Ihre Sicht
Hier lebte ich schon vor dem Unfall und trotzdem kannte ich niemanden. Nein, ich wollte niemanden kennen. Ich durfte es nicht. Immerzu war ich allein. Ständig. Tag und Nacht in dieser Stadt. Kein Zuhause, keine Unterkunft. Gänzlich allein.
Aber es gefiel mir so, denn hier wusste niemand wer ich war und jeder ignorierte mich vollkommen. Nein, kein Bewohner erschwerte mir das Leben, indem er mich ansprach. Alle kümmerten sich nur um sich und so bemerkten sie nicht, wer ich wirklich war. Nein, sie hatten keine Ahnung von mir.
In dieser großen Stadt wurde ich gejagt und doch ignoriert, aber nur sobald ich mich verwandelte. Sie kannten mein wahres Ich nicht. Nein, ich war kein Ungeheuer und trotzdem kam es mir so vor.
Sobald die Laternen zu leuchten anfingen und alle ihre Häuser verschlossen, kam meine tierische Gestalt zum Vorschein.
Es war ein Fluch und doch fühlte ich mich so frei, wenn ich kein Mensch war. Ja, so konnte ich alles vergessen und ich fühlte mich so unsichtbar. Es war, als wäre ich schon immer ein Wolf gewesen. Dabei war ich erst seit ein paar Jahren einer.
Nun stand ich hier auf einem Hügel und sah auf die wundervolle Stadt herab, die in Wirklichkeit nur so vor Trostlosigkeit und Stress triefte. In Wirklichkeit überwogen dort Armut und Arbeitslosigkeit. Jeder Vierte von ihnen bettelte um eine Stelle, doch kaum jemand bekam eine. Nein, niemand setzte sich für andere ein. Hier herrschte der reinste Egoismus und nur die Reichen überlebten hier.
Wenn ich mir mein Essen nicht von den Reichen klauen würde, so wäre ich schon längst verhungert, denn ich hatte niemanden mehr. Ich lebte allein auf der Straße. Meine Eltern starben bei dem Autounfall vor knapp vier Jahren. Ein Tier lief uns vor dem Wagen, so dass mein Vater gezwungen war, auszuweichen. Doch dadurch fiel das Auto von einer Anhöhe und drehte sich mehrmals. Wir fielen und fielen, bis der Wagen endlich stehen blieb.
Meine Mutter war sofort bewusstlos und überall machte sich die rote Flüssigkeit bemerkbar. Sie breitete sich sekundenschnelle aus. Ich wusste noch genau, wie mein Vater ihren Namen schrie. Er schnallte sich ab und versuchte auf sein Handy jemanden zu erreichen, doch dies war vergeblich.
Mein Bein war angeknackst, doch sonst hatte ich keine Schäden abbekommen. Aber mein Vater lief draußen herum und suchte nach Hilfe, doch er fand niemanden. Stattdessen tauchte ein Wesen auf, welches mir direkt in die Augen sah. Es besaß so seltsame goldene Augen, in dessen sich kleine orange Punkte befanden. Es starrte mich an, bevor er uns angriff.
Dort verfiel ich einem schwarzen, riesigen Wolf, der mich in so eine Missgeburt verwandelte, wie ich es heute nun einmal war. Mein Vater überlebte den Wolfsbiss, so wie ich, jedoch nicht und meine Mutter verblutete, bevor uns jemand noch helfen konnte.
Alle sprachen von uns damals, doch ich ignorierte es. Einzig und allein kämpfte ich ums Überleben. Ja, ich hatte keine Zeit zum Trauern und ich empfand es noch heute als unreal. Alles lief in Zeitlupe an mir vorüber und doch lief alles eilig an mir vorbei, so hektisch ging es hier zu.
Von diesem dunklen Fleck, wo ich stand, hatte ich einen guten Überblick auf die riesige Kirche und auf einen großen See, der diese Stadt in zwei Teile riss. Er spiegelte den orangefarbenen Horizont wieder und so auch die Sonne, die langsam aber sicher unterging.
Sofort erkannte ich auch die prachtvollen Villen und so auch die schäbigen und alten Holzhütten oder Reihenhäuser, die sich prächtig gegenüberstellten. Ja, hier gab es nur sehr wenige, die alles im Griff hatten. Sehr viele waren entweder reich oder auch arm, wobei die zweite Partei sehr überwog. Sie redeten auch nur mit ihresgleichen und ignorierten die Personen aus den anderen Ständen.
Nur ich war von allem ausgeschlossen, da ich anders war.
Selbst wenn niemand von meinem Geheimnis wusste, so bemerkten sie, dass mit mir etwas nicht stimmte. Nein, ich war nicht wie die anderen Kinder, welches spielte oder neugierig war. Eigentlich kannte ich so etwas wie Freude gar nicht. Alles was mich interessierte, war meine Bedürfnisse zu befriedigen und zu überleben.
Alle bemerkten meine Gleichgültigkeit und ich hatte auch nur einen einzigen Gesichtsausdruck für jegliche Situationen. Wenn ich in einen Spiegel sehen würde, würde ich meine leeren Augen erkennen, die wirklich nichts von sich preisgaben. Eines dieser war übrigens von diesem Vorfall gezeichnet, so dass ich eine weiße Binde darum trug. Ich konnte auf diesem nicht mehr sehen, nur wenn ich zu einem Tier wurde.
Außerdem zeichneten mich unschöne Narben mitten im Gesicht und über dem Hals. Sie waren alle klein und doch würden sie niemals mehr verschwinden. Meine Haare verlor seit jenem Tag jegliche Farbe und mein Leben entwickelte sich zu einem langweiligen Erlebnis, da sich der Ablauf des Tages immer wiederholte.
Dann spürte ich den Boden, welcher unter meinen Füßen leicht zu beben anfing und der Wind, welcher meine Haare zerzauste und mich berauschte. Ja, jetzt würde es wieder von Neuem beginnen, die Verwandlung.
Meine Lider schlossen sich und ich sah wieder das Gesicht des Wolfes, welcher mir damals dieses Leben aufzwang. Dann fühlte ich sofortig das Pochen und diesen stechenden Schmerz in meiner Brust, welche mich meinen Atem
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Cover: https://urstyle.fashion/styles/3326102 - selbst erstellt
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2022
ISBN: 978-3-7554-3697-3
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