Gewidmet meinen Eltern
Entgegen der Regel hatte Mayra eine Lichtbrücke genommen und sich zu ihrem Lieblingsort transportieren lassen, dem See im Erholungspark von Unionia, dem Zentralplaneten der Sternenföderation. Mayra zog die Beine an und stützte ihr Kinn auf die gekreuzten Arme. Düster dachte sie daran, dass in einer Woche die Schulferien beginnen würden. Sonst war sie immer zu ihrem Onkel auf seine Farm auf dem Landwirtschaftsplaneten geflogen. Doch Onkel Ryan war nun pensioniert und machte sich gerade seinen Lebenstraum einer Urlaubsreise durchs halbe Universum wahr. Das hieß, dass sie ihre Mutter auf deren Wahltour begleiten musste. Es sei denn, ihr fiele etwas Besseres ein und zwar bald. Mayra hasste es, als Tochter einer der einflussreichsten Senatorinnen posieren zu müssen. Die Mundwinkel taten ihr jetzt schon weh, wenn sie nur an das viele Lächeln dachte.
Ärgerlich rupfte Mayra etwas von dem genetisch auf perfekte Form getrimmten Gras neben sich und warf es ins Wasser. Sie beobachtete, wie ihr Spiegelbild in den Wellen verschwand und wie dann langsam wieder ein schlankes Mädchen von 15 Jahren in hellgrauer Schuluniform erschien. Die rotbraunen Locken waren ordentlich nach hinten hochgesteckt. Große dunkle Augen sahen sie fragend an. Mayra fühlte sich wie gefangen. Irgendwie wollte sie raus aus ihrem Leben, wie es gerade war. Aber sie wusste nicht wohin.
Ihre Mutter bestand darauf, dass die Familie immer gemeinsam zu Abend aß. Meistens war das auch der Fall. Mayras Vater Sternon, einer der universumsweit gefragtesten Ingenieure für Sternenschiffsantriebe, würde gleich eintreffen. Mayra saß an der Theke an der Essensausgabe, das Kinn auf ihre rechte Hand gestützt, und sah ihrer Mutter zu, die das Essen vorbereitete. Konzentriert lud Senatorin Cassiopeia am Kochgerät die neuesten Daten über gesunde Ernährung hoch, und Mayra war sich sicher, dass das Ergebnis auch diesmal ein Brei von undefinierbarer Farbe sein würde, der ihr nicht schmeckte, aber – nach Cassiopeias Aussage – enorm gut für sie war.
Mayras Mutter war eine hochgewachsene Frau mit goldblonden Haaren und leuchtend blauen Augen, die eine Ausstrahlung vor sich her trug, die jeden spüren ließ, dass sie erwartete, dass jeder tat, was sie wollte. Es kam selten vor, dass ihre Erwartung enttäuscht wurde. Sie hatte zu Mayras kleinem Ausflug an den See nichts gesagt. Für Mayra hieß das, dass die Senatorin nichts davon wusste. Der Code zum Verlassen der Schule, den ihre Mutter ihr vor Monaten für einen Besuch im Senat gegeben hatte, war also immer noch gültig.
Mit einem leichten Zischen öffnete sich die Tür und ihr Vater kam herein. Er trug den leicht abwesenden Gesichtsausdruck, den Mayra von ihm gewöhnt war. Trotz Haarwurzelbehandlung wurden seine braunen Haare langsam schütter. Das beschäftigte Cassiopeia mehr als ihren Mann, und eines ihrer vielen Projekte war denn auch die ehrenamtliche Unterstützung eines Antihaarausfallprogramms.
Der Koch, eine komplexe, in die Wand integrierte Maschine, warf das heutige Abendessen aus. Während ihre Mutter über ihren Arbeitstag referierte und sich darüber aufregte, dass Senatorin Eventua auch diesmal gegen ihren Antrag auf Verbot jeglicher Staubpartikel in der Atemluft in Wohngebieten gestimmt hatte, löffelten Mayra und Sternon still ihren Brei. Mayra war sich nie sicher, ob ihr Vater Cassiopeia überhaupt zuhörte. Sie selbst nervte der allabendliche Monolog ihrer Mutter über Themen, von denen sie keine Ahnung hatte und für die sie sich nicht interessierte. Mayra vermutete, dass Cassiopeia auch deswegen so ausführlich vom Alltag einer Diplomatin berichtete, weil sie hoffte, dass Mayra später in den interstellaren Dienst eintreten würde.
„Nächste Woche ist der Empfang des Senats für die Bierbrauer. Wir müssen dir dafür noch ein neues Kleid besorgen.“
Mayra stöhnte auf. „Aber ich war doch erst letzten Monat auf dem Ball der Repräsentanten der Industrieplaneten!“
Cassiopeia lächelte milde. „Auf dem Empfang wirst du die führenden Frauen und Männer dieses wichtigen Industriezweigs kennenlernen und deine Bekanntschaft mit den politischen Führern vertiefen. Du bist 15 Jahre alt. Es ist Zeit, dass du dir langsam dein Netzwerk aufbaust. Ohne Kontakte wird es für dich später sehr schwierig im Leben!“
Wenn ihre Mutter in dem „Ich habe Recht und widersprich mir nicht“-Modus sprach, fühlte Mayra sich chancenlos. Hilfe suchend blickte sie ihren Vater an, doch der lächelte nur und wandte sich wieder seinem Brei zu. Ohne viel Hoffnung versuchte sie es trotzdem: „Aber Mama, du weißt doch, wie sehr ich so Veranstaltungen hasse. Was soll ich denn mit den Leuten reden?“
Cassiopeia strahlte ihre Tochter an: „Du wirst es lernen!“ Damit war für sie das Thema erledigt.
Mayra ging in ihr Zimmer und rief Fredi per Ganzkörperübertragung an. Fredi war ihr bester Freund. Eigentlich war er ihr einziger Freund. Bei Fredi konnte man sich darauf verlassen, dass er sie auch mochte, wenn ihr Avatar in der Spielwelt nicht über die neuesten modischen und meist sehr teuren Gadgets verfügte. Mit Fredi führte sie Unterhaltungen über ihre Wünsche und Träume. Bei ihm konnte sie auch sicher sein, dass er sie verstand, weil sie nicht auf einen festlichen Empfang wollte, selbst wenn die Leute noch so wichtig waren.
Fredis Projektionsbild erschien vor ihr. Er strahlte sie an. „Hey, ich habe mit Cynthie geflirtet. Ich hab diesen neuen, total coolen Avatar programmiert, mit Haaren, die sich je nach Stimmung färben. Der kann drei extra Hände ausfahren, wenn er sie braucht, und Cynthie hat fast zehn Minuten mit ihm geredet!“
„Morgen in der Schule wirst du diesen Chat sicher fortsetzen!“
Fredi grinste. „Mayra, du weißt es, ich weiß es: Cynthie redet nicht mit mir – und sie wird ihren Avatar nicht mit meinem reden lassen, wenn sie sieht, dass er von mir ist.“
„Eben. Was willst du von so jemand?“
„Sie ist hübsch!“
Mayra stöhnte auf. Damit hatte Fredi unbestreitbar Recht. Cynthie war das hübscheste Mädchen ihrer Altersstufe, wenn nicht der ganzen Schule. Groß, schlank, lange blonde Haare, einen elastischen Gang und ein Siegerinnenlächeln auf den Lippen. Cynthie würde nie, niemals mit jemand wie Fredi sprechen, nicht, wenn ihr klar war, dass es Fredi war, mit dem sie sich gerade unterhielt. Fredis Eltern hatten den schlechten Geschmack besessen, ein behindertes Kind auf die Welt zu bringen. Obwohl Fredis genetische Defekte wie üblich vor der Geburt entdeckt worden waren, hatten sich seine Eltern geweigert, ihn durch einen anderen Embryo zu ersetzen. Nun war Fredi einer der ganz wenigen Menschen, die von Geburt an auf einen Schwebestuhl angewiesen waren. Seine Beine waren zu verkrümmt, die Nerven zu wenig ausgebildet, als dass die Ärzte ihm das Laufen hätten ermöglichen können. Aufrecht saß Fredi nur, weil eine externe Wirbelsäule aus Titan mit seinem Rücken verbunden war. Mayra fand, dass Fredi der einzige in der Schule war, mit dem es sich lohnte zu reden. Er war der Bruder, den Mayra sich immer gewünscht hatte.
„Ich soll schon wieder auf einen Empfang“, informierte Mayra ihren Freund.
Der warf in gespieltem Entsetzen die Hände in die Luft. „Wer ist es denn diesmal?“
„Die Bierbrauer.“
In Fredis hellblauen Augen blitzte der Schalk. „Dann wirst du dich in deinen freien Stunden mal vom Studium des Körperaufbaus und der Krankheiten von Hund, Esel, Katz und Maus lösen müssen. Und stattdessen dich um die Vorzüge von Bier kümmern!“
„Ich mag kein Bier!“ Mayra ließ sich auf ihr Bett fallen.
„Da bist du mir eine Erfahrung voraus“, meinte Fredi leicht verträumt. „Ich hab Bier noch nie getrunken. Verträgt sich nicht mit meinen Nerven.“
„Es ist bitter, Fredi. Mehr braucht da keiner drüber zu wissen.“
Fredi widersprach: „Seit Jahrtausenden ein beliebter Lieferant für B-Vitamine!“
Mayra zog sich ein Kissen über das Gesicht.
In bestem Cassiopeia-Tonfall ermahnte Fredi sie: „Mayra, du brauchst Gesprächsthemen!“
„Ich will nicht!“, kam es undeutlich unter dem Kissen hervor.
„Deine Mutter erwartet, dass du wie sie wirst, dass du dich elegant von Gesprächsgrüppchen zu Gesprächsgrüppchen bewegst, mit immer neuen nichtssagenden Worten, die keinem wehtun und allen schmeicheln!“
Mayra warf das Kissen Richtung Fredi, wobei das Kissen natürlich durch die Projektion hindurchflog und hinter dem Bild von Fredi auf dem Boden landete. „Sag mir lieber, was ich anziehen soll! Meine Mutter droht mit Kleiderkauf!“
Fredi grinste. „Wie schrecklich! Das müssen wir verhindern.“ Er tat so, als ob er überlegte. „Hm. Das lange Schwarze mit dem engen Rock?“
„Haha! Damit ich wieder über die Schleppe stolpere und hinfalle und der ganze Saal über mich lachen kann. Danke, Fredi, für diesen hilfreichen Rat!“
„Dann nimm das orangefarbene!“
Mayra schnaubte. „Das ich anziehen musste, weil es der Neffe der Senatorin entworfen hat, von der meine Mutter die Stimme brauchte. Das hat sich so mit meiner Haarfarbe gestochen, dass mir die Augen Tage danach noch wehtaten.“
Fredis Lächeln war fast ernst gemeint, als er vorschlug: „Das Mintfarbene mit den weißen Punkten.“
Mayras Lächeln war Zucker, als sie antwortete: „Oh ja, das passt zu meinen Haaren, das passt zu meiner Figur. Nur schade, dass der Fleck nicht rausging, der da drauf ist, seit ich mir einen halben Topf Seetangdessert drübergekippt habe. Beim vorletzten Empfang. Der für Ingenieure für Gras und Halme.“
„Mayra, du bist unübertroffen!“
„Oh ja“, meinte Mayra. „Unübertroffen in gesellschaftlicher Tolpatschigkeit.“
„Ach, das ist doch alles Absicht. Du willst bei solchen Angebern doch keinen Erfolg haben!“ Fredi schaute kurz über seine Schulter. „Meine Mutter ruft. Ich muss ins Bett. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf!“
Mayra winkte ihm zu. „Gute Nacht!“ Fredi beendete die Übertragung. Sein Bild verschwand.
Mayra stand auf, ging zu ihrem Schrank. Der glitt, als sie 20 Zentimeter von ihm entfernt war, automatisch auf. Missmutig betrachtete Mayra ihre Kleider. Dann drehte sie sich um und ging zu ihrem Computerterminal. Sie schaute kurz zu der 3-D-Projektion einer kleinen Schimmelstute neben ihrem Bildschirm. In ihrem Abbild wirkte Ireen immer noch lebendig. Entschlossen rief Mayra die Stelle in dem Anatomielehrprogramm auf, an der sie am Vortag aufgehört hatte.
Die Torflügel der Schule öffneten sich, und Mayra betrat die Eingangshalle. Die wölbte sich fünf Stockwerke hoch bis zum Dach. Es kam selten vor, dass eines der Kinder auf seinem Weg zur Lernkammer in dieser Halle laut wurde. Die Halle war einfach nicht gemacht für Kindergeschrei. Sanft gestreut, fiel von oben aus den Fenstern in der Kuppel Licht ein. Galerien zogen sich in den Stockwerken über Mayra um die Halle herum. Es roch staubig oder jedenfalls kam es einem so vor, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass in einer Schule, die strengstens auf Hygiene überwacht wurde, sich Staub niedersetzen durfte. Mayra machte sich auf den Weg zu ihrer Lernkammer im dritten Stock links. Jeder Schüler bekam eine Lernkammer und einen eigenen Computerarbeitsplatz zugewiesen. Die Kammern waren kreisrund mit acht Computerterminals. Die Stühle standen in der Mitte mit dem Rücken zueinander, davor das Bedienungspult, jeweils ausgestattet mit Tastenfeld, Spracheingabe und dem Kopfschirm zur Gedankendirektübertragung. In Mayras Schule waren die Lernkammern ungewöhnlich geräumig, die Bildtafeln an der Wand von luxuriöser Größe.
Mayra betrat ihre Lernkammer. Zwei der sieben Mitschüler saßen schon an ihren Plätzen. Sie hatten die Kopfschirme als Kommunikationsmedium mit dem Computer gewählt. Hauben aus Metallbändern saßen auf ihren Köpfen. Drähte berührten leicht ihre Schläfen. Diese nahmen die Gedanken des Schülers auf und sendeten die Signale an den Computer, der sie in Befehle übersetzte. Mayra störte die anderen nicht durch einen Gruß. Sich persönlich zu grüßen, war nicht üblich. Wenn man seine Lernaufgabe gerade beendet hatte oder sie unterbrechen wollte, schickte man einen virtuellen Gruß an den Computer des Mitschülers. So wurde die Lernleistung optimiert.
Lautlos wechselten die Bilder vor den Bildtafeln der anderen. Stan hatte gerade Unterricht in Mathematik. Vira nutzte ihre zwei Stunden Freizeit pro Tag schon jetzt, um in der Spielwelt per Avatar Abenteuer zu erleben. Ihr Avatar sprang gerade über einen Abgrund. Das war genau das, was Mayra an der Spielwelt nicht leiden konnte – dass sie ihr so verlogen vorkam. Vira bewegte sich selbst fast überhaupt nicht, bestand eindeutig aus mehr Fett als Muskeln, und ihre Spiele bestanden nur aus dem Erfinden von sportlichen Wettkämpfen. Mayra war, was Sport betraf, zwar auch eindeutig faul, aber sie war es konsequenterweise auch in der Spielwelt, wenn sie denn spielte, was eher selten vorkam.
Mayra setzte sich in ihren Sessel und zog das Tastenfeld zu sich heran. Sie mochte die Hauben nicht. Ihre Gedanken behielt sie lieber für sich. Spracheingabe würde die anderen stören und so benutzte sie meistens auf altmodische Weise die Tastatur. Auch für sie hatte ihr Lerncomputer Mathematik ausgewählt. Mayra stöhnte auf. Sie war in Mathematik nicht wirklich schlecht, aber sie machte ihr auch keinen Spaß. Fünf weitere Jahre musste sie in der Schule absitzen. Jeder in der Sternenföderation ging bis zu seinem 20. Lebensjahr zur Schule. Danach wurde man je nach Fähigkeiten einer Berufsausbildung oder einem Studium zugeteilt. Mayra hoffte sehr, dass sie sich für Tiermedizin qualifizierte. Berufs- und Studiumswünsche konnte man angeben und bis zu einem gewissen Grad auf die Auswahl Einfluss nehmen.
Die individuelle Schulung durch speziell auf den einzelnen Schüler zugeschnittene Lernprogramme hatte sich bewährt. Menschliche Lernmoderatoren standen bei Kommunikationsschwierigkeiten mit dem Computer als Beratung jederzeit zur Verfügung. Einmal pro Woche waren Aufgaben im Team zu lösen. Das artete öfter in Chaos aus, das die Lernmoderatoren überforderte, dennoch blieb diese Teamarbeit Teil des Unterrichtspensums.
Das Lernmodul quälte Mayra endlos mit Integralrechnung. Aus lauter Verzweiflung wechselte Mayra nach zwei Stunden in die Spielwelt. Ihren Avatar hatte sie kaum von der Standardvariante abgewandelt. Die Avatare zu adaptieren, war ihr einfach zu lästig. Wahrscheinlich lag es daran, dass keiner der Mitspieler sich mit ihr beschäftigen wollte. Mayra sandte eine Nachricht an Fredi in seiner Lernkammer ein Stockwerk unter ihr, um ihn in die Spielwelt zu locken. Aber der hatte keine Lust, war voll damit beschäftigt, in seiner Freizeit ein neues Computerprogramm zu lernen. Mayra vermutete, dass es kein ganz legales Programm war. Für Fredi hatte es einen unwiderstehlichen Reiz, sich virtuell an Orte zu begeben, an denen er eigentlich nichts zu suchen hatte. Es hätte Mayra nicht erstaunt, wenn selbst der Zugang zum Senatsrechner für Fredi kein Hindernis darstellte. Mangels packender Alternativen wandte Mayra sich wieder ihren Mathematikaufgaben zu.
Mittags kam Fredi in ihre Lernkammer geschwebt und holte sie zum Essen ab. Im künstlichen Licht schimmerten seine hellblonden Haare fast grünlich. Vielleicht lag es an der Beleuchtung, vielleicht bildete Mayra es sich auch nur ein, aber sie hatte den Eindruck, dass Fredi kränker aussah als sonst. Sie hatte es sich abgewöhnt, ihn zu fragen, wie es ihm ging, nachdem er sie einmal angebrüllt hatte: „Mein Herz ist schwach. Meine Nieren streiken, und auf meinen Magen ist kein Verlass. Das wird so bleiben, egal wie oft du fragst. Also lass es!“
Zusammen gingen beziehungsweise schwebten sie über die Flure und Treppen zur Schulmensa, die in einem Licht durchfluteten Anbau am hinteren Teil des Gebäudes untergebracht war. An den Wänden spielten heute Bilder von einem Strand. Entsprechend war die Temperatur in der Mensa wärmer als sonst. Palmen wiegten sich im Wind, dessen Flüstern ebenso zu hören war wie das Rauschen der Brandung, die digital an die Schulwände schlug. Die Luft war passend dazu mit dem Geruch von Meersalz parfümiert. Mayra wäre lieber draußen vor der Farm ihres Onkels gesessen. Dort war es zwar nicht ganz so idyllisch. Dafür waren die Gerüche nach Erde und Gräsern echt.
Mayra und Fredi stellten sich in die Schlange vor der Essensausgabe. Als sie dran waren, bestellten sie wie immer drei Essen, eines mit Mayras Fingerabdruck, das sie frevelhafter Weise wegwarfen, weil es auch keiner hätte essen wollen, und zwei mit Fredis Fingerabdruck. Mayra war sich sicher, dass Fredis Eltern genau wussten, dass ihr Sohn nicht jeden Tag eine doppelte Portion aß. Aber Fredis Essen war so unverschämt lecker, dass Mayra in den seltensten Fällen widerstehen konnte. Bei dem Essen, das seine Eltern für ihn bestellten, konnte man erkennen, dass es Salat war, wenn man einen Salat vor sich hatte.
Mayra setzte sich in eine Fensternische, und Fredi schwebte ihr gegenüber. Als sie gerade angefangen hatten zu essen, ging Cynthie an ihnen vorbei Richtung Essensausgabe. Fredi verschluckte sich und Mayra klopfte ihm vorsichtig auf den Rücken. Wie immer war Cynthie begleitet von Leina und Peralla, die edel waren, aber nie ganz so edel wie Cynthie selbst. Cynthie schaffte es durch eine Kette hier und ein Tuch da – alles an der Grenze des noch von den Statuten zugelassenen – sogar ihre Schuluniform elegant aussehen zu lassen. Ihre Frisuren waren immer originell, ihr Make-up bunt und auffällig. Die Kombination von Gelb und Blau um die Augen würde morgen die Hälfte der Mädchen in der Schule tragen. Cynthie war das Modevorbild schlechthin.
„Spielwelt gestern Abend war voll edel“, teilte Cynthie ihren Freundinnen mit. „Dieser eine Avatar, die Haarfarbe hat mit den Gefühlen gewechselt! Das war vielleicht interessant! Den würde ich gerne besser kennenlernen!“
Fredi klappte die Kinnlade runter. Mayra musste ihn anstoßen, damit er wieder zurück in die Wirklichkeit fand. „Hast du das gehört!“ rief er aus. „Sie will mich besser kennenlernen! Cynthie. Mich!“
Mayra stocherte in ihrem Essen. „Naja, sie will deinen Avatar kennen lernen.“
„Aber das bin ich doch. Der Avatar!“ Fredi hörte auf zu Essen und konnte seine Augen nicht von Cynthie lösen, die mit ihren Freundinnen an einem Tisch in der anderen Ecke der Mensa saßen und sich kichernd während des Essens unterhielten.
Während sie selbst es sich schmecken ließ, betrachtete Mayra etwas besorgt ihren Freund. Der bemerkte das schließlich und fragte: „Mayra, und was ist mit Kareel?“
Mayra schluckte und meinte dann, möglichst cool: „Schön? Klug? Unerreichbar?“
Fredi grunzte nur – und den Rest des Essens verbrachten sie im Schweigen.
Am Abend kam überraschend Mayras Großvater, Admiral der Sternenflotte Sven Rogers, zu Besuch. Die Beziehung zwischen Cassiopeia und ihrem Vater war angespannt. Rogers hatte ein Jahr zuvor wieder geheiratet und Cassiopeia nahm ihm das übel. Sie selbst war unter fadenscheinigen Ausreden nicht zur Hochzeit geflogen und hatte verhindert, dass ihr Mann und ihre Tochter teilnahmen. Mayra verstand nicht wirklich, warum ihre Mutter etwas gegen die Ehe ihres Großvaters mit Ursula hatte, die sie noch nicht kennengelernt hatte. Ihre eigene Großmutter lebte seit Jahrzehnten in einem Heim. Sie hatte wohl zu viele Medikamente genommen und war nun nicht mehr ansprechbar. Von Verrat konnte, Jahre nach der Scheidung, eigentlich keine Rede mehr sein.
Rogers befand sich nur ein paar Tage auf Unionia, um Fragen seiner diplomatischen Mission mit dem Amt für außerföderale Angelegenheiten zu besprechen. Er hatte sich gezielt erst an diesem Nachmittag gemeldet. Seine Taktik ging auf. Cassiopeia gelang es nicht, bei dem Überfall per Ganzkörperübertragung schnell genug eine Ausrede zu erfinden, und so war sie gezwungen, Rogers zum Abendessen einzuladen.
Nun saß Mayra mit ihren Eltern und ihrem Großvater am Tisch, und sie löffelten ihren Brei, der heute leuchtend grün war und völlig geschmacklos. Cassiopeia hatte bemüht höflich nach dem Wohlbefinden ihres Vaters gefragt und dem von Ursula. Rogers hatte knapp geantwortet, und das einsetzende Schweigen wurde von Sternon unterbrochen, der nach der aktuellen Mission des Admirals fragte. Rogers wurde als Admiral der Sternenflotte oft als Vermittler in diplomatisch heiklen Situationen eingesetzt. Er erklärte, dass er auf Terrestra daran arbeite, diesen rückständigen Planeten, eine der verlorenen Kolonien, in die Sternenföderation zurückzuführen.
Mayra hatte noch nie von „verlorenen Kolonien“ gehört. Ihr Großvater, der gerne dozierte, setzte ihr auseinander, dass sie ja bereits wisse, dass in der Föderation alle kartierten und von intelligenten Wesen bewohnten Planeten zusammengeschlossen seien. Mayra nickte, Rogers lehnte sich zurück, nippte an seinem Glas Synthetikwein und fuhr fort: „In der Frühzeit der Raumfahrt gab es ein großes Unglück, als ein Asteroidenhaufen den damaligen Hauptsitz traf und der Rechner zerstört wurde, der alle Kolonien verzeichnete. Seither werden alle Daten multipel dezentral gelagert, doch damals waren manche der Daten unwiederbringlich verloren. Zu einigen gerade besiedelten Planeten brach der Kontakt ab.“
Mayra war geschockt. „Was ist denn mit den Menschen in den Kolonien passiert?“
Ihre Mutter antwortete: „Die meisten Kolonien wurden schnell wieder gefunden. Von anderen weiß man es nicht. Sie waren auf sich gestellt. Es kommt immer wieder vor, dass wir Planeten entdecken – oder man muss sagen wieder entdecken –, auf denen es Spuren menschlicher Besiedlung gibt. Aber es leben dort keine Menschen mehr. Auf Terrestra ist das anders, richtig?“
Rogers nickte: „Terrestra ist nach Jahrtausenden die erste verlorene Kolonie, die wir wieder gefunden haben. Und es leben tatsächlich noch Nachkommen der ersten Siedler!“ Er räusperte sich. „Die Zustände sind allerdings erschreckend. Man muss sich das einmal vorstellen: Weil dort Metalle für die gestrandeten Kolonisten nicht in ausreichender Menge zugänglich waren, gibt es dort keine Maschinen, keine Roboter, keine Aggregate. Die Menschen auf Terrestra leben komplett archaisch. Und warum auch immer, haben sie sich dafür entschieden, sich von einer Familie regieren lassen. Die Gesellschaft wird von einem König beherrscht, der nicht etwa gewählt wird, sondern der durch Abstammung zum obersten Regenten wird.“ Rogers schüttelte fassungslos den Kopf. „Die Demokratie, die eigene Selbstbestimmung aufzugeben, das ist das, was ich nicht verstehe.“
„Aber du bist nicht da, um zu verstehen“, warf Cassiopeia trocken ein.
Rogers stimmte ihr zu. „Nein, meine Aufgabe ist, einen Weg auszuhandeln, wie Terrestra wieder offiziell Teil der Föderation werden kann.“
Entschlossen stellte Rogers sein Glas ab. „Aber genug von der Politik. Wie geht es eigentlich Ryan? Das Letzte, was ich von ihm sah, war eine Übertragung an seine gesamten Bekannten. Es schien ihm gut zu gehen auf seiner Urlaubsreise.“
Cassiopeia nickte. „Ja, das ist auch mein aktueller Informationsstand.“
„Onkel Ryan hat seinen Spaß und ich kann zusehen, wo ich meine Ferien verbringe“, murmelte Mayra.
Rogers hatte sie gehört, wusste aber nicht, was sie meinte, bis Cassiopeia erklärte: „Auf Ryans Farm war Mayra immer in den großen Ferien.“
„Dann komm uns doch besuchen, Mayra, auf Terrestra!“ lud Rogers seine Enkelin ein.
„Au ja!“ entfuhr es der. Erwartungsvoll sah sie ihre Mutter an.
Cassiopeia fiel die Kinnlade runter. „Ja, danke, sehr nett.“ Verwirrt stand sie auf, fing an das Geschirr aufzuräumen. „Ich muss drüber nachdenken!“ Damit ging sie zur Küchenzeile, um Gläser und Teller in die Lade zum Geschirrspüler zu stellen.
Rogers lächelte Mayra an, zwinkerte ihr zu und sagte leise: „Wenn du deine Mutter überzeugen kannst, weißt du ja, wie du mich erreichst.“
Mayra lachte. „In Ordnung!“ flüsterte sie zurück.
In dieser Nacht konnte Mayra nicht einschlafen. Die Reise nach Terrestra, das war ihre Chance! Es war wahrscheinlich ihre einzige Chance, wollte sie dem entkommen, dass ihre Mutter sie auf ihre Wahltournee mitnahm. Nachdem sie Stunden wach gelegen hatte, sich von einer auf die andere Seite gewälzt hatte, gab Mayra schließlich auf und sagte: „Licht!“ Sofort wurde es in ihrem Zimmer heller, wenn auch nur im etwas schummerigen Nachtmodus. Die Wände waren der Uhrzeit entsprechend in beruhigendes Dunkelblau gefärbt. Mayra setzte sich auf und ging hinüber zum Badezimmer.
Sie war nicht die Einzige, die nachts wach war. Durch die Scheiben der Fenster konnte sie die vielen Stehgleiter erkennen, mit denen Bürger auf den vorgesehenen Lichtbahnen durch die Häuserfluchten Unionias flitzten, fast genauso dicht hintereinander wie zu jeder anderen Zeiteinheit. Mayra fühlte sich besser, wenn sie ihren eigenen Schlafrhythmus an die Umdrehungen, an den Tag-Nacht-Wechsel Unionias anpasste, aber damit war sie eher die Ausnahme.
Im Bad, dessen Wände und Becken aus grünem, gummiartigen Material bestanden, an dem man sich nicht verletzten konnte, spritzte sie sich etwas Wasser ins Gesicht. Mayra schaute in den Spiegel und eine faszinierend schöne Frau blickte sie an. Mayra stöhnte auf. „Normalmodus!“ sagte sie laut und deutlich. Der Spiegel hatte von Anfang an eine Macke, verstand Sprache ausnehmend schlecht und zeigte statt des Abbilds des Betrachters meist das des Avatars der Wahl. Mayra hatte nie einen ausgewählt und so schaute sie erst auf die voreingestellte vollbusige Blondine Mitte 20, dann auf Störfelder, bis der Spiegel es schaffte, in die Spiegelfunktion zu gehen, und Mayra ihr eigenes, etwas ängstlich dreinschauendes Bild zu zeigen. Die rotbraunen Locken hingen ihr wirr ins Gesicht, was den im Bad integrierten Friseur veranlasste, einen Kamm auszufahren. Ohne wirklich hinzusehen, nahm Mayra ihn und legte ihn an das Waschbecken.
Mayra sah sich in die Augen. „Wie bekomme ich es hin, dass ich auf Terrestra in die Ferien darf? Na, Spiegelbild, was sagst du?“
„Du musst deine Mutter dazu bekommen, dass sie selbst will, dass du zu deinem Opa in den Urlaub fährst!“, sah sie sich selbst im Spiegel antworten.
„Was will meine Mutter mehr als alles andere?“, fragte sich Mayra.
„Dass ihre Tochter gesellschaftlichen Erfolg hat, dass sie auf sich aufmerksam macht!“
Mayra grinste. „Spiegelbild, ich habe eine Idee!“ Ihr Spiegelbild lachte vergnügt zurück.
Am nächsten Morgen war Cassiopeia schon so früh in ihr Büro geflogen, dass Mayra sie nicht mehr zu Hause erwischte. Daher rief sie eine Übertragung auf.
„Mayra, was ist denn? Ich habe nicht viel Zeit!“ Ihre Mutter war ganz die kompetente Senatorin.
Mayra fiel es schwer zu sagen, was sie wollte, und sie druckste rum: „Äh, weißt du …“
„Mayra, was?“, fragte Cassiopeia ungeduldig.
„Die Ferien, äh, das Schulprojekt. Ich muss doch nächstes Jahr ein Projekt für die Schule abliefern.“
„Ja, und?“ Ihre Mutter wandte sich um und sagte zu einer Person, die nicht zu sehen war: „Ich komme gleich!“
„Das Schulprojekt, ich will es über Terrestra machen. Das hat sonst niemand“, beeilte Mayra sich zu sagen.
Ihre Mutter hörte kaum zu. „Terrestra? Das glaube ich kaum! Mayra, ich muss jetzt los. Bis heute Abend!“ Damit verschwand die Übertragung.
Doch Mayra ließ sich davon nicht unterkriegen. „So leicht gebe ich nicht auf!“, sagte sie zu der Stelle, wo die Übertragung ihrer Mutter gerade noch gewesen war.
Was jetzt zu tun sei, wollte Mayra unbedingt mit Fredi besprechen. Sie hetzte zur Schule, rannte durch das Portal, wich schwungvoll Mitschülern aus, die sie fast anrempelte und die ihr hinterher schimpften, hetzte um die Ecke links in den Gang, der hoch zu Fredis Lernkammer führte, und krachte mit voller Wucht mit Kareel zusammen. Mayra verlor das Gleichgewicht, und wenn Kareel sie nicht am Arm gepackt und sie gestützt hätte, wäre sie hingefallen. Mayra sah hoch in Kareels dunkle Augen, die sie amüsiert anblickten. So nah war Mayra Kareel noch nie gewesen. So deutlich hatte sie seine dunklen Locken noch nie gesehen. Noch nie hatte sie die Wärme seines Körpers neben ihrem gefühlt. Ihre Knie gaben nach, und Kareel musste sie noch einmal auffangen. „T-, t-, tut, tut mir leid“, stotterte Mayra, als sie wieder das Gefühl von festem Boden unter ihren Füßen hatte.
„Nichts passiert!“ Kareel ging weiter und lächelte noch kurz zu ihr zurück, bevor er um die Ecke in die Halle verschwand.
Mayra musste sich mit dem Rücken an die Wand lehnen, so sehr zitterten ihr die Knie. War das peinlich gewesen! Mayra wäre am liebsten sofort und auf der Stelle im Boden versunken! Das ging fast jeder in der Schule so, geschätzte 99,7 Prozent der Mädchen schmolzen dahin, wenn Kareel auftauchte. Er hatte einfach alles, das gute Aussehen, die Begabung, den Charme – und dann noch dieses Lächeln. Wie sollte man da nicht dahinschmelzen? Wütend schlug Mayra mit der Faust gegen die Wand. Kareel hatte sie vorher nie bemerkt, und wenn er sich jetzt überhaupt an sie erinnerte, dann an dieses fehl geschaltete Wesen, das beinahe vor ihm auf die Knie gegangen war. Der einzige Trost war, dass niemand sie gesehen hatte. Mayra schoss im Nachhinein die Röte ins Gesicht bei der Vorstellung. Das hätte gerade noch gefehlt. Cynthie und ihr Tross waren auch so schon unerträglich. Nicht auszudenken, was denen an Mobbing eingefallen wäre. Schließlich versuchte die Schönheit selbst, an Kareel heranzukommen. Damit hatte sie aber keinen Erfolg. Genau bei der Überlegung rappelte sich Mayra wieder auf, atmete tief durch, testete, ob ihre Beine sie inzwischen wieder sicher trugen, drückte sich von der Wand ab und ging, diesmal langsam, Richtung Fredis Lernkammer.
„Wie siehst du denn aus?“, begrüßte er sie. Mayra lotste Fredi auf den Gang und berichtete von ihrem Desaster. „Dein großer Held. Hat er dich wenigstens einmal gerettet!“
Mayra knuffte ihren Freund – vorsichtig – zwischen die Rippen. „Zwei Mal, zwei Mal vorm Hinfallen gerettet.“
„War es das, was du erzählen wolltest? Bist du fertig?“, wollte Fredi wissen. „Ich hab da ein Programm, das ist total …“
„Nein!“ Mayra unterbrach ihn schnell, bevor er wieder auf sein Lieblingshobby „Wie hacken wir uns in fremde Computersysteme“ zurückkommen konnte. „Ich weiß jetzt, wie ich verhindern kann, mit meiner Mutter auf Gruseltour zu gehen.“
„Die Wahlreise umgehen?“ Fredi war nun voll Aufmerksamkeit.
„Ja, aber dafür brauche ich deine Hilfe!“
Fredi überlegte einen Moment, gab dann Mayras Problem dem Vorrang vor seinem Computerprogramm, und die beiden bewegten sich zur Mensa, wo sie keiner böse anblicken würde, wenn sie redeten.
Auf dem Weg erzählte Mayra von der Einladung ihres Großvaters nach Terrestra und dass sie beide jetzt ganz, ganz schnell ein Schulprojekt erfinden müssten, das ihre Mutter überzeugte!
In der Mensa holten sie sich beide etwas zu trinken. Früchte- und Kräutertees aus heimischen Gewächshäusern, garantiert keimfrei, war das einzige, was Mayra sich freiwillig mit eigenem Fingerabdruck besorgte. Die Mensa zeigte heute die roten Dünen eines Wüstenplaneten. Das fand Mayra bedrückend, und als Kontrast bestellte sie sich einen Grüntee. Fredi nahm wie immer ein Glas warmes Wasser. Fredi schwor auf warmes Wasser. Er meinte, warmes Wasser sei heilsam. Mayra bereitete zwar allein die Vorstellung davon, nur pures, warmes Wasser zu trinken, eine leichte Übelkeit, aber das war eines der wenigen Themen, bei dem die beiden Freunde unterschiedlicher Meinung waren.
Sie setzten sich an eines der Fenster, wobei Mayra bewusst den roten Dünen den Rücken zuwandte. Fredi nippte an seinem warmen Wasser und meinte dann: „Rekapituliere. Du willst nicht auf die Gruseltour. Daher muss ein Schulprojekt her.“
„Genau“, warf Mayra ein. „Und zwar eins, das sich zwingend nur auf Terrestra recherchieren lässt.“
„Eines, das ganz viele Punkte bringt“, setzte Fredi fort.
Mayra nickte: „Denn das ist das einzige Argument, dem meine Mutter zugänglich ist.“
„Erfolg?“
„Genau!“
Nach einem kurzen Schweigen meinte Fredi: „Für eines der normalen Schulprojekte eignet sich Terrestra nicht.“
„Wieso?“, wollte Mayra wissen.
„Na, es ist einfach zu aufwendig für eine Arbeit so weit zu fliegen, die du locker neben deinem normalen Pensum in zwei Wochen in der Schule hier auf Unionia schaffen kannst. Das Thema ist auch etwas zu Besonderes. Eine lebendige, verlorene Kolonie, das ist doch geradezu unglaublich. Da musst du mehr draus machen!“
Mayra seufzte tief und von Herzen auf. „Also was dann? Eigentlich kann es nur das Schulabschlussprojekt sein. Damit hätte ich zwar noch ein bisschen Zeit, aber ich könnte schon damit anfangen.“
Fredi hatte sein Glas mit beiden Händen umfasst, wärmte sich die Finger. „Du könntest es sogar abgeben. Keiner zwingt dich, mit der Abgabe eines exzellenten Projekts zu warten, bis du 20 bist.“
Mayras Augen wurden verträumt. „Die Geschichte Terrestras, die Geschichte einer verlorenen Kolonie von den Anfängen bis heute.“
Fredi nahm noch einen Schluck warmes Wasser. „So oder so ähnlich.“
Mayra grinste. „Das wird funktionieren. Das muss funktionieren!“
Am Nachmittag war Mayra mit ihrer Mutter im Bekleidungsviertel verabredet, selbstverständlich in der Straße mit den ganz besonders teuren Geschäften. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass Mayra sich ein neues Kleid für den Empfang der Bierbrauer besorgte. Mayra wartete schon eine Viertelstandardstunde, als ein Senatsgleiter neben ihr landete. Die Passagiertür ging auf. Ihre Mutter sagte zu dem Piloten noch: „Holen Sie mich bei Bayan um genau 17 Standard ab!“
Ohne die Antwort des Flugkapitäns abzuwarten, stieg sie aus und gab Mayra Küsschen links und rechts auf die Wange. Der Gleiter startete wieder. „Entschuldige, Kleines!“ Nun tätschelte Cassiopeia ihrer Tochter die Wange. Mayra drehte ihren Kopf weg. Sie hasste es, wenn ihre Mutter sie öffentlich tätschelte wie ein Kleinkind. Die tat so, als ob sie es nicht bemerkte, nahm Mayra am Ellbogen und steuerte sie zielbewusst zwei Boutiquen weiter zu Bayan. Dabei redete sie weiter. Mayra schien es, als ob sie nicht einmal Luft holte. „Sämtliche Oppositionspolitiker scheinen sich heute verabredet zu haben, ihre Redezeit bis auf die letzte Tausendstelsekunde auszunutzen. Es war unerträglich, Mayra, unerträglich. Und ich musste bleiben. Musste bleiben, denn für die Abstimmung zum Tarifabkommen für Kleingemüse zwischen Planeten der zweiten und dritten Föderationsklasse wurden alle unsere Stimmen gebraucht.“
Damit waren sie vor Bayan angekommen. Energischen Schritts betrat Cassiopeia den Laden. Mayra zögerte einen Augenblick. „War ja klar!“, dachte sie. Bayan war der angesagteste – und teuerste – Modedesigner der jüngeren Generation. Mayra war sich nicht sicher, ob sie mit egal welchem Kleid von ausgerechnet Bayan glücklich würde.
„Ich habe einen Termin!“, verkündete ihre Mutter im Geschäft. Ihr bestimmtes Auftreten und ihr Designerkleid hätten ihr die sofortige Aufmerksamkeit der drei Verkäuferinnen gesichert, selbst wenn sie keinen Termin gehabt hätte. Cassiopeia trug heute eine Kreation von Ururi, der großen Konkurrentin Bayans. Mayra hielt diese Kleidungswahl für keinen Zufall. So war Bayan gezwungen, Ururi zu übertreffen, und die beste Beratung für Mayra gesichert.
Auf die beste Beratung hätte Mayra gerne verzichtet, denn die Oberverkäuferin, eine Matrone mit leichtem Übergewicht, die versuchte, durch ausgefallene Schminke jünger zu wirken als sie war, befand die Angabe ihrer Kleidergröße als nicht ausreichend. Mayra wurde von ihr in eine Kammer geschubst, wo sie angewiesen wurde, sich auszuziehen, damit „der Apparatus“ ihre genauen Maße nehmen konnte. Widerwillig zog Mayra ihre Schuhe, die graue Jacke, den weißen Pulli und die ebenfalls graue Hose der Schuluniform aus. „Auch die Unterwäsche?“, fragte sie laut aus der Kammer heraus.
„Auch die Unterwäsche, Herzchen!“, flötete ihre Mutter zurück.
Mayra war das zu blöd. Sie behielt die Unterwäsche an.
„Der Apparatus“ brummte leise, gab ein Piepsen von sich und die Verkäuferin rief: „Sie können jetzt wieder herauskommen. Die Kleider liegen für sie bereit zum Anprobieren!“
Aus dem Lager waren nach Mayras Maßen Modelle bereits in den Verkaufsraum geliefert worden. Die Verkäuferin rümpfte die Nase, als das erste Kleid, das Mayra anprobierte, zu weit war. Während ihre Mutter mit Mayra schimpfte, korrigierte die Modeberaterin die Maße minus die Unterwäsche Mayras, und die Kleider landeten in der richtigen Größe erneut im Verkaufsraum.
Das erste Kleid war aus einem rot schimmernden Material in der Farbe ihrer Haare. Das fand Mayra zwar ganz hübsch. Aber es hatte eine Korsage, die ihr die Luft abschnürte. Das kam für Mayra nicht in Frage.
„Schade!“, meinte ihre Mutter. „Manchmal muss man ein bisschen leiden, wenn man schön aussehen möchte.“
Mayra gab darauf lieber keine Antwort und schlüpfte in Modell Nummer zwei, das aus bunten Schnüren geflochten war. „Ich komm mir darin vor wie ein aufblasbarer Ball!“, entfuhr es ihr, als sie sich im Spiegel betrachtete.
Diesmal waren sich Mutter und Tochter einig. „Nicht sehr vorteilhaft.“
Beim Ausziehen verhedderte sich Mayra in den Schnüren, die Verkäuferin schoss hinzu, um die teure Kreation zu schützen, und während sie noch mit Bayans Meisterwerk kämpften, fragte Mayra ihre Mutter: „Hast du heute Abend Zeit? Ich muss etwas Wichtiges mit dir bereden!“
Nun kniete auch Cassiopeia vor Mayra, und ihrer Übersicht war es zu verdanken, dass Mayra schließlich von dem Kleid freikam. „Ach, Liebes, heute leider nicht. Es wurde eine Sondersitzung zur Anzucht von genetisch neu zusammengesetzten Fischen anberaumt. Da muss ich um 17 Standard los. Spätestens.“
Mayra seufzte. „Und morgen?“
Die Modeberaterin zwängte sie nun in einen gelben Schlauch, der von innen heraus strahlte. „Damit finden Sie ihren Weg auch im Dunkeln!“, pries sie das Werk ihres Meisters an.
Cassiopeia schüttelte den Kopf. „Schwierig.“
„Das Leuchten?“, fragte die Verkäuferin entsetzt.
„Die Terminfindung“, stellte Cassiopeia klar.
„Gut dann eben hier!“ Mayra gab sich einen Ruck. „Ich schreibe mein Schulabschlussprojekt schon jetzt und ich schreibe es über Terrestra. Das gibt die maximale Punktzahl.“
Cassiopeia schüttelte den Kopf. Es war klar, dass sie das Kleid meinte und Mayra schälte sich aus dem Schlauch vorsichtig wieder heraus.
„Doch, Mama. Eine Forschungsarbeit über ein noch nicht veröffentlichtes Thema katapultiert mich sofort an die Spitze der Besten!“
„Mayra, ich habe dafür jetzt keinen Kopf. Dein Kleid, die Fische, ich kann mich nicht um alles kümmern. Nimm, doch das da!“ Cassiopeia zeigte auf ein knielanges himmelblaues Etwas. Mayra griff es sich. Der Senatsgleiter landete vor dem Schaufenster.
Dieses Design hatte einen weit abstehenden Teller aus Stoff in Kniehöhe, dünne Träger und einen tiefen Ausschnitt, der vor allem offenbarte, dass Mayra noch nicht viel zu zeigen hatte. Frustriert gab Mayra auf und sagte: „Ganz toll.“
„Wirklich?“ Ihre Mutter klatschte in die Hände. „Ich finde auch, es steht dir!“
„Wunderbar!“, flötete auch die Verkäuferin.
„Ganz wunderbar!“ Mayra wollte nur noch weg. „Ja, ja, klar, Bayan hat sich selbst übertroffen, können wir jetzt gehen?“
Das Lächeln der Modeberaterin gefror etwas. Aber als die Senatorin mit Instantüberweisung zahlte, taute sie wieder auf. Zweifelnd betrachtete Mayra das Kleid in der vom Meister selbst entworfenen Tüte.
Die folgenden Tage arbeitete Mayra jede freie Minute an der Einreichung ihres Schulabschlussprojekts. Sie versuchte auch immer wieder mit ihrer Mutter darüber zu reden, aber es kam nie dazu. Langsam vermutete Mayra, dass ihre Mutter das Thema absichtlich vermied. Dass der Senatsempfang für die Bierbrauer näher rückte, verdrängte Mayra möglichst. Wenn sie daran dachte, wurde ihr nur übel.
Schließlich war es so weit. Sie musste sich fertig machen und die Kreation von Bayan anziehen. Mayra fand den abstehenden Teller des Rocks sofort unpraktisch. Wie sollte man da sich bewegen, ohne ständig jemand anzurempeln? Außerdem war es Mayra in dem trägerlosen Kleid zu kalt. Sie zog eine alte Strickjacke hervor und zog sie drüber. Das wiederum rief wütende Proteste Cassiopeias hervor.
Ein Schultertuch war der Kompromiss, auf den sie sich schließlich einigten. Das Tuch hing eigentlich an der Wand von Mayras Zimmer. Cassiopeia fand es zwar unhygienisch, weil es aus Pflanzenfasern hergestellt war – ein Verfahren zur Stoffgewinnung, das zwar nicht verboten war, aber auch keine Anwendung mehr fand. Aber es war das einzige Stück Stoff im Haus, das farblich zu Mayras Kleid passte und das groß und damit warm genug war, dass Mayra es akzeptierte.
Der Pilot von Cassiopeias Dienstgleiter tauchte in der Wohnung auf. Das tat er immer nur dann, wenn es seine Aufgabe war zu signalisieren, dass die von der Senatorin bestimmte Abholzeit deutlich überschritten war. „Wir sind zu spät!“, zischte Cassiopeia ihre Tochter wütend an. Zum Piloten sagte sie mit eisig souveränem Lächeln: „Wir kommen.“ Mayra war der Ärger der Mutter in diesem Fall egal. Sie wickelte sich in das Tuch und fühlte sich gleich etwas geschützter.
Der Empfang fand in der Sommerresidenz des Senatspräsidenten statt. Die Veranstalter hatten Glück. Es war gutes Wetter, die Sonne schien. Mayra vermutete, dass der Senatspräsident aus Forschungs- oder sonstigen Zwecken etwaige Wolken über seinem Fest durch Wetteringenieure auch zum Verschwinden gebracht hätte. Draußen waren bunte Markisen aufgestellt. Darunter häuften sich warme und kalte Speisen. Kleine Roboter, kaum mehr als Tische auf Rollen, fuhren mit Getränken und Häppchen zwischen den Gästen her. Die waren eine bunt gekleidete Ansammlung von etwa 500 Menschen, Männer und Frauen, meist mittleren Alters.
Es gab kein Entkommen mehr. Hinter ihrer Mutter stieg Mayra aus dem Gleiter. Cassiopeia trug eine glänzende Garderobe in Gelbtönen, die ineinander überliefen. Das Blau von Mayras Kleid war dazu komplementär und ein schlichter Abglanz.
Der Weg der Senatorin führte direkt mitten ins Gedränge. Als Erstes suchte sie die wichtigste der anwesenden Personen. Das war der Senatspräsident, ein älterer Herr mit mehr Körperumfang als gut für ihn war. Sie begrüßten sich mit dem unter Politikern üblichen kurzen Nasereiben. Cassiopeia drehte sich um: „Meine Tochter kennen Sie ja schon!“
Damit hatte Mayra nicht gerechnet und sie wurde sofort knallrot. Dass ihr das aber auch immer in so peinlichen Situationen passieren musste. Das machte alles nur noch peinlicher!
Der Senatspräsident lächelte sie an: „Nüssa, nicht?“
„M-, M-, Mayra“, stotterte Mayra. „Mayra, Eure Exzell…, Hochwohlgeb…“ Sie hatte schon wieder den Titel vergessen!
„Eure Magnifizenz!“, half ihr Cassiopeia mit einem etwas starren Lächeln. „Die Kinder von heute. Die Schule!“, sagte sie entschuldigend zum Präsidenten. Der winkte freundlich ab und widmete sich dem nächsten, der ihn begrüßen wollte.
„Dass du dir auch die einfachsten Sachen nicht merken kannst!“, rügte Cassiopeia Mayra leise, bevor sie mit schnellen Schritten auf eine grauhaarige, spindeldürre Frau in einem reinweißen Kleid mit blinkenden Sternen zuging. „Lady Francesca, wie schön Sie wieder zu sehen!“
Mayra war sich einen Augenblick nicht sicher, ob die Lady nicht einen Ausweg suchte. Aber da es keine andere Möglichkeit gab, kam sie ihnen entgegen. „Senatorin Cassiopeia!“ Die beiden rieben sich freundlich die Nasen.
„Darf ich Ihnen meine Tochter Mayra vorstellen?“, fragte Cassiopeia mit mehr routiniertem als wirklich freundlichem Lächeln.
„Hallo Mayra!“, kam es von Lady Francesca. Die beiden begrüßten sich, wobei ihre Nasen – da sie sich kaum kannten – sich nicht wirklich berührten.
„Ich führe Mayra schon mal in die bessere Gesellschaft ein“, fuhr Cassiopeia fort, diesmal mit echtem Stolz in der Stimme. „Die Diplomatie hat sie ja sozusagen in den Genen. Erst ihr Großvater. Nun ich.“
„Admiralin in außerföderalen Beziehungen!“ Lady Francesca war pure, zuckrige Freundlichkeit. Sie nickte Mayra zu. „Man kann nie früh genug anfangen. Da hat deine Mama völlig Recht!“
Mehr als ein „Ähm“ brachte Mayra nicht heraus. „Diplomatin, alles nur das nicht“, dachte sie bei sich. Lady Francescas jeden Tag? Das hielt sie nicht aus. Unter dem Vorwand einen Bekannten vom letzten Empfang gesehen zu haben, verabschiedete sie sich von ihrer Mutter und ihrer lieben Gesprächspartnerin und ging bewusst in Richtung andere Ecke der Freifläche vor der in hellen, freundlichen Beigetönen gehaltenen Residenz.
Außer Sichtweite ihrer Mutter konnte Mayra freier durchatmen. Langsam fing sie an, ihre Umgebung anders wahrzunehmen als durch einen weißen Schleier. Sie merkte, sie hatte Hunger! Also steuerte sie auf eines der Buffets zu. Allen Leuten, die ihr auf dem Weg dorthin begegneten, lächelte sie freundlich verkrampft zu. Sie wünschte sich, dass wenigstens Fredi bei ihr wäre. Wobei der in einer so elitären Ansammlung wahrscheinlich für eine Aufmerksamkeit gesorgt hätte, die ihnen beiden nicht recht gewesen wäre. Trotzdem hätte Mayra gerne einen Freund bei sich gehabt. Dann hätte sie sich mitten unter all den Menschen nicht so allein gefühlt.
Vor dem aufgetürmten Essen blieb Mayra stehen und schaute, was es alles gab. Bei jeder Speise standen Schilder, die die Inhaltsstoffe aufführten, sodass Allergiker vorgewarnt waren. Gleichzeitig warben die Gerichte für sich über eingespielte Stimmen, die teils hinter-, teils durcheinander die Speisen einschmeichelnd priesen. Mayra versuchte nicht hinzuhören und guckte, ob eines ihrer Lieblingsessen dabei war. Ja, in der zweiten Reihe versteckte sich ein Seetangdessert. Mayra liebte den Duft nach salzigem Meer gepaart mit der Süße gereiften Seetangs. Sie löffelte sich eine große Portion in einen Suppenteller, wollte zu den Tischen ganz am Rande der Freifläche, machte eine schwungvolle Drehung nach rechts. Dabei rempelte sie jemanden an. Und ihr Seetang schwappte in den Ausschnitt von Lady Francesca.
Die stand einen Augenblick wie erstarrt da. Die intensiv grüne Masse floss über ihr weißes Kleid nach unten und dabei erloschen die blinkenden Sterne, die nun von Seetang ertränkt wurden. „Es tut mir so leid. Es tut mir so, so leid!“, stotterte Mayra.
„Wir kommen natürlich für den Schaden auf! Bitte entschuldigen Sie!“ Im Hintergrund tauchte ihre Mutter auf. Die machte wütende Handbewegungen, Mayra solle verschwinden! Lady Franscesca sagte immer noch nichts, lief jetzt aber rot an.
Das war der Punkt, an dem Mayra mit einem letzten „’Tschuldigung!“ die Flucht ergriff.
Nach einigem Suchen fand sie den Gleiter ihrer Mutter. Der Pilot öffnete ihr die Passagiertür, und Mayra ließ sich mit einem Seufzen in die warmen, weichen Sitze fallen. Dort saß sie eine lange Zeit. Ihre Mutter tauchte nicht auf. Schließlich hatte Mayra sich beruhigt, ihr war langweilig und sie wollte nach Hause. Doch der Pilot antwortete auf ihre Bitte sie zurückzufliegen nur trocken: „Nicht ohne Befehl der Senatorin!“
Mayra traute sich nicht, einfach auszusteigen und mit öffentlichen Transportmitteln nach Hause zu kommen. Ihre Mutter wäre dann nur noch wütender geworden, als sie sowieso schon war, wenn Mayra sich in ihrem auffälligen Kleid durch Mengen ganz normaler Menschen bewegt hätte. Was genau ihre Mutter da fürchtete, war Mayra sich nicht so ganz klar. Wahrscheinlich dass irgendjemand sie entführte und Lösegeld erpresste. Nein, da bliebe sie besser brav im Gleiter sitzen, bis Frau Senatorin ihre Pflicht auf dem Empfang erledigt hatte.
Es war schon dunkel, als Cassiopeia in den Gleiter stieg. Der hob sofort ab. So leise, dass der Pilot sie nicht hören konnte, machte sie ihrer Tochter Vorhaltungen. „Was fällt dir ein, einfach das Kleid der Lady zu ruinieren?“
„Aber Mama, ich habe es doch nicht extra gemacht!“, verteidigte Mayra sich.
Ihre Mutter bebte fast vor Wut. „So, ist das so? Was glaubst du, wie viele Gefallen für Francesca mich das in Zukunft kosten wird? So ungeschickt kann man doch gar nicht sein! Und schon wieder Seetang!“
„Aber diesmal war es wenigstens nicht mein eigenes Kleid!“, entfuhr es Mayra.
Cassiopeias Blick sagte: „Die falsche, aber ganz besonders falsche Antwort!“
Den Rest der Fahrt redete sie kein Wort mehr. Mayra wäre sehr viel lieber strategisch planende Diplomatin gewesen als einfach nur ungeschickt.
Noch am nächsten Tag war Mayra völlig geknickt. Sie suchte Fredi in seiner Lernkammer auf und erzählte ihm flüsternd, was auf dem Empfang passiert war. Die anderen Schüler warfen ihnen verärgerte Blicke zu, aber Mayra blendete das aus.
„Nimm es nicht so schwer“, versuchte Fredi, sie zu trösten. „Du willst sowieso nicht auf Bällen tanzen und auf Empfängen brillieren. Als Tierärztin brauchst du das auch nicht.“
„Wenn meine Mutter das je zulässt!“, Mayra war in definitiv düsterer Stimmung.
Plötzlich erschien der Rektor auf allen Bildschirmen, ein großer Schwarzer mit Glatze und langem Schnurrbart. „Liebe Schülerinnen und Schüler, begebt euch bitte in die Eingangshalle. Es gibt eine erfreuliche Nachricht. Begebt euch bitte in die Eingangshalle.“
Mayra und Fredi schauten sich erstaunt an. „Der Wettbewerb für Hochbegabte?“, riet Mayra.
„Könnte sein. Oder endlich eine bessere Mensa.“ Fredi grinste. Zusammen mit den anderen Schülern im Raum bewegten sie sich Richtung Eingangshalle.
In der Halle war ein Podium aufgebaut. Darüber zog sich ein Lichtband auf dem „Herausforderung des Jahres 10210“ stand. Auf dem Podium erkannte Mayra den Rektor und den Senatspräsidenten, der ein verpacktes Geschenk in den Händen hielt. Der Rektor räusperte sich und sagte: „Eins, zwei“, um die Lautübertragung zu testen. Dann räusperte er sich noch einmal, wobei er kurz zum Senatspräsidenten hinüberschaute. Ihr Rektor war nervös, erkannte Mayra. Es dauerte noch eine Weile, bis sich die Halle gefüllt hatte. Dann trat der Rektor an den Rand der Bühne und sagte mit breitem Lächeln: „Liebe Schülerinnen und Schüler, die Entscheidung darüber, wer Unionia bei der Herausforderung des Jahres 10210, wer Unionia bei dem universumsweiten Wettbewerb für Hochbegabte vertreten wird, ist gefallen. Bevor ich aber das Geheimnis lüfte, möchte ich euch den Mann vorstellen, der die Geschicke der Föderation in der Hand hält. Seine, ähm, Magnifizenz, Senatspräsident Uruola!“
Der Senatspräsident nickte huldvoll. „Guten Morgen!“, begrüßte er die Schülerschaft.
„Nun, liebe Schülerinnen und Schüler“, fuhr der Rektor strahlend lächelnd fort. „Für jede Schule ist es eine Auszeichnung, wenn einer oder eine der ihren für die Herausforderung ausgewählt wird. Es bedeutet, dass wir als Lehrkörper gut gearbeitet haben. Es heißt, dass wir Verantwortlichen für die Lernmoderation die richtigen Entscheidungen für die Lernstruktur getroffen haben, und es bedeutet, dass wir jeden Einzelnen und jede Einzelne von euch entsprechend eurer besonderen Fähigkeiten und Begabungen gefördert haben.“
Der Rektor machte eine Pause und ließ seinen Blick mit ernster Mine über sein Publikum schweifen. Mayra und Fredi sahen sich an. „Besondere Fähigkeiten und Begabungen. Sich in Computer hacken?“, fragte Mayra Fredi.
Der grinste und antwortete: „Das Kontrollsystem austricksen für einsame Mittagspausen am See?“
Mayra musste lachen. Der Rektor war mit seiner Pause zu Ende. „Nun, liebe Schülerinnen und Schüler“, fuhr er strahlend lächelnd fort. „Für jede Schule ist es eine Auszeichnung, wenn einer oder eine der ihren für die Herausforderung ausgewählt wird. Ausgewählt dafür, wer Unionia auf der Herausforderung des Jahres 10210 vertreten wird, ist gefallen auf die Stadtteilschule sechs eins zwo, ist gefallen auf unsere Schule, ist gefallen auf unseren, euren Mitschüler Kareel!“
Kareel, der wie immer von einer Fangruppe umgeben war, riss vor Freude die Arme hoch. Seine Kumpel klopften ihm auf den Rücken. Cynthie gab
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Marita Grimke, Esslingen
Bildmaterialien: Umschlagabbildung: © Grace Gibson, Stuttgart; Bilder: © fotosutra.com, © aleshin, © Aaron Amat, © innovari – fotolia.de
Lektorat: LektorArt
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8070-5
Alle Rechte vorbehalten