reagierte, obwohl er eigentlich nicht mehr lebte.

„Noch so eine Nacht überlebe ich auf keinen Fall...“

Meine Hand rieb über meine Beine, und ich spürte, wie die Blutzufuhr langsam ihren Weg durch meine Adern fand. Auch mein Nacken lockerte sich etwas, und mit der anderen rieb ich darüber, um die Muskeln etwas zu entspannen.

Schon früher hatte er mir Probleme gemacht, die ewig gebeugte Haltung in meinem Beruf hatte ihn mürbe gemacht, und tatsächlich war sogar der Schmerz tröstend. Ich war noch immer ich, sogar mit diesen Schwächen.

„Müssen sie ja nicht. Es steht ihnen frei ein Bild zu wählen. Wenn ihnen keins gefällt, dann kann ich ihnen allerdings auch ein neues Malen?“

Er sah nicht aus, als sei das ein Problem, und Sekunden dachte ich über diese Möglichkeit nach. Leonard könnte mir mein Schlafzimmer malen, mit allem, was dazu gehörte. Mein Bett mit den dicken Kissen, meinen Nachtisch mit der kleinen Lampe darauf.

Aber würde es sich dann auch noch immer wie mein Bett anfühlen?

„Danke, aber ich denke nicht. Ich muss darüber nachdenken, aber vorerst werde ich hier aufräumen, und versuchen, es etwas gemütlicher zu gestalten.“

Erschrocken sog er die Luft in seine Lungen, nur um dann sofort panisch mit den Händen vor meinem Gesicht zu wedeln.

„Nein! Sie dürfen hier nichts verändern. Wenn es hier anders aussieht, dann werden die Leute auf uns aufmerksam werden!“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Und wenn schon? Sie können uns nicht sehen, und außerdem glauben sie doch nicht wirklich, dass irgendwer hier hineinsieht. Wann hat das letzte Mal jemand versucht, die Galerie zu betreten?“

Er sah mich an, immer noch panisch, aber in seinen Augen sah ich, dass meine Vermutung richtig war. Niemand war hier gewesen, niemand hatte vor dem Schaufenster verharrt.

„Aber Bertram wird es sehen, und er wird sich fragen, was hier vor sich geht!“

„Tut er sicher ohnehin. Und ich glaube kaum, dass ihn etwas weniger Staub stören würde.“

Touché. Ich sah es in seinem Blick und seinem Verhalten. Es gab kein Argument es nicht zu tun, und er würde mich nicht daran hindern.

Ich stand auf, und sofort grummelte mein Magen verdächtig wütend. Ja, jetzt hatte ich Hunger. Riesen Hunger.

„Sie sollten etwas essen, Spencer.“

Er zeigte auf meinen Magen, der sich anfühlte wie ein riesiges schwarzes Loch.

„Ich verstehe das nicht. So lange ich nicht hier war, hatte ich einfach keinen. Aber kaum bin ich ein paar Stunden hier, könnte ich sterben vor Hunger.“

Das Lachen auf seinem Gesicht breitete sich wie eine Welle aus. Binnen weniger Sekunden erreichte es seine Augen, und ich fühlte mich, als hätte mich Zug mich in voller Fahrt erwischt.

Das Blau strahlte heller, die winzigen Fältchen um seine Augen machten ihn noch anziehender, und zum ersten Mal schien er aufrichtig fröhlich.

„Das, meine Liebe, wird sicher nicht passieren, denn sie sind ja schon tot.“

Auch ich musste lachen, immerhin war das eine mehr als dämliche Feststellung gewesen.

„Stimmt, aber vielleicht sterbe ich ein zweites Mal, wenn ich hier verhungere.“

„Liegt im Bereich des Möglichen. Außerhalb der Galerie würde es nicht passieren, aber hier sind die Dinge, wie sie sind. Sie müssen essen, sie müssen ein Bad besuchen, und auch alles andere, was lebende Personen so tun.“

„Und das wird wie ablaufen?“

Ich sah mich um, aber nirgendwo sah ich einen Kühlschrank oder Ähnliches.

„Sie werden nicht umhinkommen, eines der Bilder zu besuchen. Jedenfalls nicht, wenn sie nicht vor Hunger umkommen wollen.“

Ich hätte es wissen müssen. Von wegen Deal. Einen Deal gab es nicht, nur eine unumgängliche Tatsache.

Ganz offensichtlich hatte er mich übers Ohr gehauen, aber wirklich wütend konnte ich deswegen nicht sein. Vielleicht hatte er es mir leichter machen wollen, den richtigen Moment für all das einfach in Ferne legen wollen, damit ich mich damit weniger schlecht fühlte.

„Haben sie nicht gestern noch gesagt, ich müsste es erst tun, wenn meine Nachricht ihren Empfänger gefunden hat?“

„Stimmt auch. Erst dann müssen sie mit mir eine Reise unternehmen. Aber alles andere, da werden sie nicht drumherum kommen. Es sei denn, sie verlassen diesen Ort, und suchen sich einen anderen. Wenn sie aus der Türe gehen, wird auch der Hunger verschwinden.“

Na prima. Beide Optionen klangen nicht sehr verlocken, auch wenn essen sich bestimmt wunderbar normal anfühlen würde.

Alleine nach draußen zu gehen, in eine Welt die ich weder verstand, noch Teil davon sein würde, war allerdings die größere Hürde.

„Also habe ich nicht wirklich eine Wahl?“

„Man hat immer eine Wahl, Spencer. Aber es gibt keinen Grund zur Sorge, schließlich kenne ich meine Bilder.“

Ich sah ihn an, und beschloss ihm zu vertrauen. Er kannte sich aus, machte all das schon so lange, er würde wohl wissen, was er dort tat.

„Okay, ich komme mit.“

Das Strahlen in seinem Gesicht wurde heller, und fast schien es, als hätte ich ihm einen Wunsch erfüllt. Auch in mir machte sich Freude breit, sie war eindeutig größer als meine Angst, und ich gab mir alle Mühe, ihr die Oberhand zu überlassen.

Wenn ich niemanden hatte, und er ebenso niemanden hatte, dann sollte es mein einziges Ziel sein, ihn glücklich zu machen.

Ich war ihm genau das schuldig, immerhin hatte er mich hier aufgenommen, und ich war nicht mehr das verlorene Kätzchen auf den Straßen einer praktisch leeren Stadt.

„Wunderbar. Ich weiß genau, wo wir hingehen werden, und ich bin mir sicher, es wird ihnen gefallen.“

Er rauschte um die Ecke und ich folgte ihm, nicht sicher, ob ich mir da auch so sicher sein würde.

 

„Nehmen sie meine Hand, und mit der anderen berühren sie das Bild. Dann schließen sie die Augen.“

Er nahm meine Hand in seine, und ich bemerkte, dass ich zitterte. Warum ich so ängstlich war, verstand ich im Grunde selbst nicht. Was sollte schon passieren?

Ich sah auf ihn, der die Augen geschlossen hatte, und dessen Gesichtszüge völlig entspannt wirkten. Wie schön er doch war, und wie markant dieses Gesicht doch war.

Winzige Bartstoppeln paarten sich auf seinem Kinn, und auch das verwunderte mich. Er würde sich rasieren müssen, spätestens morgen, sonst würden sie dichter werden.

„Spencer? Die Augen schließen?“

Er rieb mit dem Daumen über den Ballen meiner Hand, und ich gab mir alle Mühe, aber alles in mir wehrte sich dagegen. Obwohl der Balkon auf dem Bild vor mir einladend aussah, und auch der gedeckte Tisch wirklich ansprechend war, konnte ich es einfach nicht.

Stattdessen sah ich weiter auf sein Gesicht und die dunklen Stoppeln, während er weiter rieb.

„Was ist?“

Leonards Augen öffneten sich, und ich sah Erstaunen.

„Ich kann das nicht. Wirklich nicht.“

Meine Hand zog sich aus seiner, und ich nahm auch den Finger von dem Gemälde.

„Ach kommen sie, was soll passieren? Sie haben doch gesehen, es ist nicht schlimm, und ich bin bei ihnen.“

Er griff erneut nach meiner Hand, und legte diese auf die erstaunlich glatte Oberfläche. Das raue Leinen fühlte ich, auch die Farbe, die darauf lag, und eigentlich fühlte es sich nun wirklich nicht gefährlich an.

„Versuchen sie es, wir tun es zusammen.“

Ich schloss mit aller Gewalt die Augen und griff mit der anderen nach seiner Hand.

 

Der Geruch von frischem Kaffee erweckte meine Sinne, und sofort schlug ich die Augen auf. Vor mir stand die Kanne, dampfend und eindeutig sehr echt, und ein Berg von Brötchen türmte sich in einer Schale daneben.

Ich spürte Sonne, es roch nach Frühling, und der winzige Windzug in meinen Haaren war so echt, wie er nur sein konnte.

„Sehen sie, alles nicht so schlimm, wie es sich anhört.“

Meine Hand fuhr fast automatisch zu der Kanne, und glitt über das Porzellan. Echt.

Kühles, glattes Porzellan, unter deren Oberfläche die Wärme deutlich zu spüren war.

„Ich glaub das einfach nicht...“

Das konnte doch nicht wahr sein. Eben noch hatte ich ein stilles Bild vor mir, und dann noch nicht mal ein sehr spannendes.

Ein gedeckter Tisch an einem unbekannten Ort, der überall auf der Welt sein konnte. Niemand würde sich so ein Stillleben an die Wand hängen, jedenfalls niemand, den ich kannte, und jetzt stand ich mittendrin.

Der Tisch, an dem wir saßen, auf der Terrasse eines Hauses, dessen Umrisse in grauem Nebel verschwanden.

Alles was vor uns lag, sah echt und detailgetreu aus. Keine Zweifel daran, dass es es echt war. Alles außerhalb dieser Szenerie lag im dichten Nebel, als sei es einfach nicht Teil des Gemäldes, und wenn ich in die Ferne hinter Leo sah, war dort ein alles verschluckendes Nichts.

„Setzen sie sich, sie werden die Vorzüge dieser Dinge noch zu schätzen lernen.“

Er schob mir den Stuhl entgegen und ich nahm Platz, obwohl mir eher nach weglaufen war. Zu abstrus schien mir das alles, und zu unwirklich das vor mir Liegende.

„Wie machen sie das? Warum funktioniert das?“

„Diese Frage, Spencer, kann ich ihnen nicht beantworten. Aber sie sehen ja, es funktioniert. Kaffee?“

Er griff nach der Kanne und ich nickte schwach, denn Kaffee würde aktuell wohl wirklich helfen. Ich fühlte mich dumpf und irgendwie betäubt, ein Zustand, der mir ganz und gar nicht zusagte.

Die braune Flüssigkeit ergoss sich dampfend in die Tasse vor mir, und schon alleine das Geräusch reichte, um mich an meinem Verstand zweifeln zu lassen.

Ich war hier, spürte die Strahlen der Sonne und den leichten Wind, und doch konnte nichts davon Realität sein.

„Nehmen sie es an, lassen sie es zu. Wir haben nur diese Realität, und sie werden schnell merken, diese kleinen Fluchten machen es leichter.“

Er goss auch sich ein, und legte mir ein Brötchen auf meinen Teller, als hätte er nie etwas anderes getan. Selbstverständlich und liebevoll, als würde er mir diese Hürde nehmen wollen.

„Sie flüchten also in diese Welten, um dem Leben als Geist zu entfliehen?“

„Natürlich. Die Galerie ist deprimierend, die Welt dort draußen ist es ebenso. Aber hier, in den Bildern, kann ich mir die Realität so machen, wie ich es möchte.“

Verrückt. Ich griff nach dem Messer, weil mein Hunger einfach zu groß war, und weil mir einfach nichts Besseres einfiel.

„Also ist jedes Bild eine Idee ihrer Realität?“

„Nein, nicht jedes. Manche sind notwendige, andere Zeitvertreib. Aber am liebsten sind mir die Bilder anderer. Die Situationen zu erleben, die Orte zu erkunden, das ist sehr viel besser. Der Maler hat sich etwas bei den Bildern gedacht, und nicht immer ist es sofort zu erkennen, aber wenn man dort ist, dann erkennt man es.“

Brötchenkrümmel landeten auf meinem Schoß, und ich wischte sie mit der Hand auf den Boden. Es schmeckte, wie ein Brötchen schmeckte, und fast war ich Versuchung zu vergessen, an was für einem Ort ich mich befand. Zu gut war das Gefühl zu essen, und zu gut das Gefühl, etwas für meinen leeren Magen zu tun.

„Ich hab keine Ahnung von Kunst, aber malen die meisten nicht alltägliche Situationen? Das ist doch langweilig, was soll es da zu entdecken geben?“

Ich biss erneut ab, und die rote Marmelade glitt über meine Zunge. Selten hatte etwas so gut geschmeckt, und nie hatte ich es so intensiv wahrgenommen. Ob es an der langen Hungerzeit oder der Situation lag, wusste ich allerdings nicht.

„Stimmt. Aber es gibt immer eine Geschichte hinter dem Bild, immer eine Wahrheit, die im Verborgenen bleibt.“

Okay, ich war ein Landei. Ein dummes Landei, ohne Verstand.

Ich hatte nie etwas in den Bildern im Schaufenster gesehen, was mir wirklich etwas gesagt hatte. Ich hatte die Ballerina in ihrem duftigen Kleid gesehen, und nichts sonst. Auch die Landschaft war schön, aber ich hatte weder eine Geschichte noch eine Wahrheit darin entdeckt.

„Was ist die Wahrheit hinter diesem hier?“

Ich machte eine ausladende Handbewegung, und er grinste sofort.

„Hunger. Und der Wunsch, meine Nahrung an einem schönen Ort einzunehmen.“

„Was passiert, wenn man geht? Also aus dem Bild?“

Ich sah alles um mich herum, aber schon wenige Meter hinter dem Tisch verschwamm die Realität in ihren Farben. Wie Nebel legte sich der Schleier über den Anblick, und ich konnte nicht erkennen, was dahinter lag.

„Nichts. Der Nebel hört nicht auf. Je nach Perspektive kann der Nebel weit weg sein, zum Beispiel, wenn ich den Horizont auch male. Aber in diesem Fall, wo es nur um den Tisch und den Balkon geht, endet es sofort dahinter.“

Es interessierte mich brennend, wie der Nebel sich anfühlen würde, aber ich gab dem Impuls nicht nach. Wer wusste schon, wie es dahinter wirklich sein würde?

 

Endlich satt. Ich schnaufte und rieb mir den Bauch, über dem die Hose nun deutlich mehr spannte.

„Das war super, wirklich. Ich fühle mich schon viel besser.“

Das Lächeln ließ mich ebenso lächeln, und auch er schob den Teller vor sich zur Seite.

„Das freut mich. Was würden sie nun gerne tun, Spencer? Vielleicht ein Badezimmer?“

Ja, das wäre schön. Ein Badezimmer könne meine Stimmung wirklich noch heben.

„Gerne. Aber wie soll das sein? Werden sie sehen, was ich dort tue?“

Ich hatte gesehen, wie er auf seinem Schlafbild die Weste über die Lehne des Stuhls gelegt hatte. Würde er ebenso sehen, wenn ich duschte, oder ein Bad nahm?

„Prinzipiell schon, wenn ich es denn wollte. Aber ich bin ein gut erzogener Mann, ich würde es nicht tun, außer sie würden mich darum bitten.“

Er sah verschämt zur Seite, aber sein Grinsen verriet, dass er es nicht ernst meinte.

Ich selbst musste auch schmunzeln, immerhin war das fast so etwas wie ein Flirt, und irgendwie schmeichelte es mir.

Männer waren meistens anders, sehr viel direkter und weniger charmant, und eigentlich fand ich die Vorstellung, dass ihn mein duschender Anblick vielleicht erfreute, gar nicht mehr so schlecht.

Im Gegensatz zu den platten Flirtversuchen, die ich sonst gelegentlich erlebt hatte, war das hier sehr charmant.

„Dann möchte ich gerne ein Bad, aber ich würde sie bitten, mich dort nicht zu beobachten.“

Doch, eigentlich schon. Ich zumindest hätte ihn gerne dort gesehen, denn sicher gab es bei einem Mann wie ihm viel zu sehen.

Allerdings kannten wir uns kaum, und es war sicher keine gute Idee, an einem so frühen Punkt schon so weit über das Ziel hinaus zu schießen.

„Dann werden wir ihnen ein Bad suchen, dass ihren Ansprüchen genügen wird.“

Er stand auf und griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand, und nur Sekunden später befanden wir uns wieder in der Galerie.

Wie hatte er das gemacht? Wie hatte er uns wieder zurück katapultiert?

„Sie sehen, nichts daran ist gefährlich oder unangenehm. Hätten sie lieber eine Dusche oder eine Badewanne?“

„Wie sind wir zurückgekommen?“

Ich sah mich erstaunt um, denn wir hatten ja nicht wirklich etwas getan, was uns zurück an diesen Ort gebracht hatte.

„Wünschen sie sich zurück. Diese Welt ist unsere, und ihre Anziehung ist immer stärker. Wenn sie hierher zurückwollen, dann kommen sie auch zurück. Also: Bad oder Dusche?“

So banal wie er es darstellte, war das alles sicher nicht, aber es hatte auch sofort seine beängstigende Wirkung verloren. Es war wirklich nicht schlimm gewesen, im Gegenteil, und eigentlich hatte es auch Spaß gemacht.

In meinem Kopf formten sich all die Möglichkeiten, die all das mit sich brachte. Ich würde Orte sehen können, die ich nur aus Büchern oder aus dem Fernsehen kannte, und ich würde mich dort bewegen können. All die Orte, für die mir immer das Geld gefehlt hatte, und die für mich unerreichbar gewesen waren.

Ja, damit würde ich leben können, in dieser Realität, die eigentlich keine war.

 

 

 

  1. Kapitel 10:

Es war zu einfach. Es war einfach zu einfach, und daher konnte es nicht sein.

Frisch geduscht und mit frisch gewaschenen Haaren, stand ich in der staubigen Galerie, und sah mich nach Leonard um.

Es war zu einfach gewesen, in das Bild zu gelangen, und beim ersten Gedanken dran, war ich zurückgekehrt.

Wie konnte das alles so wahnsinnig einfach sein?

Zu duschen hatte sich gut angefühlt, das warme Wasser hatte mich vieles vergessen lassen, und auch sich endlich die Zähne zu putzen, war eine gute Sache gewesen.

Wie viele Details er tatsächlich beim Malen des Bildes bedacht hatte, wurde mir erst klar, als ich auf der Glasplatte vor dem Spielgel einen Kamm entdeckt hatte.

Das Bad, was ich gewählt hatte, war altmodisch, aber zweckmäßig. Aus den fünf anderen hatte ich dieses gewählt, weil es meinem eigenen daheim, am meisten glich.

Zweckmäßig und klein, so wie ich es kannte, war es mir am sympathischsten gewesen.

Jedes Detail des Bildes hatte ich auch dort vorgefunden, aber die Schränke hatten sich nicht öffnen lassen. Für mich bedeutete das, dass es nur Dinge geben würde, die auch auf dem Bild sichtbar waren. Was Leonard nicht zeichnete, war nicht vorhanden, und wenn der Schrank nicht schon auf dem Bild würde offen stehen, würde ich ihn nicht öffnen können.

Das ich trotzdem alles vorgefunden hatte, was ich vielleicht benötigen würde, war nur Leonard und seiner Beobachtungsgabe zu verdanken. Ein Kamm, eine Zahnbürste, sogar zwei verschiedene Seifen, die beide dezenten Geruch verströmt hatten.

Was auch immer er gemalt hatte, er hatte darüber nachgedacht, und schon alleine wegen dieser Detailliebe, mochte ich ihn noch mehr.

Zumindest im Ansatz eine Idee zu haben, wie das alles funktionierte, versetzte mich in Euphorie, denn wenn ich es verstehen würde, würde auch mein Dasein einfacher und weniger hilflos sein.

 

Leonard war noch nicht zurückgekehrt, und ich vermutete ihn auf einem anderen Bild. Ich suchte allerdings nicht danach, denn immerhin bestand die Möglichkeit, dass ich ihn in einer unangenehmen Situation erwischen würde.

Unangenehm für ihn, weniger für mich, aber wenn er sein Versprechen hielt, dann würde ich nicht das Gegenteil tun.

Freundschaften durfte man nicht überstrapazieren, das wusste selbst ich, und ich würde ganz sicher nichts tun, was ihn verärgern würde.

Mein Blick schweifte über all die vielen anderen Bilder, all die Möglichkeiten, und ich überlegte, wie lange ich brauchen würde, um jedes davon kennenzulernen. Dass ich es tun würde, daran bestand kein Zweifel. Ich würde alle diese Orte besuchen, mich umsehen, und nach der Wahrheit suchen.

„Wie war ihr Ausflug?“

Erschrocken wand ich mich um, und sah auf das frisch rasierte Gesicht. Perfekt wie eh und je, und ohne jeden Anflug von Drei-Tage-Bart.

„Sehr gut, wirklich. Es war ganz einfach, und das Bad war sehr schön.“

„Das freut mich. Wenn sie etwas benötigen, dann müssen sie es mir sagen. Die Bilder sind auf meine Bedürfnisse ausgelegt, und sicher benötigt eine Frau ein paar andere Dinge.“

Wie aufmerksam. Auch ich hatte mich schon gefragt, wie ich ohne Bürste oder Cremes zurechtkommen sollte. Die Zeiten für Anti-Aging-Cremes waren vorbei, da konnte ich mir wohl sicher sein, aber trotzdem würden ein paar Kosmetikartikel mein inneres Gleichgewicht sehr positiv beeinflussen. Auch wenn ich sie vielleicht jetzt nicht mehr brauchte, es würde sich gut anfühlen. Gewohnheiten und Routinen legte man nur schwerlich ab, und wenn es die Chance gab sie weiter zu führen, dann würde ich es sicher tun.

Das er mir anbot seine Bilder anzupassen, fand ich ausgesprochen freundlich. Allerdings hieß das auch, dass er anscheinend sicher war, dass ich noch eine Weile bleiben würde. Hoffte er, oder befürchtete er es?

Es hatte von Anfang an den Eindruck gemacht, als würde er mit meiner dauerhaften Anwesenheit rechnen, auch wenn wir nicht wirklich darüber gesprochen hatten. Insgeheim vermutete ich Einsamkeit, aber war das wirklich so?

Tat er all das nur, weil er höflich war? Nach Jahrzehnten Einsamkeit auf einmal einen Dauergast zu haben, stellte zumindest ich mir etwas schwierig vor. Nie hatte er Rücksicht nehmen müssen, konnte tun, wonach immer ihm der Sinn stand, und nun klebte ich am Saum seiner Jacke.

„Danke. Ich werde sicher darauf zurückkommen, wenn ich darf. Was machen wir nun?“

Eigentlich war es nicht gerade freundlich, ihn danach zu fragen, immerhin war hier nicht mein Alleinunterhalter, aber woher sollte ich auch schon wissen, wie ein Geist seine Tage verbrachte?

„Ihr Testament? Wie sollten es fertigstellen, schließlich wissen wir nicht, wann Bertram uns das nächste Mal beehrt.“

Ach ja. Fast hatte ich das Ganze schon vergessen, und jetzt, mit all dem Neuen in meinem Leben, hatte dieses Vorhaben seine Wichtigkeit komplett verloren. Warum genau noch, war es mir so wichtig gewesen?

Warum noch hatte ich gestern geglaubt, ich müsse unbedingt Kontakt aufnehmen?

Binnen weniger Stunden hatte ich mein altes Leben an den hinteresten Rand meiner Erinnerung verbannt. Es war da gewesen, aber jetzt war es das nicht mehr, und ich hatte losgelassen.

Trotzdem wollte ich ihn nicht enttäuschen, und wer wusste schon, ob ich es mir nicht doch wieder anders überlegen würde? Wenn es nur diese eine Chance gab, dann würde ich sie auch nutzen.

„Gut. Dann fangen wir an.“

 

Ich saß vor dem Bogen Papier und überlegte, was genau ich überhaupt schreiben sollte. Minutenlang hatte ich dabei zugesehen, wie Leonard einen Briefkopf auf die obere Seite gezeichnet hatte. Ein Logo, wirklich überzeugend, und sicher für keinen als Fälschung ersichtlich. Eine Kanzlei aus dem nächstgrößeren Ort, deren Namen selbst mir ein Begriff war.

Es war faszinierend ihn so konzentriert zu sehen, und es machte ihn noch attraktiver. Ein Mann, der so zeichnen konnte, der musste einfach etwas Besonderes sein.

Die schlanke Hand mit dem Stift flog über das Papier, und erneut fand ich es schade, dass gerade so ein Mann nicht mehr für die gesamte Frauenwelt zur Verfügung stand.

Ihn anzusehen machte Spaß, in seine Augen zu sehen, war abtauchen, und alles in allem, war er einfach ein Geschenk. Dass er dazu auch noch ein wirklich netter Kerl war, machte es nur besser.

Die Reihe bunter Stifte lag auf dem Tisch vor ihm, und sorgfältig legte er jeden einzelnen zurück an seinen Platz. Fast als seien sie sein wertvollster Besitz, und es erinnerte mich an meinen Umgang mit meinen Scheren. Niemand würde das verstehen, wie wichtig diese kleinen Dinge waren, aber er würde es.

Ich verstand, dass er meinen Wunsch meine Arbeitssachen weiterzugegeben, tatsächlich nachvollziehen konnte, und es genau deshalb nicht in Frage stellte.

Auch er hatte für ihn wertvollen Besitz, der eigentlich nicht wertvoll war, und an dem er sehr hing.

Was für ein wirklich außergewöhnlicher Mann.

Speziell war er ohnehin, schon alleine wegen seiner unfassbaren Optik, aber auch diese Seite sprach mich an. Ob er nun ein Fälscher war oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Wobei ich selbst das, bei genauerer Betrachtung, irgendwie als anziehend empfand.

Auch wenn Betrügen oder Fälschen eine Straftat war, kam mir das hier doch anders vor. Ganz sicher war das die Gentleman-Klasse der Straftaten, und es gelang mir einfach nicht, ihn dafür zu verurteilen.

Eine Bank auszurauben, das war sicher verwerflich, aber das hier doch nicht. Er tat niemandem weh, nahm niemandem etwas weg, und eigentlich machte er die Welt nur bunter.

 

„Fehlen ihnen die Worte?“

Mit verschränkten Armen stand er neben mir, während ich noch immer kein einziges Wort zu Papier gebracht hatte.

„Was schreibt man denn da? Ich habe noch nie eins geschrieben, und weiß gar nicht, was man beachten muss?“

„Wichtig ist, dass sie deutlich sind. Schreibe sie nieder, was sie wirklich loswerden wollen. Sie haben nur diese eine Möglichkeit, es wird keine weitere geben. Kontakt mit den Lebenden aufzunehmen ist gefährlich, und sie sollten es nicht nochmal tun. Was also wollen sie den Menschen dort draußen mitteilen?“

Ja, was denn nun? Dass das Rollwägelchen den Besitzer wechseln sollte? Das Alex wusste, wie unfassbar dankbar ich ihm für alles war?

 

Hiermit teile ich, Spencer Kolling, meinen letzten Willen mit.

Ich bin im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dieses wurde durch die Anwesenheit meines Notars, Leonard Jones, bestätigt.

Ich möchte meinen aufrichtigen Dank an Dr. Alex Krietsch mitteilen, der während meiner Krankheit alles Menschenmögliche unternommen hat, um mir meinen Weg zu erleichtern. Seine Arbeit ging weit über die medizinisch vorgesehenen Schritte hinaus, und ich möchte ihm mitteilen, dass ich mir darüber voll bewusst bin.

Einen Arzt wie diesen, denn findet man selten, und mein tiefster Dank geht an ihn und seine Aufopferung.

Es ist mein Wunsch, dass diese Nachricht an ihn weitergereicht wird, und das er erfährt, wer ich zu Lebzeiten war.

Des Weiteren möchte ich meine Arbeitsutensilien, in deren Besitz aktuell Grete Kaufmann ist, weitergeben.

Mein letzter Wille ist, dass sie diese an meine Nachfolgerin übergibt, damit etwas von mir zurückbleibt. Es ist mein Wunsch, dass die Dinge benutzt werden, und dass sie jemandem Freude bereiten.

 

„Na, das sieht doch ganz gut aus.“

Zufrieden sah auch ich auf die wenigen Worte, und wunderte mich, wie leicht es mir gefallen war.

Auch wenn es traurig war, dass am Ende nur so wenig von mir und meinem Leben übrig geblieben war, so fühlte es sich doch gut an.

„Und jetzt? Was müssen wir jetzt tun?“

„Einen Stempel und eine Unterschrift fälschen, aber das sollte kein Problem sein. Sicher wird niemand die Echtheit überprüfen, immerhin sprechen wir hier ja nicht über ein Millionenerbe, aber mein Ehrgeiz würde weniger nicht zulassen. Aber lassen sie uns damit noch etwas warten, vielleicht fällt ihnen noch etwas ein.“

Schmunzelnd nahm er Platz, und auch ich war zufrieden. Wenn alles gut lief, und der Brief dort ankam, wo er hinsollte, dann würde auch Alex informiert werden.

Grete würde ihn suchen, und vermutlich auch finden, da war ich sicher. Was solche Dinge betraf, war sie ein Pitbull, und sicher würde sie nicht aufgeben.

Glück durchflutete mich, endlich nicht mehr tatenlos zu sein, machte mich wirklich glücklich.

„Danke, wirklich. Ich danke ihnen sehr, Leonard.“

„Leo. Nennen sie mich bitte Leo.“

Er sah zu mir hoch, und ich nickte. Ihn so zu nennen hatte sich falsch angefühlt, immerhin kannten wir uns nicht, und auch wenn er mich darum gebeten hatte, hatte ich es nicht über die Lippen gebracht.

Allerdings schien es ihm wichtig zu sein, und nach allem, was er für mich getan hatte, sollte ich auch etwas für ihn tun.

„Also, Leo, möchten sie mir helfen hier aufzuräumen?“

Ich sah mich in dem heillosen Chaos um und wusste im Grunde selbst nicht, wo man bei all dem anfangen sollte. Der Staub von Jahrzehnten hatte sich hier häuslich eingerichtet, und auch sonst war eigentlich eine komplette Sanierung nötig.

An vielen Ecken löste sich die Tapete, die ohnehin schon bessere Zeiten erlebt hatte, und auch der Boden benötigte im Grunde dringend eine Politur. Holzböden wie diesen, fand man heute nur noch selten, und sicher war er mal sehr schön gewesen, aber aktuell war er matt und abgetreten.

„Ich halte das nicht wirklich für eine gute Idee, aber wenn wir es schon tun müssen, dann sollten wir sicher draußen anfangen.“

Er zeigte aus dem Hinterzimmer hinaus in den Vorraum und ich freute mich. Er wollte mir helfen, obwohl er anderer Meinung war, und auch das sprach für einen ausgesprochen angenehmen Charakter.

„Gibt es Putzzeug?“

„Sicher. In der Abstellkammer. Dort gibt es auch einen Wasseranschluss und einen Besen.“

 

Drei Stunden später, oder zumindest gefühlte drei Stunden, sah meine Welt schon völlig anders aus.

Der Staub war gewichen, und alles in allem sah der Laden sehr viel ordentlicher aus. Wir hatten die Couch abgeklopft, den Boden gewischt, und die Bilder an den Wänden abgestaubt.

Irgendwann bei all dem hätte Leo seine Krawatte in die nächste Ecke geworfen, die Weste direkt hinterher, und stand daher nur in Hemd und Hose neben mir.

Am Rande seines offenen Kragens sah ich ein weißes Unterhemd, die Ärmel hatte er zur Hälfte hochgekrempelt, und das weiße Hemd wies staubige graue Flecken auf.

„Gibts hier auch eine Waschmaschine?“

Ich zeigte auf die Schlieren auf dem Hemd, und auf meine Hose, deren Knie fast schwarz waren.

„Nein, aber die Türe wirkt wie eine. Sobald sie nach draußen treten, werden die Sachen wieder sauber.“

Was für eine verrückte Welt, die auf absurde Weise Sinn ergab. Sobald ich durch die Türe nach draußen trat, würde ich zurück an den Tag meines Unfalls gelangen, und meine Sachen würden sauber sein. So wie sie waren, als ich sie an diesem Morgen frisch angezogen hatte.

„Sie müssen doch zugeben, so sieht es hier gleich viel wohnlicher aus.“

Zufrieden sah ich auf die nun saubere Couch, den blitzeblanken Tisch, und den endlich freien Boden. Alle Bilder, die keinen Platz an den Wänden gefunden hatten, waren in das Hinterzimmer umgezogen, und auch die Auslage im Schaufenster hatten wir vom Mief der Jahrzehnte befreit.

„Sicher. Aber noch sicherer, wird jemand früher oder später bemerken, dass hier etwas anders ist. Außerdem wäre es mir wirklich lieber, wenn sie nicht noch eine Nacht auf der Couch schlafen würden. Ich fühle mich nicht gut dabei, und es tut ihnen auch nicht gut.“

„Sorgen sie sich etwa um mich?“

Es klang fast so, und es fühlte sich gut an. Wie schon bei Alex, dessen Sorge fast panisch gewesen war, fühlte es sich gut an, dass sich jemand um mich bemühte.

„Natürlich. Sie sind Gast hier in meiner Welt, ich bin für sie verantwortlich, Spencer. Es ist nicht in meinem Interesse, dass ihnen hier etwas zustößt, oder das es ihnen hier schlecht geht.“

Gast. Verantwortlich. Nichts davon klang wie echte Zuneigung, und ich ärgerte mich, weil ich etwas anderes hatte glauben wollen. Er war höflich, keine Frage, aber er überschritt auch keine Grenze.

Ja, ich war Gast in seiner Welt, und so verhielt er sich auch. Dass ich gehofft hatte, er würde mich auch darüber hinaus mögen, war dumm gewesen.

„Was soll mir den zustoßen, es sieht mich doch niemand?“

„Man weiß nie. Ich fühlte mich jedenfalls nicht wohl, wenn sie hier ihre Nacht verbringen, sie sollten in einem Bett schlafen, an einem sicheren Ort.“

Ein Bett wäre sicher toll, aber so wirklich wohl fühlte ich mich bei dem Gedanken nicht. Auch wenn ich gegessen und geduscht hatte, so wollte ich nicht eine komplette Nacht alleine in einem der Bilder verbringen. Dann doch lieber die unbequeme Couch.

„Ich denke darüber nach.“

Dass ich meine Entscheidung eigentlich schon getroffen hatte, das sagte ich lieber nicht.

„Sie müssen es nicht alleine tun, sie können mit mir kommen.“

Die blauen Augen sahen mich an, und schienen mir etwas zu versprechen, an das ich nicht zu glauben gewagt hatte. Sofort schüttelte ich den Kopf, zu unwahrscheinlich schien es mir. Nein, er war nur höflich, und sicher hatte er nicht diese Art von Absicht.

„Wie gesagt, ich denke darüber nach.“

Nie und nimmer würde dieser Mann wirklich eine Nacht mit mir in einem Bett verbringen wollen. Auch dann nicht, wenn ich vielleicht die einzige erreichbare Frau für ihn war.

Wobei das bei genauerer Betrachtung wohl eine Frage von Verzweiflung war. Vielleicht war er tatsächlich so verzweifelt, dass er selbst mich in die engere Auswahl zog. Ob das ein Vorteil war, da war ich mir allerdings nicht sicher.

Wollte ich überhaupt die Notlösung sein, auch wenn der Mann ein Hammer wie dieser war?

 

Die Herumsitzerei machte mich matschig. Wie lange so ein Tag sein konnte, hatte ich vorher nicht mal geahnt. Als ich noch arbeitete, waren die Tage wie im Flug vergangen, und auch die Wochen waren dahingerast, als hätte es sie nie gegeben.

Selbst als ich arbeitslos gewesen war, hatte ich mehr zu tun gehabt als jetzt. Behördentermine, Bewerbungen, einkaufen und Wäsche waschen, hatten meine Tage irgendwie gefüllt.

Jetzt sah es anders aus, denn trotz der ausgedehnten Putzaktion, war sicherlich gerade erst die Hälfte des Tages rum.

Ich merkte es am Verkehr auf der Straße, an den Menschen, die über die Straße liefen, und auch daran, dass Grete irgendwann zur Mittagspause den Laden abschloss.

Jeden Tag um Punkt ein Uhr schloss der Laden, eine Tatsache, die selbst das Ende der Welt nicht verhindern würde. Die Mittagspause war Grete heilig, und nie hätte sie darauf verzichtet.

„Sie langweilen sich?“

Er zupfte am Ärmel seines noch immer schmutzigen Hemdes, und ich seufzte.

„Ja. Das hier ist irgendwie... Deprimierend. Ich hätte nie gedacht, wie lang so ein Tag sein kann. Wie haben sie all die Jahre geschafft, nicht dabei durchzudrehen?“

„Hab ich nicht. Die ersten Jahre waren schrecklich. Aber man richtet sich ein, man lernt, damit umzugehen.“

„Wie? Wie kommt man mit all der vielen Zeit klar?“

Im Grunde kannte ich die Antwort. Er ging, trieb sich herum, besuchte seine Bilder. Aber auch das musste doch irgendwann nerven.

„Es dauert eine Weile, bis man den Trott hinter sich lässt. Aber ich habe ihnen angeboten, etwas dagegen zu unternehmen. Wir könnten rausgehen, zu den Lebenden, oder ein Bild besuchen.“

Tatsächlich schien mir das mit dem Bild noch am interessantesten. Auch wenn es unseren Deal brach, was ich ohnehin schon getan hatte, würde es vermutlich noch am ehesten die Zeit totschlagen.

„Dann das Bild.“

Er hob eine Augenbraue, und ich war selbst erstaunt, wie schnell sich meine Meinung geändert hatte.

„Erstaunliche Wandlung, Spencer. Also, meine Liebe, wo möchten sie hin?“

Sein Blick schweifte über die Bilder, und ich folgte ihm mit meinem Blick. Ja, welches?

Die Möglichkeiten schienen unendlich, begonnen bei einem Schloss, und endend bei einer Ansicht der See, mit einem unruhig wirkenden Wasser.

„Welches ist ihr Lieblingsbild?“

„Einige, kein Spezielles. Aber wollen sie nicht wirklich etwas außergewöhnliches sehen?“

Außergewöhnlich schien mir hier alles, aber das lag wohl im Auge des Betrachters.

„Wie meinen sie das?“

„Wissen sie, wer Edgar Degas war?“

Sofort schüttelte ich den Kopf. Nie gehört.

„Das Bild im Schaufenster, die Tänzerin, das ist von ihm.“

Die Ballerina in dem duftigen Kleid, die fast schwerelos zu tanzen schien. Sicher kannte ich das Bild, auch wenn ich den Namen des Künstlers nicht gekannt hatte. Aber was sollte an ihr schon außergewöhnlich sein?

„Kommen sie, wir besuchen sie.“

Er hielt mir die Hand entgegen, und wieder griff ich danach. Dass er das tat, fand ich irgendwie süß. Immer reichte er mir seine Hand, immer wollte er mir Sicherheit geben.

Nie vorher hatte sich jemand diese Mühe gemacht, nicht mal die Männer in meinem Leben mit denen ich Beziehungen gehabt hatte, und auch das machte mich traurig.

Mein ganzes Leben hatte ich falsch gewählt, das wurde mir nun klar, und hatte meine Zeit mit Menschen verschwendet, die einfach nicht richtig waren.

Jemand wie er, so aufmerksam und liebevoll, der wäre die bessere Wahl gewesen. Ich hätte an einem anderen Ort nach jemandem wie ihm suchen müssen, ich hätte meinen Horizont erweitern müssen, und mich nicht unter Wert verkaufen dürfen.

Auch ich hatte das Recht, dass jemand sich genau auf diese Art um mich kümmerte, und hatte all die vielen Möglichkeiten einfach verstreichen lassen, weil ich mir immer sicher gewesen war, dass eine solche Verbindung für jemanden wie mich einfach nicht vorgesehen war.

 

Ich sah die Tänzerin in dem hellblauen Kleid auf der Bühne, und hörte die Musik dazu. Schwerelos und elfengleich tanzte sie, und schien weder Leo noch mich dabei zu sehen.

„Wundervoll nicht wahr?“

Leo sah ebenfalls zu ihr, mit glänzenden Augen und scheinbar glücklich, während ich vor lauter Aufregung seine Hand etwas zu sehr drückte.

Die Musik klang fröhlich, wenn auch etwas aus der Zeit gefallen, aber ich sah weder ein Orchester, noch konnte ich den Ursprungsort erkennen.

„Degas hatte eine Vorliebe für Ballerinas, er hat viele von ihnen gemalt. Manch einer findet es sicher merkwürdig, aber ich finde das nicht. Er hat sie eingefangen, und für seine Zeit, eine oft ausgewöhnliche Perspektive gewählt.“

Die Bewegungen der Tänzerin waren flüssig, und fast glaubte ich, sie würde von der Bühne auf uns zukommen, aber in letzter Sekunde wechselte sie die Richtung. Es wirkte, als würden wir rechts von der Bühne am Rand auf sie sehen, und ein wenig fühlte ich mich schlecht dabei. Wir beobachteten sie, obwohl sie uns nicht sah. Ob ihr das wohl recht war?

„Das ist faszinierend. Sie wirkt so echt.“

„Ist sie. Degas war ein Beobachter. Er hat viel Zeit in Ballettschulen verbracht, und sie beobachtet. Viele seiner Bilder wirken wie Fotografien. Heute würde man ein Foto vom Rande der Bühne machen, aber er hat sie gemalt. Mich fasziniert die Dynamik seiner Bilder, die Bewegungen sind praktisch sichtbar, obwohl das Bild still steht.“

Tatsächlich musste auch ich zugeben, dass es wirkte wie ein Schnappschuss. Bei genauerer Betrachtung wirkte es tatsächlich so, als hätte jemand eine Momentaufnahme gemacht.

Nie vorher war mir das aufgefallen, vermutlich, weil Fotografien so sehr in unserer Welt verankert waren. Aber damals, als es nichts dergleichen gegeben hatte, war eine Momentaufnahme wie diese, etwas Besonderes.

Bei genauerer Überlegung waren auch die meisten Gemälde eher stille Situationen. Porträts ohne Bewegungen, eingefrorene Situationen, aber nie schien die Bewegung so greifbar. Schon bei der ersten Begegnung mit dem Bild im Schaufenster, hatte ich die Tänzerin in meinem Kopf tanzen sehen, weil die Darstellung einfach nichts anderes zuließ. Die erhobenen Arme, das gestreckte Bein, hatten einen sofort an eine fließende Bewegung denken lassen.

„Woher rührte diese Vorliebe für Ballerinas? War er in eine verliebt?“

Ich musste schmunzeln, immerhin war der Gedanke nicht abwegig. Wenn sich jemand so sehr an etwas festbiss, dann musste weit mehr dahinter stecken.

„Zu vermuten ist es. Er hat vieles gemalt, insbesondere Frauen, aber nichts ist so bekannt geworden, wie seine Ballettszenen. Er hat viel Zeit hinter den Kulissen verbracht, jede nur mögliche alltägliche Situation skizziert, und immer schienen sie wie eine Fotografie.“

Ich verstand ihn. Die Faszination der Tänzerin, das Kleid, die winzigen Schuhe, die kaum den Boden berührten. Auch ich war schockverliebt, obwohl ich Ballett nicht mal mochte. Die schmale Gestalt mit den dünnen Armen war elfengleich, und welcher Mann würde sie nicht mögen?

„Würde man es nicht heute einen Fetisch nennen? Wenn man sich so sehr auf etwas versteift?“

Vermutlich würden die Leute heute nicht klatschen, sondern jemanden wie ihn verurteilen. Die kindlichen Figuren der Tänzerinnen, die kitschigen Kleider, und auch die Tatsache an sich, würden die Menschen heute eher verstören.

„Sicherlich. Ich bin auch nicht sicher, ob das nicht damals schon der Fall war. Degas heiratete nie, und bis zu seinem Lebensende waren Ballerinas sein Steckenpferd. Im Alter wurden seine Augen schwach, und er konnte nicht mehr malen. Er schaffte daher Skulpturen aus Bronze, und auch da tauchte sein Lieblingsthema wieder aus. Das bekannteste Werk, ist ebenfalls die Figur einer Tänzerin. Es trägt den Titel „Die 14-jährige Tänzerin“. Die Vermutung liegt nahe, dass auch dahinter mehr steckt.“

Erschrocken sah ich zu Leo, den diese Information wenig zu schockieren schien. Sprachen wir hier über jemanden, der eine Vorliebe für sehr junge Mädchen hatte?

„Bitte? Was wollen sie mir damit sagen?“

„Nichts, denn nichts ist sicher. Es gibt keine Aufzeichnungen über das, was sie aktuell vermuten. Aber sie sehen, es gibt immer eine Geschichte hinter der Geschichte.“

Schockierend. War dieser Mann, den man wohl für einen großen Künstler hielt, am Ende ein Schwein gewesen?

„Also unter diesen Umständen bin ich nicht sicher, ob ich die Wahrheit hinter dem Bild wirklich kennen möchte...“

Nein, sicher nicht. Dann wollte ich lieber glauben, dass die Ballerina nur eine Ballerina war.

„Es gibt keinen Grund schockiert zu sein. Er hat ebenso Porträts gemalt und auch andere Frauen. Er mochte Motive des täglichen Lebens, und hat Frauen dabei gemalt. Ältere Frauen, um ihre nächste Frage vorwegzunehmen.“

Ich fühlte, wie meine Hand in seiner schwitzte, und noch immer war ich nicht sicher, ob ich diese Informationen wirklich wollte. Fragezeichen rotierten in meinem Kopf, und sicher würde ich diese nicht so schnell wieder loswerden.

Das Bild bekam unter diesen Umständen einen völlig anderen Sinn, und tatsächlich war die Tänzerin nicht mehr einfach nur eine Tänzerin. Sie war Degas Phantasie, sein Wunschtraum, und Teil einer ziemlich merkwürdigen Vorliebe.

„Glauben sie doch einfach, so wie ich es auch tue, dass er nie verheiratet war, weil es diese eine Tänzerin tatsächlich gab. Diese eine, die er liebte, und die er einfach nicht hatte haben können.“

Mein Blick schweifte zu der Tänzerin, die nun auf der Bühne verharrte, und die Schnürung ihrer Schuhe öffnete. War sie es, wegen der er all die Bilder gemalt hatte?

Hatte er sich verliebt, und sie hatte diese Liebe nicht erwidert, und er produzierte daher immer wieder neue Ansichten von ihr?

„Das ist eine traurige Vorstellung, wenn sie mich fragen.“

„Ist es, aber es eine andere Version, als die, die sie so schockiert hat.“

Da war was Wahres dran. Die Interpretation blieb jedem selbst überlassen, und niemand würde die Wahrheit je erfahren. Erst jetzt wurde mir klar, dass es vermutlich bei sehr vielen Bildern so war. Jeder konnte sich seinen Teil dazu denken, vielleicht Theorien darüber aufstellen, aber was der Künstler sich wirklich dabei gedacht hatte, würde niemand wissen.

Das warf auf meine Meinung zu Kunst ein völlig neues Bild. Immer war ich davon ausgegangen, dass Bilder eben eine Tatsache waren. Aber dem war eindeutig nicht so, die Auslegung des gezeigten war jedem selbst überlassen.

„Sie sind ein kluger Mann, Leonard Jones.“

„Nicht wirklich, ich beschäftige mich nur damit. Und ich lasse zu, dass es mehr als eine Wahrheit gibt.“

 

 

  1. Kapitel 11:

Die Sache mit der Tänzerin ließ mich nicht los. Völlig in Gedanken grübelte ich jetzt schon seit einer Ewigkeit vor mich hin, und hatte dabei sogar Leo völlig ausgeblendet.

Noch vor wenigen Wochen hatte ich selbst das nicht geglaubt, denn immerhin war das der Mann, unter all den vielen anderen. Hätte man mich vor all dem hier danach gefragt, so hätte ich es nicht geglaubt. Dass mir seine Anwesenheit irgendwann normal vorkommen würde, dass ich ihn weder anstarren noch anschmachten würde, ich hätte es einfach nicht geglaubt.

Und doch war es nun so. Er war angenehm, sehr viel angenehmer als ich es vermutet hatte, aber diese einschüchternde Faszination war verschwunden. Er machte mir keine Angst mehr, ich fühlte mich nicht mehr so klein neben ihm, und ich brach auch nicht mehr in Herzrasen aus, nur weil er mir in die Augen sah.

Jetzt allerdings, war ich zu sehr mir der Tänzerin beschäftigt, um an die wahnsinns blauen Augen oder sonst was zu denken.

Was war die Wahrheit hinter all dem? Wer lag richtig, und wessen Theorie war falsch?

War es wirklich eine unerfüllte Liebe, die Degas Phantasie anregte? Oder waren es die kindlichen Körper, die ihn einfach nicht losließen?

Beides klang schlüssig, für beides gab es Anhaltspunkte, aber reichte das schon?

Vielleicht aber war es auch ganz anders, vielleicht hatte einfach gemerkt, dass sich gerade diese Dinge gut verkaufen ließen, und er hatte sich gerade deshalb darauf so fixiert. Wenn man in etwas gut war, und das war er eindeutig, dann baute man darauf auf. Vielleicht war die Wahrheit hinter den Tänzerinnen ganz einfach, und er malte einfach, was ihm besonders gut gelang.

Erfahren würde ich es nie, und das machte mich fertig.

Nicht zu wissen, was die Geschichte hinter dem Bild war, stellte sich als nervtötend heraus.

 

„Degas macht sie fertig?“

Leo trat an meinen Platz auf dem Sofa heran und legte seine Hand auf meine Schulter, als wolle er mich trösten.

„Irgendwie schon. Ich würde zu gerne wissen, was dahinter steckt.“

„So ist sie, die Malerei. Oft sind nur wenige Dinge überliefert, und keiner kennt die Antwort auf die Fragen. Das kann ziemlich aufreibend sein, ich kenne das. Es ist wie das Lächeln der Mona Lisa, man könnte Bücher darüber schreiben. Warum lächelt sie so verschämt, was ist der Grund dafür? Auch diese Frage wird nie jemand beantworten können, und vielleicht ist das auch gut so. Manche Fragen machen den Reiz aus, und es ist besser, die Antwort darauf nicht zu kennen. Es wäre doch ein weit reizloseres Bild, wenn man wissen würde, dass ihr Lächeln von einer Grimasse des Malers herrührte.“

Stimmte. Aber trotzdem machte es mich fertig. Heute, wo man jede nur mögliche Antwort im Internet fand, in der man nicht mehr dumm sterben musste, da waren solche Dinge schrecklich.

Fragen konnte man auch niemanden mehr, immerhin war nicht nur Degas schon lange tot, und selbst wenn: Vielleicht würde er die Antwort nicht verraten.

Leo hatte Recht, Malerei war nicht so langweilig, wie ich es gedacht hatte. Wenn man denn die Geschichte hinter den Bildern kannte.

„Ist das bei allen Bildern so? Werfen sie mehr Fragen auf, als das sie beantworten?“

„Nicht immer, aber oft. Es sind andere Zeiten, manche für uns heute nicht mehr nachvollziehbar. Bedenken sie, Degas malte viele seiner Bilder in der Mitte der 1850er, damals war es nicht unüblich, dass eine junge Frau auch mit fünfzehn schon verheiratet wurde. Aber es freut mich, dass es sie beschäftigt.“

Mich freute es nicht, auch wenn ich meine Einstellung zur Kunst gerade gründlich überdachte. Noch mehr ungelöste Rätsel konnte ich gewiss nicht gebrauchen, und daher verzichtete ich auf weitere Fragen.

„Können wir rausgehen? An einen anderen Ort? Ich muss unbedingt frische Luft haben.“

Warum ich mich so fühlte, wusste ich nicht. Warum mich das Bild und die offenen Fragen so aus der Bahn warfen, ergab eigentlich keinen Sinn. Es war nur ein Bild, nur ein kauziger Maler, und nichts davon betraf mich.

„Natürlich. Wo möchten sie hin?“

Gute Frage. Wo ging man hin, wenn man nicht mehr existierte? Was war zu Lebzeiten mein liebster Ort gewesen?

Auf die Schnelle fiel mir nicht viel dazu ein. Ich war nie ein besonders naturverbundener Mensch gewesen, und eigentlich hatte ich so einen Ort wohl nicht.

Viel trauriger als diese Tatsache war jedoch, dass mich niemand mit Leonard sehen würde. Jetzt, wo ich endlich einen Mann bei mir hatte, um den mich vermutlich jede Frau beneiden würde, würde niemand es sehen. Wie schade.

„Ich weiß nicht, vielleicht in den Park?“

„Den Park? Ich hatte erwartet sie wollen in ihre Wohnung Spencer, oder zumindest jemanden besuchen. Aber der Park?“

Er schien ratlos, und ich war es ebenso. Meine Wohnung existierte vermutlich nicht mehr, und so wirklich jemandem besuchen konnte ich auch nicht. Vielleicht eine meiner Freundinnen, aber was sollte das bringen? Zu sehen wie sie immer noch ihr Leben lebten, schien mir nicht sehr aufbauend.

„Es gibt keinen, den ich besuchen könnte.“

Es zuzugeben tat weh, aber Lügen würde nichts bringen. Für jemanden wie ihn, der schon so lange ohne Anschluss in der Welt war, würde es vermutlich nicht mal ungewöhnlich sein.

„Keine Familie? Oder Freunde, sie habe doch sicher Freunde?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht. Aber niemanden, der mir wirklich nahe steht. Eher Bekannte, würde ich sagen.“

Freunde waren etwas anderes. Mit Freunden teilte man Geheimnisse, man teilte Freude und Leid mit ihnen, aber so jemanden hatte ich einfach nicht.

Alle Menschen, die ich vielleicht als Freunde bezeichnet hätte, kannten mich nicht wirklich. Da ich nie wirklich enge Verbindungen gehabt hatte, hatte ich auch meine Bekanntschaften nie tiefer werden lassen.

„Keine Freunde? Warum? Jeder muss doch jemanden haben, der ihm nahe steht?“

„Nein. Ich war immer alleine. Meine Eltern sind tot, und meine Tante ebenso. Es gibt niemanden.“

Er verzog das Gesicht und ich ahnte, dass ihm das alles sehr merkwürdig vorkam. Mir selbst nicht, immerhin war ich mein ganzes Leben mehr oder minder auf mich alleine gestellt gewesen.

„Wo sind sie hingegangen, wenn sie Trost brauchten?“

Er ließ sich auf die Lehne neben mir sinken, und ich spürte, wie die Traurigkeit in mir nach oben stieg. So lange ich nicht darüber nachdachte, war es in Ordnung gewesen, aber darüber zu Sprechen tat weh.

„In meine Wohnung. Ich bin in meine Wohnung gegangen.“

Wann immer etwas schief gelaufen war, es mir wirklich schlecht gegangen war, oder mir einfach das Leben an sich zu viel geworden war, hatte ich mich in meine Wohnung geflüchtet. Nie zu einem Menschen, immer nur dorthin.

Vermutlich weil ich es nicht anders gewohnt war, und nie gelernt hatte mich jemanden anzuvertrauen. All die Hürden hatte ich alleine genommen, sie mit mir selbst ausgemacht, und nur selten hatte ich mit anderen über meine Probleme gesprochen.

„Soll ich ihnen den Ort zeigen, den ich aufsuche, wenn mir alles zu viel wird?“

Die Hand strich zärtlich über meine Schulter und ich unterdrückte ein Schluchzen.

Was war das für ein unglaublicher Mann, der mir Trost spendete, und all diese Dinge für mich tat, obwohl er mich eigentlich gar nicht kannte?

Nie war ich jemandem begegnet, der etwas gab, ohne dabei etwas zu fordern. Immer war jede Form von Aufmerksamkeit mit einem Preis behaftet gewesen, und immer war dieser hoch gewesen. Meine Tante hatte nur Augen für mich, wenn ich für sie etwas hatte erledigen sollen, und nur selten hatte sie irgendetwas für mich getan, von dem sie nicht selbst einen Nutzen hatten.

Sie wusste einfach nicht, wie sie mit einem Kind hätte umgehen sollen, und die meiste Zeit hatten wir im Stillen verbrachten. Wie hatten nie über meine Probleme gesprochen, auch nie über meine Eltern oder das, was passiert war, und sicher war sie nicht unfroh darüber gewesen.

Auch alle Männer, die ich getroffen hatte, hatten Forderungen gestellt, und wollten Gegenleistungen für jeden Gefallen.

Das jemand einfach nett war, unaufdringlich und freundlich, überforderte mein Ich komplett.

Ich merkte, wie meine Augen sich mit Tränen füllten, ohne das ich etwas dagegen tun konnte. Das Rinnsal fand seinen Weg über meine Wange und ich schniefte so leise wir möglich, aber sicher sah er es trotzdem.

„Spencer? Ist alles in Ordnung?“

Nein, war es nicht. Nichts war in Ordnung, nichts stimmte hier. Es konnte einfach nicht sein, dass er so war, und verdient hatte ich es sicher auch nicht.

„Es ist nur... Ich schäme mich, denn dort draußen ist niemand, für den ich wichtig gewesen bin.“

Die Worte wurden von meinem Geschniefe unterbrochen und ich schämte mich noch mehr. Vor einem fast fremden Mann zu weinen, und dann noch gerade vor ihm, war mir äußerst unangenehm.

„Das glauben sie doch nicht wirklich?“

Er schien entrüstet, und ich nickte nur. Nein, dort war sicher niemand.

„Wenn sie einen Namen nennen, irgendeine Person benennen müssten, wer würde das sein?“

„Kati.“

Reflexartig hatte ich geantwortet, ohne genau darüber nachgedacht zu haben. Kati war der Mensch, der mir vielleicht noch am nächsten gestanden hatte. Sie eine Freundin zu nennen, wäre vielleicht zu viel gewesen, aber immerhin hatten wir Zeit miteinander verbracht. Viel Zeit.

Wir kannten uns ewig, eigentlich schon unser ganzes Leben, und hatten auch gemeinsam die Schulbank gedrückt. Ja, vielleicht waren wir doch so etwas wie Freundinnen, wenn auch nicht im klassischen Sinne. Unsere Leben waren ähnlich verlaufen, wir hatten mit ähnlichen Hürden zu kämpfen, und wir hatten uns beide damit abgefunden.

Darüber gesprochen hatten wir nie, aber immer hatten wir versucht, das Beste aus dem was wir hatten zu machen. Manchmal waren wir ausgegangen, auf einen Kaffee oder in eine Bar, und immer hatten wir uns vorgemacht, dass unsere Leben eigentlich gar nicht so schlecht waren.

Mit ihr zusammen war es einfach gewesen, denn sie stellte keine Fragen, und ich tat es auch nicht. Wir sprachen über Arbeit, das Leben und Männer, aber nie darüber, wie es uns wirklich ging.

Warum unsere Bekanntschaft so oberflächlich gewesen war, das konnte ich nicht mal sagen. Vermutlich hatten wir beide den dringenden Wunsch nach Normalität, und sprachen deswegen nie über belastende Dinge. Mit Kati war ich Teil der Gesellschaft dort draußen, ich war nicht besser oder schlechter als all die anderen, und ihr schien es genauso zu gehen.

Wir hatten nichts, waren kleine Lichter in einem riesigen Kronleuchter, aber wir lebten.

„Kati? Wo ist sie?“

Ich hob den Kopf und sah ihn an, und zum ersten Mal sah ich so etwas, wie echte Sorge. Sorge, die zermürbend sein konnte, und die ihn ebenso zu verletzen schien wie mich.

„Sie arbeitet im Supermarkt.“

Ich zeigte durch das Schaufenster hinaus die Straße hinab, als sei das die Erklärung auf die Frage. Der Supermarkt lag am Ende dieser, und vermutlich würde Kati dort sein.

„Dann gehen wir jetzt dorthin.“

Er zog mich nach oben und ich folgte ihm, und eigentlich war ich mir jetzt schon sicher, dass dieser Ausflug eine Enttäuschung sein würde. Und zwar für uns beide.

 

Das Gewusel verstörte mich. Die vielen Menschen, alle beschäftigt mit sich selbst und ihren Einkaufswagen, überforderte mich.

Nach all den Stunden alleine mit Leo, erschütterte mich schon die Geräuschkulisse des Supermarktes bis ins Mark. Das Rollen der Wagen, die Fahrstuhlmusik, das surrende Geräusch der Kühlaggregate.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir auch gehen können, aber Leo hielt meine Hand unerbittlich neben sich.

Ob ich ihm dafür dankbar war, konnte ich aktuell nicht sagen. Er zwang mich, zu Dingen, die ich eigentlich nicht wollte, aber ein winziger Teil von mir wollte es wissen. Etwas in mir wollte wissen, was aus Kati geworden war, und was in den etwas mehr als vier Wochen passiert war.

„Es ist verstörend, ich weiß. Aber fühlen sie nicht ebenso, dass sie hier in der Masse untergehen? Sehen sie, all diese Menschen sind unsichtbar.“

Mein Blick schweifte über die Menschen, von denen jeder mit sich selbst beschäftigt war, und tatsächlich fühlte ich mich besser. Alle hier waren unsichtbar, niemand nahm den anderen wahr, und auch ich tauchte in der Masse einfach unter.

„Es fühlt sich merkwürdig an.“

„Jetzt noch. Aber es hört auf. Wo könnte ihre Freundin sich befinden?“

Der Griff um meine Hand wurde fester, und ich spürte den Puls an meinem Handgelenk.

Was würde sie tun? Würde sie einfach ihren Job machen, und unser Ausflug würde kein Ergebnis bringen? Und was für ein Ergebnis würde es überhaupt geben können? Was würden wir vielleicht sehen, was irgendetwas änderte?

„Bei den Brotwaren. Vermutlich ist sie dort.“

Ich zog ihn mit mir, und endlich platzte der Knoten. Ich würde mich der Situation stellen, auf freien Stücken, und würden wir weitersehen.

 

Kati sah müde aus, und fast so, als hätte sie seit einer Ewigkeit nicht geschlafen.

Ich zeigte auf die traurige Gestalt, die mich erstaunlich stark an mich selbst erinnerte. Auch ich war so durch mein Leben gewandelt, die meiste Zeit jedenfalls, und auch ich war ewig müde gewesen. Egal wie viel ich geschlafen hatte, die Müdigkeit hatte nicht aufgehört, und auch Kati schien es ähnlich zu gehen.

„Das ist sie.“

Leo streckte sich, weil sie einfach zu weit weg stand, und eigentlich verstand ich es nicht. Wir waren unsichtbar, und daher bestand kein Grund, nicht einfach näher an sie heranzutreten.

„Sie sieht traurig aus.“

Ich nickte, aber ich sparte mir, ihm zu sagen, dass wir es immer waren. Wir waren beide meistens traurig gewesen. Keine von uns neigte zu übertriebenen Lachen, keine von uns beiden, zu überschwänglichen Gefühlsregungen. Vermutlich verstanden wir uns gerade deshalb so gut.

Zwei Menschen am Rande der Gesellschaft, die nie die Chance bekommen hatten, aus den engen Kreisen ihres Daseins zu flüchten.

„Sollen wir nicht näher ran gehen?“

Ich machte zwei Schritte nach vorne, aber er hielt mich zurück.

„Berühren sie sie nicht. Tun sie es einfach nicht.“

Wieso? Wieso sollte ich sie nicht berühren? Ich verstand nicht, was er meinte, denn die Wahrscheinlichkeit, dass gerade sie mich spürte, war gering. Selbst bei Alex, als ich aufgewühlt und durcheinander gewesen war, war mir das nur schwer gelungen.

Warum also, sollte gerade Kati mich nun spüren?

Ich startete einen neuen Versuch, zu ihr zu gehen, und ich nahm wahr, wie Leo dicht hinter mir folgte.

Direkt neben ihr stoppte ich, und sofort kam mir irgendetwas an dem Bild falsch vor. Irgendetwas stimmte nicht mir ihr, irgendetwas war anders.

„Sie trägt meine Strickjacke!“

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag, und ich sah gebannt auf die graue Jacke aus grober Wolle.

Immer hatte ich diese Jacke geliebt, sie jahrelang mit mir getragen, und jetzt trug sie Kati.

„Ist das ein Problem?“

War es eins? Ich grübelte, ob mir das missfiel, kam aber zu dem Ergebnis, dass es nicht so war.

„Nein. Aber warum tut sie das?“

Gebannt sah ich auf die junge Frau, die in einer nie enden wollenden Bewegung Brotpakete in ein leeres Regal räumte.

Ihre Haare sahen strähnig aus, und um ihre Augen sah ich dunkle Ringe. Trauerte sie? Um mich?

„Vielleicht ist es ein Andenken?“

Er schob die Hände in die Taschen seiner Hose, und ich fragte mich, ob ich die Verbindung zu Kati doch unterschätzt hatte. Auch wenn wir nie über die Probleme des anderen gesprochen hatten, so kannten wir sie doch. Die ewige Geldnot, die Angst vor der Zukunft, wir wussten es einfach.

Es gab Dinge, die wusste man einfach, weil man sie aus seinem eigenen Leben kannte, und auch ich hatte immer gewusst, dass Katis Leben alles andere als einfach war.

Meine Hand hob sich ohne mein Zutun, und ich berührte Katis Wange.

Sofort griff sie danach, als hätte sie es gefühlt, und ich zog erschrocken die Hand zurück.

„Nein!“

Hektisch griff Leo nach meiner Hand und zog sie zu sich, was mich zucken ließ.

„Sie hat mich gefühlt!“

Ich sah zu Kati, deren Hand noch immer auf ihrer Wange lag, und die mit glasigen Augen ins Leere blickte.

„Ich hab ihnen doch gesagt, sie sollen das nicht tun!“

Er klang verärgert und aufgeregt, aber es drang kaum zu mir durch. Viel zu fasziniert war ich durch die Reaktion vor mir, und darüber, dass ich nichts davon erwartet hatte.

Das gerade Kati mich spüren würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

„Aber das konnte ich doch nicht wissen...“

Ich sah, wie Kati nach dem Kragen der Jacke griff, und ihre Nase darin vergrub, als würde den Geruch in sich aufsaugen wollen. Meinen Geruch.

„Sie dürfen das nicht tun, sie sehen doch, was dann passiert!“

Er zog mich von ihr weg, in einen gebührenden Sicherheitsabstand, und begann dann mich zu schütteln, als könne er mich damit aus meiner Trance zerren.

„Aber... Ich konnte doch nicht...“

Mein Körper reagierte auf das Schütteln, aber mein Gehirn leider nicht. Was war da gerade passiert? Sie hatte mich gespürt, obwohl ich weder sonderlich aufgebracht noch wütend gewesen war.

„Hören sie, Spencer, sie dürfen das einfach nicht tun. Es ist gefährlich, und sie verletzen damit die Menschen.“

Die Bewegung hörte auf, und ich sah zu Katie, die erneut ihre ewige Arbeit aufgenommen hatte. Der Berg vor ihr schien nicht kleiner zu werden, und auch das Regal schien sich nicht wirklich zu füllen.

„Aber sie hat mich gefühlt!“

Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich mich so dermaßen in ihr geirrt hatte. Sie stand hier, in meiner Jacke, und sie erinnerte sich an mich. Ob sie mich wirklich vermisste, konnte ich nur ahnen. Aber es schien so zu sein.

„Ja, hat sie. Weil sie einander nahe standen. Näher als sie es vielleicht selbst geglaubt haben, aber sie sehen ja, es ist so.“

„Ist das so? Dass man sich spürt, wenn man sich Nahe steht?“

„Meistens. Deshalb ist es ja so gefährlich. Sie dürfen das nie wieder tun, hören sie?“

Er packte mich an den Schultern und ich nickte. Es stimmte, es verletzte eher, als das es half. Kati hatte es traurig gemacht, und auch mich hatte es nur für Sekunden in Euphorie versetzt. Jetzt hingegen fühlte es sich furchtbar an.

  1. Kapitel 12:

Meine Füße stolperten über den Parkplatz, aber Rest von mir war noch immer bei Kati.

Sie hatte mich gefühlt, und sie hatte meine Jacke an. Das ich jemanden wirklich so wichtig war, dass er selbst die alte Jacke aufbewahrte, war überraschend und beängstigend.

Ich hatte geglaubt, Kati würde weitermachen, so wie es immer getan hatte, auch ohne mich. Keine Sekunde hatte ich an Kummer geglaubt, und ich schämte mich, weil ich nicht mehr sicher war, ob ich an ihrer Stelle nicht völlig anders gehandelt hätte.

Sicher wäre ich traurig gewesen, denn mit ihr wäre auch für mich einer der wenigen Kontakte weggebrochen, aber hätte ich deshalb ihre Jacke getragen?

Hätte ich gelitten, und ähnlich stark getrauert?

„Das hätten sie nicht tun dürfen!“

Leo schien noch immer aufgebracht, und ich verstand ihn ja, aber für jede Art von Diskussion war es nun ohnehin zu spät.

„Ich weiß. Aber es ist einfach passiert.“

Ich blieb ruckartig stehen, und auch Leo stoppte äußerst unsanft.

„Stimmt. Es ist zu spät. Aber sie werden es nicht wieder tun, versprochen?“

Mein Nicken war ehrlich, ganz sicher würde ich es nicht wieder tun. Jedenfalls nicht unter diesen Umständen, und erst recht nicht bei jemanden, den ich kannte.

„Sie unterschätzen den Tod, er ist ein starker Gegner. Er macht den Menschen Verlust bewusst, und so manch einer merkt erst dann, was er wirklich an jemandem hatte. Sie haben das nicht erwartet, das sehe ich ein, aber sie müssen auf mich hören. Ich kenne diese Reaktionen, und sie müssen mir vertrauen.“

Er sah mir in die Augen und ich versank in dem Blau. Vertrauen war nie nötig gewesen, es hatte niemandem gebeben, dem ich hätte vertrauen müssen.

Ihm zu vertrauen, war mir an anderer Stelle leicht gefallen, und eigentlich verstand ich seine Bitte nicht. Ich hatte ihm vertraut, war sogar mit ihm in das Bild gegangen, und er zweifelte es an?

„Aber ich vertraue ihnen doch?“

Er hob eine Augenbraue unter dem Hut, und ich ahnte, dass er mir nicht glaubte. Dass ich für meine Verhältnisse schon weit gegangen war, würde er nicht verstehen.

Für mein Leben, für die Art wie ich es führte, hatte gerade er schon sehr viel über mich erfahren. Obwohl das vermutlich für andere Menschen nicht viel war.

„Das ist ihre Version von Vertrauen? Nehmen sie es mir nicht übel, Spencer, aber sie haben da etwas grundlegend falsch verstanden.“

Hatte ich das? Nur weil ich mich all die Jahre selbst geschützt hatte? Nur weil ich nicht mit meinen Gedanken und Problemen hausieren ging, und meine Entscheidungen alleine traf, glaubte er, ich traute ihm nicht? Ich kannte ihn doch gar nicht wirklich!

Warum sollte ich gerade ihm blind vertrauen, wenn ich es doch schon zu Lebzeiten nicht getan hatte?

„Aber wir kennen uns doch gar nicht wirklich! Und überhaupt: Was hätte ich davon, wenn ich jedes ihrer Worte glauben würde? Vielleicht versuchen sie, mich zu beeinflussen, oder wollen mir irgendeine Chance nehmen?“

Die blauen Augen sahen verletzt aus, das sah ich. Sofort taten mir meine harten Worte leid, auch wenn ich sie ernst gemeint hatte. Mich in die Enge zu treiben hatte noch nie funktioniert, und nichts anderes hatte er getan.

„Nichts, Spencer, sie hätten nichts davon. Aber sie hätten auch nichts davon, die Ewigkeit alleine hinter sich zu bringen.“

Leos Hand ließ meine los, und er stapfte in Richtung der Ausfahrt des Parkplatzes davon, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

 

Was war hier gerade passiert? Ich sah, wie die Silhouette des grauen Anzugs hinter der nächsten Ecke verschwand, und konnte es nicht glauben.

War ich zu weit gegangen, weil ich mich so unter Druck gesetzt gefühlt hatte?

Sicher hätte ich ihm nichts vorwerfen sollen, zumindest nicht das mit der Beeinflussung, aber rechtfertigte es wirklich, dass er mich hier einfach stehen ließ?

Ratlos sah ich auf die vielen Fahrzeuge und Menschen, und so langsam schwante mir, dass ich einen riesen Fehler begangen hatte.

Den Wunsch nach Vertrauen, den hatte er sicher nur gut gemeint. Immerhin kannte er dieses Leben besser als ich, und hatte seine Erfahrungen gemacht.

Andererseits kam es mir vor, als würde er mich bei sich halten wollen, und vielleicht nahm er mir die Chance, meine eigenen Erfahrungen zu machen. Ob bewusst oder unbewusst, vermochte ich nicht zu sagen.

Hatt er wirklich das Recht, mich all diese Dinge nicht erleben zu lassen? Auch wenn es vielleicht falsch war, und Menschen verletzte, war es nicht mein gutes Recht, es trotzdem zu erleben?

Dass er mir vorwarf, dass mein Verhältnis zum Vertrauen vielleicht nicht ganz gesund war, das konnte ich ja noch nachvollziehen. Ich war mir selbst darüber im klaren, dass die meisten Menschen ihr Herz sehr viel mehr auf der Zunge trugen, und um Hilfe baten, wenn sie welche brauchten. Ich war eben nicht so, und daran würde sich vermutlich auch nicht so schnell etwas ändern.

Ich stapfte los, mehr aus Wut, als mit einem Plan, und beschloss, dass ich vorerst nicht zurück in die Galerie gehen würde.

Ich würde nachdenken müssen, mich sortieren, und auch sicher würde er Zeit für sich brauchen.

Zwei Tage tot, und schon den einzigen Menschen vergrault, der überhaupt noch wusste, dass es mich noch gab. Das war selbst für mich ein verdammt guter Schnitt.

Ich war noch nie gut in zwischenmenschlichen Dingen, sicherlich auch der Grund dafür, dass ich trotz meines Alters noch immer alleine gewesen war, aber nicht mal das hier konnte ich.

Nicht mal diesen Mann, der eigentlich die ganze Zeit auffallend freundlich war, konnte mich länger als diesen kurzen Zeitraum ertragen.

Ich kam einfach nicht gut damit klar, wenn mir jemand Ratschläge gab, oder mich in die Enge trieb, und erst recht nicht, wenn jemand versuchte, mir seinen Willen aufzuzwingen.

Im Nachhinein war das natürlich Blödsinn, vermutlich waren es nur gutgemeinte Ratschläge gewesen, aber jetzt war es ohnehin zu spät.

Auch die Tatsache, dass ja ich ihn aufgesucht hatte, weil ich Antworten gewollt hatte, passte so gar nicht zu meinem Verhalten.

Ich hatte ihm um Hilfe gebeten, nur um dann einfach nicht darauf zu hören.

 

Ohne es zu wollen war ich bei meiner Wohnung gelandet. Ich war gelaufen und gelaufen, hatte weder Straße noch Häuser wirklich gesehen, und war am Ende vor der Haustür meines früheren Lebens gelandet.

Ich sah an der Hausfront nach oben, und sofort fielen mir die nicht mehr vorhandenen Gardinen auf. Die Fenster waren leer, und kein Licht war zu sehen.

Es gab sie nicht mehr, meine Wohnung stand anscheinend leer, und ich fragte mich, wie das so schnell passieren konnte.

Ich war gerade mal zwei Tage tot, und eigentlich ärgerte es mich. Wieso hatten sie meine Sachen so schnell aus der Wohnung geschafft?

Auch auf dem Klingelschild hatte jemand meinen Namen abgekratzt, und nur das winzige Schild auf dem Briefkasten wies noch auf mich hin.

Mehr als sieben Jahre hatte ich hier gewohnt, hatte jeden im Haus gekannt, und jetzt erinnerte nichts mehr an mich.

Ob sie die Wohnung erst nach meinem Ableben geräumt hatten, wusste ich nicht. Ebenso konnte es vorher schon der Fall gewesen sein, immerhin lag ich im Koma, und meine Aussichten waren schlecht gewesen. In Anbetracht das niemand meine Miete weiter zahlen würde, schien mir das sogar sinnig.

Bei dem Gedanken fühlte ich mich noch schlechter, immerhin hatte ich ja noch gelebt, und trotzdem hatten sie mein Leben gelöscht.

Ich trat an den Briefkastenschlitz und wünschte mir sehnlichst hineinsehen zu können. Vielleicht lag dort noch ein Brief oder ein Katalog, und auf diesem würde noch mein Name stehen.

Wie einsam man doch sein konnte, hatte ich nie vorher geahnt.

Wie musste sich Leonard gefühlt haben, als die Menschen begonnen hatten, ihn zu vergessen?

Der Streit tat mir leid, immerhin hatte ich mich nicht ganz fair verhalten, und ich bereute immer mehr, dass ich ihm all diese Dinge vorgeworfen hatte.

Er, der mir von seinem Leben und seiner Familie erzählt hatte, und dem ich selbst kaum etwas erzählt hatte. Ohne mich zu kennen hatte er mir seine Geschichte anvertraut, und für das wenige, was ich erzählt hatte, hatte er mich nicht verurteilt.

Mehr als einmal war ich misstrauisch gewesen, hatte ihm nicht geglaubt, obwohl er mir eigentlich keinen Grund gegeben hatte.

Im Grunde war vermutlich nicht mal die Berührung von Kati das Problem gewesen, sondern die Tatsache, dass ich so verbohrt war. Ich hatte nicht mit ihm über unser Verhältnis gesprochen, auch nicht darüber, dass ich mir sicher war, dass sie mir nicht nah genug stand.

Auch mein Vorwurf, dass er mir irgendwelche Chancen nehmen wollte, kam mir im Nachhinein lächerlich vor. Was sollte er schon davon haben?

Die meiste Zeit hatte er Chancen geschaffen, mich mitgenommen, und im Gegensatz zu mir, hatte er mir vertraut, obwohl er mich ebenso wenig kannte.

Warum sonst hatte er mir seine Bilder gezeigt, und mir sogar bei meinem bescheuerten Plan geholfen?

Wenn ich mir einer Sache nun wirklich sicher war, dann der, dass der Tod eindeutig nicht klüger machte.

Die Fehler waren immer noch die gleichen, und man reagierte genauso dämlich, wie sonst auch.

Jede engere Verbindung in meinem früheren Leben war genau daran gescheitert. Immer war ich misstrauisch, immer stellte ich die Dinge in Frage, und immer versuchte ich, jede noch so kleine Sache mit mir selbst auszumachen.

Nur das es jetzt einen klitzekleinen Unterschied gab: Leonard war der Einzige, der mich sehen konnte, und der Einzige, der in meiner Welt noch wirklich existierte.

 

Mehr als eine Stunde hatte ich neben dem Wagen von Alex gewartet, bis dieser endlich aus dem Krankenhaus getrottet war. Rein hatte ich mich nicht getraut, zu präsent waren mir noch meine letzten Erlebnisse dort.

Entgegen meiner Vermutung hatte es sich nicht gut angefühlt, hierher zurückzukommen, und mein Magen hatte sich unangenehm verdreht, kaum war ich in die Nähe der Tür getreten.

Die Bilder meines Todes waren vor meinem inneren Auge aufgeflammt, und sofort hatte ich einige Schritte zurückgemacht. Hier war ich gestorben, und meine Leben war erloschen.

Man hatte meinen toten Körper vor mir hergeschoben, ihn beseitigt, und diese Erinnerung wollte ich nun wirklich nicht auffrischen.

So hatte ich ausgeharrt, zu dem Gebäude gesehen, und einfach gehofft er würde irgendwann rauskommen.

 

Alex schien müde, so wie ich ihn kannte, und er trottete über den Parkplatz, als würde er zur Schlachtbank geführt. Übel nehmen konnte ich es ihm nicht, immerhin waren die Aussichten sicher ähnlich deprimierend wie beim letzten Mal.

Eine leere Wohnung, ein liebloses Abendessen, und am Ende die Couch.

Kein Wunder, das er lieber hier war und arbeitete, anstatt einsam und alleine den Abendfilm zu sehen.

Mein eigentlicher Plan war, mit ihm zu gehen, um den restlichen Abend mit ihm auf der Couch zu verbringen. Es schien mir sinnig, nicht nur wegen mir, sondern auch wegen Leo, der sicher noch immer sauer war, und Alex, der mich eindeutig brauchte, auch wenn er es nicht wusste.

Nur zu deutlich erinnerte ich mich an ihn, schlafend auf der Couch und mit unruhigen Träumen, die ich mit meinen Berührungen hatte verstummen lassen. Daran war sicher nichts falsch oder verwerflich, er würde sich kaum am nächsten Tag erinnern, und ich würde fliehen können.

Weg von Leo und meinen Vorwürfen, und weg von den verrückten Erlebnissen der letzten beiden Tage.

Mit Alex in seiner Wohnung hatte es sich normal angefühlt, jedenfalls normaler als alles andere sonst, und genau danach sehnte ich mich.

So traurig es auch gewesen war, so echt war es mir auch vorgekommen, denn immerhin kannte ich diese Leben.

Hunderte von Abenden hatte ich ähnlich verbracht, wenn auch in einer schöneren Wohnung, und ich wäre sicher froh um einen Geist gewesen, der nachts über meinen Schlaf wachte.

Er trat an den Wagen und öffnete die Tür, doch ein Impuls hielt mich zurück. Wenn ich jetzt mit ihm gehen würde, dann wäre es wieder eine Flucht. Ich würde flüchten vor dem Streit, vor Leo, und auch vor einer Entschuldigung.

Und was wurde aus Alex? Würde er sich nicht vielleicht unterbewusst nach etwas sehnen, was einfach nicht der Realität entsprach? Schon nach der letzten Nacht hatte er verwirrt gewirkt, als hätte er meine Anwesenheit durchaus wahrgenommen, und als würde er nicht verstehen, was genau dort vor sich gegangen war.

Wäre es nicht für ihn auch viel besser, wenn er sich einen lebenden Menschen suchen würde, der neben ihm über seinen Schlaf wachte?

Um so mehr Nächte ich bei ihm verbrachte, um so mehr würde er sich sicher fragen, was genau dort geschah, und vielleicht würde er an sich selbst zweifeln.

An seinem Verstand, an dem was er tat, und vielleicht würde er am Ende denken, ein Geist verfolgte ihn.

Das war sicher nicht in meinem Interesse, aber was wäre stattdessen die Alternative?

Wie würde es dann weitergehen? Würde ich morgen zurück zu Leonard gehen, und mich für mein Verhalten entschuldigen? Und wenn dem so war, warum brachte ich es dann nicht gleich hinter mich?

Das ich mich würde entschuldigen müssen, daran hatte ich keine Zweifel. Leo war mein einziger Freund, jedenfalls der Einzige, mit dem ich sprechen konnte, und eigentlich hatte er sich nicht wirklich etwas zu Schulden kommen lassen.

Warum also glaubte ich, dass eine Nacht an all dem etwas ändern würde? Als Lebender konnte Abstand gut sein, man ging sich aus dem Weg, regte sich ab, und ging dann wieder aufeinander zu. Aber galt das auch für die Ewigkeit?

Wenn Zeit ohnehin keine Rolle mehr spielte, warum glaubte ich dann, dass es mir morgen leichter fallen würde?

Ich sah, wie Alex die Türe vor mir zuzog, und dann den Wagen startete.

Nein, Flucht war sicher nicht die Lösung für heute Abend.

 

 

  1. Kapitel 13:

Entschuldigen war nicht meine Stärke. Nie.

Mich bei irgendwem zu entschuldigen, das hatte ich zu Lebzeiten immer vermieden. Ich saß die Dinge aus, wartete bis die Wogen sich alleine glätteten, und tat dann so, als hätte es den Streit nie gegeben.

In diesem Fall allerdings, würde das wohl kaum funktionieren, und ich versuchte mir die Worte in meinem Kopf zurechtzulegen.

Ob er mir überhaupt zuhören würde, da war ich mir nicht mal sicher. Immerhin war er sehr verletzt gewesen, und im Gegensatz zu mir, schien er in seiner Welt ganz gut zurechtzukommen.

Für ihn würde es vielleicht keinen Unterschied machen, wenn ich jetzt einfach wieder verschwand, für mich jedoch würde es bedeuten, dass ich ohne ihn völlig alleine mit all dem würde klarkommen müssen.

Er hatte Jahre ohne mich durchgehalten, und wenn ich mir einer Sache sicher sein konnte, dann der, dass ich ihn sehr viel mehr brauchte als er mich.

 

Ich ging vor der Galerie auf und ab und scheute mich die Türe zu öffnen. Wie peinlich das alles doch war, und wie dumm im Grunde.

Sich wegen einer so blöden Sache überhaupt zu streiten, das war schon dämlich genug, aber dann noch nicht mal eine Entschuldigung über die Lippen zu bringen, das grenzte an Wahnsinn.

Ich sah ihn nicht, war nicht mal sicher, ob er überhaupt hierher zurückgekehrt war, aber früher oder später würde es wohl so sein.

Vielleicht war er, ebenso wie ich, eine Weile herumgeirrt, um den Kopf frei zu bekommen, und ich stapfte hier vollkommen umsonst herum.

Seit unserem Streit waren ein paar Stunden vergangen, und in jeder weiteren Minute ohne ihn, hatte ich mich einsamer gefühlt.

Ein wenig kam ich mir vor wie einer dieser Papageien oder Kanarienvögel, die ohne zu fragen, mit jemandem verpartnert werden, den sie selbst nicht ausgewählt hatten.

Man kaufte zwei, weil zwei einfach nicht so einsam sein würden, aber hätten die beiden sich auch ausgewählt, wenn man sie vorher gefragt hätte?

Vielleicht kamen sie miteinander klar, passten vielleicht auch farblich gut zueinander, aber was dachten die kleinen Kerle über all das?

Den Rest seines Lebens mit jemandem in einem kleinen Käfig zu verbringen, den man zwar ganz in Ordnung fand, aber auch nicht mehr als das, kam mir äußerst fragwürdig vor.

Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand wie Leo gerade mich dazu gewählt hätte, war verschwindend gering. Wir waren zwar zwei von der gleichen Sorte, aber doch Lichtjahre voneinander entfernt. Jahrzehnte, um genau zu sein, und mal abgesehen davon, auch menschlich völlig unterschiedlich.

Ich, die einfach mit Menschen nicht umgehen konnte, und er, der genau das wirklich gut konnte. Er, der so aufmerksam und aufrichtig schien, eingesperrt in diesem Zustand mit jemandem, der von Misstrauen praktisch gelähmt war.

Ich selbst hatte vor Jahren erlebt, wie meine Kollegin Stella ihre beiden Kanarienvögel aus diesem Trott befreit hatte. Jahrelang hatten die beiden friedlich aber wenig eng miteinander verbracht, bis Stella umzog, und die beiden nicht mitnehmen konnte.

Sie gab sie weiter, an jemandem mit einer großen Gruppe Vögel in einem großen Gehege, und das erste, was die beiden taten, war sich neue Partner zu suchen.

Für mich war das ein Beweis dafür, dass die beiden nie glücklich gewesen waren. Sie nebeneinander ausgeharrt, weil sie einfach keine andere Wahl gehabt hatten, aber von echter Zuneigung konnte keine Rede sein.

Hätte man die beiden im Vorfeld befragt, so hätten sicher beide auf andere Partner bestanden.

Dass Leo sicher nicht mich gewählt hätte, daran bestand in meinen Augen kein Zweifel. Ich hätte vielleicht ihn gewählt, wenn mich vor all dem hier jemand gefragt hätte, aber jetzt, sah die Sache doch ganz anders aus.

Er war eine Nummer zu groß für mich, begonnen bei seiner Optik und endend bei seinem Intellekt, und sicher würde er seinen Käfig nicht auf ewig mit mir teilen wollen.

Jemand wie er, würde sicher mehr erwarten, mehr konstruktiven Austausch und mehr alles andere, und ich würde nichts davon sein.

Ich war weder eine gute Gesprächspartnerin, noch sonderlich interessant, und mal ganz abgesehen von diesen Tatsachen, auch zu ungebildet.

Auch wenn er sich bemüht hatte, mir all diese Dinge um sich herum erklärt hatte, würde er das sicher nicht auf ewig so wollen.

Jeder Mensch, egal ob tot oder nicht, benötigte jemanden, der war wie er selbst. Jemanden, mit dem sich Gespräche lohnten, und mit dem es einfach war.

Dass ich jemals einfach sein würde, glaubte ich allerdings selbst nicht.

Wie lange also würde er sich mit mir abgeben? Bis die Bilder aufgebraucht waren, und er mir alles gezeigt hatte, was es zu zeigen gab? Bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir uns absolut nichts mehr zu sagen hatten?

Was würde dann mit mir passieren? Wo würde ich landen, und wer würde dann mein Gesprächspartner sein?

Der Gedanke, nicht mehr mit jemandem sprechen zu können, war schrecklich. Auch wenn ich keine große Rednerin war und eigentlich immer mehr alleine als alles andere gewesen war, so kam mir das doch schrecklich vor.

Gar niemanden mehr zu haben, das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Wie hatte er das gemacht? All die Jahre im Stillen?

In meinem Beruf hatte ich sprechen müssen, jeden Tag und über alles Mögliche. Gemocht hatte ich es nicht, aber jetzt fehlte es mir. Selbst die banalen Gespräche über alltägliche Kleinigkeiten, fehlten mir.

Wie war es, wenn man jahrelang nicht mehr sprach, und war das vielleicht der Grund, für seine offene Art? Sprach er mit mir so frei, weil er es einfach vermisst hatte?

Ich selbst hatte es als merkwürdig empfunden, schon in dem Moment, in dem er mich nicht hatte gehen lassen.

Es war mir komisch vorgekommen, dass er ohne Umwege über sich, sein Leben und alles andere gesprochen hatte, denn ich selbst hätte das nie getan. Trotzdem ergab es jetzt Sinn, schließlich war ich offenbar die erste Person seit sehr langer Zeit gewesen, und irgendwie verstand ich es. Jemand der mit einem sprach, der Dinge über einen wusste, der erinnerte sich auch. Man existierte, weil es jemanden gab, der sich an einen erinnerte.

Mir fielen all die alten Menschen ein, die einsam in ihren Wohnungen starben, und die niemand vermisste. Tage oder Wochen später fand man sie, und alle waren überrascht. Wie konnte sowas passieren? Wie konnte es keinem Auffallen?

Genau so. Niemand sprach mit ihnen, sie sprachen auch nicht, und sie wurden vergessen. Man existierte eben nur, wenn man Kontakte hatte.

Ich selbst war über den gleichen Stein gestolpert, auch ich hatte nur wenige Kontakte gehabt, und diese auch eher oberflächlich. Auch wenn Kati mich offenbar vermisste, so würde sich kaum jemand mehr an mich erinnern.

 

Ich stapfte noch immer vor dem Laden auf und ab und so langsam stieg Wut in mir auf. Wut auf mich selbst, auf meine verbohrte Art, und auch darauf, dass ich einfach so schlecht über meinen Schatten sprang.

Als Tote sollte man sich doch nicht mehr von solchen Dingen beeinflussen lassen, man musste doch irgendeinen echten Vorteil daraus ziehen, und sich von all dem freimachen können.

Was hatte ich schon zu verlieren? Im ungünstigsten Fall würde er mich rauswerfen, oder gar nicht mehr mit mir reden.

Auch wenn ich an diese Version nicht glauben wollte, so würde er vermutlich nicht mehr so freundlich sein wie gestern noch, aber auch damit musste ich dann klar kommen.

Wenn wir diese beiden Vögel waren, die das Schicksal eben in einen gemeinsamen Käfig gesperrt hatte, dann würden wir eben das Beste daraus machen, bis sich vielleicht etwas anderes ergab.

Ich drückte die Tür, hörte das Klacken, und sofort drehte sich mein Magen unangenehm.

 

„Leo?“

Ich rief in die Stille, aber hörte keine Antwort.

Ein paar Schritte weiter hatte ich auch nicht den Eindruck, er sei da, denn alles lag still vor mir.

„Leonard?“

Meine Stimme erfüllte den Raum, aber keine Antwort war zu hören. Vielleicht war er wirklich noch dort draußen und lief durch die Stadt?

Ich sah aus dem Fenster nach draußen, wo sich die Dunkelheit so langsam ihren Platz suchte.

Wenn er nicht hier war, was offenbar der Fall war, würde ich wohl warten müssen.

Ich lief in den hinteren Raum und drückte den Lichtschalter, und sofort wurde der Raum von warmem Licht erfüllt. Fast fühlte es sich heimelig an, auch wenn dieser Ort sicher kein Zuhause war.

Zumindest nicht für mich, fügte ich im Geiste hinzu.

Das Licht im vorderen Raum hätte ich mich nicht anzustellen getraut, immerhin würde es vielleicht Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und auch wenn er sich nichts daraus zu machen schien, war mir das alles andere als geheuer.

Was würde passieren, wenn irgendwer stutzig wurde, weil wir hier das Licht die ganze Nacht brennen ließen?

Vorsichtig schloss ich die Tür zum Hinterraum und sah mich um. Heilloses Chaos, das durch die Aufräumaktion am Morgen noch schlimmer geworden war.

Wie sollte man all diese vielen Bilder ordnen? Wonach sollte man sie ordnen, und würde das überhaupt Sinn machen?

So wirklich hatte ich kein System erkannt, auch nicht, als wir nach einem passenden Badezimmer für mich gesucht hatten.

Leonard hatte unendlich viele Bilder von A nach B geräumt, und immerhin schien er zu wissen, wo er suchen musste, aber ein System ergab sich daraus nicht.

Würde es nicht besser sein, wenn alle Bäder zusammen standen? Oder alle Schlafzimmer?

Seine Ordnung zu ändern, wenn es denn eine war, traute ich mich allerdings nicht.

Wenn er so zurechtkam, dann würde auch ich es müssen, schließlich war ich hier der Gast.

Ich schritt durch die Reihen und die unendlichen Möglichkeiten, und jede schien verführerischer als die andere. Bei meinem ersten Blick auf all das, hatte ich nur unzusammenhängende Motive gesehen, aber jetzt ergab jedes davon Sinn. Jeder nur erdenkliche Ort, hunderte von Situationen, hunderte von möglichen Erfahrungen.

Was würde Leo über all diese Bilder zu erzählen haben? Was für Fragen würden sich auftun, und was steckte hinter ihnen?

Auch die Motive, auf denen Menschen abgebildet waren, schienen mir jetzt viel interessanter.

Die Gruppe Menschen auf der Wiese, die ein Picknick veranstalteten, und allesamt altertümlich angezogen waren. Was würden sie zu erzählen haben? Über was sprachen sie? Warum lachte die Frau, während eine andere Gitarre zu spielen schien? Was für ein Lied würde sie spielen?

All diese Fragen würden sich beantworten, wenn ich dort wäre. Ich könnte in das Bild tauchen, still beobachten, und erfahren, was sie dachten oder taten.

Auch wenn es etwas voyeuristisch war, so war es doch spannend. Andere Menschen zu beobachten, schien mir wirklich nicht mehr schlimm, sondern eher aufregend.

Auch die Frage, ob diese Menschen wirklich gegeben hatte, stellte sich mir. Hatten sie wirklich so auf diese Wiese gesessen, gelacht und gescherzt, oder waren sie vielleicht nur aus dem Geist und der Erinnerung des Malers entstanden?

Ich hatte keine Ahnung, wer das Bild gemalt hatte, denn signiert war es nicht. Wie keins der Bilder, und genau wie Leo es vorausgesagt hatte.

Keine Signatur, keine Fälschung, so hatte ich es zumindest verstanden.

Vermutlich waren tatsächlich die Meisten von ihm, denn ich fand auf kaum einem eine Signatur. Zig Gemälde, gemalt in unzähligen Jahren.

Warum er allerdings in die Bilder anderer Maler tauchte, verstand ich mittlerweile.

Auch mich hatte es gepackt, die Neugier war einfach größer, und auch wenn manche Bilder vielleicht eine Notwendigkeit waren: Diese Bilder waren anders.

 

Mein Weg führte mich durch die Reihen der Bilder, und ganz am Ende entdeckte ich es.

Das bunte Bild einer Sommerwiese, voll mit roten Blumen, und ein paar Bäumen im Hintergrund. Es zog mich an, ohne das ich etwas dagegen tun konnte, und ohne das ich genau wusste warum. Die Wiese sah so einladend aus, so fröhlich und warm, dass ich einfach nicht dagegen machen konnte.

Bilder wie dieses gefielen sogar mir, das musste ich zugeben.

Auch wenn ich viele der Bilder interessant fand, so sprachen mich die Motive nicht so sehr an wie dieses.

Der Bildstil war fast abstrakt, ich konnte die einzelnen Blüten nicht wirklich erkennen, aber trotzdem wusste ich es. Ein Meer von Mohnblumen, unterbrochen von wenigem Grün. Darüber ein hellblauer Himmel mit nur wenigen Wolken, ganz wie an einem wunderbaren Frühlingstag.

Dort würde ich nur zu gerne sein, dort würde ich mich sicher besser fühlen.

Schon immer hatte ich Blumen gemocht, vor allem die bunten. Sie machten mich glücklich und fröhlich, und dieses Bild tat es auch.

Eine Wiese voller Mohnblumen war einfach schön, und niemand würde etwas anderes behaupten können.

Kaum jemand mochte Blumen nicht, und auch wenn die Farben kräftig waren, es wirklicht weder übertrieben noch aufdringlich.

Ohne darüber nachzudenken legte ich den Finger auf die Leinwand und schloss die Augen.

 

  1. Kapitel 14:

Ich roch den Frühling.

Es war, wie wenn man den Schnee roch, lange bevor er wirklich fiel.

Die Luft drang in meine Lungen und ich öffnete die Arme, weil ich ihm einfach so viel Raum wie möglich geben wollte.

Wie gut sich Sonne und saubere Luft anfühlen konnte, wie tröstend und echt es doch wirkte, konnte ich kaum glauben.

Kein Windzug war zu spüren, nur die Sonnenstrahlen auf meinen nackten Armen, und ich hörte das Rascheln der Wiese unter mir.

Selbst als ich die Augen öffnete, konnte ich die Blüten der Blumen unter mir nicht erkennen. Alles schien verschwommen, wie auch der Stil des Bildes. Fast als sähe man durch dickes Glas, oder als würde man die falsche Brille tragen.

Es irritierte mich, aber nicht unangenehm. Es war einfach eine andere Welt, aber schlecht war sie nicht.

Ich ließ mich auf die Wiese sinken, und ließ die Hand über den Brei aus Farben gleiten. Weich, wie Blumen sich eben anfühlten, auch wenn es mir nicht gelang, eine davon in meinen Händen zu halten.

Sie glitten ohne Form durch meine Hände, und manchmal glaubte ich, eine Blüte zu erkennen, die dann sofort wieder zerfloss.

Ja, dieser Ort gefiel mir. Das der Maler ihn als Motiv gewählt hatte, wunderte mich nicht. So ruhig, so ohne jeden Einfluss jeder anderen Irritation, fand ich es einfach entspannend. Hier stand die Zeit still, es konnte vor hundert Jahren oder erst gestern, auf irgendeiner Wiese der Welt sein, und erst jetzt wurde mir klar, wie zeitlos dieses Motiv war.

Selbst wenn das Bild vor hundert oder zweihundert Jahren zum ersten Mal gemalt worden war, es war heute noch so real wie damals. Man würde heute länger nach so einer Wiese suchen müssen, so viel stand fest, aber es gab sie. Irgendwo auf dieser Welt gab es gerade jetzt eine Wiese wie diese.

Ich ließ mich auf den Rücken sinken und sah in den Himmel, der ruhig und nur von den wenigen Wolken unterbrochen war. Keine Schäfchenwolken, eher diese dicken, fast zusammenhängenden Wolkenbanken, aber deshalb nicht weniger schön.

Hier würde ich es aushalten, sehr lange sogar.

 

„Es ist wunderbar, nicht wahr?“

Erschrocken fuhr ich auf und fragte mich, ob ich eingeschlafen war. Wie lange war ich schon hier, und woher kam Leonard jetzt?

Er stand neben mir, im Anzug aber ohne Krawatte und Hut, und sah in den Himmel, so wie ich es getan hatte.

„Wo kommen sie her?“

Was für eine dämliche Frage. Vermutlich genau daher, woher auch ich gekommen war.

Er hob eine Augenbraue und ich schämte mich. Immerhin schien er nicht mehr sauer zu sein, was mich beruhigte, aber so richtig gut fühlte es sich trotzdem nicht an. Ich hatte mich entschuldigen wollen, und jetzt war irgendwie alles anders gelaufen.

Auf ihn musste es wirken wie eine Flucht, als sei ich einfach abgetaucht, und genau diesen Eindruck hatte ich nicht erwecken wollen.

„Ich hab sie gesucht, Spencer. Aber hier habe ich sie nun wirklich nicht erwartet.“

Gesucht? Mich? Warum?

Ich richtete mich etwas auf und klopfte mir das T-Shirt ab, eher um Zeit zu gewinnen, denn Dreck sah ich keinen.

„Ich bin zurückgekommen, aber sie waren nicht da, und dann hab ich das Bild gesehen...“

„Ein wunderbares Bild, nicht wahr? So ruhig, und so kräftige Farben. Monet war ein echter Meister.“

„Ja, wirklich schön. Aber die Malart hat mich irritiert, man erkennt die Blüten nicht.“

Ich strich mit dem Finger über den roten und grünen Brei, als würde es sich selbst erklären.

„Malart? Es heißt Impressionismus. Das hier ist typisch dafür, und auch der Verzicht von Schwarz.“

Meine Schultern zuckten, immerhin würde er wohl recht haben, und ich nichts Besseres darauf antworten können. Auch mir war das mit dem Schwarz aufgefallen, vermutlich hatte es mir deshalb so gut gefallen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bildern, war dieses hier von der Grundstimmung fröhlich und positiv, ohne dabei künstlich zu wirken.

„Hat Monet nur so gemalt?“

„Nicht nur. Aber er gehört zu den Meistern dieses Stils, auch wenn er nichts oder nur wenig davon hatte.“

„Heißt?“

„Er hat lange nichts verdient mit seiner Malerei. Heute würde man wohl sagen: Er war seiner Zeit voraus. Damals fand man diese Bilder unschicklich, und er verkaufte nur wenig. Erfolg hatte er erst viel später, aber er hat seine Sache durchgezogen.“

Fragezeichen ploppten über meinem Kopf auf, und ich stellte mich auf die Füße.

In meiner Theorie war das hier ein absolut zeitloses Bild, und warum sollte es nicht damals auch schon so gewesen sein?

„Warum? Das hier ist doch schön, und es könnte zu jeder Zeit gemalt worden sein. Wiesen wie diese, gab es doch schon immer, und gibt es immer noch?“

Er schmunzelte, was mein Herz sofort wieder zum Stolpern brachte. Es war so schön, wenn er lachte, und eigentlich war es viel zu selten der Fall.

Vielleicht war das auch meine Schuld, weil ich ihn einfach nicht dazu verleitete?

„Können sie sich noch an die Neunziger erinnern? An diese fiesen dunklen Hochglanz-Schrankwände? Die waren sehr modern und unheimlich schick, aber glauben sie wirklich, jemand würde sie sich heute noch in die Wohnung stellen?“

„Aber das hier ist doch was anderes!“

Ich fand den Vergleich meiner Mohnwiese mit einem Schrank ziemlich frech und auch wenig passend, und irgendwie glaubte ich, sie verteidigen zu müssen.

„Nein, ist es nicht. Mode kommt, Mode geht, ich weiß das nur zu gut. Damals waren andere Gemälde in Mode, in Zeiten in denen man eben keine Fototapete oder Poster hatte. Gemälde waren keine Sammlerobjekte, sie waren auch Einrichtungsmöglichkeiten. Er hat nicht den Nerv der Zeit getroffen, und damit eben keinen Erfolg. Heute allerdings, ist Monet praktisch unbezahlbar. Wirklich tragisch, wenn sie mich fragen.“

„Was heißt, unbezahlbar?“

Nie hatte ich wirklich darüber nachgedacht, dass all die Bilder vielleicht wirklich wertvoll waren. Natürlich hatte ich davon gehört, aber so wirklich verstanden hatte ich es nie.

„Na ja, in 2016 hat Christies einen Monet für 80,45 Millionen US-Dollar verkauft.“

Ich schluckte und riss die Augen auf. 80 Millionen? Was war das für eine Summe? So viel Geld für ein Bild?

„Das gibts doch gar nicht!“

„Doch, Kunst ist teuer. Gute zumindest. Monet ist heiß begehrt, und nicht viele Bilder kommen zurück auf den Markt. Wenn sie es tun, dann zu unfassbaren Preisen.“

Eine derart hohe Summe konnte ich mir kaum vorstellen. Wer auf der Welt hatte so viel Geld, und gab es für ein Bild aus?

Sicher gefiel es mir, und noch sicherer war es wertvoll, aber 80 Millionen? Ich kratzte mich am Kopf und verstand es einfach nicht.

„Das ist eine enorme Summe, kann ich mir gar nichts drunter vorstellen. Warum ist das so? Warum ist es jetzt so wertvoll, und der Maler hat nichts davon?“

„Das ist die Krux mit der Kunst. Man weiß nicht, was mal wertvoll wird. Ist wie mit Autos, hätte ich gewusst, dass mein Opel Kapitän mal wertvoll sein würde, hätte ich ihn besser behandelt. Aber man weiß eben nicht, was mal ein Klassiker wird. Für Monet ist es schade, er hat lange an der Armutsgrenze gelebt, und heute könnte er durch den verkauf eines einzigen Bildes, ein ganzes Leben ohne Sorgen haben.“

Was für eine Ungerechtigkeit. Und was für absurde Summen.

Sicher hatte ich schon über teure Kunst gelesen oder gehört, allerdings nie darüber nachgedacht, und mir die Summen auch nicht vorgestellt. Egal ob jetzt gut oder nicht, wir sprachen über einen äußerst geringen Materialwert von Leinwand und Farben, und auch wenn man die Arbeitszeit und das Können mit kalkulierte: Auf diese Summe würde man niemals kommen.

„Das ist... Total unrealistisch, wenn sie mich fragen.“

„Ist es. Aber das ist eben so in der Kunst. Sie kennt keine Grenzen.“

Er schob die Hände in die Taschen seiner Hose, wie er es so oft tat, und ich sah mich um. Eine wunderbare Situation, einfangen in einem Bild, aber in meinen Augen ihr Geld nicht wert.

Heute würde man eine Fotografie machen, oder am Computer eine erschaffen, und das alles würde nur wenige Stunden dauern. Wenn überhaupt.

„Ich würde mich gerne entschuldigen, wegen der Sache heute Mittag.“

Es auszusprechen war mir nicht so schwergefallen wie befürchtet, aber mein Herz schlug trotzdem schneller.

„Das möchte ich auch. Ich kann ihnen nichts vorschreiben, und sollte es auch nicht. Ich selbst war nicht anderes, ich hätte auch versucht, Kontakt aufzunehmen.“

„Es hat weniger etwas mit der Situation jetzt zu tun, mehr mit mir selbst. Ich habe auch vor all dem hier niemandem vertraut, und ich bin es auch nicht gewohnt Rücksicht zu nehmen, oder Ratschläge zu befolgen.“

Leonard sah mich an, und die blauen Augen leuchteten wie der Himmel über uns. Sofort spürte ich die kleinen Haare auf meinen Armen sich aufrichten, und automatisch fuhr ich mit der Hand darüber.

„Sie sind eine merkwürdige Frau, Spencer.“

Ja, war ich. Daran bestand kein Zweifel. Aber ich würde etwas daran ändern, jetzt gleich. Was auch immer meine Probleme als Lebende gewesen waren, sie gehörten der Vergangenheit an.

„Meinen sie wir können zurück? Ich würde gerne darüber sprechen, aber nicht hier.“

Er nickte und wir schlossen die Augen, ohne uns über den Zeitpunkt zu unterhalten.

 

Zurück in der Galerie fühlte ich mich noch unsicherer. Ob ich wirklich über mich würde sprechen können, daran hatte ich echte Zweifel.

Wie erklärte man einem normalen Menschen, was im eigenen Leben schief gelaufen war?

Ich tappte unsicher zu meiner Couch im Vorraum, und er folgte mir wortlos. Ich würde beginnen müssen, ich würde sprechen müssen, immerhin hatte ich es so gewollt.

Wie groß meine innere Abwehr dagegen jedoch wirklich war, hatte ich ohne Zweifel unterschätzt. Alleine bei dem Gedanken es auszusprechen, wand sich mein Magen unangenehm.

„Wissen sie, ich bin der Typ mit nur einer Gabel.“

Er ließ sich neben mir auf die Couch sinken, einen Tick zu nah, und ich rutschte zur Seite, damit ich nicht völlig den Plan verlor.

So nah vernebelte er meinen Geist, es verwirrte mich einfach, und klare Gedanken konnte ich so einfach nicht fassen.

„Ich weiß nicht, wovon sie sprechen?“

Er klang ruhig, aber belustigt, und verübeln konnte ich es ihm nicht.

„Ich bin der Typ mit nur einer Gabel, weil ich keine Zweite brauche. Ich habe mich in meinem einsamen Leben eingerichtet, und es nicht auf eine zweite Person ausgelegt. Ich habe nie jemanden gehabt, meine Eltern sind früh gestorben, und danach gab es einfach niemanden. Ich habe keine engen Freunde oder sonst was, und auch keine Geschwister. Mein ganzes Leben lang habe ich alles mit mir alleine ausgemacht, und nie um Hilfe gebeten. Ich habe es so eingerichtet, wie eine einzelne Person es halt braucht, und jetzt ist es anders. Jetzt gibt es uns beide, in einer Welt, die nur mit uns beiden existiert, und das ist nicht so einfach für mich.“

Ja, klang gut. Fand ich zumindest. Es spiegelte meine Situation ganz gut wieder, und ergab auch Sinn. Natürlich hatte es in meiner Wohnung mehr als eine Gabel gegeben, aber schlussendlich war es so. Ich hatte für mich gelebt, alles auf mich angepasst, und niemanden hineingelassen.

„Sie wissen schon, dass das ziemlich deprimierend klingt?“

„Ja, weiß ich. Aber es war eben so.“

„Haben sie sich nicht einsam gefühlt?“

„Natürlich, manchmal. Aber man gewöhnt sich dran.“

Wie unfassbar peinlich. Wie peinlich, all das zuzugeben. Er hatte seine Einsamkeit nicht selbst gewählt, ich jedoch hatte genau das getan. Obwohl dort draußen so viele Menschen waren, hatte ich mich für die Einsamkeit entschieden.

Auf ihn musste das krank wirken, oder zumindest äußerst merkwürdig, und auch mir kam es mittlerweile so vor.

Warum hatte ich es nicht anderes gehandhabt? Warum hatte ich nicht echte Freundschaften geschlossen, und war den Menschen offener gegenüber getreten?

„Ich verstehe, dass es sie jetzt überfordert. Dass ich sie überfordere. Aber warum sind sie dann hier?“

Ja, warum war ich zurück zu ihm gekommen? Die Antworten darauf waren variabel: Weil ich ihn unfassbar anziehend fand, weil ich ihn nett fand, weil er sich um mich gekümmert hatte, weil ich die Einsamkeit fürchtete...

„Ich habe Angst, alleine zu sein.“

Verdammt. Das klang, als sei er die Notlösung der Notlösung. Als sei ich nur hier, weil es einfach sonst niemanden gab.

„Verständlich. Aber sie waren doch vorher auch alleine?“

„Ja, war ich. Aber ich hatte meinen Job, Ablenkung, all das. Und ich muss zugeben, es hat sich gut angefühlt, dass sie sich um mich gekümmert haben.“

Ich sah zur Seite, weil ich die Peinlichkeit einfach nicht ertragen konnte. Nie hatte ich etwas Ähnliches zu einem Menschen gesagt, und ich konnte kaum glauben, dass ich es getan hatte.

„Es hat sich gut angefühlt? Ich habe doch kaum etwas getan, und eigentlich war das doch selbstverständlich. Ich konnte sie ja kaum alleine mit all dem lassen, und sie einfach ignorieren.“

Ich hätte es getan. Ich an seiner Stelle hätte vermutlich ignoriert. Menschen zu helfen war auch so eine Sache, die mir immer suspekt war. Sicher hätte ich bei einem Unfall geholfen, vielleicht auch bei größeren Problemen, aber meistens war ich der Meinung gewesen, dass die Leute die Lösung selbst finden mussten.

Von mir aus jemandem Hilfe anzubieten, daran hatte ich nur selten gedacht.

„Ich bin ihnen jedenfalls sehr dankbar dafür, und deshalb will ich es auch ändern. Ich möchte ihnen vertrauen, und es wäre schön, wenn sie mir auch vertrauen würden.“

„Tue ich, sie haben mir keinen Grund gegeben, es nicht zu tun.“

So einfach war das? Ich blickte zur Seite, auf ihn, dessen Blick offen auf mich gerichtet war. Er vertraute mir, obwohl ich nichts dafür getan hatte?

„Aber sie kennen mich doch gar nicht richtig?“

„Nein, aber wie gesagt, sie haben mir keinen Grund gegeben, es nicht zu tun.“

In meiner Empfindung musste man sich Vertrauen hart erarbeiten. Es dauerte lange, und oft war es beschwerlich.

Jemanden einen Vorschuss zu geben, auch auf die Gefahr hin, enttäuscht zu werden, wäre jemandem wie mir, nie in den Sinn gekommen.

Aber bei ihm schien es anders zu sein, er vertraute, weil nichts dagegen sprach.

In meinem Gehirn rotierten die Gedanken, und zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, ob ich mit all dem falsch umging. Konnte man nicht einfach vertrauen, bis es vielleicht einen Grund für Misstrauten gab? War es vielleicht mein Fehler, weil ich immer von vorne herein schon so wahnsinnig misstrauisch war?

„Das ist eine sehr ungewöhnliche Art mit Vertrauen umzugehen. Die meisten Menschen sind nicht so.“

„Ich weiß, aber mal ehrlich: Das Leben ist zu kurz, um es sich von Misstrauen minimieren zu lassen. Und der Tod ist es auch, wenn sie mich fragen. Ich vertraue, weil ich gute Erfahrungen damit gemacht habe, und selbst wenn sich dann etwas anderes herausstellt; das Resultat wäre ähnlich. Wenn ich ihnen nicht vertrauen würde, und sie würden mich dann enttäuschen, wäre es genauso schmerzhaft. Aber warum sollten sie?“

Klang logisch, und strafte alle meine Theorien ab. Immer war ich jedem Menschen kritisch gegenüber getreten, auch in Beziehungen. Ich hatte nach Fehlern oder Schwächen gesucht, nach Lüge und Verrat. Wenn es dann so gewesen war, hatte ich mich schlecht gefühlt, auch wenn ich es geahnt hatte.

Es stimmte also irgendwie, das Resultat wäre ähnlich.

„Es ist nicht mein Ziel sie zu verletzen, Leonard. Sie haben auch vermutlich recht mit dem was sie sagen, aber es ist nicht so einfach umzusetzen.“

„Ist es nicht? Weil sie es immer so gehalten haben? Sie sind tot, meine Liebe, ihre Grenzen liegen nun ganz woanders.“

Auch das stimmte. Meine Grenzen lagen jetzt jenseits von all dem. Aber es würde nicht weniger weh tun. Wenn sich der Mann meiner Träume als Idiot oder Betrüger herausstellen würde, würde es mich noch immer verletzen. Auch wenn er mir keinen Grund gegeben hatte, so konnte ich mir noch immer nicht vorstellen, dass er mich wirklich mögen würde.

Auch wenn ich der Vogel war, mit dem man ihn in einen Käfig gesperrt hatte, so war ich doch nicht der, den er sich ausgesucht hätte.

„Es tut mir leid, dass das Schicksal ihnen nicht jemand anderes geschickt hat.“

Sein Blick wanderte über mich, und blieb dann in meinen Augen haften. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, und tatsächlich sah es so aus, als hätte er sich darüber noch gar keine Gedanken gemacht.

„Warum? Wen sollte es denn sonst schicken?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Jemanden mit mehr Kunstverständnis? Jemanden der etwas klüger ist als ich?“

Jemanden der besser zu ihnen und ihrem Aussehen passt?

Die Liste würde sich endlos weiter schreiben lassen, aber das würde sicher zu lange dauern.

„Ihr Kunstverständnis entwickelt sich, daran ist nichts falsch. Sicher haben sie andere Interessen, von denen ich nichts verstehe. Und klüger ist relativ. Ich finde sie klug, sie haben es immerhin alleine durch ihr Leben geschafft, und es ist erstaunlich, wie schnell sie sich mit ihrer neuen Situation abgefunden haben. Bei mir hat das sehr viel länger gedauert, und ich war deutlich verwirrter. Nein, ich denke nicht, dass ich mir jemand anderen gewünscht hätte.“

Ein warmer Schwall Blut schoss durch meinen Körper und ich spürte das Zittern in meinen Händen. Hatte er das wirklich gesagt? Das ich nicht falsch neben ihm war?

Ich glaubte, mich verhört zu haben, aber es ergab keinen anderen Sinn, egal wie ich es drehte und wendete.

„Aber sie sind überirdisch!“

Sofort schlug ich die Hand vor den Mund, denn dieser war wieder schneller als mein Kopf gewesen. Warum passierte mir das immer wieder? Warum brachte ich mich in diese Situationen, obwohl ich es nicht musste?

„Überirdisch? Sind wir das nicht beide irgendwie? Wir sind tot, wandeln umher...“

Gott sei dank. Er hatte es falsch verstanden. Ich nahm die Hand vom Mund und dankte Gott für dieses Missverständnis.

„Sind wir, falls man es denn überirdisch nennen kann. Aber sie sind schon ein ganz anderer Typ Mensch als ich.“

Das klang besser. Viel besser als überirdisch.

Sicherlich hatten ihm Frauen auch zu Lebzeiten Komplimente gemacht, daran bestand kein Zweifel, aber ich durfte einfach nicht so weit nach vorne preschen. Es stand mir einfach nicht zu, wirkte ganz sicher völlig überdreht, und ich wollte mit aller Macht vermeiden, dass er mich für wahnsinnig hielt.

„Kann sein, aber auch immer noch ein Mensch. Sie machen sich zu klein, Spencer. Sie glauben, schlechter zu sein, aber sie sind es nicht. Wir alle haben Fehler und Schwächen, und das macht uns liebenswert und echt.“

Von Fehlern konnte kaum die Rede sein bei ihm, und Schwächen hatte ich auch noch keine gesehen. Trotzdem nickte ich, weil ich es für angemessen hielt, und weil ich unser Gespräch möglichst weit von meinem trotteligen Ausbruch fortbewegen wollte.

„Ich bin nichts Besonderes, ich habe kein Talent oder so etwas. Sie sind sehr talentiert, das ist kaum zu übersehen.“

Ich zeigte auf all die Gemälde an der Wand.

„Talent ja, aber nur was das betrifft. Ansonsten kann ich keinen Nagel in die Wand hauen, da bin ich grauenhaft unfähig. Bestimmt haben sie ein Talent, nur haben sie es vielleicht noch nicht entdeckt?“

Prima. Falls ich eins hatte, so hatte ich es zumindest zu Lebzeiten noch nicht entdeckt, und jetzt würde es mir auch nichts mehr nützten. Ich konnte Haare schneiden, sie vielleicht noch färben, aber echtes Talent konnte man das kaum nennen.

Talent bedeutete, dass mit in etwas wirklich gut war. Überragend oder besonders, und beides traf auf mich einfach nicht zu.

„Ich weiß nicht, aber falls es eins gibt, ist es jetzt zu spät.“

„Es ist nie zu spät, Spencer. Die Ewigkeit ist ein sehr langer Zeitraum, sie haben alle Zeit der Welt, um es zu finden.“

Tröstete mich nicht. Denn falls ich eins haben sollte, würde niemand davon erfahren. Nicht so wie bei ihm, dessen Bilder vielleicht auch noch in weiteren fünfzig Jahren vorhanden sein würden.

„Sie sind sehr lieb zu mir, aber das ist nicht nötig, sie müssen das nicht sagen um mich zu trösten.“

Überrascht fuhr er sich durch die Haare und öffnete dann den ersten Knopf seines Hemdes, was ich äußerst fies fand. Wann immer er das tat, oder auch nur die Krawatte lockerte, brachte mich das aus dem Konzept.

„Wieso glauben sie, ich würde das für sie tun? Warum glauben sie, ich erzähle ihnen all das, nur um sie zu trösten? Glauben sie mir nicht, dass ich das alles ernst meinen könnte? Warum machen sie sich so klein, und warum trauen sie sich nichts zu?“

Gute Frage. Weil es immer so gewesen war, und weil mir nie etwas Ähnliches gesagt wurde?

„Machen wir uns nichts vor, ich bin allenfalls Mittelmaß. In allem.“

Ich rieb meine Hände auf den Oberschenkeln, weil ich mich unwohl fühlte. Mittelmaß zu sein war in Ordnung, aber sicher war ich nicht mal das. Mittelmaß war aushaltbar, aber ich war das nicht. Weder meine Haar noch Figur waren Mittelmaß, meine Fähigkeiten auch nicht, was also machte ich mir hier vor? Ich war und blieb die Unterschicht, und nichts und niemand würde daran etwas ändern.

„Mittelmaß? Woran gemessen?“

„Am Rest der Menschheit, vermutlich?“

„Gemessen an den unechten Frauen in den Magazinen? Gemessen, an all den Schwätzern und Hochstaplern dort draußen? Dann, meine Liebe Spencer, sind sie eine Königin.“

Die Hand kam langsam auf mich zu und strich mir eine Strähne blonder Haare aus dem Gesicht. Sofort vibrierten jede Faser meines Körpers, und ich war nicht fähig auch nur ein Wort zu sagen.

Eine Königin.

Nur selten hatte mir jemand gesagt, ich sei hübsch, erst recht nicht, ich sei eine Königin und schon gar kein Mann wie er.

Die Hand strich weiter über meine Wange, und ich sehnte mich danach, mein Gesicht hinein zu legen. Nähe wie diese hatte ich Ewigkeiten nicht mehr erlebt, und vielleicht paralysierte es mich gerade deshalb so sehr. Selbst meine letzte Umarmung war Ewigkeiten her, ich konnte mich nicht mal mehr daran erinnern, und sicher hatte sie sich nicht so angefühlt.

„Du darfst nicht so denken, Spencer. Du bist wundervoll und schön, und keinesfalls dumm. Du denkst nach, und das ist gut so, aber du blockierst dich selbst, weil du so negativ mit dir selbst umgehst.“

Die Hand wanderte über meine Haare und ich schloss die Augen. Er hatte „Du“ zu mir gesagt, und nie vorher hatte es sich so sexy angehört. Heute duzte jeder jeden, und nie war es mir intim vorgekommen. Aber das hier, das war wie das öffnen einer vormals geschlossenen Türe.

In meinem Kopf hatte ich das Klacken des Schlosses praktisch gehört, und mit jeder Berührung mehr, öffnete sich die Tür einen weiteren Zentimeter.

„Ich kann mit jemandem wie dir nicht mithalten.“

Die Intimität zurückzuwerfen war komisch, es war, als würde ich die Türe nun endlich aus ihren Angeln heben, und ich war nicht sicher, ob das gut sein würde. Zumindest nicht für mich, die vermutlich gerade über Dinge nachdachte, die nie passieren würden.

Sicher war er unfassbar nett, aber sicher nicht aus den Gründen, die ich mir aktuell wünschte.

„Das musst du doch nicht. Und lass dich nicht von irgendetwas blenden, was ich mir nicht selbst ausgesucht habe. Ich weiß, wie die Menschen auf meine Augen reagiert haben. Sie sind außergewöhnlich, aber ich hab sie mir nicht gewünscht. Und ich weiß auch, wie Frauen auf mich reagiert haben. Aber auch das ist ein Trugschluss, denn nur weil eine Anzahl Menschen, mich für gutaussehend gehalten hat, bin ich noch immer kein besserer oder anderer Mensch. Es war immer eher eine Last, denn die Leute interpretieren etwas in dich hinein, was du weder bist, noch sein willst. Es öffnet vielleicht Türen, aber es schlägt auch viele zu.“

So hatte ich es allerdings noch nie gesehen. Dass gutes Aussehen vielleicht auch eine Last war. Mir war das nie so vorgekommen, und darüber nachgedacht hatte ich auch nie. Bei genauerer Betrachtung musste ich allerdings zugeben, dass er vermutlich auch mit vielen Vorurteilen gekämpft hatte. Ähnlich wie bei sehr gutaussehenden Schauspielern, bei denen man pauschal davon ausging, dass sie wohl Frauenhelden waren. Man drückte die Leute in eine Schublade, auch wenn nichts davon sich bestätigte.

„Dieses Problem habe ich nicht, denn ich gehöre nicht dazu.“

„Das glaube ich kaum. Aber du redest es dir ein, dass du nicht so bist.“

Ich öffnete die Augen und sah sein Gesicht dicht an meinem. Das Blau der Augen schien noch heller, und erinnerte mich an ein Eisbonbon. So hell wie das Meer auf kitschigen Postkarten, oder wie der Himmel auf dem Bild von Monet.

Wie unecht und künstlich es wirkte, sah ich nun zum ersten Mal. Vermutlich kam es mir so vor, weil ich nie derart helle Augen gesehen hatte, aber fast glaubte ich an Kontaktlinsen. Auch wenn es die zu seiner Zeit vermutlich nicht mal gegeben hatte.

„An mir ist nichts außergewöhnlich. Ich bin eine Größe 40 mit Spaghetti-Haaren.“

„Du bist eine Größe 40, wie Marilyn Monroe es war, und du hast mich gesehen, als du mich hättest nicht sehen dürfen, weil es genauso hatte sein sollen.“

Die Hand verschwand von meiner Wange und floss in einer sanften Bewegung an mein Kinn. Deutlich nahm ich die Finger wahr, auch wenn ich eigentlich noch zu sehr mit seinen Worten beschäftigt war.

Marylin Monroe war wunderschön, ihre Figur perfekt, und nie würde ich glauben, dass auch sie eine Größe 40 war. Das konnte einfach nicht sein. Oder war mein Selbstbild schon so verzerrt, dass ich meine Rundungen völlig falsch sah?

Bevor ich meinen Gedanken zu Ende denken konnte, fühlte ich seine Lippen auf meinen. Ich hatte es nicht kommen sehen, nicht mal mitbekommen, dass sein Gesicht so nah gekommen war, und erschrocken zuckte ich zurück.

„Was?!“

Ich fuhr mit dem Finger über meine Lippen und konnte nicht glauben, dass er es tatsächlich getan hatte. Und dass ich es beendet hatte, bevor es überhaupt angefangen hatte.

„Entschuldigung, ich dachte...“

Leonard schien überrascht und ebenso erschrocken wie ich, und ich wollte mir selbst in den Hintern treten, für so viel Doofheit.

Da versuchte der Mann meiner Träume mich zu küssen, und ich vermasselte es. Wie dämlich konnte ein einzelner Mensch eigentlich sein?

„Nein, nein... Es hat mich nur... Überrascht...“

Ich stotterte meine Entschuldigung, während ich innerlich kurz vorm Platzen war. Kein Wunder, dass es mit mir und den Männern nie geklappt hatte. Mich müsste man mit dem Holzhammer erschlagen, sonst würde es wohl nie funktionieren.

„Ich... Also ich dachte, du magst mich... Es tut mir leid, ich habe das wohl falsch verstanden...“

Er schien komplett verunsichert, und eigentlich war die Situation mehr als lustig. Ich, die nichts dringender gewollt hatte, hatte es versaut. Und ich hatte den schönsten Mann, der mir je begegnet war, völlig aus dem Konzept gebracht.

Der Mann, von dem ich eben noch geglaubt hatte, er würde jede Frau haben können, der in meinen Augen sicher über allem und jedem stehen würde, und der nun wie ein abgestrafter fünfzehnjähriger wirkte.

Wenn es nicht so ärgerlich gewesen wäre, ich hätte gelacht.

 

  1. Kapitel 15:

Was, wenn der Himmel für jeden anders aussah?

Was, wenn das hier mein Himmel war, und ich ihn einfach nicht verstanden hatte?

Ich sah noch immer auf Leo, der erschrocken und bewegungslos neben mir saß, und anscheinend ebenso wenig wusste, wie wir jetzt mit all dem umgehen sollten.

Wenn es einen Himmel gab, wie würde dieser aussehen?

Ich hatte mir nie Gedanken darum gemacht, vielleicht allerhöchstens an eine Wolke oder ein Himmelstor gedacht, aber nie an etwas anderes.

Was, wenn der Himmel etwas anderes war? Wenn ich gestorben war, und das hier mein Himmel war? Vielleicht war die Unendlichkeit nach dem Tod gar keine Wolke, sondern der Ort an dem man schon immer hätte sein sollen, zusammen mit dem Menschen, der für einen bestimmt war?

Wenn Leo für mich bestimmt war, dann hatte er mehr als fünfzig Jahre auf mich gewartet. Fünfzig Jahre, um auf den Menschen zu warten, der für ihn und seine Ewigkeit bestimmt war.

All die vielen Geschichten über das was nach dem Tod kam, all die vielen Theorien, vielleicht stimmte nichts davon. Vielleicht war die Ewigkeit ein Ort, an dem man würde glücklich sein können, und von dem man vorher nicht mal geahnt hatte, dass man dorthin gehörte.

Vielleicht hatte ich ihn daher gesehen, als ich ihn hätte nicht sehen dürfen. Damit ich nach meinem Tod wusste, wohin mein Weg mich führen sollte. Vielleicht sah ich all das hier falsch, und nichts davon war wirklich so übernatürlich. Vielleicht existierten wir hier in dieser Parallelwelt, weil das unser beider Bestimmung war.

 

„Ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll...“

Die Stimme klang unsicher, und ich wachte aus meiner Trance auf. Nein, ich selbst hatte auch keine Ahnung, und sah nur mit großen Augen auf ihn.

„Es tut mir leid, wenn ich dir zu nahe getreten bin, das war nicht meine Absicht.“

Zu nahe? In meinem Kopf rotierten die Gedanken und ich fragte mich, ob jemand wie er mir wirklich so nahe würde kommen können, dass ich es als unangenehm empfinden könnte. Vermutlich nicht.

Auch wenn ich den Kuss unterbrochen hatte, weil ich einfach nicht glauben konnte, dass all das wirklich geschah, würde ich seine Nähe jederzeit ertragen können.

Glaubte ich zumindest.

Ich musste mir selbst eingestehen, dass auch Nähe nicht unbedingt eine meiner Stärken war. Wer immer alleine war, ertrug körperliche Nähe nur mäßig. In vergangenen Beziehungen war das immer ein Problem gewesen, denn ich suchte nie danach.

Ich nahm sie an, wenn sie sich mir anbot, aber ich selbst kam niemals jemandem näher. Auch Berührungen wie die mit Alex sahen mir nicht ähnlich, ich hatte nie einem Freund im Schlaf über die Stirn gestrichen. Dass ich jetzt glaubte, bei Leo würde es anders sein, war einfach lächerlich.

Ich, die weder Emotionen noch Nähe ertragen konnte, geschweige denn selbst dazu fähig war, diese zuzulassen, würde es sicher auch bei ihm nicht schaffen.

„Es ist in Ordnung. Ich bin nicht sauer, es hat mich nur überrascht.“

Ich stand auf, um der Situation zu entfliehen, und ich sah aus dem Augenwinkel, dass er nun doch verletzt war.

Ablehnung war nie schön, sicher auch nicht für ihn, aber mehr konnte ich aktuell nicht ertragen. In meinem Leben hatte es nie Nähe in Verbindung mit echter Zuneigung gegeben, und ich würde jetzt nicht damit anfangen.

Nähe hatte ich nur zugelassen, wenn ich mir sicher sein konnte, nicht verletzt zu werden, und Zuneigung hatte ich nie weiter als zu einem bestimmten Punkt kommen lassen.

Wenn ich jemanden wirklich gemocht hatte, was äußerst selten der Fall gewesen war, so hatte ich ihn auf die Liste meiner Freunde gesetzt. Oder eher die, der guten Bekannten. Zu groß empfand ich das Risiko, diesen Menschen zu verlieren, oder verletzt zu werden.

Nähe war für mich unverbindlich besser zu ertragen, immerhin konnte man dann nicht in seinen Grundmauern erschüttert werden, und man kam gar nicht erst in Versuchung, seinen Kopf zu verlieren.

Beziehungen hatte ich ähnlich begonnen, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, den anderen nur nicht zu nah mich und mein Leben gelangen zu lassen. Ich hatte mich zurückgehalten, aufkeimende Gefühle unterdrückt, aus lauter Panik an ihnen zu scheitern.

Dass es mit Leo nicht so laufen würde, das war mir klar. Ich würde ihn nicht in die Liste meiner Bekannten setzen können, aber erst recht nicht würde ich die Gefühle für ihn unterdrücken können.

Was, wenn es schief lief mit uns? Was, wenn ich dann ganz alleine hier zurückbleiben würde?

„Es tut mir aufrichtig Leid, wirklich. Ich habe die Signale wohl falsch gedeutet.“

Auch er stand auf, und ich nickte still.

Nein, hast du nicht. Du hast sie nicht falsch gedeutet, ich habe nur falsche gesendet.

Vor lauter Anzug und blauen Augen hatte ich mich fallen gelassen, und das hatte ich nun davon.

„Offensichtlich. Aber ich bin nicht böse, es ist alles in Ordnung.“

Ich atmete tief durch, um mich selbst davon zu überzeugen. Ja, es war alles in Ordnung, und ich würde darüber hinweg kommen. Für Frauen wie mich gab es keine Optionen, schon gar nicht eine wie diese. Auch wenn das hier vielleicht mein Himmel sein sollte, so würde ich keinesfalls blind all meine Sicherheitsmechanismen aufgeben.

Was war überhaupt, wenn ich aus irgendwelchen Gründen gar nicht im Himmel war? Weil ich irgendetwas falsch gemacht hatte, und das hier die Hölle war? Auf immer und ewig darauf verdammt, mit diesem unfassbaren Mann hier zu hocken?

Panisch überlegte ich, ob ich zu Lebzeiten irgendetwas verbrochen hatte, was dies rechtfertigen würde.

Gut, ich hatte Menschen verletzt. Meistens aus Unwissenheit oder Dummheit, manchmal auch in der Absicht, sie zu vergraulen. War das schon Grund genug, mich in der Hölle schmoren zu lassen?

„Spencer, bitte lass das nicht zu. Mach es nicht kaputt, es tut mir wirklich leid. Ich mag dich wirklich, und ich dachte, du magst mich auch. Ich hab das vielleicht falsch gedeutet, aber das ändert doch nichts an unserer Freundschaft. Ich verspreche dir, es wird nicht wieder passieren.“

Freundschaft? War das so? Waren wir Freunde?

Ich legte den Kopf schief, weil ich aus unerfindlichen Gründen glaubte, so besser denken zu können.

Konnte man so schnell Freunde werden, innerhalb weniger Tage? Sicher hatten wir gesprochen, Dinge gemeinsam erlebt, aber reichte das schon aus?

Waren wir nicht vielmehr Bekannte?

„Ich mache es nicht kaputt, aber Freunde sind wir doch nicht wirklich. Wir kennen uns doch kaum, lernen uns gerade mal kennen, und eine Freundschaft ist schon etwas anderes. Wir duzen uns gerade mal seit zehn Minuten, da kann man wohl kaum von Freundschaft sprechen.“

Kaum hatte ich das ausgesprochen, fand ich meine Rede selbst unmöglich. Wie abwertend und hart das doch klang. Er hatte mich aufgenommen, als ich völlig alleine mit all dem Neuen gewesen war, und ich stieß ihm so vor den Kopf.

„Freundschaft definiert sich nicht in Zeit, schon gar nicht in der Ewigkeit. Außerdem ist die Grundlage ohnehin eine andere: Man muss sie zulassen.“

Auch das stimmte. Um überhaupt mit jemandem befreundet sein zu können, musste man es auch zulassen. Vermutlich war das der Grund, warum es bei mir nur selten so weit gekommen war. Ich ließ solche Dinge nicht zu, aus Angst vor Enttäuschung und Verlust, und daran änderte auch Zeit nichts.

Kati kannte ich ein Leben lang, und selbst von ihr hatte ich nicht als meine Freundin gesprochen.

„Vielleicht kann ich das nicht so gut wie andere Menschen, aber es ist eben so.“

Was auch immer mit mir und meinem Leben schief gelaufen war, es versaute mir gerade meinen Tod. Ich ärgerte mich selbst über mein Verhalten, aber war auch nicht dazu in der Lage, etwas daran zu ändern. Eigentlich hatte ich doch jetzt alles, was ich mir zu Lebzeiten je erträumt hatte, und trotzdem fuhr ich den Karren in voller Fahrt gegen die Wand.

Immer hatte ich mir jemanden gewünscht, der hinter meiner Fassade aus Ablehnung mein wahres Ich sah, und der sich trotzdem um mich bemühte. Jemand er sich überhaupt mit mir bemühte und sich kümmerte, und der mich aus meinem niederen, langweiligen Leben befreite.

Jetzt, hier, gab es das alles.

Ich hatte gelernt, Neues gesehen, war Teil einer Einheit gewesen, und trotzdem hatte es mich nicht wirklich verändert. Ich hatte geglaubt, es würde so sein, dass ich mich öffnen könnte, wenn nur der richtige Mann kommen würde. Aber wenn selbst Leonard es nicht war, wer sollte es denn sonst sein?

„Soll ich dich alleine lassen? Möchtest du gerne für eine Weile alleine sein?“

Er machte zwei Schritte in Richtung des Hinterzimmerns, und fast war ich in Versuchung ihn aufzuhalten.

Nein, ich wollte nicht alleine sein. Nicht alleine mit all dem Durcheinander, und schon gar nicht mit mir selbst.

„Bitte.“

Ich sah zur Seite, um sein Gesicht nicht zu sehen, und ich hörte wie die Schritte über den Linoleumboden sich entfernten.

 

Ich drückte das Kissen an meinem Körper, aber es nützte nichts. Egal, wie sehr ich drückte, ich fühlte mich nicht besser.

Ich war die mit der einen Gabel, ich brauchte keine Menschen in meinem Leben, und doch fühlte ich mich einsam. Ein wenig fühlte es sich an, als würde mir ein Körperteil fehlen, und auch das verstand ich nicht.

Wie konnte so wenig Zeit einen so großen Unterschied machen? Wie konnte man jemanden mögen, dem man eigentlich nicht kannte?

Und warum fühlte ich mich so wahnsinnig einsam, obwohl ich in all den Jahren mit meiner Situation zufrieden gewesen war?

Weinen war eine Option, aber die Tränen kamen einfach nicht. Selbst das empfand ich als Bestrafung, als würde es nicht funktionieren, weil ich selbst schuld an all dem war.

Eine Heulsuse war ich nie gewesen, aber manchmal halfen Tränen auch zum Stressabbau, und manchmal hatte ich geweint, wenn mir alles über den Kopf zu wachsen drohte.

Jetzt würde weinen helfen, auf jeden Fall, aber so sehr ich mich auch bemühte, es ging einfach nicht.

Was hatte ich da bloß getan, und wie würde es jetzt weitergehen? Würden wir jetzt nicht mehr wirklich miteinander umgehen können, oder würde ich jetzt gehen müssen?

Und wenn ich ging, wohin?

Alleine dort draußen, das kam mir unheimlich vor. Menschen, die mich nicht sahen, Orte, an denen ich eigentlich nichts zu suchen hatte.

Aber wie sollte ich das hinbiegen? Wollte ich das überhaupt? Wollte ich überhaupt, dass wir zurückkehrten an den Punkt, bevor er mich geküsst hatte?

Die Panik hatte es mich glauben lassen, schon alleine, weil es mir so unwahrscheinlich vorgekommen war. Ein Mann wie er, konnte unmöglich an einer dauerhaften Bindung, mit einer wie mir interessiert sein.

Auch wenn er aktuell etwas anderes glaubte, immerhin war ich die einzige Wahl, so schien mir das doch eher abwegig. Die Ewigkeit war lang, und sicher würde sein Interesse an mir bald verfliegen.

Spätestens dann, wenn er erkannte, wie eindimensional ich wirklich war.

Ich warf das Kissen neben mich, und beschloss, dass ich ihn nicht auf diese Art enttäuschen würde. Ich würde nicht zulassen, dass er sich einer Illusion hingab, die einfach nicht der Wahrheit entsprach.

Wenn es nur mich gab, und dann nach so langer Zeit, dann war doch eigentlich klar, dass er sich einreden musste, dass ich die Richtige für ihn war.

Eine gute Freundin, das würde ich vielleicht mit viel Mühe noch schaffen, aber mehr sicher nicht.

Ich ließ mich zur Seite fallen und zog die Beine an den Körper, weil ich tatsächlich so etwas wie Kälte spürte. In all meiner Zeit als Tote hatte ich keine gespürt, und ich ahnte, dass diese hier nicht von der Kälte des Raums herrührte.

  1. Kapitel 16:

Erneut bereute ich mein Nachtlager bitter. Jeder einzelne Knochen schmerzte, mein Nacken fühlte sich verspannt an, und meine Hand fühlte ich praktisch gar nicht mehr.

Allerdings musste ich zugeben, dass mein Zustand meiner Gemütsstimmung entsprach, und dass ich es vermutlich auch verdient hatte.

Nach dem Auftritt und meinem unmöglichen Verhalten, hatte ich genau das vermutlich mehr als verdient.

Ich rappelte mich auf, kam mir vor wie siebzig, und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare.

Was sollte ich jetzt tun? Mich schon wieder entschuldigen, wo ich doch nicht mal die erste Entschuldigung so richtig zu Ende gebracht hatte?

Und vor allem: Wie oft noch würde er meine Entschuldigen so wahnsinnig verständnisvoll annehmen, bevor auch ihm der Kragen platzte?

Das hier war seine Welt, sein Zuhause, und er hatte mich aufgenommen, obwohl er das nicht hätte gemusst. Und ich benahm mich wie ein äußerst unangenehmer Gast.

Ich nörgelte, sendete falsche Signale, und stellte mich an.

Leo hätte nichts von all dem tun müssen, weder mich aufnehmen, noch all diese Dinge für mich tun, und schon gar nicht, hätte er mich mit in eins seiner Bilder nehmen müssen. All das hatte er freiwillig getan, und obwohl ich mich bedankt hatte, war mein Verhalten alles andere als dankbar gewesen.

Was war ich doch für ein verkorkstes Ding.

 

Ich beschloss, erstmal ein Bad aufzusuchen, vielleicht würde ich mich dann besser fühlen, und vor allem auch nicht mehr so ramponiert aussehen.

In der Glasscheibe hatte ich mein Spiegelbild gesehen, und war selbst erschrocken über mein Aussehen. Die Haare ein Chaos, dunkle Ringe unter den Augen, und ein mehr als zerknautschtes T-Shirt.

Kurz überlegte ich, nach draußen zu gehen, in der Hoffnung mein T-Shirt würde danach glatter sein, aber eigentlich ergab das wenig sinn. Zuerst würde ich doch duschen müssen, das Chaos auf meinem Kopf in Ordnung bringen, und dann würde dafür immer noch Zeit bleiben.

Ich ging in das Hinterzimmer und ließ meinen Blick über die Bilder schweifen, in der Hoffnung Leo zu entdecken.

Irgendwo hier würde er wohl sein, aber ich entdeckte ihn nicht. Sein Schlafzimmerbild war leer, und ich vermutete, dass er diese Nacht in einem anderen Bild verbracht hatte.

Ob er ähnlich verwirrt war wie ich? Vermutlich, immerhin war keiner von uns auf das hier vorbereitet gewesen.

Ich beschoss das gleiche Bad wie beim letzten Mal aufzusuchen, immerhin würde ich dort gut zurechtkommen, und wieder vermisste ich eine Strickjacke schmerzlich.

Gerade jetzt hätte ich sie dringend gebraucht, schon alleine um mich darin zu verkriechen, aber es gab sie einfach nicht.

Duschen half, ich fühlte mich deutlich besser und frischer, aber die dunklen Ringe blieben natürlich. Auch die Kälte ging nicht ganz, obwohl ich den Wasserhahn bis zu der Grenze des erträglichen aufgedreht hatte.

Kaum war ich aus der Dusche gestiegen, war sie zurückgekehrt, und fast glaubte ich, eine Grippe zu bekommen. Noch immer schienen meine Glieder steif und bleischwer, und irgendwie fühlte auch der Rest von mir sich an, als würde ich in Kürze einer Fieberwelle entgegensehen. Aber konnte man überhaupt krank werden, wenn doch eigentlich tot war?

Eine Jacke hätte mir wirklich Nacht geholfen, ich hätte mich einmummeln können, und vielleicht war tatsächlich krank geworden, weil die Nacht auf dem Sofa doch zu kalt gewesen war.

Nur einen BH und ein T-Shirt zu tragen war einfach zu wenig, und ich würde das einfach nicht aushalten.

Ich kämmte meine Haare, was nicht wirklich etwas brachte, und schämte mich für mein Aussehen. Meiner Meinung nach, wurde es von Tag zu Tag schlimmer, und es würde nicht besser werden. Das dämliche Shirt, keine Haarklammern und kein anständiges Werkzeug, all das tat absolut nichts für mein Wohlbefinden.

Vielleicht konnte mir Leo einen Frisiertisch malen, mit allem, was dazu gehörte?

Sofort schüttelte ich den Kopf und sah in den Spiegel. Was dachte ich mir überhaupt? Dass ich hier Ansprüche stellen konnte, und ihn um so etwas einfach bitten konnte?

Gestern Morgen noch hätte er es sicher getan, aber nach all dem Theater ganz sicher nicht mehr.

Stand mir das überhaupt zu, jetzt noch eine so unverschämte Forderung zu stellen?

Ich kramte in meinen Hosentaschen nach einem Haargummi, aber alles, was ich dort fand, war eine einzelne Haarnadel.

Äußerst ärgerlich, denn im Normalfall waren meine Hosentaschen ein Fundus aus den unterschiedlichsten Dingen. Mein Beruf brachte das wohl mit sich, und eigentlich hatte ich mich dafür immer gehasst. Mehr als einmal hatte ein Monteur kommen müssen, weil irgendetwas davon in der Waschmaschine klemmte, und mehr als einmal hatte ich mich böse in den Oberschenkel gepikt, weil eine der Haarnadeln sich quer gestellt hatte.

Nur jetzt, wo ich dringend irgendetwas davon gebrauchen konnte, war dort nur diese eine verdammte Nadel.

Ich drehte die Haare über meinem Kopf zum Dutt, und hoffte, sie würde dieser Aufgabe standhalten.

Nass wie sie waren, schien es zu funktionieren, aber vermutlich in spätestens einer Stunde nicht mehr. Spätestens wenn sie trockneten, würden die dünnen Strähnen sich auf die Wanderschaft machen, und ich würde aussehen, wie Olga die polnische Putzfrau.

Wieder einmal wurde mir klar, dass es nicht darauf ankam, wie viel man besaß, sondern nur, ob man die richtigen Dinge besaß.

Ein Haargummi und eine Strickjacke, das wäre wichtig gewesen.

 

Zurück aus dem Bild in der Galerie war ich noch immer unzufrieden. Mit mir, mit meinen Haaren, und vor allem mit meiner mangelhaften Bekleidung.

Aber wenn es alles gab, was auf den Bildern zu sehen war, konnte ich nicht vielleicht dort eine Jacke haben? Wenigstens für die Zeit, in der ich in dem Bild war?

Ich blickte auf die Leinwand und die Handtücher auf der Halterung neben dem Waschbecken. Sie waren weich gewesen, und sie hatten sich echt angefühlt.

Was also, wenn ich mir eine Jacke malte, und sie dort tragen würde?

Mein Blick wanderte über den Raum und ich sah den Tisch voller Ölfarben. Versuchen würde ich es können, und wenn es nicht funktionierte, so wäre es sicher auch kein Beinbruch. Oder vielleicht gab es hier ein Bild, auf dem eine Jacke abgebildet war? Eine die ich würde tragen können, und die nicht aus meinen eher mangelhaften Malkünsten entstanden wäre?

Wenn ich versuchen würde eine Jacke zu malen, würde diese vermutlich eher einem Sack gleichen, also wäre Möglichkeit Nummer Zwei vermutlich sinniger.

Ich kappte einige Bilder zur Seite und sah mir die Motive an, aber eine Jacke sah ich leider nicht.

Auch im zweiten Stapel, der an der Wand zum vorderen Raum gelehnt stand, fand ich nichts Passendes. Was ein Wunder, immerhin waren Jacken nicht unbedingt Bestandteil eines Gemäldes. Aber vielleicht würde es doch eine geben, vielleicht als Hintergrund eines Zimmers, oder auf der Lehne eines Stuhles.

Und wenn es tatsächlich keine gab, dann vielleicht doch eine Decke? Wenigstens eine Wolldecke, die mir die Illusion gab, dass ich nicht so wahnsinnig nackt war?

 

Auch in Stapel Nummer drei war nichts zu sehen, aber eins der Bilder zog meine Aufmerksamkeit auf sich.

Ein Mann im dunklen Anzug saß auf einem Bett, neben ihm eine Frau in einem hellblauen Ballkleid. Das Kleid, mit einem überdimensionalen Reifrock, verdeckte praktisch die Hälfte des Bettes, und sofort fühlte ich mich an eine Disney-Prinzessin erinnert.

Die Frau lag auf den Kissen und hatte das Gesicht in ihren Armen vergraben, als würde sie weinen.

Auch der Mann sah resigniert aus, als hätten sie einen unnötigen und sinnlosen Streit gehabt. Sofort fühlte ich mich an Leonard und mich erinnert, und ich stellte die restlichen Bilder zur Seite.

Die wunderschöne Frau weinte, da war ich mir nun sicher, denn in der Hand hielt sie ein zartes weißes Taschentuch. Fast glaubte ich, ihren Körper unter den Tränen vibrieren zu sehen, aber natürlich war das nicht der Fall.

Trotzdem wirkte die Situation erschütternd echt und real, auch wenn die Pinselstriche das Gesicht des Mannes kaum erahnen ließen.

Zwei gesichtslose Personen, in einer äußerst intimen Situation, die normalerweise keine Zuschauer würde haben wollen.

Was war dort passiert? Warum hatten sie gestritten, und warum sah der Mann so mitgenommen aus? Fast wirkte es, als hätte er aufgegeben und als wüsste er keinen Ausweg aus der Situation mehr.

Im Gegensatz zu den meisten Gemälden, die ich in den letzten Tagen gesehen hatte, wirkte dieses eher wie eine Studie. Perfekte Momentaufnahme einer Ehe oder Beziehung, an dem Punkt, an dem alles zum Scheitern verurteilt war.

Jeder, selbst ich, hatte genau diesen Moment schon einmal erlebt.

Der, in dem einem klar wurde, dass alles Kämpfen und Rudern nichts mehr nützen würde, und an dem sich beide Parteien eingestehen mussten, dass sie versagt hatten.

Die Ratlosigkeit, wenn man sich darüber klar wurde, dass man alles versucht hatte, ohne damit Erfolg zu haben.

Aber warum hatte Leonard gerade diese Situation gemalt? Dass es sich um eine Kopie eines anderen Malers handelte, da war ich mir sicher. Weder das Kleid noch der Raum, in dem all das passierte, passte zu Leonard.

Alles schien hundert Jahre vor unserer Zeit zu sein, vielleicht in der Mitte des letzten Jahrhunderts, und auch die Einrichtung sah eher barock aus.

Warum also das? Warum malte er eine so traurige Situation, und nicht stattdessen etwas Fröhliches?

Und was hatte sich der Maler dabei gedacht, eine so intime Situation zu malen?

Niemand würde sich doch eine so deprimierende Szene an die Wand hängen, die einen so sehr an das Scheitern erinnerte?

Ich sah mich nach Leonard um, der immer noch nicht zu mir zurückgekehrt war, und beschloss ihn zu suchen.

Ich würde ihn fragen, das hier musste ich unbedingt wissen, und sicherlich würde er die Antwort wissen.

 

Leo fand ich erst nach mehr als zwanzig Minuten Sucherei. Er saß bewegungslos an dem Strand einer trostlosen Steinküste, und beim ersten Anblick des Bildes hatte ich ihn übersehen.

Das Grau seines Anzugs war mit den Steinen verschmolzen, und vor lauter Aufregung hatte ich ihn einfach nicht gesehen.

Alles war in dunklen Farben gehalten, und auch die See schien unruhig. Dunkle Wolken auf einem noch dunkleren Himmel, dunkle Steine, die alles andere als einladend aussahen. Hatte er die ganze Nacht dort gesessen?

Vorstellen konnte ich es mir kaum, auch wenn seine Stimmung vermutlich kaum anders aussah.

Fast schien es, als würde ein Sturm aufziehen, und ich befürchtete, dass Leo einfach unter einer der weißen Wellen verschwinden würde. Auch wenn sie sich nicht bewegten, so schienen sie gefährlich, und tatsächlich empfand ich Sorge bei seinem Anblick.

Er hockte, die Beine dicht an den Körper gezogen, am Strand, und schien sich der Gefahr nicht bewusst, obwohl die Wellen nur knapp vor ihm zum stehen gekommen waren.

Alle Bilder, die wir oder auch nur ich besucht hatten, waren in Bewegung gewesen. Obwohl die Gemälde still gewesen waren, hatten sie Dynamik gehabt, sobald wir in ihnen waren. Warum also verschlang die Welle ihn nicht?

Erklären konnte ich es mir nicht, aber ich war mir sicher, dass er dort nicht sein sollte.

Sofort legte ich den Finger auf das Gemälde, um zu ihm zu gelangen, aber bevor ich die Augen schloss, wurde mir klar, wie dämlich das war.

Nach allem was passiert war, war ich im Begriff ihm Löcher in dem Bauch zu fragen. Ich wollte zu ihm, nicht nur um ihn von der Welle zu schützen, sondern vor allem, um ihn nach dem Paar auf dem anderen Bild zu fragen.

Ohne mit ihm über gestern Abend zu sprechen, und ohne eine Erklärung für mein Verhalten abzugeben.

Aber würde es nicht einfach sein, wenn ich ihn nach dem Bild fragte? Immerhin schien auch das Paar auf dem Bild Probleme zu haben, und vielleicht würde ich über diesen Dreh auch einen Weg finden?

Ich schloss die Augen und sofort spürte ich eisig kalten Wind. Schneidend und alles andere als angenehm drang er durch mein Shirt und nur Sekunden später fühlten sich meine noch immer nassen Haare an wie Eisklötze.

Die Feuchtigkeit drang durch meine Glieder, und ich traute mich kaum mich zu bewegen, weil der Wind einfach so stark war. Würde er mich mit sich reißen, wenn ich auch nur eine falsche Bewegung machte?

Wie lange hatte er hier ausgehalten?

„Leo? Was machst du hier?“

Ich schlang die Arme um meinen zitternden Körper, aber es brachte praktisch nichts.

Die Kälte hüllte mich ein, der Sturm schien von Sekunde zu Sekunde stärker zu werden, und mein Blick fiel auf die Welle, die unerlässlich gegen eine unsichtbare Wand aus Glas zu klatschen schien. Sie erreichte nie den Strand, und nahm stattdessen neuen Anlauf, nur um dann erneut an der Wand zurückzuprallen.

Weiße Gischt und dunkles Wasser, und irgendwo vor mir, der Mann, der all das geschaffen hatte.

„Nachdenken. Die Frage ist wohl eher, was machst du hier?“

Er sah sich nicht um, und ich ahnte, dass ich ihn doch mehr verletzt hatte, als ich es mir vorgemacht hatte. Insgeheim hatte ich gehofft, er würde auch auf diesen Streit so reagieren, wie auf die davor. Dass ich das nicht erwarten konnte, war allerdings klar.

Er war mir entgegen gekommen, ich hatte ihn vor den Kopf gestoßen, und wenn er aktuell tatsächlich etwas für mich empfand, dann würde es wirklich wehtun.

Auch wenn es nur eine Einbildung war, weil er es sich einfach so dringend wünschte, würde es wehtun.

„Ich hab dich gesucht.“

Sofort wurde mir klar, dass wie genau dieses Gespräch mit dem gleichen Wortlaut schon einmal geführt hatten. Die Frage, was der andere genau in diesem Gemälde machte, mit der Gegenfrage, was denn der andere dort zu suchen hätte.

„Das ist dämlich, wirklich. Es geht mich nichts, an was du hier machst.“

Ich strich mir die feinen Strähnen aus dem Gesicht, die der Wind aus dem provisorischen Dutt gezogen hatte. Sicher würde ich aussehen wie eine mittlere Katastrophe, aber auch dass würde keinen Unterschied mehr machen.

„Tut es nicht, aber ich werd es dir trotzdem sagen. Ich muss nachdenken, weil ich einfach nicht verstehe, was da gestern Abend passiert ist. Wieso hast du so reagiert? Ich hatte nicht den Eindruck, als würdest du mich so sehr hassen, oder als wäre da absolut nichts zwischen uns. Was also ist der Grund?“

Ja, was war denn der Grund? Mal abgesehen von meiner Angst, zu scheitern?

Warum hatte ich es nicht annehmen können, und mich darüber freuen können?

„Ich glaube nicht, dass du und ich zusammen passen. Das ist der Grund. Es tut mir auch leid, dass ich dir gesagt habe, wir wären keine Freunde. Das war nicht fair. Aber ich brauche einfach länger für so etwas, und das hat nichts mit dir zu tun.“

Der Kopf wand sich zu mir und erneut klatschte eine wütende Welle gegen die unsichtbare Wand. Fast als wollte sie mich bestrafen, mir angst machen, und mich daran erinnern, dass es stärkere Gegner, als mich selbst gab. Länger zu brauchen, das war die Lüge meines Lebens, denn „länger“ würde in meinem Fall wohl ewig heißen.

„Glaubst du? Weißt du es denn sicher, dass wir nicht zusammen passen?“

„Nein, natürlich nicht. Aber ich glaub es einfach nicht, dass es funktionieren könnte.“

Er nickte, auch wenn sein Gesicht nicht aussah, als würde er mich verstehen. Verübeln konnte ich es ihm nicht, immerhin verstand ich es ja selbst nicht. Das meine Angst vor Verletzung größer war, als meine Angst ihn zu verlieren, ergab keinen Sinn.

„In Ordnung. Wenn du das glaubst, dann muss ich es wohl auch glauben. Aber wie geht es jetzt weiter?“

Meine Schuhe glitten über den dunklen Sand und ich suchte nach einer halbwegs plausiblen Antwort. So zu tun, als wäre nichts von all dem passiert, würde wohl kaum funktionieren. Darüber zu sprechen wohl auch nicht, denn ich würde einfach keine Argumente haben.

„Ich weiß es nicht, und ich hab keine Antwort drauf. Aber ich habe eine Frage an dich, und ich hoffe, du kannst sie beantworten.“

Er hob eine Augenbraue, und ich sah, wie sich sein Gesicht entspannte.

„Die da wäre?“

Er rappelte sich auf und kopfte sich den Sand von der Hose, wären ich nun endgültig glaubte, die Kälte würde mich zum Eisblock erstarren lassen. Wie nur hielt er das aus, ohne dabei zu erfrieren?

„Ich hab ein Bild gesehen, ein ganz trauriges, und ich hab gehofft, du würdest mir was dazu sagen können.“

Leo schien überrascht, aber nicht abgeneigt, und als sei er ebenso froh wie ich, nicht weiter über uns zu sprechen.

„In Ordnung. Zeig es mir.“

 

Obwohl dort kein Wind mehr wahr, fühlte ich ihn noch immer, und das Zittern hörte einfach nicht auf.

„Mein Gott, du zitterst ja wie Espenlaub.“

Er strich mit der Hand über meinen von Gänsehaut überzogenen Arm, und zog dann sein Jackett aus, um es mir über die Schultern zu hängen.

„Dort war Sturm! Wie hasst du es dort nur so lange aushalten können?“

Es war mir ein Rätsel, wie er dort hatte ausharren können, obwohl ich schon nach wenigen Minuten völlig durchgefroren gewesen war.

„Ich hatte immerhin eine Jacke, aber du mit dem dünnen T-Shirt...“

Wieder erinnerte ich mich an den innigen Wunsch nach einer dämlichen Strickjacke. Farbe egal, Material egal, Hauptsache Jacke.

„Ich wünsche mir so sehr eine Jacke! Ich würde wirklich alles für eine Strickjacke tun, das kannst du mir glauben.“

Das Jackett roch nach einer merkwürdigen Mischung aus Mann und Meer, und ich zog es enger um mich. Wie genau er roch, das hatte ich nie wahrgenommen. Obwohl er mir nah gekommen war, hatte ich seinen Geruch nicht wirklich bemerkt. Doch jetzt, mit seiner Jacke, kam er mir bekannt vor. Als würde ich mich an etwas erinnern, an das es eigentlich keine Erinnerung geben konnte.

Unauffällig zog ich den Kragen näher an meine Nase und sog den Duft ein. Ja, diesen Duft kannte ich, irgendwo in meinem Innersten war da Wiedererkennen, und es gab keine Zweifel daran.

Hatte irgendeiner der Männer in meinem Leben, vielleicht das gleiche After-Shave benutzt?

„Schwierig. Aber ich kann dir eine malen, für die Nächte?“

Was zur Hölle war mein Problem? Was stimmte nicht mit mir, dass ich einfach nicht erkannte, wie supertoll dieser Mann war?

Mein Unterbewusstsein schien mich zu schütteln, als wolle es mich endlich zur Vernunft bringen, und als sei mir wirklich nur doch mit dem Holzhammer zu helfen.

Er bot mir Hilfe an, obwohl ich nicht so wirklich danach gefragt hatte, und ich misstraute ihm immer noch? Warum? Was für einen Grund gab es für mein Verhalten?

„Das wäre wirklich schön, danke.“

Kleinlaut schlug ich den Kragen des Jacketts nach oben und schämte mich insgeheim in Grund und Boden. Hier war alles, was ich mir je gewünscht hatte, und ich ließ es einfach nicht zu.

„Also, um welches Bild handelt es sich?“

Er sah sich um, und ich zeigte auf das Bild. Noch immer hatte sich an Szene nichts verändert, wie den auch, aber trotzdem kam sie mir nun noch bedrückender vor.

„Henri Gervex?“

Leo trat näher an das Bild, als müsste er sich die Szene ins Gedächtnis rufen, und ich tat es ihm gleich.

„Was ist mit dem beiden?“

Er zuckte mit den Schultern und sah mich an, als würde auch er die Antwort nicht kennen.

„Was soll sein? Vermutlich haben sie Streit, wie es eben manchmal so ist. Das Bild heißt „Rückkehr vom Ball“, aber frag mich nicht, was auf dem Ball passiert ist. Es ist eben eine Szene, aber ich weiß auch nichts Genaues darüber.“

Verdammt. Wenn auch er es nicht wusste, dann musste ich dumm sterben.

Dieser Gedanke war jetzt schon unerträglich, und vermutlich würde ich auch in Wochen noch darüber nachdenken, was das eigentliche Problem der beiden sein könnte.

Wenn das Kunst war, wenn das hier das war, was sie tat, dann konnte sie einen vermutlich um den Verstand bringen. All die vielen Fragen ohne Antwort, all die Dinge, die nie jemand erfahren würde.

„Was glaubst du, was das dort ist? Meinst du, es ist das Ende einer Beziehung?“

„Vielleicht. Aber vielleicht ist es auch nur eine Etappe. Sieh ihn die an, er wirkt geknickt, es tut ihm leid. Sie weint, das tut ihm offenbar auch leid, vielleicht entschuldigt er sich, und dann ist alles wieder gut.“

Wie auch schon bei Degas Ballerina, unterschied sich seine Einschätzung komplett von meiner. Während ich das Ende einer Beziehung gesehen hatte, sah er eine Epoche von vielen. Einen Streit, ein paar Tränen, aber noch immer eine Chance.

„Warst du dort?“

„Ja, ich war dort.“

„Was haben sie gesagt? Hast du gehört worüber sie gestritten haben?“

„Nein, sie schweigen. Er sitzt still da, und sie schnieft in das Kissen, erschüttert vom Zittern. Deshalb weiß ich ja auch nicht, warum die Situation so ist, wie sie eben ist.“

„Und wieso bist du dir dann so sicher, dass es nicht das Ende ist?“

Ich strich über die raue Leinwand, peinlich darauf bedacht die Augen nicht zu schließen. Dorthin würde ich nicht wollen, wenn man ihnen schon nicht helfen konnte, dann würde ich sie auch nicht stören. Ich selbst hätte die Anwesenheit anderer in so einer Situation als schlimm empfunden, und wollte einfach nicht stören.

Dramen wie diese machte man unter sich aus, man brauchte keine Zaungäste dafür, und auch ich hätte es als wirklich unangenehm empfunden, wenn jemand mich bei all dem beobachtet hätte.

„Warum sollte es? Sie ihn dir an, er ist alt. Ihr Gesicht sieht man nicht, aber vielleicht sind sie schon Jahre verheiratet. Man streitet, man verträgt sich, man verletzt sich, man vergibt sich. Es gibt keinen Grund, zu glauben, es sei hier anders. Das Bild stammt aus einer Serie, es gibt auch eins wo die Frau sich für diesen Ball zurecht macht. Sie steht vor dem Spiegel und betrachtet sich, vielleicht hat sie erwartet, er würde sie sehr viel mehr bewundern. Du weißt doch, wie das ist. Man hat Erwartungen, die nicht erfüllt werden, und dann ist die Enttäuschung lähmend schmerzhaft. Vielleicht hat er aber auch auf dem Ball mit einer anderen Frau getanzt, oder irgendetwas anderes getan, was ihm nun leidtut. Aber wenn irgendwas davon, Grund genug für eine Trennung wäre, dann würde niemand zwanzig Jahre oder länger verheiratet sein. Und wer weiß, vielleicht hat sie auch zu viel getrunken, und hat deshalb einen emotionalen Ausbruch.“

Ja, konnte alles sein. Auch wenn ich keine dieser Möglichkeiten in Betracht gezogen hatte.

Auch seine Ansicht zu Ehe und Beziehung war mir fremd, auch wenn er sicher damit richtig lag. Man stritt sich, manchmal wegen dummer Kleinigkeiten, aber die eigentliche Aufgabe in einer Ehe war, sich zu verzeihen.

Dinge zu verzeihen, die einen verletzten, und darüber hinwegzukommen.

So wie wir beide über gestern Abend hinweg kommen mussten.

„Du hast recht, ich denke, mir gefällt deine Version besser als meine. Sie wird ihm verzeihen, da bin ich mir sicher.“

Ich blickte ihn an und hoffte inständig, er würde die Worte hinter meinen Worten verstehen.

Eine bessere Entschuldigung würde ich wohl kaum hinbekommen, und tatsächlich gehörte er auch zu den ganz wenigen Männern in meinem Leben, denen ich bereits mehr als einmal entgegengekommen war.

Mein früheres Ich hätte das nicht getan, ich wäre geflüchtet und einfach nicht mehr zurückgekehrt, aber bei ihm hatte ich es getan.

Vielleicht veränderte ich mich doch, auch wenn es nur winzige Schritte waren, und vielleicht war er der Grund dafür.

Weil es sich das erste Mal wirklich lohnte, weil ich jetzt schon sah, dass es mir nicht schadete, und weil es mit jedem Mal einen Hauch leichter wurde.

 

 

  1. Kapitel 17:

Das Geräusch erschreckte mich zu Tode. Wenn ich es nicht ohnehin schon gewesen wäre, dann wäre genau jetzt der Zeitpunkt gewesen.

Ich hörte das Klacken der Ladentür, gefolgt von Schritten, und sofort hörte mein Herz auf zu schlagen.

Bewegungslos und panisch sah ich Leo an, der weder sonderlich aufgeregt noch panisch wirkte, und trotzdem glaubte ich, auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen.

„Das ist Bertram, er kommt deinen Brief abholen.“

Leo drehte sich zu dem alten Mann, der nun unerträglich langsam in unsere Richtung schlurfte. Untermalt von dem merkwürdigen Geräusch, was sein Gehstock bei jedem Schritt verursachte, wirkte es für mich vollem eins: beängstigend.

Den Brief hatte ich eigentlich schon fast vergessen, mal ganz abgesehen davon, dass mir seine Wichtigkeit so völlig abhandengekommen war. Warum noch gleich wollte ich unbedingt Kontakt aufnehmen?

Jetzt, nach allem was ich erlebt hatte, kam mir das alles vollkommen überflüssig und lächerlich vor. Das dämliche Wägelchen, meine Nachfolgerin, die Nachricht an Alex. All das war doch eigentlich völlig unnötig, und in Gefahr konnte es uns und diesen Ort ebenfalls bringen.

Der alte Mann sah sich um, aber uns sah er nicht, und mein Blick fiel auf die unfassbar vielen Falten, die fast wie eine ausgedörrte Wüste wirkten.

Sicher war er achtzig, vielleicht auch älter, und die trüben Augen sahen müde aus. Als hätte er genug von allem, vor allem von der Welt an sich, und als wartete er eigentlich nur noch darauf, dass auch er endlich vor all dem Trubel fliehen konnte.

„Wo ist er? Wo hast du ihn hingelegt?“

Ich sah mich um, aber den Brief sah ich nicht. Seitdem ich ihn geschrieben hatte, war mir der Brief nicht mehr begegnet, und vermutlich hatte ich ihn auch deshalb bereits völlig aus meinen Gedanken gelöscht.

„Auf dem Tisch im vorderen Raum. Normalerweise setzt er sich nach einer Weile, das Laufen fällt ihm schwer. Ich dachte, er findet ihn dort am ehesten.“

Auch Leonard klang lange nicht mehr so überzeugt von dem Plan wie zu Anfang, und mir schwante, dass auch er sich vor der Reaktion des Mannes fürchtete.

Bilder, die aus dem Nichts gemalt wurden, waren sicher schon merkwürdig genug, aber wenn nun noch ein Brief auftauchte, von einer unbekannten Frau, dann würde vermutlich auch Bertram endgültig an seinem Verstand zweifeln.

Ich bewegte mich, aber nur ein bisschen, und auch nur, weil ich sonst nicht mehr sehen konnte, was um mich herum geschah. Wie in Zeitlupe klappte Bertram ein paar Bilder um, schien jedoch nichts Unbekanntes zu entdecken.

„Ich glaube, ich will das nicht. Er soll den Brief nicht finden.“

Nein, ich wollte es nicht. Um so mehr ich darüber nachdachte, um so sicherer war ich mir. Niemand sollte ihn lesen, und auch ich fand nun, dass Kontakt aufnehmen einfach nicht richtig war. Was sollte es auch bringen? Alex zu sagen, dass er ein unfassbar guter Arzt war, war total und völlig überflüssig. Jemand der lebte, sollte ihm das sagen, und nicht ich. Auch das Wägelchen war unnötig, immerhin hing keinesfalls irgendein Leben davon ab, und ein Neues würde nicht mal viel kosten.

Dass irgendwer sich an mich erinnerte, das schien mir jetzt sinnlos. Menschen sollten sich an Tote erinnern, weil sie selbst darauf kamen, weil sie vermissten, oder sich erinnerten, aber nicht, weil man sie dazu zwang.

Wenn Alex sich an mich nicht jetzt erinnerte, dann würde auch eine Nachricht aus dem Jenseits nichts ändern. Auch wenn er sich vielleicht erinnerte, für einen kurzen Moment, so würde es doch nicht von Dauer sein. Ebenso, wie Grete sich an mich erinnern sollte, weil ich eine tolle Mitarbeiterin war, und nicht, weil ich bescheuertes Plastikwägelchen hinterließ.

„Nicht? Aber es war dir doch so wichtig?“

„Ich weiß, aber das war eine Schnapsidee. Du hast recht, wir haben in der Welt der Lebenden nichts zu suchen.“

Ich schritt rückwärts, mit dem Gesicht Richtung Hinterzimmer, durch die Türe in den Vorraum, und achtete peinlich darauf, nichts zu berühren. Wenn jetzt etwas umfiel, oder irgendeine sichtbare Bewegung stattfand, dann würde Bertram sicher misstrauisch werden.

Dieser sah sich noch immer um, und räumte eine Reihe kleiner Tuben aus seiner Jackentasche auf den Tisch vor einer Staffelei.

Das wüste Chaos darauf schien ihn nicht zu beunruhigen, und anscheinend kannte er es nicht anders.

Nie hatte ich darüber nachgedacht, wie hier für Nachschub gesorgt wurde, aber irgendwo her musste er ja kommen. Dieser alte Mann legte seit fünfzig Jahren Tuben auch den Tisch, obwohl er nicht wusste, wer diese benutzte.

Auch wenn er eine Ahnung hatte, so war die Tatsache an sich schon absurd. Wer glaubte schon an Geister? Und selbst wenn er es tat, warum hatte er nicht irgendwann einfach damit aufgehört? Warum hatte er nicht aufgegeben, sein Leben weiter gelebt, und diesen Ort und all das hinter sich gelassen?

Ich schlich weiter und drehte mich um, als er aus dem Sichtfeld des Türrahmens verschwand, nur um dann sofort hastig nach dem Brief zu greifen. Niemand, absolut niemand würde diesen Brief benötigen, und ich würde ihn verschwinden lassen.

Ich schob das zusammengefaltete Stück Papier unter das Sofa und atmete auf. Dort würde er nicht suchen, schon gar nicht in seiner gebrechlichen Verfassung, und bei der nächsten Gelegenheit würde ich ihn verbrennen.

Es war meine Schuld, dass niemand sich an mich erinnerte. Ich war nicht kommunikativ gewesen, hatte meine winzige Insel alleine erschaffen und mich nie bemüht, Teil eines Ganzen zu sein. Das hatte ich nun davon, und auch wenn ich es jetzt bereute, ändern würde ich es nicht mehr können.

Wenn ich echte Freunde gehabt hätte, mich bemüht hätte um andere Menschen, dann wäre all das nicht nötig gewesen. Da ich es nicht getan hatte, musste ich eben auch im Tod damit umgehen.

Im Leben unsichtbar, genauso wie im Tod. Irgendwie passte es ja zusammen.

 

Leonard stand noch immer neben Bertram und sah zu, wie dieser die Farben der Tuben sortierte. Die Hellen nach rechts, die dunklen nach links.

„So hab ich es immer gemocht, wenn ich gleich wusste, wo etwas liegt.“

„Tut er das immer? Dir alles parat legen, damit du arbeiten kannst?“

„Ja, immer schon. Als ich noch gelebt habe, hat er gesagt, es sei sein Part bei all dem. Obwohl das untertrieben ist, denn immerhin hat er die Bilder verkauft. Ich selbst bin überhaupt kein Verkäufer, ich konnte das einfach nicht. Aber Bertram, der war sehr gut darin.“

„Ich versteh das einfach nicht, dass er das noch immer tut, nach all den Jahren.“

Es ging mir einfach nicht in den Kopf, dass Bertram ihn nie vergessen hatte. Obwohl Jahrzehnte zwischen Leonards Tod und dem Jetzt lagen, tat Bertram noch immer alles, was nötig war, um Leo glücklich zu machen.

„Wir waren Freunde, vielleicht sogar mehr als das. Wir kannten uns, vertrauten uns, und ich weiß, dass mein Tod für ihn schrecklich war. Vielleicht deshalb, aber ich weiß es nicht.“

„Du musst ein wirklich guter Mensch gewesen sein.“

Tatsächlich glaubte ich das, denn nur ein sehr guter Mensch, würde jemandem so lange im Gedächtnis bleiben. Jemand, der einen so beeindruckte, so nahe stand, dass man ihn auch nach so langer Zeit einfach nicht vergaß.

„Das glaube ich nicht. Ich habe Fehler, wie alle Menschen. Aber ich hab immer versucht, die Dinge gut über die Bühne zu bringen und keinen Schaden zu hinterlassen. Und es war mir wichtig, den Menschen, die mir wichtig waren, auch zu sagen, wie wichtig sie sind.“

Also doch ein guter Mensch. Im Gegensatz zu mir. Ich hatte, soweit ich mich erinnern konnte, nie etwas Ähnliches gesagt. Das erste Mal, das ich überhaupt auf die Idee gekommen war, war bei Alex gewesen. Und da war es eigentlich schon zu spät dazu.

Ich hatte Kati nie gesagt, wie froh ich war, sie zu haben, und ich hatte auch sonst keinem Menschen je gedankt. Nicht mal dem Paketboten, wenn er ein Päckchen zu mir in den dritten Stock geschleift hatte.

Mehr und mehr wurde mir bewusst, was für ein garstiger Mensch ich eigentlich war, und wie wenig ich richtig gemacht hatte. Menschen waren immer meine Feinde gewesen, selbst dann, wenn sie sich gar nichts zu Schulden hatten kommen lassen.

„Ich habe, wenn ich das mal so sagen darf, in meinem Leben wohl alles falsch gemacht.“

Es fühlte sich schlecht an, wirklich schlecht. Wie hatte ich nur glauben können, dass mein Leben irgendeinen Sinn gehabt hatte? Wo ich doch auf meiner einsamen Insel so engstirnig und selbgewählt einsam gewesen war?

„Ach komm, so schlimm wird es kaum gewesen sein. Kein Mensch ist perfekt, und deine Freundin schien sehr traurig über deinen Tod.“

Ja, war sie wohl. Aber trotzdem blieb sie zurück, ohne zu wissen, dass es auch mir leidtat. Sie würde nie erfahren, dass ich sie meine einzige vielleicht wirkliche Freundin gewesen war, und dass ich ihr mehr vertraut hatte, als irgendjemand anderem. Auch wenn es nicht viel gewesen war, was ich ihr anvertraut hatte, so war es doch mehr als jedem anderen. Und auch wenn wir ausgingen, und so getan hatten, als seien unsere Leben nicht so wahnsinnig trostlos und eintönig, war ich ihr dankbar gewesen.

Dafür, dass sie keine unangenehmen Fragen stellte, dass sich mich ablenkte, und einfach nur da war.

Nichts davon hatte ich ihr je gesagt, und jetzt würde sie auf ewig denken, nur sie seine meine Freundin gewesen, und ich niemals ihre.

„Ich hätte anders leben sollen, wirklich. Hast du das nie gedacht?“

Er zuckte überrascht mit den Schultern, als sei die Frage ungewöhnlich und als verstände er sie eigentlich nicht.

„Nein, eigentlich nicht.“

„Nicht mal ein bisschen? Nicht irgendetwas, was du jetzt bereust?“

Er schien nachzudenken, während wir noch immer auf die unnatürlich langsamen Handbewegungen des alten Mannes sahen. Jede Bewegung schien ihn anzustrengen, und manchmal schien ich ein leises Keuchen zu hören.

„Vielleicht eine Sache, aber nicht zu Lebzeiten. Manchmal bereue ich, dass ich nicht nach Maria gesehen habe.“

„Maria? Deine Frau? Aber du hast doch gesagt, es sei besser so?“

„Ist es, ganz sicher. Aber ich frage mich manchmal, was aus ihr geworden ist. Ob ihr Leben gut verlaufen ist, ob sie bekommen hat, was sie sich gewünscht hat.“

„Warum suchst du sie nicht?“

Für mich klang das schlüssig, zumindest der Teil, bei dem er wissen wollte, was mit ihr passiert war. Aber ebenso schlüssig schien mir die Entscheidung dagegen, schließlich hatte ich mich ebenso dagegen entschieden.

Ob man sich dann wirklich besser fühlen würde, konnte ich nicht wirklich wissen. Vielleicht tat es weh, wenn man sah, dass die große Liebe eine neue gefunden hatte.

Auch wenn man es sich wünschte, würde es vielleicht schmerzen, und insgeheim war ich auch der Meinung, man traf die ganz große Liebe nur ein einziges Mal.

Was also, wenn er feststellen würde, dass er sie nicht gewesen war?

Was, wenn Maria einen Mann gefunden hatte, den sie sehr viel mehr geliebt hatte?

„Die Jahre vergingen, und immer wieder hab ich mich damit herumgeschlagen. Aber jetzt ist es zu spät, ich weiß nicht mal, ob sie noch lebt.“

„Aber vielleicht tut sie es.“

Er schüttelte den Kopf, als könne er den Gedanken daran einfach abschütteln, und ich legte meine Hand auf seinen Arm, weil er mir einfach so leidtat.

„Nein, das ist nicht richtig. Und überhaupt: Was ist, wenn ihr Leben nicht so verlaufen ist, wie ich es mir für sie gewünscht habe? Was, wenn es ihr nicht gut geht?“

Es war wie mit den Bildern. Bilder waren voller Möglichkeiten, voller Interpretation. Ein Bild konnte alles sein, was der Mensch, der es ansah, darin sehen wollte. Die Realität hingegen war anders, sehr viel schmerzvoller und bodenständiger.

Leonard lebte lieber mit der Vorstellung ihres Lebens, als sich diese Illusion von der Realität nehmen zu lassen.

So lange er sie nicht kannte, konnte er das Bild ihres Lebens malen, wie er es wollte, mit all den vielen Facetten, die ein Leben eben würde haben können.

Ich verstand es irgendwie, und vielleicht hätte ich an seiner Stelle ähnlich gehandelt.

 

Der alte Mann beendete sein Werk, für das sowohl Leon als auch ich, vermutlich nur wenige Minuten gebraucht hätten. Irgendwie machte es den Eindruck, als würde er es mutwillig in die Länge ziehen, nur um noch ein wenig länger zu bleiben. Auch wenn es eigentlich keinen Sinn machte.

Er ging einige Schritte auf uns zu, und fast glaubte ich, er würde uns berühren, aber stattdessen holte er nur tief Luft.

Das Geräusch hallte in der Stille wieder, und ich sah in den matten Augen, dass auch er mit einem Bild in sich lebte. Für ihn war Leo noch hier, zumindest ein Teil von ihm, und es schien ihn zu trösten.

„Warum hast du nie versucht, ihn zu berühren? Ich versteh das einfach nicht.“

„Was soll das bringen?“

„Tu es einfach. Mir zuliebe. Fass ihn an.“

Ich ließ meine Hand an Leos Arm hinab gleiten zu seiner Hand, und führte diese in Richtung der des Mannes.

Kurz spürte ich Widerstand, aber nicht stark, und schon bald berührte seine Hand die von Bertram.

Sofort zuckte dieser zusammen, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen, und ich fühlte das Zittern in der Hand unter meiner.

„Siehst du, er fühlt dich.“

Fasziniert sah ich zu, wie Leonard die Hand fester um die des alten Mannes legte, und wie dieser den Händedruck erwiderte, als stände ein lebendiger, echter Mensch vor ihm.

„Er fühlt es!“

Leonard klang aufgeregt, zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, und ich sah, wie die Augen des alten Mannes sich mit Tränen füllten.

„Du bist noch hier, mein Freund. Es ist so schön, du bist noch hier.“

Die Stimme klang tief und gebrechlich, aber trotzdem entstand Gänsehaut auf meinen Armen. Er sprach mit uns, oder zumindest mit Leonard, und er schien bei weitem nicht so erschrocken, wie ich es vielleicht erwartet hatte. Es klang wie Erlösung, als hätte man ihm eine schwere Last von den Schultern genommen, und ich fühlte, wie auch ich begann zu zittern.

Ich hatte das getan, ich hatte das hier verursacht, und vermutlich war das die größte Leistung meines nicht mehr vorhandenen Lebens. Vielleicht irrten wir uns beide, vielleicht bedeutete Kontakt nicht nur Trauer und Schmerz, vielleicht konnte es auch ganz anders sein. Was ich hier gerade sah, war keine Trauer, jedenfalls keine negative, sondern echte Erleichterung.

„Ich hab gewusst, dass du hier bist. Aber warum hast du so lange damit gewartet? Warum hast du es mich nicht schon viel früher auf diese Art wissen lassen?“

Das Zittern unter meiner Hand wurde stärker, und als ich aufblickte, sah ich auch in Leonard Augen Tränen. Fünfzig Jahre, und erst jetzt die Erlösung.

„Ich möchte ihm Antworten, aber ich kann doch nicht.“

„Musst du nicht, ich glaube er weiß, dass du das nicht kannst. Drück fester, dann weiß er, dass es dir leidtut.“

Ich ließ die beiden Hände los und schlang die Arme um meinen Körper, weil auch mich das alles mitnahm. Eine so banale Berührung, die doch so einen großen Unterschied machte.

„Leo, ich bin alt, und ich weiß nicht, wie lange ich noch hier sein werde. Wenn ich irgendwann nicht mehr komme, dann nicht, weil ich dich vergessen habe. Ich hoffe, du findest dann deinen Frieden.“

Der Mann legte auch seine zweite Hand auf die verschlungenen Hände, und ich sah, wie Leonard nickte.

„Ich weiß, mein Freund, ich weiß.“

Schlagartig wurde mir klar, dass wir uns in einer Sanduhr befanden, dessen Sand sich dem Ende neigte. Die Zeit, die wir noch hier verbringen konnten, war kurz, vielleicht kürzer als ich es gedacht hatte, und schon sehr bald würde Leonard diesen Ort und sein Zuhause verlieren.

Wenn Bertram starb, würde auch der Laden nicht mehr existieren, und auch die Bilder, würden sich vermutlich in alle Winde verstreuen.

Obwohl ich um diesen Umstand gewusst hatte, so war er in meinen Gedanken doch sehr weit weg gewesen. Wie knapp die Zeit tatsächlich bemessen sein würde, hatte ich nicht mal geahnt.

„Was tun wir, wenn Bertram nicht mehr da ist?“

Panik stieg in mir auf, denn ich konnte mir nicht vorstellen, was aus uns dann werden sollte. Auch wenn wir nur über wenige Tage hier sprachen, so war das hier auch mein Zuhause. Das Einzige was ich hatte, und auch das Einzige, was ich kannte.

„Ich weiß es nicht. Ich verdränge den Gedanken, aber mit ist klar, dass dieser Tag kommen wird.“

Leonard ließ die Hand vor sich los, und der alte Mann sah auf seine Hände. Als hätte er sich geirrt, sich all das vielleicht nur eingebildet, und als würde er nun selbst daran zweifeln.

„Du hast gesagt, es gibt andere Orte wie diesen? Welche?“

Mein Blick folgte Bertram, der nun nach seinem Gehstock griff und langsam in Richtung Ausgang schlurfte, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Sekunden später hörte ich das allzubekannte Klacken, und sofort entspannte ich mich. Obwohl die Begegnung nicht unangenehm gewesen war, so hatte sie mich doch völlig aus dem Konzept gebracht.

„Es sind unterschiedliche Orte. Kirchen oder Museen, manchmal auch ganz normale Wohnhäuser. Ich weiß nicht, was genau einen Ort zu einem wie diesem macht, aber ich vermute, es hat etwas mit den Menschen zu tun, die dort gewohnt haben. Vielleicht ist es eine besondere Verbindung, die den Ort verwandelt, oder aber auch etwas anderes.“

„Können wir denn dann einfach dorthin? Wenn es auch nicht unser Ort ist?“

„Sicher. Aber es ist das Zuhause von jemand anderem, und es wird nicht das Gleiche sein.“

Auf ewig darauf verbannt, der Besuch von jemandem zu sein. So hörte sich das für mich an. Nicht unser Ort, nicht unsere Heimat, und wir nur geduldete Gäste.

Einladend klang das nicht, schon gar nicht für den Rest meiner Ewigkeit, und ich überlegte krampfhaft, ob es nicht doch einen anderen Ausweg geben könnte.

„Gibt es denn niemanden, der diesen Laden hier übernehmen könnte?“

Ratlos zuckte Leonard mit den Schultern, nur um dann verneinend mit dem Kopf zu schütteln.

„Nein, ich glaube nicht. Wofür auch? Eingestaubte Bilder in einem heruntergekommenen Laden, zudem in einer sterbenden Stadt. Das braucht niemand, und man kann das wirklich nicht erwarten.“

Stimmte. Ich selbst hatte ähnlich darüber gedacht, und niemand hatte so ein Schicksal verdient.

Wir würden hier nicht bleiben können, und unser Schicksal war ungewiss.

  1. Kapitel 18:

„Wir sollten schlafen gehen, das war ein wirklich aufreibender Tag.“

Ich strich mit der Hand über den rauen Stoff des Jacketts und endlich bewegte sich auch Leonard wieder. Minutenlang hatten wir so da gestanden, beide versunken in unsere Gedanken, und beide mehr als überfordert.

Schlafen, ja das würde helfen, so glaubte ich zumindest. Nach Tagen wie diesen, an denen mehr passierte als an anderen, musste man schlafen.

„Du hast recht, wir sollten uns ausruhen.“

Er klang nicht, als würde er tatsächlich glauben, was er da sprach, aber trotzdem klappte er eines der Bilder vor ihm zur Seite, um nach seinem Schlafzimmer zu sehen.

„Kann ich mit dir kommen? Nur heute Nacht?“

Überrascht sah er mich an, aber trotzdem nickte er.

„Wenn du das möchtest?“

Auch ich nickte, denn weitere Erklärungen brauchte es wohl kaum. Wir beide brauchten Schlaf und Ruhe, aber vor allem brauchten wir eins: uns. Alleine zu sein, nach all dem was passiert war, und mit der Gewissheit einer unbekannten Zukunft, das konnten wir wohl beide nicht ertragen. Ich zumindest würde mit mir selbst nicht klar kommen, und alleine sein wollte ich auch nicht.

Ich griff nach seiner Hand, und wir schlossen die Augen, nur um Sekunden später in dem kahlen Raum ohne Fenster zu sein.

 

„Auf welcher Seite möchtest du schlafen?“

Mein Blick schweifte über das nicht sehr einladend wirkende Bett, und dann zu Leo, der gerade dabei war, seine Hose über den einsamen Stuhl zu legen.

SEINE HOSE! Verschämt sah ich zur Seite und fragte mich, wie er so schnell sein konnte. Ich selbst hatte mich kaum orientiert, und erst recht nicht darüber nachgedacht, dass ich mich würde ausziehen müssen.

„Rechts, glaub ich...“

Unsicher trat ich auf die rechte Bettseite und nahm den Geruch von Waschmittel und Stärke wahr. Die weiße Bettwäsche roch frisch, ein Geruch, den ich fast vergessen hatte, denn alles in der Galerie hatte alt und verbraucht gerochen.

Auch wenn der Raum kahl und alt wirkte, so war die Bettwäsche doch verlockend. Nach der Nacht auf dem Sofa wirkte es wie der Himmel, und ich strich mit der Hand über das Kissen. Weich und fluffig, ganz wie ich es mochte.

„Schämst du dich?“

Ich blickte auf und sofort schoss mir die Röte ins Gesicht.

Unterhemd und Unterhose, beides Feinripp, und eindeutig zu viel für mich. Mal abgesehen von der Tatsache, dass beides nicht wirklich sexy wirkte, so hatte ich doch seit Ewigkeiten keinen Mann mehr mit so wenig Kleidung gesehen. Zumindest keinen Echten aus Fleisch und Blut.

Dass Männer zu seiner Zeit keine schicken Boxershort getragen hatten, das hätte ich mir denken können, aber es jetzt tatsächlich so zu sehen, war einfach zu peinlich.

Peinlich, weil wir uns ja kaum kannten, und peinlich, weil es einfach peinlich war.

Er hingegen schien sich nichts daraus zu machen, warum auch, immerhin gab es an ihm absolut nichts auszusetzen.

„Ein wenig. Ich hab damit nicht gerechnet.“

Was hatte ich geglaubt? Das er mit Anzug und Hemd schlafen würde? Warum hatte er sich keinen Pyjama mit auf das Bild gemalt?

Weil er nie einen benötigt hatte. Weil er die letzten Jahrzehnte niemand gehabt hatte, für den sich ein Pyjama gelohnt hätte, und weil er im Gegensatz zu mir, vermutlich einfach nicht so verklemmt war.

„Soll ich mich umdrehen?“

Er hockte sich auf die linke Seite des Bettes, mit dem Rücken zu mir, und ich ließ mich auf meine Seite fallen. Auf keinen Fall würde ich in BH und Slip schlafen, schon gar nicht neben ihm, und ich zog stattdessen nur Schuhe und Jeans aus.

Sofort schlug ich die Decke über meine nackten Beine und zog sie bis zum Kinn nach oben. So viel nackte Tatsachen waren nichts für mich, die sich ohnehin in ihrem Körper alles andere als wohl fühlte.

„Fertig?“

Ich nickte, obwohl er mich ja nicht sehen konnte, weil mir vor lauter Pein einfach die Worte fehlten. Er sah gut aus, auch in Feinripp, und alles, was ich zu bieten hatte, waren die unschönen Dellen an meinen mopsigen Oberschenkeln.

Meine nicht vorhandene Antwort schien ihm zu reichen, und er schlug ebenfalls die Decke über seinen Körper, während ich den Arm über die Decke legte, damit er bloß nicht meinen Körper sah.

Hätte ich geahnt, wie peinlich all das sein würde, wäre ich gar nicht erst mit ihm gekommen, und gerade jetzt bereute ich es bitter.

Man dachte im Alltag über solche Dinge einfach nicht nach, man überlegte auch nicht, welche Konsequenzen es haben könnte. Keine Sekunde hatte ich am Tag meines Unfalls darüber nachgedacht, wie verwaschen und öde meine Unterwäsche eigentlich war, und jetzt hatte ich den Salat.

Man sollte sehr viel mehr auf solche Dinge achten, immer darüber nachdenken, was vielleicht passieren könnte, und deshalb grundsätzlich anständige Sachen tragen.

„Hör auf damit, das ist völlig unnötig.“

Er drehte sich zur Seite und stützte den Kopf auf seinen angewinkelten Arm, während ich zur Decke starrte. Das war einfach zu viel Peinlichkeit auf einem Haufen, und fühlte sich unerträglich an.

„Womit?“

Zu tun als sei nichts, darin war ich gut. Wann immer mich jemand je nach meinem Befinden gefragt hatte, hatte ich mit Ahnungslosigkeit reagiert. Weil Verleumdung einfacher war als die Wahrheit, und weil ich mich außer Stande fühlte, mit egal wem, über meine Gefühle zu sprechen. Unzulänglichkeiten zuzugeben, war ohne Zweifel immer schon unangenehm, auch wenn sie so offensichtlich waren wie meine.

„Hör auf dich zu verstecken, das ist doch dämlich.“

„Ist es nicht! Wir kennen uns doch kaum!“

Ich stopfte die Decke enger um meinen Körper, und hoffte damit auch noch den letzten Rest Haut zu verdecken.

„Ach komm, das ist es doch nicht. Du glaubst, irgendwas mit dir ist nicht in Ordnung, und deshalb stellst du dich an. Wieso schämst du dich so dermaßen?“

Weil du, mein Lieber, noch immer aussiehst wie aus der letzten Schiesser-Werbung entsprungen, und ich, als sei ich ein unglücklich gestrandeter Wal. Natürlich sprach ich das nicht aus, aber ich dachte es, und fühlte mich dabei, als würde ich völlig entblößt in einer schier aussichtslosen Falle sitzen.

„Es ist einfach peinlich. Du hast einen guten Körper, ich habe das nicht, und werd auch nie einen haben.“

„Perfekt? Was ist schon perfekt? Liegt im Auge des Betrachters, und ist vielseitig auslegbar. Denk doch mal an die alten Meister, die Sorte Frauen, die sie damals gemalt haben. Keine davon war dünn oder mager, keine davon hatte Streichholzbeine. Schönheitsideale wandeln sich, sie sind wie Mode, und nur, weil dir etwas anderes vorgemacht wird, heißt das nicht, dass es wahrer ist. Auch wenn es dir anders vorkommt, in Wahrheit sind diese Ideale nur ein Wimpernschlag in der Zeit, und können morgen schon ganz anders aussehen.“

Tröstete mich wenig, und änderte auch nichts an den mopsigen Beinen. Ganz und gar nicht.

„Aber mich stört es, und daher will ich mich nicht zeigen.“

„Deshalb der Wunsch nach einer Jacke? Um dich noch mehr zu verstecken?“

Ich drehte mich zu ihm, denn diese Frage hatte ich mir tatsächlich nicht wirklich gestellt. Die Jacke sollte mich trösten, mich wärmen, aber lag er vielleicht richtig? Wollte ich mich noch mehr verstecken, und hatte daher den dringenden Wunsch danach?

Eine Jacke schmeichelte der Figur, anders, als das dämliche T-Shirt, und sie würde mir Sicherheit geben. Strickjacken, meistens etwas zu groß gekauft, hatten über Jahre zu meinen Begleitern gehört. Nicht nur weil sie praktisch waren, das wurde mir nun klar, sondern auch, weil ich darunter meinen Speck verstecken konnte. Den Ring um meinen Bauch, die Reiterhosen an meinen Hüften, und auch meine Brüste, die meiner Meinung nach, nicht dort waren, wo sie vielleicht hätten hingehört.

„Kann sein, ich hab das zwar nicht so gesehen, aber vielleicht stimmt das.“

Vermutlich war das mit das Ehrlichste, was ich je zu ihm gesagt hatte, und es war mir nicht mal wirklich schwergefallen. Nie hatte ich mit einem Mann über meinen Körper gesprochen, schon gar nicht über meine Defizite, und doch war es mir nicht wirklich unangenehm gewesen. Die sanfte Stimme und das Verständnis darin, hatten mich mutig gemacht, eindeutig mutiger als ich es sonst gewesen war, und ich merkte wie mein Körper sich entspannte.

Er verurteilte mich nicht, auch wenn ich es geglaubt hatte, und anscheinend interessierte er sich für meine Gedanken.

„Hör zu, Spencer, ich hab es dir schon einmal gesagt: Du bist perfekt, so wie du bist. Was du als Defizit ansiehst, sieht kaum ein anderer so. Du siehst irgendetwas, was vermutlich kaum jemand anderes so sieht, und daher wird es auch keiner verurteilen. Du bist ewig auf der Suche nach Fehlern, bei dir selbst und bei anderen, und das schränkt dich so unfassbar ein. Lass den Leuten doch ihre Meinung, egal wie diese aussieht, aber versuch doch einfach nicht, ihnen deine aufzudrücken.“

Tat ich das? Drückte ich den Leuten meine negative Meinung auf? Irgendwie stimmte das wohl, denn ich schloss regelmäßig von mir auf andere. Ich mochte meine Beine nicht, also würde sie auch niemand anderes mögen. Ich war misstrauisch und witterte Betrug, also musste es auch so sein.

„Ich will das eigentlich gar nicht, aber ich glaube, es ist einfach so. Ich kann da gar nichts gegen machen.“

„Das ist die Selbstverwirklichende Prophezeiung, meine Liebe. Um so fester du daran glaubst, um so eher wird sie zur Wahrheit. Du verursachst das selbst, vielleicht ohne es zu wollen, aber du tust es. Wenn du jemandem etwas vorwirfst, obwohl es dazu keinen Grund gibt, dann wird der andere irgendwann aufgeben. Und im ungünstigsten Fall wird er sich denken: Wenn sie es sowieso glaubt, dann spielt es keine Rolle, ob ich es nicht tue.“

„Aber wie kann man das ändern?“

Auch wenn es stimmte, wie änderte man es? Wie brach man aus seinen Mustern aus, und wie konnte man sich selbst ändern? Das ich irgendwann würde aufwachen, und meinen Körper würde lieben können, daran hatte ich doch arge Zweifel. Auch das mein Misstrauen gegenüber anderen Menschen aufhören würde, schien mir unwahrscheinlich. Leo war anderes als die meisten Menschen, bei ihm gab es vielleicht eine Chance dazu, aber für andere würde das sicher nicht gelten.

„Du musst es zulassen. Du musst zulassen, dass dich jemand liebt. Nimm es an, nicht als Selbstverständlichkeit, denn das ist es nicht. Aber wenn du es nicht zulässt, dann wird sich nichts ändern.“

Er rutschte näher zu mir und ich spürte den Atem dicht an meinem Gesicht.

Sein Arm schlang sich um meinen Körper und ich nahm die Wärme wahr, während er mich so nah wie nur möglich an sich zog.

Ohne es zu wollen, schloss ich die Augen, denn es fühlte sich einfach so gut an. Nähe, ohne die Angst vor Enttäuschung, ohne die Angst, für mein Ich verurteilt zu werden, fühlte sich einfach so echt an.

Egal wann ich je mit einem Mann das Bett geteilt hatte, nie hatte es sich so angefühlt.

Selbst in längeren Beziehungen hatte ich immer geglaubt, ich selbst sei nur einen Boxenstopp wert. Ich war ein Teilstück, eine weitere Etappe und ein Pausenfüller, aber nie die Frau, mit der man sein Leben verbringen würde.

Genau so hatte ich mich auch verhalten, hatte jede Form von emotionaler Nähe unterdrückt, und immer signalisiert, dass es auch für mich nur eine Etappe sein würde.

Dass ich mir im Grunde etwas anderes gewünscht hatte, darüber hatte ich nicht gesprochen, und keinen Gedanken daran zugelassen.

Nie hatte ich Ernsthaftigkeit signalisiert, aus lauter Angst enttäuscht zu werden, und vermutlich stimmte es: Ich hatte all diese Dinge selbst heraufbeschworen.

Wenn ich nur einmal gesprochen hätte, einmal gezeigt hätte, dass mir mein Gegenüber wirklich wichtig gewesen war, wäre mein Leben vielleicht anders verlaufen.

Vielleicht hätte mein Gegenüber ebenfalls eine Türe geöffnet, hätte mich mehr in sein Leben gelassen, und vielleicht hätte es funktioniert.

Und selbst wenn nicht, dann wären beide Parteien nicht ohne Antwort zurückgeblieben. Dann würden nicht heute eine Reihe Männer denken, dass sie nur ein Boxenstopp in meinem eigenen Leben gewesen waren.

Ich musste über dreißig werden, um eine solche Einsicht zu erreichen, und ich musste sterben, um sie überhaupt in meinen Geist zu lassen. Schade, aber besser spät als nie.

Meine Hand fuhr über den Arm, der fest und ruhig um meine Hüfte lag, und ich roch den Geruch von Ölfarbe auf seiner Haut. Nicht stark, nur eine winzige Ahnung, und mir wurde klar, dass ich diesen Geruch schon früher wahrgenommen hatte. Ich hatte ihn nicht einordnen können, mir keine Vorstellung davon gemacht, woher er rühren konnte, aber er war in mein Gehirn gekrochen und hatte sich fest verankert. Nie wieder würde ich ihn vergessen, und nie wieder würde ich etwas anderes als Leonard damit verknüpfen.

Jemanden anziehend zu finden aufgrund seiner Optik, das konnte so leicht sein wie laufen. Jemanden um seiner selbst und seiner Seele zu lieben, erreicht jedoch völlig andere Dimensionen. Es war stärker, intensiver, und es ließ einen selbst weit über sich hinaus wachsen. Es machte Angst, vielleicht verstörte es auch, aber es erreichte andere Tiefen.

Näher als Leo war mir nie jemand gekommen, und auch wenn wir nur wenige Tage miteinander verbracht hatten, so fühlte ich mich doch zum ersten Mal zu jemandem zugehörig. Als hätte ich ein Puzzleteil gefunden, von dessen Existenz ich bisher nicht mal gewusste hatte, und als sei ich nun endlich an den richtigen Platz gerutscht.

Mit seiner Hilfe würde ich mich ändern können, ich würde ein besserer Mensch werden, und ich würde keine Angst mehr davor haben, dass ich scheitern würde.

Der ruhige Atem neben mir und der konstante Herzschlag, wirkten auch auf mich beruhigend, und ich ließ mich fallen, um endlich den neuen Tag zu erreichen.

Den Tag, von dem an alles anders werden würde, und ab dem ich nicht mehr glauben würde, dass ich das Endglied einer Kette sei.

  1. Kapitel 18:

„Spencer!“

Der laute Alarm beschleunigte meinen Herzschlag und ich japste nach Luft. Mein Brustkorb fühle sich an, als würden Ziegelsteine darauf liegen, und sofort begann ich zu husten.

„Spencer! Mach die Augen auf!“

Die schrille Stimme klang ebenso alarmiert wie das schrillende Geräusch, und ich versuchte mit aller Macht, die Augen zu öffnen. Verschwommen sah ich ein Gesicht, ohne zu wissen, um wen es sich handelte, und sofort schlossen sich meine Lider, obwohl ich dagegen ankämpfte. Meine Glieder fühlten sich schwer an, fast als hätte ich zuviel getrunken am Abend davor, und die Müdigkeit hatte von jeder Faser meines Körpers Besitz ergriffen.

„Sie hat die Augen geöffnet! Spencer? Hörst du mich?!“

Ja, ich hörte die Stimme, und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, dann hätte ich schwören können, dass es sich dabei um Kati handelte.

„Es wird noch einen Moment dauern, bis sie zu sich kommt. Schreien sie sie nicht an, sie braucht einfach etwas Zeit.“

Alex? Die Stimme kannte ich, und ich kämpfte gegen die übermächtige Müdigkeit an. Ich wollte meine Augen öffnen, sehen was dort geschah, und vor allem sehen, wo Leonard war.

Meine Hand fühlte eine weiche Decke, anders als die meines Nachtlagers, und ich verstand einfach nicht, warum ich nicht mehr neben ihm lag. Waren wir nicht eben noch engumschlungen eingeschlafen? Was war passiert, und warum war er nicht mehr da?

„Leo...?“

Ich erkannte meine eigene Stimme nicht, sie klang matt und schwach, und ich war nicht mal sicher, ob ich die Frage wirklich gestellt hatte. Vielleicht hatte ich sie nur gedacht, und geglaubt gesprochen zu haben, ich war mir einfach nicht sicher.

„Wer? Was hat sie gesagt?“

Ich hörte wie sich jemand bewegte und wie ganz dicht an meinem Kopf Wärme entstand. Der fremde Atem prallte an meiner Wange ab, und ich fühlte die Feuchtigkeit, die dadurch entstand. Was geschah hier gerade?

„Spencer? Sag das nochmal, was möchtest du?“

Kati. Es musste Kati sein. Niemand anderer hatte diese Stimme, mit einen so sonoren Unterton, und dem unverkennbaren Rheinland-Dialekt.

Aber wie konnte das sein? Warum war sie hier, und warum war ich hier?

Ich bemühte mich erneut, die Augen zu öffnen, und die Helligkeit stach in mein Gehirn wie ein Messer. Es fühlte sich an, als hätte ich zu lange in der Dunkelheit gesessen und als hätte jemand ohne Vorwarnung ein sehr helles Licht angeschaltet.

Dicht vor meinen Augen sah ich den dunklen Schopf von Kati mit den wilden Locken, und noch immer ergab nichts davon Sinn. War sie ebenfalls tot? Und wie hatte sie mich gefunden?

„Wo bin ich?“

Das Flüstern war kaum zu hören, und ich hatte unfassbaren Durst. Mein Mund fühlte sich trocken an, als hätte ich eine Ewigkeit nichts getrunken, und meine Zunge bewegte sich nur Millimeter.

„Du bist im Krankenhaus, du hattest einen Unfall.“

Ja, hatte ich. Aber ich war gestorben, und dem war ich mir sicher. Ich hatte selbst gesehen, wie sie meinen toten Körper über die Flure geschoben hatten, und wie Alex alles getan hatte, um mich zu retten.

„Wo ist Leo?“

Was auch immer hier gerade geschah, ohne ihn würde ich nicht damit klar kommen.

„Wer? Wen meinst du? Hier sind nur ich, Kati, und der Arzt.“

Ich sah zu Alex, der neben dem Bett stand und meine Hand hielt. Gemerkt hatte ich es nicht, nicht mal die Berührung an sich, und sein besorgter Gesichtsausdruck sprach Bände.

„Sie ist verwirrt, sie war immerhin einige Stunden weg. Geben sie ihr Zeit.“

Weg? Ja sicher war ich weg. Weg für die Ewigkeit, weg bis ans Ende der Zeit.

Was für ein merkwürdiger Traum, schoss es durch meinen Geist. Was für ein merkwürdiger Traum, aus dem ich hoffentlich bald aufwachen würde.

 

Ich schlug die Augen auf und sah die weiße Decke über mir. Grundsätzlich fühlte ich mich besser, jedenfalls nicht mehr so völlig übermüdet, und auch mein Körper fühlte sich bei weitem nicht mehr so schwer an.

Neben mir sah ich den Nachttisch, darauf mein Handy und ein Glas Wasser, und nichts davon ergab Sinn.

Warum war ich nicht in der Galerie, wo ich hingehörte, und was war mit Leonard geschehen? Warum war er nicht hier, bei mir?

„Spencer, da bist du ja!“

Die Stimme kam von Links, und ich sah aus dem Augenwinkel Kati, die völlig euphorisch war.

„Was ist passiert?“

Es würde keine plausible Erklärung für all das geben, so viel stand fest.

„Du hattest einen Autounfall und warst ohnmächtig, oder im Koma, so genau weiß ich das nicht. Aber es war nicht lang, nur ein paar Stunden. Mensch, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt, ich dachte schon, du lässt mich hier alleine zurück!“

Sie strich über meine Hand und lächelte, während ich mich einfach nur fürchterlich fühlte.

Hatte ich mir alles nur eingebildet? Waren die Galerie und Leo nur ein Traum gewesen, und nichts davon war jetzt noch da? Das konnte doch nicht sein, alles hatte sich viel zu real angefühlt, und mal ganz davon abgesehen: Ich wollte hier nicht sein.

Ich wollte zurück in die Galerie, zurück in mein Bild, und zurück in das weiche Bett mit dem Mann neben mir. Ein Leben ohne Leonard konnte ich mir nicht vorstellen, von wollen mal ganz zu schweigen, und schon gar nicht wollte ich zurück in diesen Alpraum, der irgendwann mal mein Leben gewesen war.

All das kam mir Lichtjahre weit weg vor, als wäre es kein Teil mehr von mir, und als hätte es all das nicht wirklich gegeben. Dieses alte Leben gehörte nicht mehr zu mir, es passte nicht mehr zu mir, und unmöglich konnte ich dorthin zurückkehren.

Leonard nicht mehr zu sehen, ihn alleine dort zu wissen mit seiner Einsamkeit, das war absolut unerträglich.

Alleine schon darüber nachzudenken bereitete mir körperlichen Schmerz, und jede Faser meines Körpers schien sich dagegen zu wehren.

„Aber ich war doch tot?“

„Nein, quatsch, du warst nur weggetreten. Du hast nicht mal was gebrochen, von Tod bist du weit entfernt.“

Das konnte einfach nicht sein. Sie hatten doch meine Rippen gebrochen, beim Versuch mich zurückzuholen. Ich war bei Grete gewesen, und niemand hatte mich gesehen, und ich hatte Alex im Schlaf beobachtet.

„Aber...“

„Nichts aber. Es ist alles gut. In ein paar Tagen kannst du hier raus, und alles ist wie immer. Ich hab Grete schon bescheid gesagt, sie lässt dich ganz lieb grüßen und kommt dich morgen besuchen. Und übrigens hast du echt Schwein, dein Arzt ist echt heiß, und ich glaub, er mag dich...“

Ich schüttelte den Kopf, weil ich es einfach nicht fassen konnte. Was geschah hier gerade? Wie konnten sich die Dinge in so kurzer Zeit so sehr ändern?

„Findest du ihn nicht süß? Darf ich ihn dann haben?“

Die quirlige Stimme klang so, wie ich sie kannte. Kati, meistens fröhlich und guter Dinge, und immer auf der Suche nach dem perfekten Mann. Obwohl sie mir so vertraut war wie eh und je, schien sie mir einfach nicht real. Ihre Gesichtszüge, die Art wie sie sprach, all das kannte ich. Aber es fühlte sich einfach anders an.

„Kannst du, er braucht eine liebe Freundin.“

Ich versuchte ein Lächeln, aber so wirklich gelang es mir nicht. Zu schwach fühlte sich mein Körper an, und zu enttäuscht war ich. Der Tod hatte mir gefallen, und jetzt würde die Wirklichkeit mich wieder haben. Gewollt hatte ich das sicher nicht, bei Leonard hatte es mir deutlich besser gefallen, aber was hatte ich schon erwartet?

Glücklich zu sein, anzukommen, das war einfach zu schön gewesen, und vermutlich hätte mich alleine das schon stutzig machen müssen. Immer wenn etwas zu gut lief, zu perfekt war, dann lehrte mich das Leben Lektionen, egal, ob ich wollte oder nicht.

Und diese Lektion lautete wohl: Für jemanden wie mich würde es kein Happy End geben.

„Meinst du?“

Kati hockte sich zu mir auf die Bettkante und ich griff nach ihrer Hand.

„Ja, meine ich. Koch ihm was Schönes, du kochst doch ganz wunderbar. Ich bin mir sicher, er wird kommen.“

Ja, wenn es schon für mich kein gutes Ende geben würde, so würde ich doch wenigstens anderen dazu verhelfen. Entgegen meiner eigentlichen Einstellung, dass eine Verkäuferin wie Kati nicht zu einem Arzt passen würde, sah ich das alles nun anders.

Arzt oder nicht, auch Alex kochte nur mit Wasser, und sein Leben unterschied sich nun wirklich nicht so sehr von ihrem.

Er würde diesen Unterschied vielleicht gar nicht wichtig finden, und Kati könnte ihn glücklich machen. Auch wenn mein eigener Aufprall gerade hart war, sie konnte nichts dafür, und es gab keinen Grund sie mit mir in den Abgrund zu reißen.

„Das ist eine super Idee, ich werd ihn auf jeden Fall fragen!“

Ich drückte ihre Hand und sie beugte sich nach vorne, um mich zu umarmen. Es fühlte sich seltsam an, denn sonst hatten wir das nie getan, aber eigentlich empfand ich es als tröstend. Wenigstens war sie hier, wenigstens ein Mensch in all dem Chaos, und immerhin würde ich sie weiter Teil meines Lebens sein. Wenn ich schon in die Trostlosigkeit zurückkehren musste, dann doch wenigstens mit ihr.

„Danke, dass du gekommen bist, ehrlich.“

Ich schlang auch noch den zweiten Arm um sie und versuchte meinen Worten Wahrheit zu geben. Auch wenn ich all die Jahre eine unterirdische Freundin gewesen war, so würde ich es jetzt nicht mehr sein. Ich würde mich am Riemen reißen, nicht aufgeben, und versuchen aus eigener Kraft etwas zu ändern.

Auch wenn ich geglaubt hatte, es nur mit Leo zusammen zu schaffen, so würde ich ihn trotzdem stolz machen. Er hatte mich verändert, vielleicht schon mehr, als ich selbst glaubte, und ich würde weiter daran arbeiten.

Auch wenn ich Leonard verloren hatte, so würde ich doch meine Erfahren mitnehmen, und versuchen mich selbst zu ändern.

„Natürlich, ich bin doch deine Freundin!“

Sie tätschelte meinen Kopf und fast glaubte ich, weinen zu müssen, aber ich ließ es nicht zu. Wenn ich jetzt in Tränen ausbrach, dann würde Kati mich gar nicht mehr erkennen.

„Ich bin so froh, dass es dich gibt.“

„Ich auch Süße. Ohne dich könnte ich nicht sein, das ist absolut unvorstellbar. Aber was denkst du, was ich für den süßen Arzt kochen könnte?“

Niemand auf der Welt konnte so sein wie Kati. Sie machte es einem leicht, selbst in solchen Situationen. Sie änderte das Thema, so dass der unangenehme Moment bei all dem ausblieb, und ich war ihr so dankbar dafür. Obwohl wir niemals über ähnlich emotionale Dinge gesprochen hatten, so einfach verpackte sie sie jetzt. Als sei es eine Tatsache, die wir ohnehin wussten, und sie nahm dem Ganzen die Dramatik, die ein solches Eingeständnis vielleicht hätte haben können.

Erst jetzt wurde mir klar, dass auch das hier meine Schuld war. Kati war ungefiltert und offen, und sicher hätte sie auch vorher schon anders gehandelt, wenn ich anders gewesen wäre. Da ich aber grundsätzlich nie etwas Emotionales geäußert hatte, hatte sie es auch nicht getan. Menschen passten sich einander an, bewusst oder unbewusst, und auch Kati hatte es getan.

Sie hatte sich meiner Art angepasst, mich gespiegelt in meinem Verhalten, und jetzt wo ich mich verändert hatte, tat sie es ebenso.

Die Kati jetzt kam mir echter vor, als würde es ihr so leichter fallen, und ich dachte an den Moment mit Leonard, in dem sie voller Schmerz das Gesicht in meiner Strickjacke vergraben hatte. Sie war schon immer dieser Mensch gewesen, nur ich hatte es nicht gesehen. Weil ich es nicht gewollt hatte, weil es mir angst gemacht hatte, und weil mir diese Dinge fremd waren.

„Ich glaub, das ist egal, der freut sich über jede warme Mahlzeit. Und lad ihn zu dir ein, es wird ihm gefallen.“

Sie hob eine Augenbraue und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

„Woher weißt du das? Hast du geheimes Wissen, dass du vielleicht diesbezüglich mit mir Teilen solltest?“

Ja, hatte ich. Aber ich würde ihr ganz sicher nicht alles erzählen. Katis Wohnung war bunt und heimelig, sie investierte jeden übrig gebliebenen Euro in ihr Heim, und vermutlich würde jeder Mensch auf der Welt sich dort wohlfühlen. Bei ihr gab es bunte Kissen, Pflanzen, und praktisch immer roch es nach Essen. Wann immer ich in meiner Vergangenheit bei ihr gewesen war, hatte es sich mütterlich und einladend angefühlt, und immer hatte sie mich mit ihren Koch- oder Backkünsten beeindruckt. Sicher würde es auch Alex gefallen, und vielleicht würde er für mehr als ein Abendessen bleiben wollen.

„Glaub es mir einfach. Mach doch deinen berühmt-berüchtigten Schweinebraten. Den mit den selbstgemachten Knödeln, der ist richtig super.“

„Du hast recht, das schmeckt doch jedem Mann. Und es ist wirklich in Ordnung für dich, wenn ich ihn frage?“

„Natürlich. Ich freue mich für dich, du hast einen Mann wie ihn verdient. Er ist ein guter Arzt und ein guter Mensch.“

Auf die Tatsache, dass ich weder das eine noch das andere beurteilen konnte, ging sie nicht ein. Vielleicht glaubte sie, ich würde ihr Mut zusprechen wollen, und ich nahm es hin. Noch vor wenigen Tagen oder Wochen hätte, ich sicher versucht, ihr das alles auszureden, schon alleine, weil sie einfach so kindlich naiv in so vielen Dingen war, aber diesmal tat ich es nicht. Erfahrungen musste jeder für sich selbst machen, die Guten und die Schlechten, und auch wenn Kati bei ihrem Vorhaben scheitern würde: Sie hätte es zumindest versucht.

Ein Versuch war nicht falsch, und eigentlich war ich mir sicher, dass auch Alex sich freuen würde. Er schien mir aufrichtig, jedenfalls niemand der mit den Gefühlen von Menschen spielte, und seine Art passte in meinen Augen zu ihr.

Im Gegensatz zu Kati war er ruhig und besonnen, und noch vor kurzer Zeit hätte ich darauf geschworen, dass so jemand zu ihr nicht passen würde.

Jetzt allerdings, glaubte ich etwas anderes, denn gerade solche Gegensätze ließen den anderen wachsen. Man wuchs über sich hinaus, weil man den eigenen Blickwinkel änderte, und nur mit einem solchen Gegenpol war das überhaupt möglich.

Kati würde ihm Fröhlichkeit bringen, sein Leben hoffentlich bunter machen, und er würde sie erden.

Aber wer würde nun mich erden, und mein Leben bunter machen?

Konnte ich, nach allem, was ich erlebt hatte, wirklich einfach dort anknüpfen, wo ich noch vor weniger als einem Tag aufgehört hatte?

Auch wenn ich Alex mochte, an Leo würde kein Mann dieser Welt heranreichen. Ihn zu kennen, bedeutete für mich, dass kein anderer mehr an ihn heranreichen würde. Egal wen ich noch treffen würde, keiner würde sein wie er, und irgendwann würde ich mich damit abfinden müssen.

So traurig es auch vielleicht war.

  1. Kapitel 20:

Drei Wochen später

 

Noch immer fühlte sich dieses Leben nicht an wie meins. Nichts schien wirklich, nichts als gehörte es zu mir und so sehr ich mich auch bemühte, meine Wohnung fühlte sich fremd an. Selbst der Geruch schien mir fremd, und manchmal ging ich auf den Dachboden, nur um mich an die Galerie zu erinnern.

Der modrige, etwas staubige Geruch half mir, wenn auch nur wenig, und mehr als einmal überlegte ich, ob ich nicht einfach auf dem ranzigen Sofa dort oben schlafen sollte.

Ein Nachbar hatte es vor Jahren dort abgestellt, war dann einfach umgezogen, und kein anderer im Haus hatte lust und Nerven, es die fünf Stockwerke nach unten zu tragen.

Jetzt war ich froh darüber, denn der raue Stoff fühlte sich vertraut an, und immer wieder kehrte ich dorthin zurück.

Stunden saß ich dort, erinnerte mich an meine Zeit mit Leo, und mit jedem Tag schien es schlimmer zu werden. All das konnte kein Traum gewesen sein, es hatte sich einfach zu real angefühlt, und auch die detailreichen Erinnerungen, konnten einfach keine Illusion sein.

Was war also mit mir passiert?

Die Antwort wusste ich immer noch nicht, und egal welche These ich auch aufstellte, nichts schien so richtig Sinn zu ergeben.

Wenn es ein Traum gewesen war, woher kam dann all das Wissen, was ich einfach nicht hatte haben können? Woher all das Wissen über Bilder, Kunst, und die alten Meister?

Hatte ich es vielleicht irgendwo gelesen, gesehen, und ohne es zu wissen, in den Tiefen meines Gehirns abgespeichert?

So wirklich klang das nicht nach mir, und ich konnte mich auch an keine Situation erinnern, in der ich mich mit solchen Dingen beschäftigt hatte.

Und was war mit Leo? Er konnte keine Einbildung gewesen sein, immerhin hatte ich ihn hundertfach schon vorher gesehen, und hieß das dann, dass er dort noch immer die regelmäßig die Straße entlanglief, ohne sich über meine Existenz bewusst zu sein?

Hatte ich ihn in meinen Träumen verbaut, weil ich es mir einfach so dringend gewünscht hatte?

Auch dieser Gedanke tat weh, denn das würde bedeuten, dass er vermutlich noch immer keine Ahnung von meinem Dasein hatte. Vielleicht war er dort draußen, tat, was er immer tat, und kehrte dann zu Frau und Kind zurück.

Ohne zu wissen, dass er all das mit mir erlebt hatte, und ohne das Wissen, dass ich all diese Gefühle in mir trug.

 

Kati gab sich alle Mühe mich aufzumuntern, vermutlich glaubte sie, der Unfall hätte mich so mitgenommen, aber die Wahrheit sah anders aus.

Körperlich ging es mir gut, auch wenn die Müdigkeit mich noch eine ganze Weile begleitet hatte und auch zu wissen, dass der Fahrer des anderen Wagens überlebt hatte, tat mir mehr als gut.

Der ältere Herr hatte sich gemeldet, nicht nur um den Schaden über die Versicherung abzuwickeln, sondern auch, um nach mir und meinem Befinden zu fragen, und ich fand ihn ausgesprochen nett.

Mehrfach hatte er sich entschuldigt, obwohl er im Grunde nichts dafür konnte. Ein Schwächeanfall hatte ihn erwischt, und außer einem gebrochenen Schlüsselbein hatte auch er keinen größeren Schaden erlitten.

Unsere beiden Autos waren Schrott, auch wenn meines sicher vorher schon nichts anderes gewesen war, und ich hatte noch nicht mal wirklich darüber nachgedacht, ob ich mir ein neues kaufen sollte. Eigentlich brauchte ich keinen Wagen, jedenfalls nicht überlebensnotwendig, und ich vertagte die Entscheidungen vom einen Tag auf den anderen.

Ich vermisste Leo, wie ich nie jemanden vorher vermisst hatte. Der körperliche und seelische Schmerz zerriss mich fast, und manchmal glaubte ich, dass ein Herz wirklich würde brechen können.

Immer dann, wenn ich auf meiner Couch saß und einfach vor mich hinstarrte, kam es mir vor, als würde ich das Reißen tatsächlich hören.

Es klang wie das Reißen von Satin, wenn man mit großer Gewalt ein Stück in Zwei verwandelte, und das Geräusch hallte in meinem Kopf für Minuten nach.

Auch wenn ich mir selbst immer wieder versicherte, dass es unmöglich war, so fühlte es sich doch anders an. Wenn ich vor all dem geglaubt hatte, einsam zu sein, dann hatte ich mich geirrt. Das hier war Einsamkeit, und fühlte sich grauenhaft an.

Schon alleine deshalb, weil ich nicht wirklich einsam war. Ich hatte Kati, die jeden Tag vorbei kam, und trotzdem schien sie mich aufzufressen. Wie ein dunkler Dunst hing sie über mir, und egal wie oft ich auch das Fenster öffnete, die Wolke verschwand einfach nicht.

Manchmal heulte ich, manchmal tonlos und still, manchmal mit bescheuert lauten Geräuschen, und kam mir dabei oft dämlich vor.

Heulen änderte nichts, aber meistens fühlte ich mich danach besser. Es reinigte meine Seele, und oft dachte ich, dass ich es einfach in der Vergangenheit zu wenig getan hatte. Vielleicht hätte es mir gutgetan zu weinen, auch dann wenn es sinnlos war, und vielleicht wäre ich dann nicht so ekelhaft hart zu mir selbst gewesen. Immer hatte ich mich versucht zusammenzureißen, bloß nichts zuzulassen, und nie hatte es mir gutgetan.

Jetzt laut zu heulen, auch wenn es niemand hörte, tat erstaunlich gut. Auch wenn ich mir bei den ersten Malen dämlich vorgekommen war, so ließ ich es irgendwann einfach geschehen, und war am Ende stolz auf mich selbst. Weil ich meinen eigenen Schweinehund überwunden hatte, und der innere Knoten, der mich blockierte, sich endlich gelöst hatte.

Alex hatte mich krankgeschrieben, worüber ich zuerst nicht wirklich glücklich gewesen war, aber musste mir am Ende eingestehen, dass ich diese Zeit einfach brauchte. Nicht nur wegen des Unfalls und der Heilung, auch, um mir über all die Vorfälle klar zu werden.

Was auch immer mit mir geschehen war, es hatte mich verändert, und all das zu verarbeiten, gelang mir ganz offensichtlich nur äußerst schwer.

Mehr als einmal war ich in Versuchung gewesen zu der Galerie zu gehen, nur um mir selbst klar zu machen, dass es ihn einfach nicht mehr für mich gab. Getan hatte ich es nie, weil meine Angst einfach übermächtig war.

So lange ich nicht dorthin ging, solange konnte ich mir einreden, dass das hier der böse Traum war, aus dem ich irgendwann erwachen würde. Vielleicht würde ich aufwachen, Leo ruhig atmend neben mir sehen, und dann darüber lachen.

 

Am Ende der dritten Woche konnte ich es jedoch nicht mehr ertragen. Die ganze Denkerei, das herumsitzen und grübeln, es machte mich mürbe. Ablenkung hätte mir sicher gutgetan, so langweilig mein Alltag auch sein würde, und ich sehnte mich zurück an meinen Stuhl im Salon.

Ich wollte einfach glauben, dass ich mich besser fühlen würde, wenn ich meinen gewohnten Platz in dieser Welt wieder einnahm.

Grete hatte mich mehrfach besucht, nicht nur im Krankenhaus, sondern auch in meiner Wohnung, und ich hatte völlig neue Seiten an ihr entdeckt.

So ruppig sie auch schien, so besorgt war sie um mich und mein Wohlbefinden gewesen, und es hatte mir gutgetan. Fast mütterlich hatte sie mir Suppe gekocht, immer begleitet von den etwas derben Ratschlägen für meine Genesung, die ich praktisch nie befolgt hatte.

Eine Mutter hätte sich vielleicht ähnlich verhalten, und auch wenn ich es nicht wirklich wusste, so bekam ich langsam eine Ahnung, wie es sich anfühlen würde.

Dass jemand sich kümmerte, wirklich Anteil nahm, das hatte ich in dieser Form nie erlebt. Es jetzt so zu erfahren, machte mir alles leichter.

Trotzdem rannte die Zeit, die Stunden vergingen, und es kam mir vor, als hätte ich nun endgültig den Punkt erreicht, an dem ich bereit war, in mein Leben zurückzukehren.

Tagelang hatte ich das für unmöglich gehalten, es gab dieses Leben einfach nicht mehr, aber mit jedem Tag mehr, hatte sich das geändert.

Auch wenn ich dieses Leben vielleicht nicht mehr wollte, es war einfach da, und auf der Stelle zu verharren, war einfach nicht möglich.

 

Einzusehen, dass ich lediglich einen Traum gehabt hatte, kam mir immer noch unmöglich vor. Es konnte einfach keiner sein, und irgendwas an all dem musste doch echt gewesen sein.

Nichts davon hatte sich nicht genau so angefühlt, und auch mein Wissen über Alexander, hatte sich am Ende als echt erwiesen.

Kati zumindest hatte ich helfen können, denn der Schweinebraten war ein voller Erfolg. Aufgeregt und völlig aufgelöst hatte sie mir von der Verabredung erzählt, und sofort betont, dass sie ihn wiedertreffen würde.

Zumindest darin hatte ich wohl recht gehabt, und meine Sorge um Alex war einer stillen Zufriedenheit gewichen. Jemand würde sich um ihn kümmern, so lange er es wollte, und vielleicht würde Kati schon bald seinen Schlaf bewachen.

Sie zumindest schien davon überzeugt, und immer wieder sah ich ihre strahlenden Augen, wann immer sie über ihn sprach.

Genau so, wie ich es in meinem Traum erlebt hatte, beschrieb sei seinen Charakter, und auch das sprach eigentlich dafür, dass irgendetwas bei all dem ganz sicher kein Traum gewesen war.

Neid kannte ich dabei nicht, ich gönnte den beiden diesen Sieg über die Vorurteile, und konnte mich ehrlich darüber freuen.

Das es für mich anders aussah, dafür konnte nun wirklich niemand etwas, aber eine Frage brachte mich trotzdem um den Verstand: Warum hatte ich Leo sehen können, wenn doch alles nur ein Traum gewesen war? Warum hatte ich den Mann mit dem Anzug gesehen, lange vor dem Unfall?

Dass es sich ganz eindeutig nicht um eine Einbildung gehandelt hatte, da war ich mir mit dem Abstand von Wochen sicher. Ich hatte ihn gesehen, wieder und wieder, und so verzweifelt war ich ganz sicher nicht gewesen. Da ich weder Drogen genommen hatte, noch je sonderlich viel Alkohol zu mir genommen hatte, schloss ich Halluzinationen aus.

Nie vorher hatte ich etwas gesehen, was nicht auch der Realität entsprochen hatte, und nie vorher hatte ich mir Menschen eingebildet, die es nicht gab.

Wen also hatte ich da gesehen? Oder hatte mir mein Gehirn in meinem komatösen Zustand einen Streich gespielt, und mein Geist hatte den Mann einfach in meinen Traum verfrachtet?

Und wenn es so war, gab es ihn nun, oder nicht?

Wenn er einer Einbildung entsprungen war, was stimmte dann nicht mit mir? Und wenn er es nicht war, was hatte mein Gehirn mir dann mit all dem angetan?

Das erklärte allerdings nicht die Bilder und die Dinge, die ich erfahren hatte. Bis zu meinem Traum, oder was auch immer dort passiert war, hatte ich weder von Monet noch Degas gehört und erst recht keines der Bilder je gesehen.

Oder hatte ich sie doch gesehen, durch das Schaufenster der Galerie, und konnte mich dran nicht erinnern?

Meine Googlerecherche brachte mich fast zur Verzweiflung, den ich fand sowohl das Mohnblumenbild als auch das des traurigen Ehepaars, und ich zweifelte immer mehr an meinem Verstand.

Wenn nichts von all dem passiert war, woher wusste ich denn all diese Sachen? Hatte ich sie gelesen oder im Fernsehen gesehen, ohne das ich mich daran erinnern konnte?

Manchmal speicherte man ja unterbewusst Dinge ab, ohne sich darüber im Klaren zu sein, und erinnerte sich dann in den unmöglichsten Situationen daran. War es jetzt auch so?

Hatte mein Verunfallter Körper diese Welt für mich erschaffen, aus den Bruchstücken meiner Sehnsüchte und unterbewussten Erinnerungen?

Und wenn es so war, wer war dann der Mann aus der Galerie? Sah er am Ende ganz anders aus, und ich hatte nur jemanden erschaffen, der meinem Geschmack entsprach? Ein Männergesicht mit stahlblauen Augen, vielleicht sogar eines, dass ich zu irgendeinem anderen Zeitpunkt mal in einem Magazin gesehen hatte, und daher schon kannte?

All das machte mich rasend, und die meiste Zeit meiner drei Wochen Hausarrest, schwankte sich zwischen Wahnsinn und Resignation.

Wahnsinn, weil ich immer noch glaubte verrückt zu werden oder zu sein, und Resignation, weil ich ihn einfach so sehr vermisste.

Jemanden zu vermissen, der nicht existierte, vielleicht sogar nie existiert hatte, war genauso dämlich, wie einem unerreichbaren Idealbild hinterherzuhechten.

Realistisch gesehen war ich immer noch nicht mehr als Mittelmaß, und auch wenn ich vielleicht meine Meinung zu vielen Dingen geändert hatte, so war ich noch lange nicht perfekt.

Ich arbeitete daran, ein besserer Mensch für die, um mich herum zu werden, aber so wie Leo würde ich nie sein.

Leo, den ich vermutlich genau so erschaffen hatte, wie ich selbst gerne gewesen wäre.

  1. Kapitel 21:

„Papperlapapp, essen hat noch niemandem geschadet!“

Grete schob mir den Teller mit dem überdimensionalen Plunderteilchen entgegen, und ich sah entgeistert darauf.

„Es ist acht Uhr morgens! Ich kann das nicht essen, ich hab eben erst gefrühstückt!“

Sicher meinte es sie gut, immerhin war es mein erster Arbeitstag, aber das ging eindeutig zu weit. Die letzten drei Wochen hatten einer Mastkur geglichen, und auch wenn ich aus lauter Trauer und Frust alles in mich hineingestopft hatte, so würde ab heute damit Schluss sein.

Leider gehörte ich eindeutig zu den Frustessern, zu denen, die dann wahrlos alles Essbare in sich hineinstopften, und nicht zu denen, denen es bei Problemen den Appetit verhagelte. Meiner Figur sah man das auch an, mehr noch als vor den Unfall, und eigentlich hatte ich den dringenden Wunsch, daran etwas zu ändern.

„Du isst das jetzt, du musst du Kräften kommen!“

Sie machte eine befehlende Handbewegung in Richtung des Monsters auf dem Teller, und ich gab auf.

Für meine mopsigen Oberschenkel war das sicher der Untergang, aber sie würde kein „Nein“ akzeptieren. Auch wenn ich durchaus der Meinung war, dass ich mehr als genug auf den Rippen hatte, so schien sie es doch anders zu sehen.

„Ich bin kräftig, eigentlich zu kräftig. Aber ich esse es später.“

Mit der Hand schob ich den Teller zur Seite und räumte meine Handtasche in das kleine Regal neben dem Frisiertisch. Hier zu sein, in meinem Umfeld und den bekannten Räumen, fühlte sich gut an.

Die Decke war mir schon vor Tagen praktisch auf den Kopf gefallen, und ich hatte diesen Tag so sehr herbei gewünscht, dass ich es selbst kaum glauben konnte. Das ich jemals froh über Dauerwelle und Dorfklatsch sein würde, hätte ich mir selbst nicht vorstellen können. Ständig über Leo nachzudenken hatte mich mürbe gemacht, und jede nur mögliche Abwechslung würde mir willkommen sein.

„Wenn du dich nicht gut fühlst, dann setzt du dich hin, hörst du?“

Grete fuchtelte mit dem Zeigefinger vor meinem Gesicht und ich nickte. Manchmal erinnerte sie mich an einen Soldaten oder einen sehr strengen Lehrer, und ich wäre nie so kühn gewesen, ihr einfach zu widersprechen.

„Mach ich, versprochen.“

Ich huschte nach vorne in den Verkaufsraum und an meinen Arbeitsplatz am Fenster, und vermied jeden Blick auf die andere Straßenseite.

Schon bei meiner Ankunft hatte ich nicht dorthin gesehen, und obwohl ich mir so sehr gewünscht hatte, hierher zurückzukehren, so erschreckend schien es mir jetzt.

Was, wenn dort nichts Bekanntes mehr zu sehen war? Was, wenn sich wirklich herausstellte, dass ich mir alles nur eingebildet hatte?

Ich rollte mein Wägelchen an seinen Platz neben dem Stuhl und erlaubte mir einen winzigen Blick.

Das Schaufenster, die Ballerina, die Landschaft.

Alles sah aus wie in meiner Erinnerung, aber es erleichterte mich nicht. Stand die Ballerina nicht vielleicht doch ein wenig mehr Rechts?

Ich reckte den Kopf, um besser sehen zu können, aber sicher war ich mir nicht. Leo hatte das Bild aus dem Schaufenster genommen, damit wir es besuchen konnten, und es später zurückgestellt. Hatte es nicht irgendwann mal mehr mittig gestanden, und nicht so weit am Rand?

Erneut glaubte ich, dass ich vermutlich gerade im Begriff war, verrückt zu werden. Vielleicht war es aber auch eine Psychose, und ich würde mich demnächst in einer Zwangsweste wiederfinden. Wenn man sich nur genug in etwas hineinsteigerte, dann wäre eine Psychose sicher das Resultat und vermutlich würden nur noch Tabletten dagegen helfen.

„Was gibt es da zu sehen?“

Grete trat zu mir an das Fenster und sah ebenso wie ich auf die andere Straßenseite.

„Die Galerie, ich hab die Bilder vermisst.“

Sie kniff die Augen zusammen und schien angestrengt.

„Lange werden sie dort nicht mehr sein, irgendjemand räumt den Laden.“

Erschrocken schluckte ich, und sofort stieg Panik in mir auf.

„Warum?!“

„Der Besitzer ist gestorben, und das Haus wird verkauft.“

Ich sah auf Grete, die all das nicht zu beunruhigen schien, und sofort dachte ich an Bertram.

„Weißt du, wer es gekauft hat?“

„Ein Mann, aber er ist nicht von hier. Trägt immer so einen schicken Anzug und nen Hut, aber mehr weiß ich auch nicht.“

Die Hitze übermannte mich, und fast glaubte ich, in Ohnmacht zu fallen. Ein Mann mit Hut, und auch Grete hatte ihn gesehen. Es gab ihn, nicht nur in meiner Phantasie, und vielleicht hatte es dann auch Bertram gegeben.

„Wann hast du ihn gesehen? Den Mann mit dem Hut?“

„Ein paarmal. Aber wieso interessiert dich das? Willst du etwas eins der Bilder kaufen?“

„Ja, vielleicht. Ja, vielleicht möchte ich eins kaufen.“

Die Erklärung war dämlich, aber schlüssig. Keinesfalls konnte ich mit ihr über meine Erlebnisse sprechen, jedenfalls nicht, wenn ich meinen Job behalten wollte, und ein Bild zu kaufen war nicht ganz abwegig.

„Wer hängt sich denn sowas noch auf?“

Sie schüttelte den Kopf und drehte sich dann weg, während ich noch immer auf die tanzende Ballerina sah.

Ich würde sie kaufen. Wenn mir schon sonst nichts bleiben würde, dann würde ich sie kaufen.

 

Der Tag zog sich wie Kaugummi, und entgegen meiner Vermutung, fühlte es sich nicht wirklich vertraut an.

Die Gespräche nervten mich schon nach kürzester Zeit, und bis zur Mittagspause hatte ich die Geschichte meines Unfalls schon mehr als fünf Mal erzählt. Anscheinend wusste der ganze Ort davon, inklusive der Postbotin, die eine reißerische Story von Tod und Mord daraus gemacht hatte.

Tatsächlich hatte man schon wenige Stunden nach dem Unfall die Nachricht meines Todes verbreitet, und der Mann im anderen Wagen galt als mein Mörder.

Erlebt hatte ich Ähnliches schon öfter, kleine Orte waren dafür perfekt, denn wann immer irgendwo ein Krankenwagen stand, ballten sie dich Gerüchte wie Magnete aneinander.

Jemand hustete aus seinem Fenster, Stunden später war er drei Straßen weiter einer mörderischen Lungenentzündung erlegen.

Ein Krankenwagen stand vor einem Haus, dann musste der Mensch in seinem innereren, zwangsläufig tot sein.

Die Dynamik solcher Gerüchte ging so weit, dass sogar Beileidskarten geschrieben wurden, obwohl der angeblich Tote quietschfidel war. In meiner Theorie war es die Langeweile, die die Leute zu solchen Sachen trieb. Der Wunsch nach Aufregung und spannenden Geschichten war einfach so groß, dass einfach erfunden wurde, was nicht vorhanden war.

Zumindest bei der Postbotin kam es mir dann sogar so vor, als sei sie enttäuscht darüber, dass mir nicht wirklich etwas Schreckliches zugestoßen war. Immer wieder fragte sie, ob ich mir denn sicher war, dass es nicht doch ein beabsichtigter Anschlag war, und ich tat alles, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.

Wenn es etwas gab, dass der nette Herr sicher nicht brauchte, dann den Stempel eines böswilligen Mörders.

Auch wenn Grete in meiner Abwesenheit immer wieder das Gegenteil versichert hatte, so wollten die Leute einfach glauben, was auch immer sie glauben wollten. Die Wahrheit spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle, denn Mord war eindeutig spannender als ein banaler Unfall ohne größeren Schaden.

Alles in allem konnte ich meinen ersten Tag nun wirklich nicht als Erfolg verbuchen, und ich hoffte inständig, die nächsten würden besser werden.

Das Einzige was mich vor weiteren Wiederholungen der immer gleichen Story retten würde, wäre ein erneuter Skandal. Irgendwer würde schwanger werden müssen, irgendjemand musste im Lotto gewinnen.

Meistens löste ein Gerücht das nächste ab, und irgendwann vergaßen die Menschen den Tratsch von gestern.

Ich hoffte inständig, dass es bald passieren würde, sonst würde ich vermutlich die Nächste sein, die einen Mord verübte, und dann würde es sich nicht um ein Gerücht handeln.

 

Ich schob den kleinen Wagen in den Raum neben der Küche und strich mit der Hand darüber. Jetzt gehörte er wieder mir, und vermutlich würde ihn nie jemand erben.

Dass ich ihn als so wichtig empfunden hatte, kam mir jetzt kindisch und dumm vor, und ich musste selbst darüber schmunzeln.

„Da ist er! Komm!“

Gretes aufgeregte Stimme hallte durch den Salon und ich erschrak. Wen meinte sie? Den Mann mit dem Hut?

Ich hechtete mit großen Schritten durch den Raum und sah aus dem Fenster, an dem Grete mit ihrem dicken Finger nach draußen zeigte.

Dort, auf der anderen Straßenseite, stand er. Ich hielt die Luft an, denn er sah aus, wie ich ihn in Erinnerung gehabt hatte.

Der Hut, der Anzug, alles stimmte, und in meinem Kopf formte sich sofort das Gesicht von Leonard.

„Das ist der Mann, siehst du?!“

Ich nickte, denn zu mehr war ich nicht fähig. Nicht verrückt zu sein, das war das eine.

Ihn dort zu sehen, in Fleisch und Blut und auch für Grete sichtbar, etwas ganz anderes.

Der Wunsch, zu ihm zu gehen und mit ihm zu sprechen, war übermächtig. Ich bewegte mich zur Tür, ohne dass ich es eigentlich wollte, und riss diese dann auf.

„Ich komme gleich wieder!“

Meine Stimme klang matt und unsicher, aber Grete antwortete mir nicht. Stattdessen sah sie irritiert auf mich und dann hinter mir her, wie ich über die Straße auf den fremden Mann zu spurtete.

 

„Hallo!“

Ich riss die Hand nach oben, denn er schien in der Galerie verschwinden zu wollen, und meine Angst überrollte mich wie ein zu schneller Zug. Was, wenn ich die Türe hinter ihm nicht würde öffnen können? Was, wenn er dort drin verschwand, und meine Suche nach ihm wie eh und je vergeblich?

Der Mann hob den Kopf, aber sein Gesicht sah ich nicht, und aus lauter Panik packte ich ihn am Arm. Ich klammerte mich an ihn, als wäre ich ertrinkend oder völlig von Sinnen, und sofort spannte sich sein Körper an.

„Bitte, gehen sie nicht!“

Ihn zu berühren, den bekannten Stoff unter meinen Händen zu spüren, war mehr, als ich ertragen konnte. Mein Herz schlug schneller, als ich es je erlebt hatte, und am liebsten hätte ich ihn umarmt. Das einzige was mich davon abhielt, war die Anspannung ihn ihm, und das Zittern meiner Hand auf seinem Arm.

„Bitte?“

Die erstaunte Stimme klang wie Leos, und sofort hüllte sie mich ein. Ja, das musste er sein. Gott sei dank, es gab ihn wirklich!

Der Mann drehte sich zu mir, und sofort ich sah die hellblauen Augen, die meine Theorie zur Wahrheit machten. Nie vorher war ich erleichterter und glücklicher gewesen, und ich lächelte ihn an.

„Es ist so schön, dich zu sehen, ich dachte schon, wir sehen uns nie wieder!“

Er lächelte ebenso, wenn auch etwas irritiert, und er nahm mir der freien Hand den Hut von seinem Kopf.

„Kennen wir uns?“

Das Lächeln gefror in meinem Gesicht, und erst jetzt wurde mir klar, dass das hier nicht Leo war. Er sah ihm ähnlich, sehr sogar, aber die Farbe seiner Haare war heller, und auch die Gesichtszüge waren anders. Die blauen Augen stimmten, auch die Statur und die Größe, aber er war es einfach nicht.

„Ich... also...“

Ich stotterte, aber eigentlich hatte ich nichts zu sagen. Was tat ich hier eigentlich? Hatte ich wirklich geglaubt, auf Leo zu treffen, den Geist aus meinem Traum? Auch wenn die Ähnlichkeit verblüffend war, und auch die Stimme mir so vertraut vorgekommen war, so war dieser Mann nicht Leonard.

„Geht es ihnen gut? Sie sehen etwas blass aus?“

Seine Stimme klang besorgt, und ich nickte schwach. Nein, gut ging es mir nicht, und vermutlich würde ich gleich das Bewusstsein verlieren.

„Möchten sie sich vielleicht setzen?“

Er griff nach meinem Arm und schob mich durch die Türe in die Galerie, in der mich sofort der Geruch von Dachboden und Ölfarbe umhüllte. Vertraut und heimelig, als sei ich endlich Zuhause angekommen, und ich ließ mich auf mein altes Sofa sinken, dass sich genauso anfühlte wie in meinen Traum.

Der Mann kniete sich vor mir auf den Boden und ich sah die Sorgenfalten auf seiner Stirn. Leo hatte diese nie gehabt, nie hatte er besorgt so ausgesehen, und die Ähnlichkeit schien mir bei weitem nicht mehr so enorm.

„Soll ich einen Krankenwagen holen? Sie sehen wirklich sehr blass aus?“

Er legte die Hand auf meine Stirn und ich schloss die Augen, aber die Berührung kam mir ebenso wenig bekannt vor, wie der Rest von ihm. Seine Hand war eine andere, und die Enttäuschung lähmte mich fast gänzlich.

Es kostete mich all meine Kraft, überhaupt nur den Kopf zu schütteln, und nur langsam verarbeitete ich das eben erlebte. Für Sekunden hatte ich ihn gesehen, geglaubt es könnte ihn wirklich geben, aber die Realität hatte mich eines Besseren belehrt.

Ich hatte diesen Fremden überrumpelt, mich völlig zum Deppen gemacht, und hätte es eigentlich besser wissen müssen.

„Nein... Es geht schon wieder...“

Das Letzte, was ich brauchte, war ein weiterer Besuch bei Alex im Krankenhaus. Und Schock und Enttäuschung war sicher keine Diagnose, die man dort tatsächlich behandeln konnte. Ein gebrochenes Bein war ein Fall für ein Krankenhaus, mein gebrochenes Herz, wohl eher einer für einen sehr guten Psychiater.

„Das sieht nicht so aus, wenn sie mich fragen. Was ist denn passiert, ist ihnen schlecht geworden?“

Ich versuchte, jeden Blickkontakt zu vermeiden, und nickte nur erneut, weil das sicher noch die plausibelste und ehrlichste Antwort war. Ja, mir war schlecht, sehr sogar.

„Aber vorher, vorher wollten sie doch etwas von mir?“

Sein Blick war auffordernd, und ich überlegte krampfhaft, was ich darauf nun antworten sollte. Ich war über die Straße gelaufen, ich hatte ihn angesprochen, und konnte das wohl kaum mit der Wahrheit erklären.

„Ich... Ich dachte, ich kenne sie, aber ich habe mich geirrt.“

„Sicher kennen sie mich, sie sehen mich doch praktisch jeden Tag. Sie arbeiten doch gegenüber, ich hab sie dort gesehen. Aber die letzten Wochen nicht, waren sie in Urlaub?“

Das Lachen stieg in meiner Kehle auf, ohne das ich etwas dagegen tun konnte. Urlaub. Nein, Urlaub war das sicher nicht gewesen.

Ich lachte, obwohl mir eigentlich nicht danach war, und selbst ich fand, dass es bitter klang.

„Nein. Kein Urlaub. Ich hatte einen Autounfall, und war krankgeschrieben.“

„Ein Unfall? Geht es ihnen wirklich gut? Sind sie verletzt?“

Die Stimme klang so mitfühlend, so aufrichtig besorgt, dass ich unweigerlich den Kopf heben musste.

Die blauen Augen stachen in mein Herz und sofort dachte ich, dass es doch Leo sein musste. Niemand sonst hatte diese Augen, niemand sonst auf der Welt.

Die Augen, die Stimme, die Art wie er sich bewegte, all das war Leonard. Was passierte hier gerade, und wer zur Hölle tat mir das an? Womit hatte ich all das verdient, und warum konnte ich es nicht aufhalten?

Ein Gespräch mit diesem Mann, der eine merkwürdige Kopie zu sein schien, war sicher das Letzte, was ich aktuell brauchte. Aber ich hatte ihn überfallen, ich hatte mich an seinem Arm festgeklammert, als sei er eine Rettungsboje, also war ich ihm auch eine Erklärung schuldig.

„Nein, es geht mir gut. Aber heute war mein erster Arbeitstag, und vielleicht habe ich mich etwas übernommen.“

„Kann ich irgendetwas für sie tun?“

Verschwinde aus meinen Leben. Etwas anderes konnte ich nicht denken, denn ich wollte ihn einfach nicht sehen. Er gehörte nicht zu mir, nicht so wie Leo es getan hatte.

Was also blieb mir, um endlich all dem Entfliehen zu können?

Schlagartig fiel mir die Ballerina ein, und ich hoffte, sie würde mir einen Ausweg schaffen.

„Ja, ich denke das können sie. Ich möchte das Bild im Schaufenster kaufen, das mit der Ballerina.“

Bevor auch er mich für verrückt erklärte, musste ich wenigstens das Bild haben. Vermutlich würde er mit einer Wahnsinnigen wie mir kein weiteres Wort wechseln wollen, und bevor er beschließen würde, dass er es mir nicht verkaufte, musste ich zumindest versuchen.

Was so ein Bild kosten würde, davon hatte ich keine Vorstellung, aber zur Not würde ich das Geld der Versicherung investieren, anstatt ein neues Auto zu kaufen. Ich musste es haben, egal was es mich kosten würde.

„Den Degas?“

„Ja, den Degas.“

„Mein Opa hat ihn gemalt, eigentlich bin ich nicht sicher, ob ich ihn verkaufen möchte.“

Ich starrte ihn an, weil ich absolut nicht verstand, was er da gerade sagte, und schlug dann die Hände vor den Mund. Opa? Leo hatte das Bild gemalt, niemand anderes, und dieser hatte keine Kinder.

„Das kann nicht sein. Ich weiß, wer es gemalt hat, und dieser jemand hatte keine Kinder.“

Er hob eine Augenbraue, und sofort sah er Leo noch ähnlicher als ohnehin schon. Die Art wie er es tat, wie die stahlblauen Augen dabei leuchteten, war ohne Zweifel das Verhalten von Leonard.

„Kennen? Das glaube ich kaum. Er ist vor sehr langer Zeit gestorben, in den späten fünfziger Jahren. Selbst mein Vater hat ihn nicht mehr kennengelernt, er ist vor seiner Geburt gestorben.“

Panik. Unverständnis. Panik.

Was auch immer da gerade mit mir und meinem Geist geschah, ich konnte es einfach nicht einschätzen. Was er erzählte, klang nach Leonard, aber es konnte doch einfach nicht sein? Ich kannte weder ihn noch die Geschichte, nur das, was Leo mir erzählt hatte, und doch ergab es auf völlig absurde Art Sinn.

„Wie ist ihr Name?“

Ich schlang die Arme um meinen Körper und sah ihn an, aber eigentlich kannte ich die Antwort bereits. Auch wenn alles in mir sich gegen diese Tatsache wehrte, so schien sie mir so klar wie der Himmel über der Stadt.

„Niclas Jones, kennen sie meinen Vater? Oder kannten sie Bertram?“

Bertram. Er kannte Bertram!

Ich kniff mir in den Arm. Feste. Das hier musste ebenso ein bescheuerter Traum sein, einer von der Sorte, die absolut niemand brauchte. Dieser Mann erzählte mir gerade, dass ich ehrlich und wirklich den Verstand verloren hatte. Auch wenn ich mir eingeredet hatte, dass ich es nicht war, so war es doch jetzt sicher. Ich war verrückt geworden, und wenn ich das nächste Mal aufwachte, dann würde ich in einem Zimmer mit Gummimatten an den Wänden sitzen.

Was auch immer mein Geist da für eine Geschichte zusammensponn, sie war einfach zu verrückt. Nie hatte ich ein Buch oder einen Film mit einer solch abstrusen Handlung gesehen, und so viel Phantasie hatte ich mir gar nicht zugetraut.

Wenn also auch das hier ein Traum war, dann würde ich ihn eben zu Ende träumen müssen.

„Ja, ich kannte ihn.“

„Sie wissen, dass er tot ist?“

Ich kniff erneut zu, so dass es wirklich schmerzte, aber es änderte sich nichts. Er saß vor mir, sah mich an, und schien noch immer besorgt.

„Ja, hab ich gehört. Was ist mit ihm passiert?“

Bitte lieber Gott, lass ihn einen schönen Tod gehabt haben. Wenn ich mir eins wünschte, dann, dass dieser Mann kein Leid erfahren musste.

„Er war alt, aber das wissen sie ja. Er ist eingeschlafen, im Beisein seiner Familie.“

Ich fühlte die Tränen aufsteigen und beschloss im gleichen Moment, dass ich sie zulassen würde. Nie wieder würde ich so starke Emotionen verstecken, nie wieder würde ich die gleichen Fehler machen.

Auch wenn das hier vielleicht nicht die Realität war, und auch Bertrams eigentlich schöner Tod meiner Phantasie entsprungen war, so tat es doch trotzdem weh.

„Das tut mir wirklich sehr leid.“

Ich schniefte in den Ärmel meiner Strickjacke und wusste einfach nicht weiter. All das war zu viel, um es zu verarbeiten, zu viel, um es zu verstehen, und zu absurd.

Meine Hand suchte nach der Haarnadel in meiner Jackentasche, die ich noch vor wenigen Stunden einer Kundin auf der Frisur gezogen hatte. Ich drückte sie so fest wie nur möglich in meinen Finger, bis ich spürte, das Blut an meinem Finger herablief, aber es veränderte sich nichts. Ich wachte nicht auf, der Mann war da, und außer das es schmerzte, konnte ich keine Veränderung an mir selbst erkennen.

Ich zog die Hand aus der Jackentasche und wischte das Blut am Ärmel meiner Jacke ab, peinlich darauf bedacht, möglichst unauffällig zu sein.

Zu schlafen schien ich also nicht, dafür waren der Schmerz und das Blut zu real, also musste ich wohl wach sein.

Wenn das was er sagte, stimmte, wovon ich aktuell ausgehen musste, wo war ich dann wirklich gewesen? In einer Zwischenwelt, wo die Zeit einen anderen Takt hatte?

War ich wirklich irgendwo gewesen, wo normale Leute eigentlich nicht hinkamen, und war zurückgekehrt?

Und wenn dem so war, was für einen Sinn sollte das haben?

„Muss es nicht. Er hat ein gutes Leben gehabt, da können sie sich sicher sein.“

„Wieso haben sie das Haus gekauft?“

Fragen zu stellen schien mir sinnvoll, immerhin würde ich vielleicht irgendwann über etwas Brauchbares stolpern, und so beschloss ich, dass ich einfach so lange Fragen stellen würde, bis sich draus irgendetwas ergab. Vielleicht würde ich doch noch aufwachen, weil mein Gehirn einfach aufgeben würde, oder das Ganze würde sich als riesiger, lächerlicher Irrtum herausstellen. Oder das hier war tatsächlich die Realität, und ich musste einfach herausfinden, was zu all dem geführt hatte.

Zu fragen, warum er gerade dieses Haus gekauft hatte, obwohl es zu ihm so gar nicht zu passen schien, kam mir dabei als guter Einstieg vor. Unverbindlich, durchaus nicht abwegig, und daher absolut nachvollziehbar.

Die viel wichtigere Frage war für mich allerdings: Wenn irgendetwas an all dem wirklich stimmte, warum hatte Bertram Leo nichts von einem Sohn erzählt? Warum hatte er, obwohl er um Leos Anwesenheit hier gewusst hatte, diese wichtige Information verschwiegen?

Fragen konnte ich das wohl kaum, jedenfalls nicht gerade heraus, und so musste ich eben mit dem arbeiten, was er mir anbot.

„Das kann ich ihnen gar nicht so genau sagen, es war wie ein Zwang. Ich habe von der Geschichte meines Großvaters erst sehr spät erfahren, ich hab nicht mal gewusste, dass er Maler war. Es hat nie jemand mit mir darüber gesprochen, und das Thema war nie aufgekommen. Aber dann hat es mich interessiert, und irgendwie wollte ich ihm nahe sein. Obwohl ich ihn nicht kannte, scheine ich doch viel mit ihm gemeinsam zu haben. Die Liebe zur Malerei und zur Kunst, und Bertram sagte, ich hätte seine Augen.“

Ja, er hatte die gleichen Augen. Und noch sehr viel mehr. Er hatte so viel von Leo, das ich tatsächlich in Versuchung war, all das zu glauben.

„Hat ihre Oma ihnen nicht von ihrem Opa erzählt?“

„Nein, erst nachdem ich es von Bertram erfahren hatte. Sicher hat sie manchmal über ihn gesprochen, aber nie über das, was er getan hatte. Es waren wohl andere Zeiten, man sprach über manche Dinge einfach nicht, und es war ja auch schon so lange her. So weit ich es weiß, hat mein Opa nicht mal gewusst, dass meine Oma überhaupt schwanger war.“

Nein, hatte er nicht. Und wenn er es gewusst hätte, wäre das sein ein Alptraum gewesen. Leo, der sich so sehr gewünscht hatte, dass seine Frau glücklich sein würde, hatte nichts von all dem erfahren.

Weder von dem Sohn, noch von all dem anderen, und er hatte auch nie erfahren, dass er einen Enkel hatte, der in seine Fußstapfen trat. Ob das wirklich falsch war, da war ich mir nicht sicher. Leo hatte schwer mit all dem gekämpft, und wäre es nicht noch schwerer gewesen, wenn er davon gewusst hätte?

In seinem Wunschdenken hatte sie neu geheiratet, ein glückliches Leben gehabt, und der Gedanke hatte ihn getröstet.

Vielleicht war es manchmal besser, nicht zu wissen, was sich hinter dem Horizont befand, wenn es doch einfach nur verletzen war.

„Hat sie nie neu geheiratet? Sie war doch noch jung, es wäre doch möglich gewesen?“

„So weit ich weiß, wollte sie, aber hat es dann doch gelassen. Sie hat immer gesagt, dass sie nur einmal die große Liebe getroffen hat, und sich nicht mit einer halben Lösung abfinden würde. Eigentlich halte ich das für übertrieben, aber so war sie eben. Sie begnügte sich nie mit halben Sachen, wie wollte immer das große Ganze. Das hab ich wohl von ihr, ich hasse halbe Lösungen.“

Er lächelte und ich lächelte auch. Wenn Niclas doch nur wüsste, wie ähnlich er Leonard doch war. Wenn er nur einmal sehen würde, wie unglaublich ähnlich sie sich waren.

Die Entscheidung über Schicksal lag bei jedem selbst, und niemand anderer konnte sie treffen. Die Zukunft die Leo sich für seine Frau ausgemalt hatte, war nicht ihr Wunsch gewesen, und diese Entscheidung stand nur ihr alleine zu.

„Hing in ihrer Wohnung ein Bild? Eins von einem besonderen Ort?“

Es hing dort, da war ich mir sicher. Wenn er das mit dem Bild bestätigen würde, dann würde ich es endgültig glauben. Ich würde glauben, dass hier tatsächlich der Enkel meines Traummannes saß.

„Woher wissen sie das?“

Die Erleichterung drang durch jede Faser meines Körpers und ich atmete auf. Egal wie absurd es auch klang, das hier musste einfach echt sein.

„Sagen wir es mal so: Bertram hat mir davon erzählt, davon das sie es erst nach seinem Tod bekommen hat.“

Die Lüge fiel mir nicht schwer, immerhin war es nur eine kleine, und jeder noch so kleine Schritt zur Wahrheit, rechtfertigte diese.

„Das stimmt. Es war ihr sehr wichtig, und manchmal hat sie stundenlang darauf gestarrt. Mir war das manchmal fast unheimlich, aber danach ging es ihr eigentlich immer besser.“

Ich nickte, denn ich wusste mittlerweile, wie tröstend ein Bild sein konnte. Auch ich wollte eine Erinnerung, eine in die ich würde flüchten können.

„Was passiert jetzt mit all den Bildern?“

Der Gedanke all das hier zu verlieren, tat weh. Leere Räume würden nicht mehr die gleichen sein, und wo würde Leo dann sein? Wo sollte er hin, wenn dieser Ort dem Erdboden gleich gemacht wurde?

Wenn irgendetwas an all dem wahr war, und er tatsächlich noch hier war, dann brauchte er diesen Ort.

Er brauchte die Bilder, ein Bett und ein Bad, und wenn all das hier verschwand, dann würde es einfach nicht mehr für ihn möglich sein, hier weiter zu leben.

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es ist schön, etwas von ihm zu haben, aber die Dinger sind heute praktisch unverkäuflich. Seit Monaten schon versuche ich, hier Ordnung reinzubekommen, aber so wirklich gelingt es mir nicht. Viele davon ergeben überhaupt keinen Sinn, es sind einfach nur Räume und Situationen, und sicher kauft die niemand.“

Er zeigte auf ein Bild neben dem Sofa und ich sah den Frühstückstisch auf der Terrasse. Sofort begann mein Herz zu rasen, und ich kniff die Augen zusammen.

Das konnte einfach nicht sein, dieses Bild existierte gar nicht wirklich. Ich hatte es geträumt, zusammen mit all dem anderen, und nun stand es hier neben mir, und staubte still vor sich hin. Auch wenn ich vielleicht glauben konnte, dass Niclas sein Enkel war, so schien mir das doch zu weit hergeholt.

Was an all dem hier war Realität, was einfach nur ein Traum, und welche Grenze würde all das haben?

Ich war dort gewesen, hatte die Kaffeekanne auf dem kleinen Tisch berührt, und das konnte doch nun wirklich nicht sein.

Zu akzeptieren, dass ich aus unerfindlichen Gründen, die Geschichte seiner Familie kannte, das konnte ich ja vielleicht noch zulassen. Auch wenn es unwahrscheinlich klang, und sicher alles anderes als normal war, konnte ich damit noch umgehen. Aber das hier?

Das hier ein Bild stand, in dem ich mich bewegt hatte, sogar gegessen hatte, das war einfach unmöglich.

Trotzdem fand ich seine Worte verletzend, immerhin hatte Leo das Bild gemalt, und jetzt stand es kurz vor dem Scheiterhaufen irgendeiner Müllhalde.

„Das Bild ist doch schön!“

Dass irgendjemanden diese Schönheit nicht erkennen würde, konnte ich einfach nicht glauben. Nie hatte ich schöner gefrühstückt als an diesem Ort, und nie wieder würde es der Fall sein.

Erst jetzt war mir klar, dass ich mich von keinem der Bilder würde trennen können. Nicht von dem Bad, nicht von der Mohnwiese, und vermutlich auch von keinem anderen.

Jedes hatte seine Geschichte, jedes war eine direkte Verbindung zu Leo, und daher für mich wertvoller, als alles, was ich je besessen hatte.

Ich würde die Wände meiner Wohnung damit pflastern, falls nötig auch einen anderen Ort dafür finden, aber ganz sicher würde ich eins nicht zulassen: Das auch nur eins der Bilder auf dem Müll oder einem anderen mir unbekannten Ort wanderte.

„Es ist gut gemacht, ja, aber würden sie es sich an die Wand hängen?“

Ja, würde ich. Zusammen mit allen anderen Bildern. All diese Bilder würde ich aufhängen, dicht an dich, um keine einzige Erinnerung daran zu vergessen.

„Ja, natürlich. Sie etwa nicht?“

Er schüttelt irritiert den Kopf.

„Äh... Nein?“

Ich ließ die Schultern hängen, denn sicher hatte er recht. Nur ich würde diese Bilder mögen, und nur ich würde mir das Gemälde mit dem einfachen Schlafzimmer, mit Freuden an die Wand meines Wohnzimmers hängen. Auch dann, wenn es dort einfach nicht hinpassen würde.

„Schon gut, ich glaube, ich bin nicht ganz zurechnungsfähig...“

Ich strich mir eine Strähne Haare aus der Stirn und rieb mir mit den Händen durchs Gesicht. Das alles war einfach zu viel für mich. Zu viele absurde Informationen, zu viel Unwahrscheinlichkeiten.

„Ich finde sie eigentlich ganz amüsant, wenn auch etwas merkwürdig. Aber sie scheinen eine Kunstliebhaberin zu sein, das finde ich sehr sympathisch. Wie ist ihr Name, meine Liebe?“

Meine Liebe. Das waren Leonards Worte!

Ich sah den Mann an und suchte nach mehr davon, aber Niclas lächelte nur, als würde er meine Suche absurd finden. Er war ihm ähnlich, in so vielen Dingen, aber weder wusste er es, noch war er eine Kopie. Er schien wie eine andere Version von ihm, eine die mehr in die Neuzeit passte, und die trotz all der vielen Parallelen, doch ganz anders war.

„Spencer, mein Name ist Spencer.“

„Schön sie kennenzulernen, Spencer. Es ist mir ein Vergnügen.“

Keine Frage nach dem merkwürdigen Namen, keine Überraschung. Sprachlos starrte ich ihn an und fragte mich, warum ich eigentlich so enttäuscht war. Wenn es Leo nicht mehr gab, so gab es doch ihn, und immerhin hatte dieser Mann sehr viele Eigenschaften, die mich an ihn erinnerten.

Ihn als Trostpflaster anzusehen war nicht meine Absicht, aber irgendwie war er es. Vertraute Züge und Verhaltensweisen taten mir gut, so viel stand fest, und sollte ich ihn wirklich so behandeln, obwohl er für all das nun wirklich nichts konnte, und noch nicht mal davon wusste?

Tat ich gerade, was ich sonst immer tat, und verurteilte jemanden, den ich im Grunde gar nicht kannte?

Er war nett zu mir gewesen, ohne dabei aufdringlich zu sein, und er hatte absolut nichts getan, was meine Abwehr rechtfertigte. Nicht jemand anders zu sein, das konnte ich ihm nicht vorwerfen, und hatte ich ihn nicht schon vor all dem als anziehend empfunden?

Ich hatte für ihn geschwärmt, lange bevor ich Leonard überhaupt gekannt hatte, und warum ließ ich es nicht einfach zu? Warum lernte ich ihn nicht einfach kennen, wo er doch die einzige Verbindung zu Leo war?

Leo hatte mir beibringen wollen, dass ich Freundlichkeit einfach annehmen sollte, ohne sie zu hinterfragen.

Ohne die „Wenn“ und „Aber“ dieser Welt über mich herrschen zu lassen, und ohne, nach dem Morgen und Übermorgen zu fragen.

Was, wenn meine Erlebnisse mit Leonard eine Vorbereitung für das hier waren? Was, wenn erst der Weg geebnet werden musste, um ein Kennenlernen mit Niclas überhaupt möglich zu machen?

Gab es so etwas wie Schicksal, und hatte Leo mich darauf vorbereitet, meins zu erfahren?

Mein altes Ich hätte es nicht mal versucht. Mein altes Ich hätte ihn nie angesprochen, nie ein Treffen auf diese Art zugelassen, und selbst wenn es aus anderen Gründen dazu gekommen wäre, hätte ich alles dafür getan, dass Niclas und ich uns nicht näher kennenlernen würden.

Weil ich damals fest geglaubt hatte, dass es nichts bringen würde, und daher jede der vielen Möglichkeiten gar nicht erst zustande hätte kommen lassen.

„Mir auch, Niclas. Wirklich.“

Ich wiederholte das Mantra in meinem Geist zum hundertsten Mal. Sei nicht misstrauisch, suche nicht nach Fehlern, die nicht existieren.

Jemanden wie ihn hätte ich in der Vergangenheit ebenso wenig angesprochen wie Leonard, und nie wäre ich auf die Idee gekommen, so jemanden in meine Leben zu lassen. Aber jetzt war praktisch alles möglich, und ich würde es annehmen. Meine Grenzen würden andere sein, jenseits der Vergangenheit, und ich würde mich nicht mehr minimieren lassen.

Wenn all das mit Leo eine Lektion war, dann würde ich beweisen, dass ich sie verstanden hatte.

 

  1. Kapitel 22:

Ich stand auf, sicher würde Grete mich schon vermissen, und reichte dem fremden Mann die Hand.

„Ich muss gehen, meine Chefin erwartet mich sicher.“

Er sah enttäuscht aus, fast als hätte er etwas anderes erwartet, und ich hielt inne.

„Wie schade. Es war schön, jemanden zu treffen, der Bertram auch kannte. Er fehlt mir, und eigentlich weiß ich gar nicht so genau, was ich mit all dem jetzt anfangen soll.“

Er machte eine ausschweifende Handbewegung durch den Raum, und sofort wurde mir klar, dass ich den wichtigen Teil bei all dem vergessen hatte: Wenn er das alles hier räumte, wenn die Galerie verschwinden würde, wohin sollte dann Leo?

Im Trubel der letzten Minuten war die Frage aufgetaucht, aber ich hatte sie nicht ausgesprochen, was ich nun bitter bereute.

Das wichtigste überhaupt, und das Einzige, was am Ende wirklich zählte.

„Sie dürfen die Galerie nicht auflösen!“

Ich klang hektischer als gewollt, und er zuckte zusammen, weil meine Stimme so schrill klang.

„Aber was soll ich mit all dem? Ich habe eine eigene Galerie, aber nicht hier. Das hier funktioniert doch einfach nicht mehr, niemand kauft die Bilder, schon gar nicht an diesem Ort.“

Wie sollte ich das jetzt erklären?

„Aber das hier sind doch Erinnerungen. Ihr Opa hat sich so viel Mühe mit all dem gemacht, es wäre doch schade, sie zu zerstören. Ihnen gehört doch das Haus, sie können es doch einfach alles so lassen?“

Klang dämlich. Warum auch sollte er weiter dem Staub die Macht überlassen, wenn er doch vielleicht etwas ganz anderes mit den Räumen tun konnte?

Aus vielen der alten Geschäfte war Wohnraum entstanden, und ganz sicher hatte auch er nicht vor, das Haus einfach in seinem Urzustand zu belassen.

„Das ist der Grund, warum ich mich mit dem Ausräumen so schwertue. Immer wieder nehme ich ein Bild, sehe es an, und stelle es dann doch zurück. Ich bringe es einfach nicht über das Herz, all das dem Container zu überlassen. Ein paar von den Reproduktionen werde ich mit in meine Galerie nehmen, aber der Rest?“

Ich sah in den Hinterraum, in dem noch immer Berge von Bildern an den Wänden gelehnt standen. Ich hatte lange nicht alle gesehen, und er vermutlich auch nicht.

Dort gab es noch so viel zu entdecken, so viel zu lernen, und ich würde einfach nicht damit aufhören können.

„Aber was, wenn wir eine Ausstellung machen? Wenn wir die guten aussortieren, und sie ausstellen, damit die Leute sie sehen können?“

„Hier? Am Ende der Welt, kurz bevor die Erdplatte endet? Wer soll da kommen?“

Stimmte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Dorfgemeinschaft sich zum Betrachten von alter Kunst zusammenfand, ging gegen Null. Kommen würde überhaupt nur jemand, wenn es kostenloses Bier gab, und verstehen würden es die meisten auch nicht. Ebenso wie ich nichts davon verstanden hatte, bevor ich die Ballerina getroffen hatte.

„Aber das Haus gehört ihnen doch, es kostet sie nichts?“

Wenigstens ein Versuch. Ein Versuch diesen Ort zu retten.

„Sicherlich, aber sehen sie sich das hier an, hier herrscht das Chaos und der Staub von vierzig Jahren. Auch wenn ich mir einbilde, es ist seit dem letzten Mal etwas besser geworden...“

Er fuhr mit dem Finger über einen der Bilderrahmen neben sich, und kein Staub blieb daran haften. Konnte es auch nicht, immerhin hatte ich ihn abgewischt, als ich versucht hatte, den Raum in ein halbwegs erträgliches Ambiente zu verwandeln.

Wenn ihm das schon auffiel, dann musste ihm doch ebenso auffallen, dass viele der Bilder nicht mehr an ihrem Platz standen? Wie würde er sich das erklären, oder wie sollte ich damit umgehen?

Immer mehr wurde mir klar, dass der Traum vielleicht gar nicht wirklich einer gewesen war, und das ich tatsächlich hier gewesen sein musste.

Wie auch immer ich das geschafft hatte, wer auch immer für all das hier verantwortlich war, er hatte ganz sicher einen Plan.

All das musste für etwas gut sein, und auch jetzt war ich nicht ohne Grund hier. Unsere Wege kreuzten sich, weil es einfach so sein sollte, und auch Niclas würde das irgendwann erkennen.

Das hier war kein Zufall, keine Verkettung von merkwürdigen Umständen. All das folgte einem Plan, auch wenn ich diesen vielleicht noch nicht kannte.

„Vielleicht war die Familie von Bertram hier? Um ein paar Sachen zu holen?“

Ich versuchte, so ahnungslos wie möglich zu klingen, und sah an ihm vorbei, damit er meine Augen nicht sah. Diese Lüge war sehr viel größer, aber auch hier bildete ich mir ein, dass der Zweck die Mittel heiligte.

„Kann sein, das macht Sinn. Hier ist es auch irgendwie aufgeräumter...“

Er sah sich um und ich atmete durch. Diese Gefahr war eindeutig gebannt.

„Lassen sie es uns gemeinsam tun, ich helfe ihnen. Wir räumen hier auf, bringen neue Farbe an die Wände, und dann sehen wir weiter. Sie können nichts anfangen mit dem Laden, warum also sollten sie nicht nutzen, was ihnen ohnehin zur Verfügung steht?“

Er sah unschlüssig aus, aber zumindest als würde er darüber nachdenken, und ich hoffte inständig, dass mein Vorschlag nicht zu aufdringlich wirken würde.

Wir kannten uns erst weniger als eine halbe Stunde, auch wenn es mir vielleicht anders vorkam, und ich drängte mich hier förmlich auf.

Was ich hier gerade tat, war ihm meinen Willen förmlich aufzuzwingen, auch wenn er es vielleicht nicht so sah.

Trotzdem schien es mir die einzige Chance etwas zu retten und vielleicht das Ruder herumzureißen.

„Sie? Mir helfen? Das müssen sie nun wirklich nicht tun!“

Ich erkannte sofort mich selbst in ihm. Misstrauen.

Er klang, wie ich sonst klang. Hilfe anzunehmen alleine schien schon eine Unmöglichkeit, von einer Fremden erst recht.

Vielleicht war das ein Problem der Menschen heute, sie alle misstrauten einander. Auch wenn er nicht grundsätzlich so zu sein schien, hatte auch er bei weitem nicht die Offenheit, die Leo mir gegenüber an den Tag gelegt hatte.

Ganz sicher lag es bei mir, ihm etwas anderes klar zu machen. Ich würde umsetzen müssen, was ich gelernt hatte.

„Warum nicht? Ich möchte es, und warum sollte ich nicht?“

Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare, und nur kurz sahen sie dunkler aus. Fasziniert sah ich zu, wie die Person vor mir sich in Leonard verwandelte, nur um kurz darauf wieder Niclas zu sein. Es schien wie ein Flackern, ein kurzes Aufflammen, und als hätte jemand für Sekunden einen Schalter umgelegt.

„In Ordnung. Aber ich hab wirklich keine Ahnung, wo wir anfangen sollen.“

Innerlich hopste ich im Kreis, aus lauter Freude ihn überzeugt zu haben, aber ich tat es natürlich nicht.

„Hören sie, Niclas, ich muss erst zurück zur Arbeit. Sonst krieg ich sicher ärger. Aber ich komme danach, das verspreche ich.“

Ich trat zur Tür und gratulierte mir selbst für meinen Mut.

Mein Schatten war weniger dunkel, darüber zu springen im Grunde kinderleicht, und ich würde es wieder tun. Ich würde alte Grenzen überschreiten, neue Dinge erleben, und mich nicht mehr kleiner machen, als ich es im Grunde war.

 

  1. Kapitel 23:

Selbst nach der fünften Frage von Grete knickte ich nicht ein, und grinste stattdessen still in mich hinein.

Natürlich ließ sie sich nicht von mir abspeisen, aber ich ließ mich auch auf keine Diskussion mit ihr ein, denn eigentlich gab es ja auch nicht viel zu tratschen.

Grete, die eigentlich der Bildzeitung gleich kam, fragte ununterbrochen, wen ich denn nun dort getroffen hatte, und wollte nicht nur die wichtigen, sondern auch die unwichtigen Informationen, sofort erfahren.

Ich überließ ihr keine Einzelheiten, zu seltsam war die Begegnung auch für mich gewesen, aber erzählte zumindest grob von Niclas.

Reichen würde ihr das auf keinen Fall, aber ich blieb hart, und irgendwann gab sie auf.

Wie unzufrieden sie damit war, sah man ihr deutlich an, aber was hätte ich auch sagen sollen?

All die seltsamen, übernatürlichen Dinge, die ich erlebt hatte? Sollte ich ihr etwa sagen, dass ich dort den Mann meiner Träume getroffen hatte, und nun seinem Enkel gegenüber gestanden hatte?

Sicher nicht, denn all das würde sie mir nie und immer glauben, und auch ich hätte Mühe, wenn mir irgendjemand eine derart haarsträubende Geschichte auftischen würde.

Trotzdem fühlte ich mich glücklich, immerhin hatte ich einen Weg zurück in die Galerie gefunden, und auch Niclas schien nicht unfroh über meine Bekanntschaft.

Auch wenn ich mich erschrocken hatte, so war er mir doch freundlich und ehrlich vorgekommen, und auch die enorme Ähnlichkeit mit Leo hatte mich getröstet.

Was mir das jedoch alles sagen sollte, wenn es sich dann tatsächlich um Schicksal und Fügung handeln würde, das wusste ich nicht.

Sicherlich ergaben einige Dinge Sinn, wie die Veränderung meiner eigenen Ansichtsweise zu vielen Dingen, aber war es wirklich so einfach?

Hatte mir mein Koma eine Möglichkeit aufgezeigt, wie ich vielleicht doch noch mein Leben würde ändern können?

Hatte man mir wirklich Leo geschickt, um mir meine eigenen Möglichkeiten bewusst zu machen, damit eine Beziehung für mich überhaupt möglich sein würde?

Wenn es so war, dann war das eine ziemlich gemeine Art mir diese Lektion zu erteilen, denn ich hatte dabei sehr gelitten.

Ihn mir erst zu geben und dann wieder zu entreißen, schien mir nicht die beste Art, meinem Leben eine neue Richtung zu geben.

Trotzdem musste ich zugeben, dass ich bei Niclas schon anders gehandelt hatte, als ich es vielleicht vor all dem getan hätte.

Nie wäre ich so offen auf jemanden zugegangen, nie wäre ich so freundlich gewesen, und hätte stattdessen sofort versucht, mich in mein Schneckenhaus zurückzuziehen.

Auch der Moment, in dem er mich so gespiegelt hatte, schien mir in Nachhinein sehr merkwürdig. Für Sekunden hatte ich mich gesehen, mein misstrauisches und verschlossenes Ich, und ich hatte es geschafft diese Türe zu bei ihm zu öffnen, so wie es Leonard bei mir getan hatte.

Wie stolz ich darauf sein konnte, wurde mir erst jetzt klar.

Ich hatte, ohne das es mir wirklich bewusst gewesen war, die Türe zu ihm geöffnet, und es hatte nicht mal wehgetan.

Dass ich mehr konnte, als ich eigentlich glaubte, das hatte ich von Leonard gelernt, und ich hoffte einfach, dass ich das weiter ausbauen können würde.

Vielleicht würde ich es schaffen, dass er die Galerie erhielt, in welcher Art auch immer, und vielleicht würden wir uns besser kennenlernen.

Ich würde mit ihm über die Bilder sprechen können, er könnte mir von den Malern erzählen, und ich würde meine Gedanken mit seinen teilen können.

Nicht alles verloren zu haben, fühlte sich gut an, und ich sehnte den Feierabend herbei, um mich selbst auf die Probe zu stellen.

 

Kaum hatte Grete die Türe hinter uns geschlossen, packte mich die Aufregung. Da ich unmöglich in ihrer Anwesenheit die Straße überqueren konnte, tat ich, als würde ich gehen.

Kaum war ich um die nächste Straßenecke gebogen, lehnte ich mich an die Mauerwand und zählte bis Zehn. So langsam wie es mir mit meinem pochenden Herzen möglich war, und so quälend langsam, das ich selbst von mir genervt war.

Fünf, sechs, sieben...

Ich sah vorsichtig um die Ecke, wo Grete noch immer vor dem Laden stand, und sich mit einem Nachbarn unterhielt. Es sah nicht aus, als würde sie das Gespräch so schnell beenden, und ich verfluchte sie für ihre Tratschsucht.

Warum musste sie gerade heute, wo ich so etwas Wichtiges vorhatte, so ewig lange dort stehen?

An jedem anderen Abend verschwand sie sofort, und immer hatte sie es eilig, denn ihr Mann wartete normalerweise auf sein Abendessen.

Um Punkt sieben wurde bei ihr gegessen, selbst wenn die Hölle gefror, und wie sollte sie das heute noch schaffen?

Ich lehnte mich zurück an die Wand und fragte mich, ob Niclas vielleicht glaubte, ich hätte ihn vergessen.

Sicher sah er, dass der Salon bereits geschlossen hatte, und vermutlich glaubte er nun, ich hätte mein Versprechen gar nicht ernst gemeint.

Mich ärgerte das, nicht nur wegen ihm, sondern auch wegen mir selbst. Ich hatte alles daran gesetzt, den Kontakt mit ihm zu halten, und wenn ich jetzt nicht auftauchte, dann würde er mir sicher noch mehr misstrauen.

Ich ließ die früheren Begegnungen mit ihm Revue passieren, all die Male bei denen ich ihn beobachtet hatte, und in denen er mich wohl auch gesehen hatte.

Nie hatte ich geglaubt, dass ich ihm überhaupt aufgefallen war, aber auch darin hatte ich mich geirrt.

Dass ich nicht unsichtbar war, wie ich es immer geglaubt hatte, tat erstaunlich gut.

Auch er hatte mich wahrgenommen, die Frau hinter dem Fenster, und erst jetzt fragte ich mich, ob er vielleicht ebenfalls über mich nachgedacht hatte.

Ähnlich wie bei der Begegnung mit Leonard, der sich sehr wohl meiner Anwesenheit bewusst gewesen war, und der mich daher kaum als fremde Person wahrgenommen hatte.

Wir hatten uns viele Male gesehen, auch wenn wir den jeweils anderen nicht wirklich angesehen hatten, und vielleicht hatte er sich tatsächlich irgendwann mal gefragt, wer dort hinter der Glasscheibe stand.

Immer hatte ich geglaubt, man würde mich einfach übersehen, weil ich hässlich und eben nur Mittelmaß war, aber vielleicht war das überhaupt nie der Fall gewesen.

Vielleicht hatten Männer mich gesehen, mich vielleicht sogar gut gefunden, und ich hatte jede mögliche Begegnung mit meiner Abwehr verhindert.

Aber warum hatte ich ihn dann nicht gesehen, bei all meinen Blicken in den Laden?

Wenn er doch da gewesen war, und es nicht Leonard war, der Geist, warum hatte ich ihn dann trotzdem nicht gesehen?

Im Nachhinein konnte ich es mir nur so erklären, dass er sich im hinteren Bereich des Ladens befunden hatte, und es für mich deshalb so ausgesehen hatte.

Erfahren würde ich es wohl nie, denn Fragen konnte ich unmöglich danach.

Ich lugte erneut um die Ecke und sah, wie Grete dem Nachbarn zuwinkte, nur um dann endlich in Richtung ihres Wohnhauses zu stapfen.

Ich atmete aus, und zählte erneut bis Zehn, nur um sicher zu gehen, dass sie wirklich weit genug weg war von mir.

Sofort danach rannte ich los, als ginge es hier um mein Leben, und riss die Türe der Galerie mit solcher Gewalt auf, dass Niclas sofort zusammenzuckte.

„Ich bin da!“

Ich rang nach Luft und er sah mich entgeistert an, was mich sofort daran erinnerte, wie dämlich ich mich gerade benahm.

Er stand im Durchgang zum hinteren Zimmer, ein Bild auf dem Arm, und sah so aus, als hätte ich ihm den Schreck seines Lebens verpasst.

Auch er hatte sein Jackett abgelegt, die Krawatte entfernt, und die oberen Knöpfe seines Hemdes geöffnet.

Wie ähnlich er auch dabei Leo war, konnte ich kaum sagen. Der Stich in meinem Herzen war nicht so stark, wie ich ihn vielleicht erwartet hatte, aber er war da.

Leo würde ich vielleicht nie wieder sehen, nie mehr mit ihm sprechen können.

„Ist was passiert?“

Er sah noch immer verstört aus, und ich versuchte meine Atmung zu kontrollieren, was mir kaum gelang.

„Nein, alles gut.“

Ich japste weiter, und ärgerte mich enorm über meine Unsportlichkeit. Ein paar Meter über die Straße gespurtet, und es sah aus, als hätte ich einen Marathon beendet.

„Sieht nicht so aus. Warum haben sie sich so beeilt?“

Er ließ das Bild auf den Boden sinken und sah mich noch immer an, und ich überlegte krampfhaft, wie ich das nun erklären sollte.

Die Wahrheit, nämlich wie unfassbar dringend ich bei ihm sein wollte, konnte ich kaum sagen.

„Ich dachte, ich bin zu spät?“

„Zu spät? Wofür?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Zu spät, um ihnen zu helfen?“

„Sieht nicht so aus, ich bin nicht wirklich weitergekommen bei all dem. Es sind einfach zu viele.“

Seine Hand schweifte über die Masse an Bildern auf dem Boden des Hinterraums, und ich sah auf das Bild vor ihm. Das Ehepaar, die weinende Frau auf dem Bett.

„Was glauben sie, was da los ist?“

Ich zeigte auf das Bild und hoffte inständig, seine Antwort würde die Richtige sein. Er hob das Bild wieder hoch und sah darauf. Prüfend, als hätte er sich die Frage noch nie gestellt und als müsse er darüber nachdenken.

„Das hier? Ich weiß nicht, vielleicht gefällt ihm ihr Kleid nicht?“

Dem Impuls ihn zu umarmen gab ich nicht nach, aber ich trat näher und mein Herz hüpfte. Ja, er war wie Leonard. Wie eine andere, aber sehr ähnliche Version.

„Das ist eine gute Interpretation. Viele glauben, es sei das Ende ihrer Liebe, aber ihre gefällt mir besser.“

„Für mich sieht das nicht nach Ende aus, eher wie Alltag.“

Ich strich über das Bild und dann über seinen Arm, was mir persönlich schon sehr aufdringlich vorkam. Fremde Menschen zu berühren, auch das war nicht unbedingt meine Art, aber ich konnte einfach nicht widerstehen.

Er sah auf meine Hand und ein Lächeln umspielte seinen Mund, als sei es ihm nicht unangenehm.

„Also ich finde, das sollten wir auf jeden Fall behalten.“

Ja, das fand ich auch, und wir stellten es in den Laden.

 

Noch viele andere folgten, und so langsam wurde mir klar, wie schwer es war, eine Entscheidung darüber zu treffen. Jedes Bild, egal wie langweilig es schien, hatte seinen eigenen Reiz. Mehr als einmal verstrickten wir uns in Gesprächen, und kamen daher einfach nicht voran.

Mit ihm zu reden fiel mir leicht, und auch ihm schien es Spaß zu machen, denn immer häufiger lächelte er. Er schien entspannt und ausglichen, also war ich es auch, und das Zusammensein mit ihm war einfach angenehm.

„Was ist mit dem? Was glaubst du, was er uns damit sagen wollte?“

Irgendwann bei all dem waren wir beim „Du“ angekommen, fast so wie es bei Leonard passiert war, und ich empfand es als natürlich. Es kam mir vor, als würden wir uns lange kennen und als würde auch Niclas mich wirklich kennen.

Viele unserer Ansichten deckten sich, wir mussten kaum darüber sprechen, und immer wieder bemerkte ich, dass es mir leichter fiel.

Es tat nicht mehr so weh, war eher erleichternd, und auch wenn er in manchen Dingen anders war, so war er doch ein Mensch, mit dem ich gerne Zeit verbrachte.

Er hielt mir die Schlafzimmerszene entgegen, die aus der ich so unsanft aufgewacht war, und mein Magen zog sich zusammen.

„Das war sein Schlafzimmer.“

Ich hatte es ausgesprochen, bevor ich mir darüber im Klaren war, dass ich das eigentlich ja nicht wissen konnte.

„Meinst du? Warum hat er das gemalt?“

„Warum nicht? Er hat es vielleicht gemocht?“

Ich hatte es gemocht, wenn auch nicht auf anhieb. Sicher wollte Niclas es nicht behalten, denn eigentlich war es weder schön, noch sonderlich interessant, aber davon trennen würde ich mich sicher nicht können.

„Glaubst du das wirklich? Warum hat er nicht ein Schönes gemalt, eins, von dem er träumen konnte?“

„Diese Dinge sind wie Mode, sie verändern sich. Und vielleicht war es zu seiner Zeit ein sehr schickes Schlafzimmer? Und vielleicht legte einfach keinen Wert auf Luxus?“

Ich nahm ihm das Bild aus der Hand und fuhr über das raue Leinen. Ja, wir hatten das Schlafzimmer gemocht.

Wir hatten nicht mehr gebraucht als diesen Raum und uns, und genau jetzt fand ich, dass zwei glückliche Menschen nie mehr als das brauchten.

„Du bist ganz erstaunlich, Spencer. Ich hab noch niemanden getroffen, der nicht aus Kunstkreisen kommt, und trotzdem so viel Verständnis hat. Die meisten Leute verstehen überhaupt nicht, was sie da sehen, und versuchen es nicht mal. Aber du versuchst es, und machst dir deinen eigenen Reim darauf. Das finde ich wirklich sehr beeindruckend.“

Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätten seine Worte mir sicher geschmeichelt.

Immerhin traute er mir eine Intelligenz zu, die ich mir selbst nicht zutraute.

„Aber ist es nicht das, was die Maler von uns vordern? Das wir unsere eigene Geschichte daraus machen?“

Er zuckte mit den Schultern und sah mich mit großen Augen an. Offenbar war wirklich beeindruckt, und hatte das nicht nur so gesagt.

„Das stimmt. Seit wann beschäftigst du dich mit Kunst?“

Seit vier Wochen, aber das sagte ich natürlich nicht. Aber was sollte ich stattdessen sagen?

„Noch nicht so lange, aber es macht mir Spaß. Dein Opa war ein toller Maler, hier sind so viele tolle Bilder.“

Ich musst ihn ablenken, unbedingt, sonst würde das hier sicher in einer Katastrophe enden. Es fiel mir so schwer, in anzulügen, denn er glich Leo einfach so sehr. Ständig glaubte ich, mit ihm zu reden, und dauernd vergaß ich, dass Niclas all diese Dinge einfach nicht wissen konnte.

Schon bei dem Bild mit der See, auf der die Gischt so drohend an den Strand katschte, hatte ich mich fast nicht mehr im Griff. Kurz war ich in Versuchung ihn an die Situation zu erinnern, und erst in letzter Minute hatte ich die Frage danach stoppen können.

Mir klar zu machen, dass es eben nicht Leonard war, musste ich unbedingt in den Griff bekommen.

Immer wieder fiel ich in mein Verhalten zurück, manchmal nur für Minuten, aber es geschah, ohne das ich etwas daran ändern konnte.

„Mein Opa war ein Fälscher. Sie dir all die vielen Plagiate an!“

„Eine Fälschung ist es nur, wenn auch der Name von Maler drauf steht. Das hier sind Reproduktionen.“

Er hob eine Augenbraue und nickte dann anerkennend.

„Du hast definitiv den falschen Job, du solltest besser Bilder verkaufen, als Haare schneiden. Ich zumindest hätte dir das hässliche Schlafzimmer sofort abgekauft.“

Ich musste lachen, denn die Vorstellung war absurd. Ich als Kunstverkäuferin, wo ich doch kaum etwas über all die Bilder oder Maler wusste.

„Ich glaube nicht, dafür hab ich definitiv zu wenig Ahnung.“

„Darauf kommt es nicht an. Wissen kann man sich aneignen, aber die Begeisterung, die du hast, die kann man nicht lernen. Man hat sie, oder auch nicht, und du hast sie einfach.“

Schmeichelte er mir schon wieder? Oder bildete ich mir das alles ein?

Ich sah verschämt zur Seite, denn ich fühlte mich unwohl, und mein Blick schweifte hinüber zu der Staffelei und den Farben, die Bertram so mühevoll zurechtgelegt hatte.

„Was ist mit den Sachen, willst du die auch wegwerfen?“

„Nein, ich glaube nicht. Du hast mir den Kopf gewaschen, und vielleicht ist mir ein Weg eingefallen, wie ich diese Räume noch nutzen kann.“

„Wie?“

Ich sah zu ihm, denn ich fragte mich ernsthaft, mit was ich ihm den Kopf gewaschen haben könnte. Ich hatte gestottert, Stuss geredet, und mich völlig blamiert.

„Du hast schon recht, es ist schade um die Räume, und auch um ihre Magie. Mein Opa und Bertram haben diesen Ort gemocht, und ich sollte das auch. Ich denke, ich werde hier ein Atelier einrichten. Eins, in dem ich malen kann, weitab von meiner eigenen Galerie in der Stadt. Ich denke darüber nach, hierher zu ziehen, ich mag das Haus, und wenn die Räume schon zur Verfügung stehen, dann sollte ich sie auch nutzen. Bis heute Mittag war mir das nicht so klar, all das hier war nur Plunder, aber jetzt sehe ich das anders.“

Wegen mir? Ich konnte kaum glauben, dass ich diese Veränderung herbeigeführt haben sollte. Niemand hatte je viel wert auf meine Meinung gelegt, geschweige denn seine, wegen mir überdacht.

„Wirklich? Aber das lag doch sicher nicht nur an unserem Gespräch?“

„Nicht nur, aber auch. Du hast dich so hierfür begeistert, das war einfach ansteckend. Ich war einfach nicht sicher, ob das hier der richtige Ort für mich sein würde, aber ich denke, er ist es.“

Hörst du das Leo, er mag diesen Ort, und er wird dein Zuhause erhalten. Ich sendete alle meine Gedanken in den Raum, und hoffte, sie würden ihn erreichen.

„Das finde ich wirklich toll, eine tolle Idee. Vielleicht bist du deinem Opa hier näher, als du es selbst denkst. Ich glaube nämlich an Geister.“

Ich versuchte ein Lächeln, um zu signalisieren, dass ich nicht verrückt war.

„Das glaube ich auch, jedenfalls an die guten Geister, und ich glaube an Schicksal.“

Er blickte in meine Augen und ich sah den Glanz darin. Ja, an Schicksal glaubte ich auch. Seit heute Mittag besonders, seit ich es wirklich getroffen hatte.

 

Ich trat in den Vorraum und stellte ein weiteres Bild zu denen, die wir behalten würden. Dass wir völlig natürlich über „wir“ sprachen, obwohl wir uns erst wenige Stunden kannten, kam mir weit weniger Merkwürdiger vor, als vermutlich jedem anderen.

Jede Entscheidung hatten wir gemeinsam getroffen, und wann immer wie nicht einer Meinung waren, diskutierten wir so lange, bis wir und doch darüber einig wurden.

Seine Argumentationen waren oft schlüssig, und ich mochte seine Einschätzungen wirklich.

Mein Blick fiel auf das Sofa, und ich bückte mich, um nach meinem Testament darunter zu sehen. Es musst noch da sein, weil ich es dorthin gelegt hatte.

Ich fand es nicht, auch nicht, als ich das Sofa ein Stück zur Seite gerutscht hatte, und war darüber fast ein wenig enttäuscht. Warum war es nicht hier, wenn doch alles andere so echt gewesen war?

„Was machst du da? Willst du umräumen?“

Erschrocken fuhr ich herum, und fühlte mich ernsthaft ertappt.

„Nein, ich dachte nur, dort würde ein Zettel unter dem Sofa liegen?“

Vielleicht hatte er ihn schon gefunden, und er deshalb nicht mehr an seinem Platz?

Niclas bückte sich ebenfalls, und sah unter das ramponierte Sofa, aber auch er fand nichts.

„Da ist nichts, du musst dich irren. Aber hier liegt so viel Zeug, gewundert hätte es mich nicht.“

Wo war der Zettel? Wenn es hier geputzt war, die Staffelei in der Ecke des Hinterzimmers stand, und auch all die Bilder aus meiner Erinnerung hier waren, wo war dann der verflixte Zettel?

„Wirklich nicht? Nichts, was du vielleicht aufgehoben hast, und es nicht mehr weißt?“

Er zuckte mit den Schultern, noch immer wenig misstrauisch oder verstört.

„Nein, kein Zettel. Aber warum interessiert dich das?“

„Ich war mir einfach sicher, ihn gesehen zu haben. Nur deshalb.“

Hatte ich ihn heute Mittag gesehen? Ich gab mir alle Mühe, mich zu erinnern, ob ich den Zettel schon heute Mittag vielleicht unterbewusst gesehen hatte. Ich war durch die Türe gekommen, aber da hatte ich Niclas schon getroffen. Alles was danach gekommen war, verschwamm sofort in großem Durcheinander.

Selbst wenn er dort gelegen hatte, gesehen hatte ich ihn sicher nicht. Zu fasziniert war ich gewesen, und vor allem zu aufgeregt.

„Ich denke, wir sollten für heute Schluss machen, ich muss morgen wieder arbeiten.“

Ich sah auf meine Uhr, die erschreckenderweise schon hinter der Zwölf stand, und ich sah aus dem Augenwinkel sein erschrockenes Gesicht.

„Aber du kommst wieder?“

„Klar, wenn du das möchtest?“

„Natürlich möchte ich das, wenn du das auch willst.“

Irgendwie klang es, als würde er mit mir flirten, auch wenn ich das nicht so richtig einordnen konnte. Er war eine Spur zu begeistert, und sofort schrillten meine Alarmglocken. Wenn etwas so gut lief, dann musste es auch eine Falle dabei geben.

Den ganzen Tag schon schien er so wahnsinnig nett und aufmerksam, und er tat gerade so, als sei ich die absolute Überfrau. Was ich definitiv nicht war.

Auch die Sache mit dem Atelier und dem Umzug fand ich komisch, auch wenn sie mir gut gefiel. Warum entschied sich jemand binnen ein paar Stunden, sein ganzes Leben von einem Ort an den anderen zu verlagern?

„Sag mal, Niclas, gibt es etwas, dass du mir vielleicht sagen möchtest? Im Bezug auf mich, und darauf, wie du dich mir gegenüber verhältst?“

Sofort sah er ertappt aus, als hätte ich ihn soeben bei einer riesen Lüge ertappt, und ich sah, wie sein Kopf rot anlief.

„Was meinst du?“

Ich verschränkte die Arme vor dem Körper, denn er sollte wissen, dass ich ihn durchschaut hatte. Irgendetwas an all dem hier stank zum Himmel, und ich musste unbedingt wissen, was genau es war.

„Was soll das mit dem Umzug, und mit all dem hier? Was ist passiert, dass du so schrecklich freundlich zu mir bist? Wieso willst du plötzlich hierher ziehen, und dein Leben aufgeben?“

Er wandt sich, das sah ich. Ebenso wie ich es getan hatte, als er mich auf den Zettel angesprochen hatte.

„Du würdest es mir nicht glauben, also erzähle ich es besser nicht. Aber glaub mir, ich bin nett zu dir, weil ich dich wirklich sehr mag. Du bist klug und clever, und ich finde, du siehst fantastisch aus, also nimm es erstmal so hin.“

Sicher nicht. Nichts davon. Weder das mit dem guten Aussehen, noch mit dem, was ich angeblich nicht verstehen würde. Wenn es irgendwen auf der Welt gab, der mit merkwürdigen, abstrusen Erklärungen würde umgehen können, dann ja wohl mich.

„Sags mir, Niclas. Sag es einfach. Ich verspreche auch, ich werd dich nicht dafür verurteilen.“

„Tust du doch, denn es ist zu irrwitzig. Du denkst bestimmt ich spinne, und das will ich einfach nicht.“

„Niclas, ich sags nicht nochmal. Was ist passiert?“

Ich versuchte so streng wie möglich zu sein, aber mein Herz schlug so laut, dass ich es selbst hören konnte. Was auch immer passiert war, würde vielleicht von Leo kommen, und ich würde es einfach wissen müssen.

Leonard war weitsichtig, wenn es also irgendeine Nachricht von ihm gab, dann musste auch ich sie wissen. Dass es mit ihm zusammenhing stand außer Frage, und ganz sicher würde ich darauf nicht verzichten können.

Jeder Strohhalm, jede noch so kleine Kleinigkeit, würde ich für den Fortbestand meines Lebens dringend benötigen.

Statt einer Antwort trat er von mir weg, und verschwand im Raum neben uns, nur um Sekunden später mit einem Bild wieder aufzutauchen. Er hielt es mir entgegen, und kaum hatte ich einen Blick darauf geworfen, klappte mir die Kinnlade nach unten.

Das war ich auf dem Bild, in einer dunklen Hose und einem weißen T-Shirt, und ich stand neben einem Mann, der sowohl Leo als auch Niclas sein konnte.

Um uns herum, in einem Raum der dem glich, in dem wir uns befanden, waren nicht nur er, sondern auch ich damit beschäftigt, Bilder an Wände zu stapeln.

Es sah aus, als seien wir beschäftigt, und fast so, als wäre die Szene erst wenige Stunden alt. Zwar trug ich dieses T-Shirt nicht, aber ich hatte es getragen, mit Leo in diesen Räumen.

„Das glaub ich einfach nicht.“

Ich griff nach dem Bild und fuhr über die Farbe, aber sie schien trocken. Es war also nicht neu.

„Du glaubst also doch, ich spinne?“

Nein, glaubte ich eigentlich nicht, aber wie sollte ich ihm das sagen?

Wer auf der Welt würde das hier verstehen, und nicht für völligen Wahnsinn halten?

„Nein, ich halte dich nicht für verrückt. Ich weiß, dass du es nicht bist.“

„Ich hab das Bild gefunden, kurz nach dem du weg warst. Ich konnte es selbst nicht glauben, aber sie sieht die so unfassbar ähnlich. Und schau, der Mann sieht aus wie ich. Das muss doch Schicksal sein, anders geht es doch gar nicht. Dieser Ort hat auf mich und dich gewartet, all die Zeit, und das ist mir klar geworden.“

Ich schüttelte langsam den Kopf, denn all das war eindeutig zu viel. Hatte Leo ihm dieses Bild hinterlassen, quasi als Arschtritt aus dem Jenseits?

„Ja, das sieht wie wir aus. Aber das Schicksal kann man keinem Aufzwingen, und nur weil die Frau aussieht wie ich, musst du dich dem nicht fügen.“

Dass er mich nur so lieb behandelt hatte, weil er glaubte, es zu müssen, tat irgendwie weh. Aber ich wollte definitiv nicht die Frau sein, die er nur traf, weil das Bild ihm das aufzwang.

„So ist das doch nicht. Ich fand dich auch vorher schon nett, ich hatte sogar überlegt dich zum Essen einzuladen, aber ich war zu feige. Aber das hier, das ist der Wink vom Schicksal. Wir müssen uns einfach besser kennenlernen, das Bild verlangt es, siehst du?“

Ungläubig sah ich auf das Bild, und dann auf ihn. Verlangte das Bild das wirklich? Verlange Leo das von mir, damit ich mich diesmal nicht wieder herausreden konnte?

„Das ist...“

„Ich verlange doch nichts von dir, nur das du mir eine Chance gibst, dich besser kennenzulernen. Wenn mein Opa schon ein Bild mit einer Frau gemalt hat, die dir so ähnlichsieht, dann musst du es tun. Er hätte das so gewollt, ganz sicher.“

„Vielleicht bin ich es nicht, vielleicht ist es deine Oma?“

Noch immer wollte ich nicht glauben, dass Leo das wirklich von mir verlangte. Das konnte doch einfach nicht das Ziel von all dem sein?

Er hatte mich geküsst, also war das irgendwie merkwürdig, und wenn das hier tatsächlich ein Hinweis war, dann verstand ich ihn vielleicht nicht wirklich.

„Die hatte dunkle Haare, und außerdem hat sie sich nicht für Kunst interessiert. Jetzt stell dich doch nicht so an, oder kannst du mich nicht leiden? Ich fand, wir haben uns gut verstanden, aber wenn du mich nicht kennenlernen willst, dann werd ich dich nicht zwingen.“

Leiden? Ja, ich konnte ihn leiden, sehr gut sogar. Aber mein schlechtes Gewissen hielt mich von so vielem ab. Ich, die volltrunken vor Verliebtheit zu Leo gewesen war, konnte doch nicht jetzt einfach nahtlos anknüpfen. Nur weil er nett war, und ihm ähnlichsah.

„Nein, nein, das ist es nicht. Es ist nur... Ich denke, ich brauche Zeit.“

Ja, ich würde Zeit brauchen. Um den Niclas hinter der Leo-Kopie zu sehen, und nicht ständig darüber nachzudenken, wie ähnlich sich die beiden waren.

Irgendwann danach wäre ich vielleicht bereit dafür.

„Ich erwarte nicht, dass du dich heute entscheidest. Aber glaub mir, das Schicksal ist mies, und es trifft dich immer dann, wenn du es nicht erwartest. Es fragt nicht nach dem richtigen Zeitpunkt,

es trifft dich einfach.“

Da war was dran, auf jeden Fall. Es fragte nicht, es geschah einfach, und es lag an einem selbst, ob man es annahm.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 02.09.2022

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