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Nicht schon wieder!

Es war Jennys erstes Lächeln an diesem Tag. Es kam aus ihrem tiefsten Herzen, erhellte ihr Gesicht und ließ ihre Augen erstrahlen. Sie schaute hinauf zu der riesigen Kuppel, von der sie eben erst als bunter Lichtfetzen heruntergewirbelt war – stundenlang hätte sie den vielen anderen Besuchern zusehen können, die sich fortwährend auf der Plattform des Ankunftszentrums von Mirathasia materialisierten.

Aber auch die Miniaturstadt, die sich an einer der acht Säulen hinaufhangelte, war eine Betrachtung wert. Manchmal konnte Jenny dort winzige Menschen über Hängebrücken laufen sehen, zeitweilig sogar Feen und Elfen, die über die Dächer flogen oder in dem schwachen Licht hinter den Fenstern der Gebäude Kuchen backten. Sollte sie sich vielleicht heute so klein wünschen, dass sie sich dort einmal umsehen konnte? Die Aussicht vom obersten Turm aus musste wirklich schön sein. Mit dem Aufzug konnte sie nah am Wasserfall hinauffahren, anschließend ging es über Treppen, Rutschen und waghalsige Brücken zu jedem der hübsch verzierten Paläste. Nur einmal im Thronsaal zu Harfenmusik tanzen, dahinschweben wie eine Elfe …

 

 

Aber nein! Jenny rief ihre Gedanken zurück in die Halle des Ankunftszentrums. Sie brauchte ihren Wunsch noch – es gab doch für heute nur diesen einen. Die Miniaturstadt konnte sie erforschen, wenn ihr wichtigster Wunsch endlich erfüllt worden war. Wieder lächelte sie, in freudiger Erwartung, ob das vielleicht heute geschehen würde. Irgendwann war es so weit, das wusste sie. Und deshalb musste sie schleunigst zum Unterricht gehen, der vielleicht ohne sie begann, wenn sie hier noch länger herumstand und träumte …

Mit neuer Energie fuhr sie herum – rums! – und stieß mit jemandem zusammen.

„Verdammt!“, fluchte ein Junge auf dem Boden. Er war auf der Seite gelandet und kehrte ihr den Rücken zu, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte, nur seine verwuschelten Haare. Ächzend erhob er sich und rieb sich den Hintern. Dann drehte er sich zu ihr um. „Kannst du nicht besser auf…“

Nein! Jennys Mundwinkel sanken herab, ihr Blick verfinsterte sich. Was machte Luca denn hier?

„Was machst du denn hier?“, pflaumte er sie an. „War ja klar, dass du wieder alle Leute umrennen musst. Kannst du dich nicht in irgendeine Ecke verkrümeln?“

Damit ließ er Jenny stehen, die mit hängenden Schultern einfach nur dastand. Entschuldigung, sagte sie in Gedanken. Ich weiß, dass ich nicht aufgepasst habe, und es tut mir sehr leid.

Aber sie rief es ihm nicht hinterher. Luca war aus ihrer Klasse – ausgerechnet er! Der größte Rüpel, den sie kannte, der am lautesten über andere spottete und über sie lachte. Selbst die Lehrer ärgerten sich über ihn. Einmal hatte er einen seiner dummen Sprüche in Mathe losgelassen. Darüber hatte er so heftig gelacht, dass er schließlich zum Rektor hatte gehen müssen, aber selbst von dort war sein Lachen bis ins Klassenzimmer geschallt. Warum musste sie ausgerechnet ihn hier anrempeln?

Sie beobachtete, wie er auf Gang 3 zuhielt, dort seinen Kopf in eine der abgedunkelten Nischen hineinsteckte und wieder einmal lauthals loslachte. In dem Gang konnte sich jeder kurze Filme ansehen, die irgendwann am Vortag in Mirathasia gedreht worden waren. Offenbar war jemandem etwas Dummes passiert, sodass Luca ihn auslachen konnte. Ja, ihr Klassenkamerad war der King in der Klasse, weil er über alles und jeden Witze machte. Jenny ging ihm aus dem Weg, seitdem er ihr in der Klasse ein Bein gestellt hatte und sie der Länge nach hingeflogen war. Gut, dass Mirathasia so groß war – bestimmt würde sie ihn nicht mehr wiedersehen.

Jenny vergrub ihre Hände in den Hosentaschen. Die gute Laune war durch den Zusammenstoß mit ihm verflogen. So ein eingebildeter Affe! Er konnte seine Albernheiten im Klassenzimmer ausleben, aber doch nicht hier! Irgendjemand müsste ihm mal sagen, wie schlimm er sich benahm. Sie selbst konnte es nicht, er würde sie doch nur auslachen. Dass sie sich jetzt sogar noch Gedanken über ihn machte, ärgerte sie umso mehr. Hoffentlich würde der Unterricht gleich von ihm ablenken!

Sie erreichte eine große, gelb schimmernde Kugel, die als Portal zu anderen Orten Mirathasias diente. An der Bedientafel drückte sie den Knopf Dracheninsel und machte sich darauf gefasst, dass die Kugel gleich abhob und davonschwebte. Als sie das Ankunftszentrum durch die Decke verließ, strichen ihr warme Sonnenstrahlen übers Gesicht. Unter sich sah sie den Hang, auf dem es eine Rutschbahn mit Looping und Sprungschanze gab, daneben sah sie winzig kleine Besucher auf einem Windbrett oder in einer Seifenkiste den Abhang hinuntersausen. Ihr war das zu gefährlich, sie schaute lieber zu. Am Fuße des Berges lag die Stadt der acht Wunder. Wie ein gelber runder Käse lag sie dort mit sternförmig nach außen laufenden Straßen. In ihrem Mittelpunkt ragte die Gurgelnde Grotte auf, und jedes Mal, wenn Jenny sie erblickte, musste sie lächeln: Der Kletterberg mit den Wasserfontänen sah von Weitem so aus, als hätte ein Riese einen Haufen hinterlassen.

Dann entdeckte sie in der Ferne die Insel, die wie eine Riesenechse im Wasser lag. Und da war es wieder: Das Lächeln, das aus ihrem tiefsten Herzen kam.

 

 

Schon wieder!

Dass mir ausgerechnet Jenny über den Weg laufen muss – sie ist die größte Langweilerin der Klasse, ach, was sag ich, der Schule! Ständig läuft sie mit gesenktem Kopf herum, sagt kein Wort und geht jedem aus dem Weg. Kein Wunder, dass sie keine Freunde hat. Niemand will etwas mit ihr zu tun haben, selbst im Unterricht sagt sie nichts. Genau wie eben.

Luca schüttelte den Kopf, während er zum Ausgang der Halle ging.

Vielleicht hätte ich den letzten Satz nicht sagen sollen, der war ein bisschen hart. Aber ich war auch wütend und meine Ellbogen tun mir jetzt noch weh – sie hätte sich ja wenigstens entschuldigen können!

Er ging auf einen breiten und viel besuchten Gang zu, über dessen Tor die Nummer 3 prangte. Dort würde er sich ablenken können. Doch auch während er darauf zuschritt, kreisten seine Gedanken weiterhin um Jenny. Sie hatte ein hübsches Gesicht, auch zog sie sich immer ganz cool an. Wenn sie nur nicht so furchtbar schüchtern wäre und sich nicht ständig in ihr Schneckenhaus verziehen würde, dann könnte man vielleicht was mit ihr anfangen.

Wahrscheinlich war sie aber noch immer sauer auf ihn. Er konnte sich an eine Situation vor einiger Zeit erinnern. Mit seinen Kumpels hatte er schon im Klassenraum gesessen und sich lebhaft unterhalten – da war sie über seinen Fuß gestürzt. Luca hatte nicht bemerkt, dass er sein Bein ausgestreckt hatte, aber ausgerechnet sie hatte darüber stolpern müssen. Sie war so komisch gefallen, dass er gleich hatte loslachen müssen, und alle seine Freunde hatten mit eingestimmt.

Eigentlich lache ich niemanden einfach aus. Nur diesmal, gab er zu, hatte sie ihn so komisch angesehen, dass er nicht anders gekonnt hatte.

Er ging in Gang 3 hinein und schaute in eine der Nischen, in denen kurze Clips gezeigt wurden. Er fragte sich immer, wer die Filme drehte, denn noch nie hatte er jemanden mit einer Kamera gesehen. Oder waren sie in den Bäumen oder wo auch immer versteckt? Die Kameraführung war aber eher wie von jemandem, der sich überall hinbewegen konnte.

Als er den Kopf durch den Schatten stieß, der die Nische wie ein Vorhang abgrenzte, begann sogleich ein Clip an der gegenüberliegenden Wand. Er zeigte einen Jungen auf einem Windbrett – das war er selbst! Gestern hatte er das erste Mal versucht, darauf zu stehen. Eigentlich hatte er gedacht, er würde das mit links meistern, da es einem Skateboard ähnelte und er früher sehr viel gefahren war. Aber da war er noch klein gewesen. Außerdem hatte das Windbrett keine Räder, sondern schwebte einfach in der Luft. Man konnte damit den Abhang hinuntersausen, auch wenn der Boden uneben war. So viele andere Besucher konnten es schon, da hatte er es auch einmal probieren wollen. Nun sah er sich selbst zu, wie er wackelig auf dem Brett stand und den Berg zur Stadt der acht Wunder hinunterrauschte. Da – ein Gebüsch tauchte auf. Er hatte es viel größer in Erinnerung, dabei war es eher ein Sträuchlein. Und sein Gesicht – zum Schreien komisch!

 

 

Luca lachte laut. Er erinnerte sich, dass er sich nicht hatte entscheiden können: rechts herum oder lieber links? Oder einfach drüberbrettern? Er ruderte im Film so mit den Armen, wie sich die Flügel einer Windmühle drehen, und verbog sich so, dass sein Board alles andere tat als das, was er wollte. Er riss die Augen auf und aus seinem Mund kam ein langgezogenes „Aaaaaahhh!“

„Möchtest du, dass auch andere Besucher diesen Clip sehen?“, fragte eine weibliche Stimme.

Luca überlegte keinen Augenblick. „Ja, klar“, gab er zur Antwort. Er sah sich die Szene noch einmal an, und wieder musste er über sein Gesicht lachen. Einfach herrlich! So etwas Lustiges wollte er niemandem vorenthalten!

„Lachen ist die beste Medizin“, hatte seine Oma immer gesagt. Luca schaffte es auch heute noch, sie zum Lachen zu bringen. Wenn sich andere über ihn lustig machten – na und? Bei dem Clip hatten sie auch allen Grund dazu, er war einfach zu komisch.

„Du musst irgendwie auffallen, dann kommst du weiter“, hatte sein Opa früher gesagt. „Ob du im guten oder im schlechten Sinn auffällst – das ist egal. Die Leute werden dich immer in Erinnerung behalten und sogar deinen Namen kennen.“

Ja, auffallen tat er, egal wo er war. Dazu brauchte er sich nicht einmal anzustrengen, das kam einfach so. Trotzdem glaubte er, dass seine Oma ein bisschen klüger war als sein Opa …

Noch immer lachend verließ Luca die Nische. Würde Jenny doch nur einmal so herzlich lachen, ich glaube, dann würde sie ihre Scheu vor Menschen verlieren. Er presste kurz die Lippen aufeinander. Ne, die nicht. Die wird sich niemals ändern.

Verärgert über seine Gedanken vergrub er die Hände in den Taschen. Dass er ausgerechnet in diesem tollen Land an sie denken musste – nein, seine Laune würde er sich nicht von ihr verderben lassen. Er wollte was erleben, Langeweile konnte er nicht gebrauchen.

„Was machen wir heute?“, fragte ein Junge einen anderen. Beide waren etwa so alt wie er selbst und schlenderten ins Gespräch vertieft an ihm vorbei.

„Vielleicht im Stinkenden Stiefel eine schwarze Wolke mit gelben Punkten erzeugen?“, antwortete der zweite. „Wenn man über hundert Punkte bekommt, soll das gehen.“

„Hab ich schon versucht, ist total schwer“, winkte der erste Junge ab. „Aber was hältst du vom Grünen Dschungel? Das spielt man so ähnlich wie Pac-Man.“

„Aber da muss man viel rennen. Wie wär’s mit Drachenfliegen? Ist nicht so anstrengend.“

Der andere winkte mit der Hand ab. „Och nö, da muss man so lange anstehen und dann ist die Zeit vorbei. Komm, lass uns die Seifenkisten nehmen und in die Stadt hinuntersausen. Da unten gibt es einen megaguten Eisladen. Vogelgezwitscher soll jetzt eine neue Sorte sein, und ich würde endlich mal gern Glücksschwein probieren.“

„Das schmeckt nach

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 11.07.2019
ISBN: 978-3-7487-0964-0

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