Cover

Prolog

 

 

Memoiren des Eric Clifford

 

>>Wie fällt man, wenn man emporsteigt? Verstehen Sie was ich Ihnen damit sagen will? Wohlmöglich drücke ich mich unverständlich aus. Unmöglich in den Ohren der Fallenden und taub für die Ohren der Emporragenden.

Vielleicht wird es klarer, wenn ich folgendes sage: Waren Sie schon mal voller Glück unglücklich?

Haben Sie schon mal aus tiefster Trauer weinend lachen müssen? Liebe beschreibt oft solch' Zustände. Oder die bipolare affektive Störung. Sie würden es als manische Depression bezeichnen. Nun, dieses Beispiel mag nicht vollkommen zusagen, denn die Manie und die Depression stehen im permanenten Wechsel zueinander. Ich spreche von paradoxen Gefühlszuständen die zeitgleich für inneren Chaos sorgen. Denn so wie es bei der manischen Depressionen die Wechsel der Gefühle sind, die dieser Krankheit ihren Namen schenkte, so können die Gefühle die in mir inne wohnen für sich genommen nicht im selben Moment koexistieren. Doch sie tun es. Mein persönlicher Aufstieg im Fall kann ich am besten wie folgt beschreiben: Ich bin voller Freunde wütend und wütend über meine Freude. Ein recht simples Beispiel, das eigentlich so metaphorisch abgedroschen ist, wie die bekannten und oft verwendeten „Schmetterlinge im Bauch“. Jeder noch so unaufmerksame, in der letzten Reihe des Klassenzimmers sitzende Vollidiot aus dem Pflichtkurs für Philosophie kann solch' Ergüsse der vermeidlichen Eloquenz von sich geben und damit unter Umständen die Schleimhäute derer Frauenzimmer in Wallung bringen, die mit dem Mund voller Ejakulat gerade noch so stammeln können, dass sie keine Flittchen seien. Aber ich will nicht ausfallend werden. Noch nicht. Denn alles in mir sagt gerade eines: Sag was du denkst und gräme dich nicht. Doch die andere Seite verlangt das Gegenteil und beide lieben und Hassen die Gedanken des anderen. Emporstieg und Fall.<<

>>Das ist ja alles schön und gut, aber so ganz hat es meine Frage nicht beantworten können.<<

>>Wie lautete denn Ihre Frage?<<

>>Warum haben Sie sich gegen die Menschen gewendet?<<

Ein Blasser Jüngling mit der Statur eines 15 jährigen Mädchens, der im dritten Semester seines journalistischen Studiums, bei einem lokalen Nachrichtenblattes ein unbezahltes Praktikum anfing, sitzt mit seinem, wahrscheinlich von den Eltern zum Geburtstag geschenkten Diktiergerätes schweißbadend und händezitternd vor mir. Seine Fliege sitzt nicht gerade. Ich beuge mich zu ihm hin und richte sie. Starr vor angst, lähmt sein Körper jeden natürlichen Reflex. Wünscht sich nicht ein Löwe eine Gazelle wie diese? Ich hasse und mag ihn zugleich. Emporstieg und Fall.

Ich setze an: >>Sie wollen wohl den genauen Sachverhalt geschildert bekommen? Meine Antwort war des Kunstverdrossenen zu malerisch und artistisch? Rücken wir die Augen und den Mund an die richtige Stelle.<<

>>Wie meinen … ?<<

>>Seien Sie einfach still und hören Sie zu. Und Sie sollten das Diktiergerät lieber auf den Tisch legen. Sie umklammern das Ding wie ein Pubertärer bei seinem ersten Masturbationsversuch.<<

Er legt das Diktiergerät auf den Tisch, richtet das Mikrofon in meine Richtung und erhofft sich mit diesem Interview die Leiter als schnellster hinaufzuklettern, in dem er jede zweite Sprosse überspringt. Der Glanz der Hoffnung überschreibt seine Angst in den Rehbraunen Augen. Der Wille zum Erfolg und einem nie dagewesenem Erlebnis, machen sein Leben erst lebendig. Ich hasse ihn und respektiere seinen Mut und seinen Willen zugleich. Angst und Mut. Emporstieg und Fall.

>>Sie möchten wohl von den jüngsten Ereignissen hören. Mandy Short, Andrew Bishop, Leila Windor und Jonathan Newman.>> Ich hielt kurz inne und sagte es dann gerade heraus: >>Mussten sterben.<<

Er versucht mich zu unterbrechen, um meinen letzten Satz fragend zu wiederholen. Ich hielt die Hand kurz hoch und fuhr dann fort: >>Vier junge Menschen die mit deutlich erhöhtem Tempo den Highway entlang fuhren. Sie lachten, hatten Spaß und bis zu diesem Zeitpunkt war die Welt noch in Ordnung. Für sie und auch für mich. Doch wie Sie vielleicht wissen ist mein Gehör exorbitant. Ich war gute 50-60 yards über ihnen, als der Fahrer Andrew Bishop etwas sagte das alles auf den Kopf stellte. Nicht nur für diese vier jungen Menschen im Auto, sondern für alle Menschen die danach kommen und über Generationen hinweg das Bild das die Welt von mir schuf, für immer verändern sollte. Denn seine Worte lösten in mir meinen Emporstieg des Falls aus.

Er sagte: >>Lass uns einen Unfall bauen. Merciful wird kommen und uns retten. Das wird lustig.<<

Ich war starr, ebenso wie Sie jetzt. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen und am Zenit des Geisteskranken angekommen, dachte ich es könne nicht mehr steigen. Keine widerrede, keinen Moment des rationalen Denkens. Sie stimmten alle mit ein. Sie klatschten in die Hände, öffneten eine Flasche Wodka und tranken. Auch Andrew trank und in ihrer Euphorie lenkte Andrew den Wagen Richtung Leitplanke. Bei ihrer Geschwindigkeit und dem Eintrittswinkel drang der Wagen durch die Planke, wie eine Faust durch Styropor und fiel den Abgrund hinab. Ich hätte sie retten können, ganz gewiss. Ich hätte diesen leichtsinnigen Wahnsinnigen das Leben retten können.<<

Ich machte eine kurze Pause. Ich trank einen Schluck Wasser, als dramatischen Effekt und redete dann wieder.

>>Fünf mal überschlug sich der Wagen. Ich hörte die Knochen brechen und wie sie lauthals schrien. Flehend nach ihren Eltern, flehend nach Gott. Mein Name fiel nicht. Sie beschworen mich mit jener selbstmörderischen Aktion und schrien dann nicht einmal den Namen den die Menschen mir gaben? Als der Wagen unten ankam schwebte ich langsam an die Unfallstelle herab. Andrew, Mandy und Jonathan waren direkt tot. Ich stand vor dem zertrümmerten und in sich eingefallenen Wagen und wartete nur darauf bis Leila herausgekrabbelt kam. Beim Ausstieg durch den kleinen Spalt der mal ein Seitenfenster war, riss sich Leila weitere Wunden an den spitzen Kanten des deformierten Metalls auf. Ihre Schreie waren fast lautlos. Als ob sie in ein Kissen schrie. Als sie dann vollends draußen ankam und mich erblickte, sah ich in ihre Augen die fragend waren. Man spürte es förmlich. Sie brauchte es nicht auszusprechen. Wo warst du? Das wollte sie wohl sagen. Ich war hier, sagte ich ihr. Ich habe alles gesehen und gehört. Dann fasste sich ihre Stimme wieder und sie konnte und wirklich fragen.<<

>>Warum hast du uns nicht gerettet, Merciful?<<

>>Ich schaute sie nur an und wartete bis das Leben aus ihr wich. Ein paar Leute standen oben an der auseinandergerissenen Planke und einige auf halben Wege zur Unfallstelle runter. Sie sahen alles und ich ging einfach an ihnen vorbei nach oben. Welch Blicke. Empörung, Bestürzung, Hilflosigkeit, Fassungslosigkeit und dann das Grausamste und das Befriedigendste für mich: ihre Wut.

Es stand überall in den Zeitungen. Es wurde im Fernsehen darüber berichtet. Ich verlor binnen kürzester Zeit den Namen Merciful. Stattdessen tauften sie mich neu.<<

>>Dregs.<< Der junge Journalist in Ausbildung unterbrach mich.

>>Ja, Dregs. Die Eltern der Verstorbenen, die Gemeinde und die ganze Welt wollte Rechenschaft. Sie wollten eine gerechte Strafe. Sie wollten mich. Mir die Schuld an ihrem Tod geben.<<

Ich trinke und sehe wie der junge Journalist im inneren damit kämpft, ob er mir diese eine Frage die sich gerade in ihm aufbraust stellen soll, bis er die Courage aufbringt mich zu fragen.

>>Mr.Clifford sind Sie es denn nicht?<<

Ich beugte mich zu ihm rüber und wie bei einem einstudierten Tanz wich er zeitgleich zurück. Das er mich bei meinem gebürtigen Namen ansprach, war der klägliche und dennoch effektive Versuch mich aus der Reserve zu locken. So sprach die lediglich sporadische Anmutung einer vermeidlichen Selbstschulderkennung mir dazu bei nur noch seinen Fragen ausweichen und doch Stellung beziehen zu wollen. Ich mied ihn und dennoch folgte ich ihm. Emporstieg und Fall.

>>Die Pflicht eines jeden Bürgers ist es Schwachen und Hilflosen zu helfen. Zivilcourage mit anderen Worten. Als Eric Clifford hätte ich direkt helfen müssen, ebenso als Merciful. Egal welch' absurder und perfider Grund diesen Unfall auslöste. Ich hätte helfen müssen.<<

Ich dachte kurz nach. Ich geriet in Schuldgefühle. Ich wagte es nicht einmal diesen Jungspurt anzuschauen. Es war nur ein kurzer Moment und ich fing mich wieder. Meine Schuld ließ mich fallen, doch meine Wut half mir auf und ragte mich empor.

>>Ich versuche es mit einem Beispiel. Sie sitzen in einem vollen Zug. Alle zusammen auf engsten Raum und doch alleine für sich. Zwei gut gebaute Männer mit Alkoholfahne und hohen Aggressionswerten steigen in den Zug. Sie suchen den Streit mit ihren Blicken. Sie suchen den Streit und finden ihn prompt. Die beiden Männer gehen geradewegs zu einem schwächlichen Jungen hin. Stellen Sie sich vor Sie sitzen dort, denn ihrer Statur nach sind Sie das beste Beispiel hierfür. Nun, die zwei Männer beschimpfen den Jungen mit der Form eines Zahnstochers. Hier ein Schlag auf den Kopf und da ein wenig Speichel ins Gesicht. Die Männer haben gar keinen Grund es zu tun. Sie tun es einfach, weil es ihnen passt und aus einem weit schlimmeren Grund als diesen. Ein Zug voller Menschen und sie haben keine Angst dem Jungen wehzutun. Denn sie wissen ganz genau, egal ob in dunkelster Nacht in einer Gasse, oder in einem vollen Zug bei Tag: Niemand wird dem Jungen helfen. Niemand hört ihn und sieht ihn. Können Sie sich die Leute vorstellen? Wie die Passagiere aus den Fenstern schauen. In der Leichenstarre verharrend bis die Gefahr vorüber ist. Es ist die oberste Pflicht zu helfen. Die beiden Männer steigen wieder aus. Der Junge blutet. Er hat Schmerzen. Niemand würdigt ihn eines Blickes. Sie haben nicht geholfen und jetzt schämen sie sich. Sie sind in ihrem Scham so tief versunken, dass sie nicht einmal jetzt helfen, wo die Gefahr vorüber ist. Gebt dem Jungen doch wenigstens ein Taschentuch. Und nun stellen Sie sich vor, ich säße noch in dem Zug und verhielte mich wie die anderen Passagiere. Glauben Sie die Leute würden noch immer aus dem Fenster oder den Boden starren? Nein, sie würden mich mit ihren Blicken verurteilen. Warum haben Sie nicht geholfen, würden diese Heuchler denken. Etwa, weil ich die Kraft und die Macht besitze besoffene Halunken aufzuhalten? In jedem steckt diese Kraft. Man muss keine Superkräfte haben um aufzustehen und diesen Männern zu sagen das sie aufhören sollen. Man muss keine Superkräfte haben und einen schönen Rechten Haken fliegen zu lassen. Wissen Sie wer dieser Junge war?<<

>>Das waren Sie.<< Er war sich seiner Antwort so sicher.

>>Nein. Es war einfach nur ein Junge um den sich niemand kümmerte. Diese Menschen schämen sich heute noch und dennoch werden sie niemals helfen. Und eines Tages, wenn ihnen gleiches widerfährt, dann spucken sie auf die Menschheit. Eine Frechheit das mir niemand half, werden sie klagen. Was ist das bloß für eine Gesellschaft, werden sie fragen. Helfen und nicht helfen. Emporstieg und Fall. Es ist ein geschriebenes Gesetz zu helfen. Ich habe dieses Gesetz mit dem Tod der vier jungen Menschen in dem Auto gebrochen. Stehe ich vor dem Gericht, so sollen die etlichen Millionen von Menschen die Tag für Tag Verbrechen beobachten und nichts tun mit mir vor dem Richter stehen. Es ist ein geschriebenes Gesetz zu Helfen. Doch was taten die Menschen als sie erfuhren das es mich gibt? Sie legten mir ein ungeschriebenes Gesetz auf. Sie erklärten mich zu ihrem persönlichen Superhelden. Wollen sie mich für ein ungeschriebenes Gesetz verklagen? Dafür kann ich nicht belangt werden, aber für meine verweigerte Hilfeleistung als der Wagen die Planke durchbrach, dafür kann ich zur Verantwortung gezogen werden. Denn ich hatte die Möglichkeit zu helfen. Ich bin sowohl im Recht als auch im Unrecht. Emporstieg und Fall.<<

>>Was werden Sie jetzt tun Mr.Clifford?<<

Was erhofft sich dieser Junge mit dem glänzenden Bleistift hinter seinem rechten Ohr eingeklemmt?

>>Ich werde tun was ich schon hätte längst tun sollen.<<

>>Und das wäre?<<

Ich nehme mir seinen Stift hinterm Ohr hervor und schreibe etwas auf den Block der vor mir auf dem Tisch liegt. Ich stehe auf, drehe den Block zu ihm und gehe Richtung Ausgang. Als ich die Tür öffne, sage ich ihm noch etwas.

>>Sie wollen die größte Story der Menschheitsgeschichte? Dann werde ich Ihnen zeigen wie ich der Welt nun wirklich helfen kann. Auf eine art die die Menschen erst begreifen, wenn das Werk vollendet ist.<<

Ich schließe die Tür hinter mir. Ich gehe mit einem Lächeln heraus und frage mich ob er kommen wird. Eine Adresse und eine Uhrzeit kann unser beider Leben für immer verändern. Ob seine Angst oder sein Mut überwiegen wird? Oder werden beide im harmonischen Chaos koexistieren und für sein persönliches Emporsteigen im Fall sorgen? Junger Journalist, hast du den Mut und die Angst gehasst und geliebt, verachtet und geehrt zu werden?

Impressum

Texte: Michael Lajca
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Jedem Autor der pure Freude beim Lesen und Schreiben empfindet.

Nächste Seite
Seite 1 /