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Kapitel 1

 

Wenn das Motorrad mich nicht auf den Bürgersteig geworfen hätte, wäre ich vielleicht noch immer für die Zubereitung von achtundvierzig Cupcakes für den Basar der Circle of Friends-Kirche verantwortlich. Aber die Nachricht war vor meinen Augen verschwunden, als der Idiot, der mich zu Boden brachte, mir das Handy aus der Hand gerissen hatte.

“Hey!”

“Hey was?” Er war nur wenige Zentimeter neben mir zum Stehen gekommen und wedelte mit dem Smartphone vor meiner Nase herum. Als ich mich mühsam erhob, spürte ich, wie ich errötete und mir meine Stimme im Hals steckenblieb.

“Ich - ich ... was soll das?”

“Halt die Klappe und gib mir deine Handtasche.”

“Nein!”

Ich umfasste fest den Träger, aber er griff nach der Tasche und versuchte, sie mir zu entreißen. Wir rangelten miteinander, und er ließ den Motor aufheulen.

“Soll ich dich etwa auf dem Boden mitschleifen?”

“Na schön! Nimm sie einfach. Gott!”

Ich ließ die Tasche los, und der Dieb raste lachend davon. Er warf mein Smartphone hinter sich, ohne nachzusehen, wo es landen würde. Zum Glück fiel es ins Gras neben mir. Was für ein Tag!

Heute hatte ich schon einen Kunden an die Konkurrenz verloren, hatte mir von meiner Mutter angehört, wie viele Chancen ich mir durch den Umzug hatte entgehen lassen und hatte meine Bluse mit Barbecuesoße bekleckert. Nein, das reichte wohl nicht aus - ich musste auch noch ausgeraubt werden.

Tränen schossen mir in die Augen. Das war genau der Grund gewesen, weswegen ich nach Star gezogen war; um den Banden und der schlechten Gegend zu entkommen. Wenn ich Lust auf all diese Verrückten gehabt hätte, wäre ich in Los Angeles geblieben. Wütend wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und starrte mein Handy an. Wen sollte ich nur anrufen?

Terry. Ich musste Terry anrufen und sie bitten, mich abzuholen. So aufgebracht, wie ich war, sollte ich besser nicht selbst fahren. Ich ging zurück in den Eingangsbereich von Sully’s, wo wie durch ein Wunder niemand etwas von dem Überfall gesehen hat. Alle tranken in Ruhe ihr Bier weiter und lachten mit ihren Freunden. Als ich mich hinsetzte, sah mich die Barkeeperin mit zusammengezogen Augenbrauen an.

“Hi. Sind Sie nicht gerade erst gegangen?”

“Ja, und dann bin ich ausgeraubt worden.”

“Oh mein Gott!” Sie rannte um die Theke herum und umarmte mich fest. “Das tut mir schrecklich leid. Das ist ja unglaublich. Entspannen Sie sich. Ich spendiere Ihnen einen Whisky.” Ich nickte, und schon wieder schossen mir Tränen in die Augen. Verdammt, hör auf zu weinen. Du solltest dich stattdessen bemühen, den Typen ausfindig zu machen.

“Vielen Dank. Ich muss kurz eine Freundin anrufen.”

“Okay, tun Sie das. Ich rufe bei der Polizei in Middleton an und frage, ob sie jemanden herschicken können.”

Ich lächelte schwach. An die Polizei dachte ich nur noch selten. Star war so winzig und so friedlich, dass wir uns höchstens mal einen Polizisten aus dem Nebenort ausliehen. An die wenigen Sirenen hatte ich mich erst einmal gewöhnen müssen, als ich ein paar Monate zuvor hergezogen war.

Ich liebte meinen kleinen, polizeifreien Ort. Star war so winzig, dass man in zwanzig Minuten hindurchfahren konnte, aber wenn man genügend Zeit hier verbrachte, konnte man die Vorteile ganz deutlich erkennen. Die Menschen hier waren einfach toll, die Schulen waren klein, die Straßen sauber, und wenn man ausgeraubt wurde, umarmte einen die Barkeeperin. Ich hatte ein Haus am Rand des Ortes gekauft und die letzten sechs Monate damit zugebracht, zu dekorieren, zu gärtnern und die Nachbarn kennenzulernen. Es fühlte sich an, als hätte ich ein kleines Stück Paradies gefunden.

Der Überfall hatte mich aufgewühlt. Wie konnte es dieser Typ nur wagen, in unseren kleinen Ort einzudringen und unsere friedvolle Gemeinschaft durcheinanderzubringen? So etwas hatten wir nicht verdient, genauso wenig, wie er mein Geld verdient hatte. Ich wählte Terrys Nummer und erzählte ihr alles.

“Oh. Mein. Gott.”

“Kannst du mich abholen? Ich zittere am ganzen Körper.”

“Aber klar. Ich bin gerade im Supermarkt, aber schon auf dem Weg zur Kasse. In zehn Minuten bin ich da. Beweg' dich nicht vom Fleck. Vielleicht klebt nützliche DNA an dir. Wasch dir bloß nicht die Hände.”

“Nein, versprochen.” Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden, was ich als gutes Zeichen deutete; sie wollte so schnell wie möglich herkommen. Als ich auflegte, stand ein Glas Whisky vor mir. Ich stürzte es hinunter, ohne nachzudenken und vergaß dabei völlig, dass ich harten Alkohol eigentlich nicht vertrug. Aber heute half er mir. Der Whisky sorgte für ein warmes Gefühl in meinem Hals und schließlich in meinem Magen. Ich lächelte die Frau hinter der Theke an.

Sie lächelte zurück. “Ich heiße Carol.”

“Hi Carol. Ich bin May. Danke für alles.”

Sie lächelte wieder und ging davon, um ein paar Gläser zu holen. Sie war hübsch, die Art von Barkeeperin, die man sonst nur in Männerfilmen sah. Carol hatte lange, rötlich-braune Haare, die ihr in Wellen bis auf die Schultern fielen. Sie trug das Button-Down-Hemd der Restaurantkette mit aufgekrempelten Ärmeln. Sie war gut in Form; ihre enge Jeans brachte ihre muskulösen Beine und den kleinen Hintern gut zur Geltung. Beim Gedanken daran, wie lange ich schon nicht mehr im Fitnessstudio gewesen war, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Und seitdem ich nach Idaho gezogen war, war ich außerdem auf vielen Grillabenden gewesen.

Carol kam zurück, nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer.

“Hi Derrick? Hier ist Carol. Pass auf, meine Freundin May wurde gerade draußen vor der Bar ausgeraubt. Kannst du vielleicht vorbeikommen und mit ihr sprechen? Ach, super. Klasse. Das weiß ich sehr zu schätzen. Vielen Dank. Tschüs.” Sie legte auf und strahlte.

“Du hast Glück; der Detective hat Zeit. Kannst du noch zwanzig Minuten hierbleiben? Er klang sehr interessiert an dem Fall.”

“Klar. Ich habe heute nicht viel vor.”

Sie blickte auf mein leeres Glas. “Kann ich dir noch einen bringen?”

“Ich sollte einen klaren Kopf bewahren. Vielleicht ein Wasser?”

“Gute Idee.” Sie nahm ein neues Glas und hielt es unter den Wasserhahn. “Also, was ist passiert?”

Ich erzählte ihr, wie alles geschehen war, und sie hörte aufmerksam zu. Die Geschichte schien auch andere neugierig zu machen, und bald hatte ich ein ganzes Publikum aus Menschen um mich herum sitzen, die ihre Stühle näher zu mir herangerückt hatten, um besser verstehen zu können, was ich sagte. Normalerweise wäre ich in einer solchen Situation vor Schüchternheit erstarrt, aber in diesem Moment war ich wütend, und ich brauchte andere Menschen, die meine Wut mit mir teilten. Mein Wunsch erfüllte sich - alle waren genauso aufgebracht, wie ich es mir erhofft hatte.

“So ein Bastard!”

“Ich kann nicht glauben, dass er Sie auf diese Art bedroht hat! Wer zieht denn solche Kinder groß? Ganz im Ernst!”

“Was für ein trauriger Tag. Als ich so jung war Sie, fühlte ich mich noch völlig sicher auf der Straße. Ich musste mir nie Sorgen machen. Aber heutzutage ist das anders.”

Carol hob eine Hand. “Hey, Star ist immer noch kein gefährlicher Ort. Da draußen läuft nur irgendein Schwachkopf herum, der sich einbildet, er könnte sich solche Scherze erlauben. Die Polizei bringt ihn ganz sicher hinter Gitter. Das ist schließlich ihr Job.”

Alle nickten und murmelten zustimmend vor sich hin. Die Stimmung beruhigte sich etwas.

Dann kam Terry herein.

“May!” Sie kam zu mir herübergerannt und warf die Arme um mich. Dann trat sie einen Schritt zurück und sah mich an. Danach umarmte sie mich erneut. “Ach! Gott sei Dank ist dir nichts passiert.”

“Ja, es geht mir gut - noch besser sogar, seit du hier bist. Setz' dich, wir warten auf die Polizei.”

“Gut. Gut.” Sie sah Carol an und bestellte ein Bier. Das Glas leerte sie in einem Zug und bestellte direkt ein neues. “Ich glaube das einfach nicht. Ich meine, ich kann es nicht glauben. Es ist einfach unglaublich.”

Ihr zweites Bier wurde serviert, und ich griff schnell danach, bevor sie es wieder hinunterstürzen konnte. “Hey, du musst doch noch fahren. Also immer mit der Ruhe.”

“Ach, Baby”, lachte sie. “Ich habe lange genug an der Universität von Idaho studiert. Hugh Hefner hat uns öffentlich Briefe geschrieben, in denen er uns bat, an unseren Partys teilnehmen zu dürfen. Also mach' dir keine Sorgen.”

Trotz ihrer Trinkfestigkeit leerte Terry ihr Bier nun langsamer und unterhielt sich mit mir. Ich seufzte erleichtert, als sie mir von all den Dingen berichtete, die sie heute schon erledigen musste. Sie hatte eine Nachtschicht im Tierheim hinter sich und musste dann zur Post hetzen. Darum mochte ich Terry so; sie brachte immer wieder Balance in mein Leben. Wenn ich gestresst war, schlug sie mir keine Lösungen vor, sondern lenkte mich ab.

Über Terrys Schulter hinweg sah ich, dass ein unglaublich gut aussehender Mann hereinkam. Er war groß, sicherlich 1,95 Meter, hatte goldblonde Haare und strahlend blaue Augen. Er trug eine gut sitzende Lederjacke und eine ausgewaschene Jeans. Seine Stiefel mit den Stahlkappen sahen neu und sauber aus. Terry folgte meinen Augen und wandte sich dann wieder mir zu, um mir einen vielsagenden Blick zuzuwerfen, der 'Oh, wow' ausdrücken sollte. Zu meiner Überraschung sah der Typ mich direkt an und kam geradewegs auf mich zu.

Ich muss kreidebleich geworden sein, denn Terrys Beschützerinstinkt war sofort geweckt. Sie sprang von ihrem Hocker auf und stellte sich vor den gut aussehenden Mann.

“Fahren Sie zufällig Motorrad?”

“Äh, wie bitte, ich bin...”

“Sie sind was? Nicht so groß und stark ohne Ihre Maschine?” Sie packte ihn am Ärmel und sah dann zu mir herüber. “Ist er das? Ist das der Typ? Wir können ihn aufhalten, bis die Polizei kommt.”

Carol unterbrach sie mit einem leisen Räuspern. Wir schauten beide hinüber zur Bar. “Das ist der Polizist. Darf ich euch meinen Freund Detective Bower vorstellen? Er ist hier, um zu helfen.”

Terry sah an dem Mann auf und ab und hielt ihn noch immer am Ärmel fest.

“Ganz richtig, ich bin von der Polizei.” Als er in die Innentasche seiner Jacke griff, bückte sich Terry und legte die Arme schützend über den Kopf.

“Er hat eine Waffe!”

Alle Leute in der Bar starrten Terry an, als der Detective seine Dienstmarke hervorzog und sie mir zeigte. Dann sah er meine zusammengekauerte Freundin an. “Soll ich ...?”

“Sie kommt schon selbst drauf. Ich bin May.” Wir schüttelten einander die Hände, und er lehnte sich neben mich an die Bar. Mir wurde schwindelig, als er mich anlächelte.

Bower erklärte mir, dass er bei der Polizeidienststelle in Middleton arbeitete und meinen Fall als Priorität behandeln wollte. Während wir miteinander sprachen, richtete sich Terry langsam aus ihrer zusammengekauerten Haltung auf und sah, dass niemand sie beachtete. Sie setzte sich so unauffällig wie möglich auf den Hocker neben mir und hörte Bower zu.

“May, ich vermute, dass es sich um eine organisierte Gruppe handelt, die Frauen attackiert.”

“Organisiert? Aus welchem Grund - nur um Geld zu stehlen?”

“Das kann ich nicht sicher sagen. Ich suche bei jedem neuen Fall nach wiederkehrenden Mustern. Daher wäre es hilfreich, wenn Sie mir alles erzählen könnten, an das Sie sich erinnern. Fangen Sie ganz von vorne an.”

Ich schob meine Unterlippe vor, so wie ich es damals immer bei Klassenarbeiten in der Schule getan hatte. Wie hatte er ausgesehen? Was hatte er getragen? Okay, konzentriere dich. Ich bin auf dem Bürgersteig.

In meiner Erinnerung sah ich Silber. Sein Motorrad - es war glänzend silber poliert. Und ja, seine Brille war auch silber. Er hatte mich unverschämt angegrinst; daran erinnerte ich mich, weil seine Zähne so perfekt gewesen waren. Er war ein äußerst gut gekleideter Krimineller gewesen; alle seine Sachen hatten hochwertig ausgesehen. Und sein Motorrad war laut gewesen. Er hatte den Motor mehrmals aufheulen lassen, als er mir die Tasche gestohlen hatte.

“Und dann hat er mein Smartphone einfach hinter sich geworfen.”

“Wie bitte?”

“Mein Handy. Er hat es fallenlassen. Ich hatte Glück, denn so konnte ich Terry anrufen.” Terry winkte ihm beschämt zu. Er nickte langsam und dachte angestrengt nach. Dann zog er einen kleinen gelben Notizblock hervor und schrieb sich etwas auf. Er kaute an seinem Stift herum.

“Interessant.”

“Ja?”

“Ja.” Er steckte den Notizblock wieder ein und reichte mir seine Karte. “May, wenn Sie sich noch an irgendetwas anderes in Bezug auf den Verbrecher oder das Motorrad erinnern sollten, rufen Sie mich bitte umgehend an.”

Ich nahm die Karte entgegen und schob Sie in mein Portemonnaie. “Danke, Detective. Ich hoffe, Sie finden mehr heraus.”

“Das hoffe ich auch.” Er stand auf und reichte mir die Hand zum Abschied. Wow, er hatte starke Hände. Ich versuchte, zu verbergen, dass meine Knie weich wurden, als er mich erneut anlächelte. “Ganz im Ernst, rufen Sie jederzeit an. Tschüs Terry.”

Dann verließ er die Bar.

Ich setzte mich wieder auf meinen Hocker und dachte einen Moment lang nach. Terry sagte etwas, aber ich verstand kein Wort.

“Was hast du gesagt?”

“Ich hab' gesagt 'Verdammt, der steht auf dich'.”



Kapitel 2


Nach der ganzen Aufregung blieb mir nichts Anderes übrig, als wieder in den Alltag zurückzukehren. Ich wachte am nächsten Tag wie immer früh auf, aber fühlte mich immer noch erschöpft und übermüdet. Es fiel mir schwer, aufzustehen. Ob es an dem einen Glas Whisky liegen konnte?

Ich ging in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Durch das Fenster winkte ich meinem Nachbarn Earl zu. Er hatte vor einiger Zeit meinen Müslispender repariert, aber dennoch grüßten wir uns nur kurz, wenn wir uns begegneten. Doch ich mochte unser kleines, freundliches Ritual.

Der Kaffeeduft munterte mich ein wenig auf. Ich nahm mir eine Tasse und atmete den Geruch tief ein. Irgendetwas hatte ich letzte Nacht geträumt; was war es nur gewesen?

Auf einmal erinnerte ich mich - ich hatte von dem heulenden Motor geträumt, aber es hatte keinen Fahrer gegeben. Das Motorrad war von allein gefahren und schließlich wie in einem Film explodiert. Brennendes Metall war durch die Luft geflogen. Als die Flammen die Umgebung erfüllt hatten, hatte ich weit in der Ferne ein Haus entdeckt. Ich hatte gewusst, dass ich dort hingehen musste. Das Gebäude hatte mich irgendwie angezogen. Aber überall, wo ich hingeblickt hatte, hatte ich nur Feuer gesehen.

Was hatte das nur zu bedeuten?

Schließlich beruhigte ich mich und setzte mich hin, um am Computer zu arbeiten. Im Posteingang fand ich einige E-Mails von Kunden. Ich schrieb Ihnen zurück und erklärte, dass ich mir einen Tag freinehme, weil ich überfallen worden war. Dann fuhr ich meinen Computer herunter. Normalerweise kommunizierte ich gern mit meinen Kunden - ich war eine Spezialistin für soziale Medien und mochte meine Arbeit sehr. Aber in diesem Moment wollte ich einfach nur meine Ruhe haben. Ohne darüber nachzudenken, wo ich eigentlich hinwollte, griff ich nach meiner Handtasche und ein paar Stoffbeuteln und verließ das Haus.

Ich wollte nicht fahren, sondern lieber zu Fuß gehen. Im Supermarkt um die Ecke wollte ich ein paar Lebensmittel einkaufen, die ausnahmsweise mal keine Snacks waren. Der Bürgersteig schlängelte sich ein wenig, auch wenn das eigentlich nicht nötig gewesen wäre, denn es gab links und rechts nur Häuser und ein paar Gartenzäune. Bis zum Laden brauchte ich zwanzig Minuten, und ich genoss meinen Spaziergang.

“Hi May!”

Ich drehte mich um und sah Helen, eine Frau aus dem Ort, die im Garten ihre Pflanzen goss.

“Oh, hi!” Ich ging zu ihr herüber und atmete den Duft von nassem Asphalt und Gras ein. Helens Rosen waren wirklich hübsch, und auch sie selbst strahlte.

“Sind sie nicht toll? Ich habe ein neues Mittel gefunden, das die Blumen wirklich schnell wachsen lässt. Hey, ich habe übrigens gehört, was passiert ist; ich hoffe, es geht dir gut. Und dann auch noch die heutigen Nachrichten. Was geht in diesem Ort nur vor sich?”

“Welche Nachrichten?”

“Ach, das hast du noch gar nicht gehört? Ein kleines Mädchen ist gestern Nachmittag auf der Straße entführt worden. Die arme Kleine. Wer macht denn sowas nur? Kinder entführen! Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Die Mutter hat heute Morgen ein offizielles Statement abgegeben.”

“Oh mein Gott.” Gestern Nachmittag - als ich gerade mit dem Detective gesprochen hatte. Warum war er denn nicht bei der Frau gewesen, deren Tochter entführt wurde? Das war doch sicher wichtiger. Helen wechselte das Thema, aber ich konnte nur noch daran denken, dass Bower nicht am richtigen Einsatzort gewesen war - als Detective sollte man doch alles dafür tun, ein vermisstes Kind zu retten.

“Ich habe Roy gesagt, dass er unbedingt seine Tabletten nehmen muss. Ich verstehe den Mann einfach nicht. Er glaubt, es reicht aus, wenn er ein Stück Vollkornbrot isst und 15 Minuten auf dem Laufband trainiert. Er wäre längst tot umgefallen, wenn ich ihm nicht ständig Anweisungen geben würde.”

“Es ist gut, dass du so aufmerksam bist. Ich muss jetzt übrigens weiter. Mein Vorratsschrank ist ziemlich leer, daher gehe ich einkaufen. Halt mich auf dem Laufenden, okay?”

Helen strahlte erneut. Ihr gefiel es, wenn sie Neuigkeiten überbringen konnte. “Ganz sicher! Tschüs, Liebes.”

Sie widmete sich wieder ihren Rosen, und ich ging weiter zum Supermarkt, noch immer in Gedanken. Wie konnte so etwas nur passieren?

Was mich am meisten verwirrte, war die Entführung selbst; die Straßen in Star waren so ruhig. Es gab kaum Verkehr, daher wurde jedes neue Fahrzeug direkt wahrgenommen. Es spielten zwar viele Kinder draußen, aber nicht auf der Straße. Es war äußerst merkwürdig.

Im Supermarkt redeten alle Kassierer nur von dem vermissten Mädchen. Ich ging zu dem mürrischen jungen Mädchen, die in die Ferne starrte und legte meine Äpfel und die Mandelmilch auf das Band. Sie scannte meine Artikel, ohne ein Wort zu sagen, und auch ich schwieg.

Ein Manager kam herüber und blickte dem Mädchen über die Schulter. “Tracy, wo ist denn dein ganzes Wechselgeld?”

“Keine Ahnung.”

“Das ist völlig inakzeptabel. Du bist Kassiererin. Du musst mindestens fünfzig Dollar Wechselgeld in der Kasse haben.”

“Aha.”

“Tracy, ich weiß nicht, was in dir vorgeht, aber du musst deine Arbeitseinstellung ändern.” Der Manager warf mir einen Blick zu, der soviel sagte wie “Teenager! Einfach unglaublich, nicht wahr?”, aber ich beteiligte mich nicht am Augenrollen. “Ich bringe dir dein Wechselgeld. Miss, können Sie mit Karte zahlen?”

Ich sah das Mädchen an und bemerkte, wie schwer es ihr fiel, nicht wütend zu werden. “Natürlich. Kein Problem.”

Der Manager ging wieder, und ich reichte der Kassiererin meine Karte. “Alles klar?”

Sie nickte, aber ich eine Träne fiel auf das Band. “Sorry. Es ist nur ... ich weiß nicht. Es geht mir gut. Wirklich.”

Ohne nachzudenken, legte ich meine Hand auf ihre. “Schon gut. Wir haben alle mal einen schlechten Tag.”

Sie drückte meine Hand ganz fest. “Ich hätte sie retten können.”

Ich erstarrte. “Wen?”

Die Kassiererin beugte sich vor, sodass sie flüstern konnte. “Das kleine Mädchen. Das entführt wurde. Ich wohne direkt gegenüber von ihr. Sie hat mich gefragt, ob ich nicht vorbeikommen wollte, um mit ihr zusammen mit ihren Puppen zu spielen. Ich habe Nein gesagt. Deswegen ist sie draußen auf dem Hof geblieben.”

In ihren Augen sammelten sich Tränen. Das arme Ding, dachte ich. Sie macht sich dafür verantwortlich.

“Hey.” Ich griff nach einer Packung Taschentücher, die an der Kasse zum Verkauf angeboten wurden. “Es ist nicht deine Schuld. Du hattest nichts damit zu tun.”

Sie schüttelte den Kopf. “Wenn ich Ja gesagt hätte, wäre sie nicht entführt worden. Sie wäre nicht allein gewesen. Warum bin ich nur so eine Idiotin gewesen?”

Das junge Mädchen öffnete die Packung Taschentücher, zog eines heraus und putzte sich die Nase. Sie reichte mir das benutzte Taschentuch, ohne zu realisieren, was sie tat, und packte dann eilig meine Einkäufe in eine Tüte.

“Du bist bestimmt keine Idiotin, nur weil du nicht mit ihr spielen und quasi umsonst babysitten wolltest. Du konntest nicht wissen, dass sich ein Verbrecher in der Gegend herumtrieb. Und außerdem ...”, flüsterte ich sanft. “Wo waren denn die Eltern? Ich meine, sie haben ihr Kind ziemlich lange draußen spielen lassen. Es wurde schon dunkel. Haben sie nicht nach ihrer Tochter gesehen? Vielleicht mal aus dem Fenster geschaut?”

“Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Sie hätten sie hereinrufen können. Ich hätte mit ihr spielen können.” Sie sah mich an und hielt mir die Einkaufstüte hin. “Vieles hätte anders laufen können.”

Als ich wieder zu Hause war, schaltete ich meinen Computer ein, um nachzusehen, wie die Kunden auf meine E-Mail reagiert hatten. Der Großteil hatte vollstes Verständnis und wünschte mir alles Gute. Nur einer meiner neuen Kunden verlangte, dass ich am nächsten Morgen ab 6 Uhr zu erreichen wäre. Na schön, ich kann mich nicht für immer verstecken. Ich würde am nächsten Morgen früh zur Verfügung stehen und mich dann Schritt für Schritt durch meinen vollen Online-Kalender kämpfen.

Fest entschlossen, den Rest meines Nachmittags zu genießen, entschied ich mich dazu, einen Film anzuschauen. Im Internet lieh ich mir einen meiner Lieblingsfilme aus - 'Ich kämpfe um dich'. Da er so spannend ist, kann ich mich damit meistens gut ablenken. Ich habe nie verstanden, warum mich ausgerechnet Thriller voller Gewalt und Verbrechen so entspannen, aber es wirkt immer wieder.

Ich starrte wie gebannt auf

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.12.2019
ISBN: 978-3-7487-2447-6

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