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Die Begegnung

  „Das werde ich ihr nicht antun!“, höre ich meine Mutter aus dem Nachbarzimmer schreien. Sofort weiß ich, worum es geht – meine Zukunft.

  „Ich hoffe, du weißt, dass sie als Vorbild einer Nation dient und wir für sie keine Ausnahmegenehmigung beantragen können, oder?“, höre ich nun auch meinen Vater.

  Ich kann mir Beide im Moment sehr gut vorstellen. Sie hat blondes Haar und graue Augen. Ihre schmalen Lippen schminkt sie immer in einem kräftigen dunkelrot, das einen starken Kontrast zu  ihrer blassen Haut bildet. Sie hat stark ausgeprägte Wangenknochen und ein spitzes Kinn. Früher war sie sehr hübsch, doch der Krieg zerrt an ihr. Unter ihren Augen befinden sich große Augenringe. Mein Vater ist das komplette Gegenteil. Er ist sportlich gebaut und hat eine gesunde Bräune. Meine braunen Augen habe ich von ihm geerbt. Er hat schwarze Haare, die an den Schläfen bereits grau sind. Er hat ein markantes Kinn, verdeckt dieses aber mit seinem Bart.

  „Aber Sunna ist unsere einzige Tochter. Sie ist die, die das Reich der Accamarra erbt, wenn wir sterben, Akim. Was soll daraus werden, wenn es nicht mehr regiert werden kann? Dann haben die Desann gewonnen.“

  „Es ist nicht einfach, auch für mich nicht“, mein Vater klingt leicht bedrückt, „ Aber wenn sie die Ausbildung zur Kriegerin nicht wahrnimmt, könnten Unruhen im Volk ausbrechen. Man könnte dies als unfair betrachten. Außerdem ist sie eine Kämpfernatur. Sie wird es schon schaffen. Es wird alles gut, meine Liebe.“

  Ich kann es mittlerweile nicht mehr anhören. Seit Jahren herrscht nun Krieg und seit Kurzem werden nun auch 17-Jährige als Soldaten ausgebildet. Also auch ich- Sunna van Bennet, die Tochter des Königs und die, die gerade mal 1,55m groß ist. Mittlerweile ist es mir ziemlich egal wer gewinnt. Die ganze Umwelt ist zerstört und jeder hat Angst, weil man an keinem Ort mehr sicher ist.

  Um nichts mehr davon hören zu müssen, laufe ich zu einem kleinen Wald in der Nähe des Kriegsgebietes, das ungefähr eine halbe Stunde von unserem Haus entfernt ist. Unser Haus liegt klein und unscheinbar auf einem Hügel mit vielen unterirdischen Räumen, denn ein Palast wäre zu auffällig, da mein Vater die Lage in der Nähe des Kriegsgebietes benötigt. Auch wenn es nicht so klingt, ist der Wald einer der ruhigsten Orte, vor allem, da man nicht vermutet, dass sich hier eine Person freiwillig aufhält. Aber gerade deswegen ist das ein Ort, an dem ich gerne meine Zeit verbringe, wenn mir alles zu viel wird.

  Es dämmert bereits, als ich auf einen der Bäume klettere. Um mich zu entspannen, beobachte ich einen Vogel, der vor mir auf einem Ast seine Jungen füttert. Als er inne hält, lausche ich auf. Unter mir höre ich Schritte und leises Gemurmel. Als ich nach unten sehe, entdecke ich vermummte Desann. Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich halte den Atem an. Ich darf auf keinen Fall bemerkt werden, ansonsten ist mein Todesurteil besiegelt.

  „Wir werden dich in die Ausbildungsstätte der Accamarra einschleusen, damit du sie ausspionieren kannst. In zwei Monaten kontaktierst du uns und sagst uns, wo sich das Gebäude befindet und ob es gut bewacht ist. Weitere Details besprechen wir dann auch, abgemacht?“

  „Abgemacht.“ Eine tiefe, ruhige, aber auch ängstlich klingende Stimme antwortet der rauen und kratzigen Stimme.

  Höre ich hier tatsächlich, wie die Desann einen Angriff planen? Ich beuge mich etwas weiter über den Boden und streiche eine braune Haarsträhne, die mir ins Gesicht fällt, wieder hinter mein Ohr, um die Gestalten besser zu erkennen. Es sind sechs Männer. Vor und hinter den Beiden, die sich unterhalten, laufen jeweils zwei Soldaten, die mindestens  zwei Köpfe größer sind als ich. Alle vier haben sich die Haare abrasiert. Das ist typisch für die Soldaten der Desann. Ich schaue mir die beiden Personen in der Mitte an. Der Eine trägt eine Kapuze und ist genauso groß wie die Krieger. Nur der Mann neben ihn ist etwas kleiner. Er hat an den Schläfen bereits graue Haare und trägt einen Bart, der die untere Hälfte einer Narbe verdeckt. Die Augen wirken ausdruckslos und sind von einem kalten grau. Mir kommt dieses Gesicht bekannt vor. Ich habe es bereits irgendwo gesehen, weiß aber nicht wo.

  „Und wehe du fällst auf. Ansonsten sind du und deine Familie einen Kopf kürzer“, sagt der Mann und stapft mit den Soldaten davon. Der Kapuzenträger bleibt einsam unter einem Baum stehen. Nach kurzer Zeit setzt er sich an die Pflanze und schlägt mit der Faust auf den Boden ein.

  „ Scheiße“, ruft er immer wieder.

  Seine Kapuze ist etwas nach hinten gerutscht, so dass ich nun einen Blick auf braune verwuschelte Haare habe, dessen Locken sich in seinem Nacken kräuseln. Um sein Gesicht zu erkennen, lehne ich mich noch etwas mehr in seine Richtung.

  Als er plötzlich den Kopf hebt, blicken mich eisblaue Augen an. Sanft geschwungene Lippen öffnen sich und schließen sich sofort wieder. Sein Gesichtsausdruck wandelt sich von gequält in einen verzerrten Ausdruck. Sofort springe ich von dem Baum und komme hart auf den Boden auf. Ich blicke panisch zu dem Desannjungen, der sich nun langsam erhebt und in seine Tasche greift. Ich laufe los. Kurze Zeit später höre ich Schritte hinter mir immer lauter werden. Wenn mir jetzt keine List einfällt, wird er mich töten. Es dürfte für ihn ein vermutlich unbekanntes Terrain sein, deswegen dürfte er  die Klippe am Ende des Waldes hoffentlich nicht kennen. Ich beschleunige mein Tempo und renne auf diese Klippe zu. Doch kurz davor packt mich der Desann und hält mich fest. Ich spüre seinen warmen Atem an meinem Ohr. Ich  versuche zu schreien, was mir dennoch misslingt, weil er mir seine widerwärtige  Hand vor den Mund hält. Auch als ich in seine Hand beiße, nimmt er diese nicht von meinem Gesicht.

  „Hör auf dich zu bewegen“, raunt er mich an, „Eigentlich müsste ich dich jetzt töten, da du uns offensichtlich belauscht hast, aber ich werde mal nicht so sein. Nimm einfach das und alles wird gut sein.“

  Er zieht aus seiner Hosentasche eine kleine grüne Pille und legt mir diese gegen meinen Willen auf die Zunge.

  „Die Wirkung wird in fünf Minuten eintreten. Auch wenn du jetzt losrennst, du wirst keinem Menschen begegnen und danach hast du alles vergessen.“ Mit diesen Worten lässt mich der Desann los. Sofort renne ich nach Hause.

  Eine Pille. Panik steigt in mir auf. Diese kleinen Dinger können in kurzer Zeit Herz- oder Lungenversagen, aber auch jede andere Krankheit und Todesursache auslösen.

  Fünf Minuten später habe ich eine kleine Bank erreicht. Mir wird schwindelig und meine Beine können mich kaum noch halten. Um mich herum wird alles schwarz. Das Letzte was ich fühle, ist der kalte und nasse Boden.

Die Ankunft

  „Wach auf Schätzchen, heute ist dein großer Tag.“

  Ich öffne meine braunen Augen.

  „Genau Mutter. Ich werde heute an den Ort gehen, wo ich lerne, wie man tötet.“

  „Sei doch nicht so ironisch meine Maus. Es ist nicht so schlimm, wie du es dir vorstellst.“

  „Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher.“

  „Ach Liebes...“ Ihre Worte bleiben in der Luft hängen. 

  Kurz darauf verlässt meine Mutter wieder mein Zimmer, dass ich seit meinen Zusammenbruch nicht mehr verlassen durfte. Man hatte mich bewusstlos neben einer Bank gefunden. Als sie mich fragten, was ich dort gemacht hatte, wusste ich keine Antwort. Mein Gehirn war wie leer gefegt und ist es auch immer noch.

  Als ich hinuntergehe, stehen meine Eltern und unsere Bediensteten zur Verabschiedung in der Eingangshalle, die eher einem kleinen Flur gleicht. Alle umarmen mich und wünschen mir viel Glück, bevor ich mit dem Auto in Richtung Internat fahre.

  Eine halbe Stunde später hält der Wagen vor einem Tor eines im Wald versteckten Gebäudes.

  „Wir sind da, Sunna. Ich darf leider nicht mit hineingehen. Nimm du also bitte deine Tasche mit. Viel Spaß“, sagt der Fahrer und öffnet mir die Tür. Ich hole meine Tasche aus dem Kofferraum und betrachte das Gebäude etwas genauer. Es ist ein roter Ziegelsteinklotz mit großen Fenstern. Auf dem Gelände laufen bereits einige Schüler umher. Ich schließe mich ihnen an und betrete das Gebäude. Von Innen wirkt es deutlich einladender. Die Wände sind weinrot gestrichen und mit Bordüren verziert.

  Ich betrete das Sekretariat um meine Zimmernummer und meinen Stundenplan zu erfahren. Die Sekretärin schaut mich liebevoll an.

  „Guten Tag“, begrüße ich die ältere Frau, „Ich bin hier um meine Zimmernummer zu erfahren und meinen Stundenplan zu bekommen.“

  „Wie ist dein Name?“

  „Sunna van Bennet.“

Ihre Augen öffnen sich und funkeln.

  „Es ist mir eine große Ehre. Möchtest du lieber ein Einzelzimmer oder möchtest du dir dein Zimmer doch eher mit jemandem teilen?“

  „Ich würde es mir gerne mit jemandem teilen“, antwortete ich.

  „Mal sehen. Einen kleinen Moment bitte... Okay. Hier sind dein Schlüssel und dein Stundenplan. Du wirst dir Zimmer Nummer 235 mit Erica Lakebrink teilen. Du musst in die zweite Etage und dann rechts. Das Zimmer ist direkt neben der Treppe. Hast du sonst noch Fragen?“

  „Nein, danke. Bis jetzt noch nicht.“

  „Okay, viel Spaß, meine Liebe.“

  „Danke“, sage ich und verlasse das Sekretariat. Ich laufe die Treppen hoch und betrete mein Zimmer. Es ist groß und freundlich eingerichtet. Zwei Betten stehen sich gegenüber und neben der Tür steht ein Schrank, in dessen einen Hälfte bereits einige Sachen liegen. Neben dem einen Bett befindet sich eine Tür, die gerade geöffnet wird. Das Mädchen, das den Raum betritt, hat lange lockige und schwarze Haare. Als sie mich sieht, strahlt sie mich aus großen grünen Augen an und lächelt mich mit ihrem roten Mund an.

  „ Sunna? Wie geil ist das denn? Bist du ernsthaft meine Zimmergenossin?“

Meine Freundin störmt auf mich zu und umarmt mich. Wir kennen uns schon knapp 10 Jahre. Wir gingen damals auf die gleiche Grundschule bis mich meine Eltern überredet haben, Privatunterricht zu nehmen, da eine öffentliche Schule ein gutes Ziel für die Angriff der Desann ist. Seitdem versuchen wir uns immer noch regelmäßig zu treffen.

  „Hallo Erie“, sage ich und erwidere die Umarmung, „Es  ist schön, dich wiederzusehen.“

  „Finde ich auch.“

  Nachdem wir uns kurz über die letzten Wochen unterhalten haben, frage ich sie, ob sie denkt, dass wir viele Stunden gemeinsam haben.

   „Unwahrscheinlich. Gerade du wirst viele Einzelstunden haben. Ich meine, du bist ja so etwas wie eine Berühmtheit als Königstochter.“

  „Wenn du meinst. Also komm, zeig mal her.“ Ich nehme ihren Stundenplan von ihrem Bett, das schon jetzt voller Kleidung uns Kosmetikartikeln liegt.

Abgesehen von ein paar Einzelstunden habe ich alle Kurse mit Erie. Wahrscheinlich sollen mich diese Einzelstunden auf eine Offizierskarriere vorbereiten, die mein Vater von mir verlangt hat. 

 

  „Hast du dich schon im Gebäude umgesehen?“, fragt mich Erie kurz vor dem Abend.

  „Nein, wieso?“

  Jetzt schaut mich Erie vielsagend an. ihre Augen beginnen zu funkeln, als sie leise zu mir flüstert: „Auf der anderen Seite des Ganges, also neben der Treppe, ist der Gang der Jungs.“ Ich breche in schallendes Gelächter aus.

  „Du denkst natürlich nur wieder daran, oder?“

  Da Erie hübsch ist, kommt sie bei dem anderen Geschlecht sehr gut an und nutzt das auch gerne aus. Sie hatte bereits mehrere Beziehungen, aber mit keinem hielt es Erie länger als 3 Wochen aus.

  „Kommst du jetzt mit raus oder nicht?“

  Bevor ich antworten kann, öffnet Erie die Tür und schiebt mich heraus und die Treppe herunter.

  Im Foyer angekommen, zeigt sie bereits auf den ersten Typen, der in einer Gruppe steht und sich mit anderen hitzig über ein Thema unterhalten muss, da er wild gestikuliert. Er hat kurze blonde Haare und braune Augen, ein markantes Kinn und eine leicht gekrümmte Nase. Seinen Mund hat er zu einem schmalen Strich zusammengezogen.

  „Der sieht doch nicht schlecht aus, oder?“

  Ich schaue meine Freundin skeptisch an und nach einer kurzen Pause des Schweigens wünsche ihr viel Spaß mit ihm.

  „Solange du dich mit ihm begnügst, schaue ich mal den Park an, okay?“, sage ich und gehe durch die Tür in das Freie. Im Blickwinkel sehe ich, dass sich Erie zu dem Jungen gestellt hat und sich bereits mit ihm unterhält. Unweigerlich muss ich anfangen zu lächeln.

  In der Nähe höre ich das Plätschern von Wasser. Ich gehe zu dem kleinen Brunnen und setze mich und denke nach, darüber, wie die Welt wohl vor dem Krieg war und ob dieser jemals wieder aufhören wird.

  Als ich wieder das Internat betrete, laufe ich gegen eine Person. Als ich nach oben blicke, sehe ich einen gut zwei Köpfe größeren Jungen mit eisblauen Augen.

  „Kannst du nicht aufpassen, du kleine Göre?“, raunt er mich an und schubst mich zur Seite.

  Gedankenverloren bleibe ich stehen. Der Junge kam mir bekannt vor. Als ich mich zu ihm umdrehe, sehe ich, wie der braune Lockenkopf in Richtung Wald verschwindet. Wenn er nicht so einen miesen Charakter hätte, könnte man in glatt schön finden. Wohin er wohl geht? Ich überlege ihm zu folgen, doch bevor ich den ersten Schritt in seine Richtung setzte, dröhnt eine Stimme aus dem Lautsprecher, die den Neuankömmlingen sagt, dass sie sich in der Aula einfinden sollen.

Der Beginn

  In der Aula schaue ich mich suchend nach Erie um. Wie nicht anders zu erwarten, sitzt sie bereits neben dem Jungen aus dem Foyer. Als sie mich sieht, winkt sieh mir zu und ich lasse mich auf den freien Platz neben ihr fallen.

  „Ruhe bitte!“, kommt es aus den Lautsprechern. Auf dem Podium steht ein fülliger Mann Ende 50, „Willkommen am Trim-Internat. Sie werden in den nächsten sechs Monaten lernen, wie man als Soldat fungiert und in dem Krieg möglichst erfolgreich wird. Neben Nahkampf- und Schusswaffentraining werden Sie auch etwas über die Strategien der Accamarra und der Desann erfahren. An oberster Stelle setzen wir jedoch in den ersten Wochen auf das Überlebenstraining, mit welchem ihr auch morgen früh um sieben alle beginnen werdet.  Ich wünsche ihnen viel Erfolg bei dieser Ausbildung und auch in ihrer Zukunft.“

  Erie schaut mich entrüstet an: „Sieben Uhr? Jeder weiß doch, dass ich um die Zeit noch schlafe. Wie kann ich da schon im Unterricht sein?“

  „Daran werden wir uns wohl noch alle gewöhnen müssen.“

  „Und was ist, wenn ich mich gar nicht daran gewöhnen will?“

  Ich knuffe sie in die Seite und zwinkere ihr zu: „Dann werden sie dich wohl wegen Ungehorsams köpfen lassen.“

 

  Am nächsten Morgen werde ich schon früh aus dem Bett gerissen. Als ich auf die Uhr schaue, sehe ich, dass Erie bereits um fünf Uhr morgens ihre Haare föhnt. Schlaftrunken stapfe ich an die Badezimmertür und klopfe an und reibe mir den Schlaf aus den Augen.

  „Warum bist du schon so früh wach?“, stelle ich meine Frage an Erie.

  „Ich will nun mal schön aussehen.“ Sie zwinkert mir zu.

  „Wenn du im Schlamm herumwälzen musst, wird niemand mehr auf deine Haare achten und jetzt mach mal Platz, wenn du mich schon so früh aus dem Bett holst, kann ich mich ja gleich mit fertig machen und danach noch eine Runde joggen gehen.“

  Als ich mit dem Joggen fertig bin, treffe ich mich mit Erie in der Cafeteria. Mit einem Blick auf die Speisen wird mir bewusst, dass hier jeder in nächster Zeit abnehmen wird. Nirgendwo entdeckt man nur ein Gramm Fett in der Nahrung. Ich schnappe mir ein Tablett, stelle mich in der Schlange an und nehme mir Müsli und einen Apfel. Gemeinsam suchen wir uns einen Platz und beginnen zu essen.

  Kurz bevor wir zum Überlebenstraining müssen, betritt noch jemand den Raum. Es ist der Junge gegen den ich gestern gelaufen bin. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab und er sieht noch ziemlich verschlafen aus. Als ich mich von ihm abwende und zu Erie schaue, merke ich, dass sie ihn mit „diesem“ Blick ansieht. Er gefällt ihr.

  „Kennst du den?“, fragt sie mich.

  „Leider ja. Ich durfte gestern schon seine Bekanntschaft machen. Nicht gerade der Freundlichste.“

  Erie antwortet mir nicht sondern begafft den Wuschelkopf auch weiterhin.

  „Wir müssen jetzt los. Oder willst du an deinem ersten Tag bereits zu spät kommen?“

  „Ich komm ja schon.“ Widerwillig erhebt sich Erie von ihrem Platz und folgt mir in den Unterrichtsraum, der eigentlich gar kein Unterrichtsraum ist. Wie nicht anders erwartet findet das Training in dem Wald direkt neben der Schule statt.

  „Ich bin ihr Ausbilder im Fachgebiet Überlebenstraining. Mein Name ist Kaito de Hansen. Sie werden heute die wichtigsten Grundlagen lernen, wie Sie da draußen zu Recht kommen werden. Die nächsten drei Tage werden Sie das Schulgebäude nicht betreten und nur von Sachen leben, die Sie hier draußen finden oder die ich ihnen gebe, haben wir uns verstanden? Wenn Sie meine Regeln nicht befolgen, werden sie bestraft. Um das Training zu vereinfachen, werde ich Sie nun in Gruppen aufteilen, in denen Sie sich heute Abend versammeln und die nächsten drei Tage verbringen werden. Der Kontakt zu anderen Gruppen in dieser Zeit ist untersagt.“

  Der Muskelprotz teilt die erste Gruppe ein. Ich nutze die Zeit um ihn mir genauer anzuschauen - Braune Augen, eine große Nase und ein schmaler Mund.

  „Die nächste Gruppe: Jayati Naveglio, Pradnesh Choibeisser, Patrick Dahan, Sunna van Bennet und Luan Perretz.“

  Um mich herum treten vier Personen nach vorne – ein zierliches rothaariges Mädchen, ein breitschultriger und großer Junge, ein kleinerer Junge, der seine Haare in einem Zopf zusammengebunden hat und der Junge, der im Foyer gegen mich gerannt war.

  „Nachdem ich nun alle Gruppen eingeteilt habe, beginnen wir mit den Grundlagen – Nahrungssuche und Tarnung. Es kann vorkommen, dass Sie auf ihren Einsätzen länger von eurem Camp wegbleibt als es geplant war. Da kann auch mal den Vorrat nicht mehr ausreichen. Und Tarnung ist bekannter Weise immer wichtig. Ohne sie können Sie von den Desann leichter gefunden werden und ihre Überlebenschancen sinken somit erheblich.“

  Den ganzen Tag zeigt uns de Hansen, welche Pflanzen man bedenkenlos essen kann, diverse Jagtechniken, was die besten Verstecke sind und wie man Regenwasser mit Hilfe von Blättern auffängt.

  Am Abend sind wir auf uns allein gestellt. Wir sollen in unserer Gruppe ein Nachtlager aus Ästen aufbauen. Pradnesh hat sich inzwischen als Gruppenleiter vorgeschlagen und kommandiert uns nun zu dem Aufbau des Lagers.

  „Jayati, hol Du noch ein paar Zweige und Laub für das Dach! Bring noch mehr Äste Sunna, das reicht noch lange nicht! Patrick, bau das Lager doch mal schneller auf, wir wollen heute noch darin schlafen. Und wo ist eigentlich das Stück Scheiße an Luan abgeblieben?“

  Sehr reizend dieser Junge.

  „Und was machst du die ganze Zeit?“, richtet sich Jayati wutentbrannt an Pradnesh.

  „Das siehst du doch – Einer muss ja hier den Chef mimen bei einem Gesindel wie euch.“

  „Wir und Gesindel?“, mischt sich nun auch Patrick ein, „Und was ist bitte schön mit dir? Bist du nicht genauso Gesindel wie wir alle?“

  „Beruhigt euch doch erst mal alle, okay? Streiten bringt euch gar nichts. Hier ist Zusammenhalt gefragt“, bringe ich nun auch in die Diskussion mit ein.

  „Was mischst du dich eigentlich mit ein, Prinzesschen? Hältst dich wohl für was Besseres, oder was?“

  „Die Kleine hat Recht, Pradnesh. Die Übung dient wahrscheinlich nicht nur zu dem von dem Ausbilder genannten Überlebenstraining, sondern auch zur Ausbildung von Teamfähigkeit.“

  „Ah, wie ich sehe kommt Perretz auch mal wieder aus seinem Versteck?“

  „Ich hab mich etwas umgesehen. Fünf Minuten von hier ist eine kleine Höhle, die man als Unterschlupf nutzen kann. Direkt daneben ist auch ein kleiner Bach. Der Boden ist zwar etwas härter, aber wir sind dann besser vor dem aufkommenden Unwetter geschützt. Also, wie sieht‘s aus? Kommt ihr mit oder lasst ihr euch weiter von dem da rumkommandieren lassen?“

In der Höhle des Löwen

  Wie von Luan vorhergesagt, beginnt es tatsächlich zu regen und zu stürmen. Pradnesh hat sich in eine Ecke zurückgezogen und schmollt über seinen verlorenen Stolz.

  „Höre ich etwa kein Danke von dir?“, fragt mich Luan.

  „Wofür sollte ich mich bei dir bedanken?“

  „Na dafür, dass ich dich doch vorhin verteidigt habe, oder etwa nicht?“

  „Ich finde, ich kann schon selber auf mich aufpassen.“

  Ich setze mich an den Eingang der Höhle. Von hier aus kann man einen großen Teil des Waldes und auch etwas von der Schule sehen. Mittlerweile kann man auch den Geruch von Regen riechen.

  Wenn man sich hier umsieht, scheint alles friedlich. Niemand könnte auch nur erahnen, dass außerhalb des Geländes Krieg herrscht und jede Sekunde Menschen sterben.

Nach zehn Minuten beginne ich zu frösteln und begebe mich zu dem Lagerfeuer, das Patrick inzwischen angezündet hat. Angeblich hat er darauf geachtet, dass der Rauch nach draußen gelangen kann, dennoch vertraue ich der Sache doch noch nicht so ganz. Auch Jayati setzt sich zitternd neben mich.

  Inzwischen ist es draußen dunkel geworden. Also beschließe ich mich schlafen zu legen.

 

  Am nächsten Morgen steht für uns Nahrungssuche auf dem Programm. Um effektiver zu arbeiten, haben wir uns entschieden uns in zwei Gruppen aufzuteilen. Jayati und ich haben beschlossen Beeren zu pflücken, während das männliche Geschlecht auf Jagd geht.

  Anscheinend kennt sie sich mit Beeren besser aus als ich, denn ich werde immer wieder von ihr darauf hingewiesen, dass die Beeren, die ich gerade pflücke, giftig sind.

   „Woher weißt du das alles?“

  „Ich bin auf einer kleinen Farm aufgewachsen. Da aber die Ernten in letzter Zeit schlecht ausgefallen sind, hat mich meine Oma immer mit in den Wald genommen um Beeren zu pflücken.“

  „Haltet das verdammte Tier fest!“, ruft uns plötzlich jemand. Doch bevor ich verstehe, was hier gerade passiert, huscht auch schon ein Eichhörnchen zwischen meinen Füßen in den Busch.

  „Wo ist es hingerannt?“ Suchend schaut sich Patrick mit einem angespitzten Stock in der Hand nach dem kleinen Tier um.

  „Es ist abgehauen. Du holst das kleine Ding nicht mehr ein, Pat.“

  „Du kennst mich doch Jaya. Ich schaffe alles.“ Mit einer Siegespose versucht Patrick seine Aussage zu untermauern, was ihm aber gänzlich misslingt. Wir müssen laut auflachen.

  „Seid doch mal etwas leiser. Das Eichhörnchen haut sonst noch ab.“

  „Es ist bereits abgehauen. Wir können nur hoffen, dass die anderen Beiden etwas gefangen haben. Von den paar Beeren werden wir bestimmt nicht alle satt.“

  Während sich die Beiden weiter unterhalten, sehe ich das Tier auf einem Baum hocken. Ich nehme Patrick den Holzspeer auf der Hand und ziele. Das Gespräch zwischen ihm und Jayati ist verstummt, als ich werfe. Und treffe.

  „Wie hast du das geschafft?“, Patrick klingt begeistert.

  „Jahrelange Übung, denke ich.“

  „Nein, jetzt mal im Ernst. Als van Bennet lernt man doch nicht, wie man mit einem Holzspeer schießt.“

  „Doch. Genau das habe ich gelernt. Meine Eltern waren der Meinung, dass ich Kampfunterricht nehmen sollte. Wahrscheinlich wollten sie mich schon auf das hier vorbereiten. Lasst uns jetzt das Tier holen, bevor es sich jemand anderes schnappt.“

 

  Zurück in der Höhle angekommen, warten bereits Pradnesh und Luan.

  „Hast du was gefangen?“, richtet sich Pradnesh an Patrick, „Ich hab totalen Kohldampf.“

  „Ich nicht, aber die Kleine hier. Ein Schuss und das Vieh lag tot auf dem Boden.“

  „Der laufende Meter? Das ich nicht lache.“

  Ich bin vielleicht mit meinem ein Meter fünfundfünfzig nicht gerade die Größte, aber unterschätzen darf man mich trotzdem nicht.

  „Sei doch froh, wenn ich was gefangen hab. Dann musst du jetzt wenigstens nicht verhungern“, keife ich zurück. Damit gibt er Ruhe. Jayati nimmt mir das Eichhörnchen ab und beginnt das Fell und die Haut abzulösen. Ich betrachte sie dabei, während die Jungs darüber diskutieren, dass sie Patrick morgen lieber als Beerensammler losschicken, während ich mit den anderen Beiden jage. Patrick scheint nichts dagegen zu haben und ich ehrlich gesagt auch nicht.

  Eine Stunde später ist das Eichhörnchen fertig. Nachdem es fertig gehäutet und die Innereien entfernt wurden, hat Jayati es noch mit ein paar gepflückten Kräutern gefüllt. Wir sitzen alle um die Restglut des Feuers und verzehren das Tier und die Beeren.

  Nach dem Essen setze ich mich an den Höhleneingang und sehe vereinzelte Lagerfeuer. Im Schulgebäude brennen bereits ein paar Lichter. Mittlerweile beginnen auch die Zirpen zu zirpen. Ich schließe die Augen und lehne mich an eine Wand.

  Vermutlich bin ich eingeschlafen. Denn als ich wieder aufwache, sind alle Lagerfeuer erloschen und die einzige Lichtquelle ist der Mond.

Pradnesh, Patrick und Jayati schlafen bereits. Luan sitzt mit dem Kopf an der Wand hinter einem kleinem Felsvorsprung. Ich trete vor ihn und er schaut auf. Auch in der Dunkelheit erkenne ich seine Augen, die fast leuchten.

  „Ist irgendetwas oder warum stehst du hier?“

  „Ähm…nein. Alles Bestens.“

  „Na dann ist ja gut.“

  Mit diesen Worten erhebt sich Luan und geht tiefer in die Höhle er hält kurz inne und sagt: „Du solltest jetzt schlafen gehen. Morgen wird bestimmt ein anstrengender Tag. Wir wollen ja schließlich nicht nur ein Eichhörnchen essen. Davon wird ja keiner satt.“

 

  Am nächsten Morgen weckte uns Pradnesh, da wir laut ihm am Vormittag mehr Beute erlegen können. Wir essen die letzten Beeren und begeben uns mit unseren selbst gebauten Waffen in den Wald.

  Nach ungefähr einer Stunde Suche, stoßen wir auf ein grasendes Reh, das uns bis jetzt scheinbar noch nicht bemerkt hat.

  „Hauptsache du enttäuschst uns heute nicht, Prinzesschen“, meint Pradnesh zu mir, „Jeder weiß, dass ich mit Hungergefühl ziemlich ungemütlich werden kann.“

  „Und selbst wenn. Morgen früh dürfen wir bereits wieder in das Schulgebäude und in der Cafeteria essen“, antworte ich.

  „Und was ist mit heute Abend?“, Pradnesh fängt an zu lachen, „Was soll ich dann essen?“

  „Wie wäre es mit ein paar Beeren?“, mischt sich Luan ein.

  „Ach komm, sei still, ansonsten haut das noch Reh ab. Wetten, dass ich das Vieh treffe?“

  Mit diesen Worten wirft Pradnesh den Holzspeer und verfehlt um gute zwei Meter. Natürlich rennt das Reh sofort weg.

  „Ich würde sagen, dass wir einen Plan brauchen“, meine ich zu den Jungs.

  „Und der wäre?“

  „Wir müssen die nächste Beute umzingeln.“

 Gesagt, Getan.

  Eine halbe Stunde später, haben wir das Reh wiedergefunden. Langsam huschen wir uns von allen Seiten an, zumindest versuchen wir es, da wir nur drei Personen sind.

  Bevor Pradnesh wieder das Tier verscheucht, haben wir uns darauf geeignet, dass ich den nächsten Wurf mache. Ich ziele und treffe es in der Nähe des Herzens.

  Auf dem Rückweg zur Höhle, sammeln wir Holz für das Feuer und drei große Äste, damit wir das Reh über dem Feuer drehen können, und bereiten das Feuer vor.

  Bis Jayati und Patrick eintreffen, laufe ich zu einem Bach und hole noch etwas Wasser.

  Fünf Stunden später sitzen wir alle zusammen um das Lagerfeuer herum, genießen das Reh und lassen den letzten Abend gemütlich ausklingen. Ich erfahre, dass Patrick und Jayati in demselben Dorf aufgewachsen sind.

  „Einmal war Pat bei mir zu Besuch“, beginnt Jayati, „Da waren wir beide ungefähr fünf Jahre alt. Ich hatte ihn in den Hühnerstall eingesperrt, weil er am Tag zuvor meine Lieblingspuppe versteckt hatte. Als er dann eingeschlossen war, haben mich meine Eltern zu sich gerufen. Sie wollten zu meiner Tante fahren und dort zu Abend essen. Ich wollte natürlich mit und habe direkt vergessen, dass Pat noch in dem Stall war. Die ganze Nacht musste er darin verbringen. Am nächsten Tag standen dann seine Eltern vollkommen aufgelöst vor unserer Tür und haben ihren Sohn gesucht. Erst da haben wir Patrick aus dem Stall geholt. Seine Haare waren total zerzaust und voller Federn. Er durfte sogar eine Woche mein Zimmer nicht mehr betreten, weil er so sehr nach Kot roch, dass ich mich geweigert habe.“

  Während Patrick sich zu dieser Geschichte äußert, setze ich mich mal wieder an den Höhleneingang. Mir peitscht der Wind ins Gesicht. Über mir türmt sich eine große Regenwolke auf und es nieselt bereits leicht.

  Da es so ungemütlich ist, beschließe ich, dass ich mich neben dem Feuer schlafen lege, auch wenn sich die Anderen noch Geschichten aus ihrem Leben erzählen.

Verschüttet

Als ich die Augen öffne, ist alles dunkel. In einer Ecke der Höhle höre ich ein kleines Wimmern, welches nach Jayati klingt.

  „Ist alles in Ordnung mit dir?“, frage ich sie.

  „Wir… wir sind…“, stottert sie, „ Die Höhle… Der Höhleneingang ist zu. Ich wollte rausgehen, aber wir können… nicht mehr… raus.“

  Ich setzte mich neben sie. Das starke Unwetter von gestern muss einen Erdrutsch ausgelöst haben, der uns in der Höhle einschließt.

  „Alles wird gut“, flüstere ich ihr zu, „Man wird uns schon finden und uns hier raus bringen, okay?“

  „Ich glaub dir das nicht. Sie werden uns nicht finden und wir werden hier drin sterben.“ Sie klingt total verzweifelt.

  Ich nehme sie in meinen Arm. Ihre Tränen durchnässen mein Top. Trotzdem verharren wir lange in dieser Position.

  Eine Stunde später wachen auch die anderen Drei auf. Nachdem wir ihnen erzählt haben, dass wir verschüttet sind, beginnen sie mit ihren Händen den Eingang freizuräumen. In der Zwischenzeit suchen Jayati und ich in der Dunkelheit nach dem übrig gebliebenen Essen und dem Wasser des gestrigen Abends.

  Nach fünf Stunden gelangt immer noch kein Licht in die Höhle. Mittlerweile sind die Jungs vom Graben erschöpft und essen von den Resten des Rehs. Die Hoffnung, dass man uns findet, entschwindet immer mehr.

  Ich stehe zu schnell auf, als ich den Anderen dabei helfen will, den Schutt beiseite zu räumen. Ich habe heute kaum etwas getrunken, da wir nur sehr wenig Wasser haben. Meine Beine werden weich und beginnen zu zittern. Ich sehe weiße Flecken und spüre den kalten und harten Boden unter mir.

  „Alles in Ordnung mit dir?“

  Eine sanfte und tiefe Stimme dringt in mein Ohr. Starke und muskulöse Arme umfassen mich sanft von hinten und geben mir Halt. Mir wird warm und ich zittere nicht mehr so sehr. Ich spüre seinen Atem und mein Herzschlag beschleunigt sich. Ein gutes Gefühl breitet sich in mir aus.

  „Jetzt geht es wieder. Danke“, antworte ich nach einer kleinen Pause der Verwunderung.

  Er hält kurz inne und ich merke, dass sich seine Arme  kurz verkrampfen. Dann lässt mich Luan wieder los. Die Wärme verschwindet und die Kälte kehrt sofort zurück. Er soll mich nicht loslassen.

  „Pass das nächste Mal besser auf. Wir brauchen keinen Bewusstlosen. Vor allem nicht in dieser Lage.“

  Mit diesen Worten lässt er mich stehen. Ich trinke einen Schluck Wasser und gehe zum Eingang, um den Anderen bei den Räumungsarbeiten zu helfen.

 

Am Abend sitzen wir auf unseren Schlafplätzen. Unsere Hände sind vom vielen Buddeln aufgeschürft. Jayati ruht an meiner Schulter und ist kurz vor dem Einschlafen.

  „Denkt ihr, die da draußen, wissen, dass wir hier drinnen sind?“, unterbricht Patrick die Stille.

  „Unwahrscheinlich. Ansonsten hätte man uns doch schon gefunden, oder?“, antwortet Pradnesh.

  „Womöglich hast du Recht.“

  Während sich die Beiden weiter unterhalten, schweifen meine Gedanken zu Luan ab. Irgendetwas sagt mir, dass ich mich von ihm fernhalten sollte und dass er gefährlich ist. Ich habe das Gefühl, er verberge ein Geheimnis, da er sich immer wieder verschließt, nachdem er so etwas wie Gefühle gezeigt hat. So, als ob ihn etwas bedrückt - oder besser – ihn unterdrückt. Er könnte eine Person sein, bei der man sich fallen lassen kann und die Einen beschützt, egal was passiert.

  „Und selbst, wenn man uns suchen sollte, dann sicher nicht nach dir. Nicht nach so einem einfachen Bauerngesindel.“ Pradnesh unterbricht meine Gedanken und Patrick erhebt sich.

  „Was hast du da eben gesagt?“ Er klingt wütend.

  „Ich habe gesagt, dass du ein einfacher Bauer bist, auf den man gut und gerne verzichten kann.“

  Nach einer kurzen Pause und einem dumpfen Geräusch stöhnt Pradnesh auf.

  „Na warte, du Bauer!“ Pradnesh setzt zum Gegenschlag an. Auch Patrick gibt Schmerzenslaute von sich. Jayati richtet sich neben mir schlaftrunken auf.

  „Was ist los?“, fragt sie mich.

  „Ein einfacher Revierkampf“, antwortet Luan leicht belustigt. Vielleicht ist er doch nicht so einfühlsam, wie ich so eben noch vermutet habe.

  Jayati erhebt sich. Ich höre, wie sie eiligen Schrittes in Richtung der beiden Jungs geht.

  „Hört gefälligst auf!“ Ihre Stimme klingt schrill und hoch, aber nicht so schrill wie ihr Schrei, als sie von Pradnesh einen Kinnhaken bekommt.

  „Was soll das?“ Patrick muss sich zwischen Jayati und Pradnesh gestellt haben. „Dafür wirst du büßen!“

  Mit einem gezielten Schlag in die Magengrube zwingt er Pradnesh in die Knie.

  „Niemand schlägt Jayati!“ Er tritt zu. Pradnesh stöhnt auf und versucht sich zu wehren, aber Patrick ist zu schnell für ihn. Pradnesh rollt sich zur Seite und krümmt sich vor Schmerzen. Mittlerweile wimmert er nur noch. Immer wieder tritt Patrick zu. Auch als Pradnesh keinen Laut mehr von sich gibt, hört er nicht auf. Jayati versucht ihn zu beruhigen und hält ihn fest, doch er stößt sie nur zurück.

  „Hör auf! Du tötest ihn noch!“

  Patrick sackt in sich zusammen. Sein Atem geht nur noch flach und stoßweise. Sie geht wieder langsam auf ihn zu, setzt sich neben ihn und umarmt ihn. Bis auf seinen Atem und einem leichten Wimmern ist alles leise.

  Er drückt seine Lippen auf  Jayatis Mund und läuft zum Höhlenausgang. Er gräbt energisch mit seinen Händen.

  Luan setzt sich auch in Bewegung, aber er geht zu Pradnesh. Mit seinen Händen tastet er nach dem Herzschlag des am Bodenliegenden.

  „Das ging schnell. Für ihn kommt jede Hilfe zu spät.“

  Patrick hält kurz inne, doch gräbt danach weiter.

  Luan setzt sich neben mich. So nah, dass ich seine Wärme durch den Stoff spüre. Ich lehne meinen Kopf gegen seine Schulter und merke, wie er seine Arme um mich legt. Seine Hände sind nass. Ich möchte gar nicht wissen, ob das Blut ist und schließe meine Augen.

  „Nur damit das klar ist, das bleibt eine einmalige Sache.“ Ich nicke. Ich fühle mich einfach nicht in der Lage Luan zu antworten.

 

  Ein zarter Windhauch fährt durch meine Haare. In meine Augen dringt das Licht einer Taschenlampe. Jayati zieht an meinem Ärmel.

  „Wir sind frei. Man hat uns gefunden.“

  Ein paar Gestalten bewegen sich auf uns zu. Mein Blick schweift zu Pradnesh. Er liegt in einer Blutlache. Getrocknetes Blut klebt an seinen aufgeschwollenen Lippen. Seine Augen sind leer. Ich wende meinen Blick ab. Luan redet am Höhleneingang mit Kaito de Hansen. Patrick ist nirgendwo zu sehen. Ich stehe langsam auf. Die Gestalten stützen mich, als wir aus der Höhle gehen. Die Blicke von Luan und mir treffen sich, doch er wendet seinen schnell wieder ab. Man redet auf mich ein, doch ich verstehe nicht, was sie sagen. Ich möchte einfach nur noch schlafen.

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Tag der Veröffentlichung: 27.02.2014

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