Brennendes Sylt
Hannah Lambert ermittelt 10
Friesenkrimi
THOMAS HERZBERG
INHALT
Sylt, Anfang März: Ein Feuerteufel versetzt die Urlaubsinsel schon seit Monaten in Angst und Schrecken. Als beim nächsten Brand zwei Menschen ums Leben kommen, erreicht das Grauen völlig neue Dimensionen. Hannah Lambert und ihr Team ermitteln unter gewaltigem Zeitdruck, bevor die Hauptsaison mehr potenzielle Opfer anspült. Dabei nimmt der Feuerteufel auch keinerlei Rücksicht darauf, dass Hannah in Kürze heiratet. Und wer die eigenwillige Hauptkommissarin kennt, weiß, da ist Chaos vorprogrammiert …
"Brennendes Sylt" ist Teil 10 der Reihe "Hannah Lambert ermittelt".
Jeder Fall ist in sich abgeschlossen. Es kann allerdings nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ;)
Bisher erschienen:
"Ausgerechnet Sylt"
"Eiskaltes Sylt"
"Mörderisches Sylt"
"Stürmisches Sylt"
"Schneeweißes Sylt"
"Gieriges Sylt"
"Turbulentes Sylt"
"Düsteres Sylt"
"Funkelndes Sylt"
"Brennendes Sylt"
"Hannah Lambert ermittelt" ist mit über 1 Mio. verkauften Exemplaren eine der erfolgreichsten Krimi-Serien der letzten Jahre. Alle Teile sind als eBook und Taschenbuch verfügbar. Band 1-9 auch als Hörbuch … der 10. Teil folgt in Kürze.
Weitere Informationen und Bücher findet ihr auf meiner Homepage:
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1
List auf Sylt, Sonntagabend
Feuer!, brüllte Sylvia Hoffmanns Unterbewusstsein. Ein verhängnisvolles Fazit, an dem sich ihre Stimme allerdings nicht beteiligen konnte. Schließlich hatte ihr einer der Kerle ein Geschirrhandtuch bis zum letzten Zipfel in den Mund gestopft und ein halbes Dutzend weitere genutzt, um sie an Händen und Füßen zu fesseln. Zwar notdürftig und ein wenig überhastet, jedoch mit Knoten, die sie nie im Leben ohne fremde Hilfe aufbekommen würde.
Sylvias Gedanken wanderten zum Beginn dieses mittlerweile irrwitzigen Abends. Gegen sechs – sie war völlig kaputt und mit den Nerven restlos am Ende gewesen – hatten die Umzugshelfer auch den letzten der rund achtzig Kartons hochgeschleppt. Unter wütenden Flüchen, die sie ihnen nicht verübeln konnte. Immerhin hatte dieses Haus einen brandneuen und futuristisch wirkenden Fahrstuhl, der aber noch nicht funktionierte. Und so war den Männern nichts anderes übrig geblieben, als jeden Karton und jedes Möbelstück einzeln vier Stockwerke bis nach oben ins Penthouse zu schleppen. Dort hatte es derweil nicht mehr nur nach frischer Farbe und Putzmitteln gerochen, sondern auch nach jeder denkbaren Mischung von herbem Schweiß. Einer der Helfer musste am vergangenen Abend eine Knoblauch-Orgie gefeiert haben. Denn während im Schlafzimmer ein Kleiderschrank Stück für Stück neue Gestalt annahm, hatte die geruchliche Aura dort einem griechischen Restaurant geglichen.
Zwei Stunden später waren Betten, Schränke und Kommoden zum größten Teil ausgepackt und aufgebaut. Die Feinarbeiten würden an Sylvia hängen bleiben. Nachdem sie ihre fleißigen Helfer mit fürstlichem Trinkgeld entlassen hatte, hockte sie sich auf einen Stuhl, der mitten im gigantischen Wohnzimmer stand, und dachte über ihre Zukunft nach. Dies sollte ein Neuanfang werden, auf über hundertachtzig Quadratmetern, was ihr unwirklich, ja, regelrecht absurd vorkam. Die Möbel aus ihrer vorherigen Zweieinhalb-Zimmer-Bonsai-Behausung in Niebüll würden niemals reichen, um es hier auch nur halbwegs wohnlich zu gestalten. Aber mit diesem Problem wollte sie sich jetzt nicht unnötig belasten. Stattdessen sah sie sich in aller Ruhe um und spürte, wie die Last des Tages häppchenweise von ihr abfiel. Sie war müde, und alles tat ihr weh – klar! –, doch es machte sich auch neuer Tatendrang in ihr breit.
Als eine halbe Stunde später drei der Kartons geleert waren, ließ sich ihre Tochter Chloe zum ersten Mal seit Ewigkeiten blicken. Den Umzug selbst hatte die Sechzehnjährige vornehmlich als Zaungast beobachtet und sich in dessen Verlauf höchstens vier- oder fünfmal lustlos die Treppe hochgeschleppt. Gerade baute sie sich wie eine Prinzessin in der offenen Wohnzimmertür auf und musterte das Chaos rundherum skeptisch.
»Weißt du, wo das Ladekabel für mein iPad geblieben ist?«, fragte sie ihre Mutter. Mit einer Stimme, die anklagend rüberkam.
An einem anderen Tag wäre Sylvia vermutlich geplatzt. Die letzten Jahre pubertierenden Wahnsinns, dazu ein Fulltimejob und das ganze Drumherum hatten sie immer häufiger an ihre Grenzen gebracht – und weit darüber hinaus. Angesichts dieser neuerlichen Bewährungsprobe machte sich eine überraschende Gelassenheit in ihr breit. Sie brachte sogar ein Lächeln zustande und zeigte nacheinander auf stapelweise Kartons. »Tu dir keinen Zwang an. Und falls du mein Ladegerät fürs Smartphone findest, dann …«
Auf den Rest dieser halbwegs geschickt getarnten Provokation wollte Chloe offenbar verzichten, denn ihre Mutter durfte bereits die Rückansicht der Prinzessin und ein genervtes Stöhnen genießen.
»Du kannst froh sein, dass wir seit gestern Internet haben. Ein Wunder, dass ich den verantwortlichen Techniker nicht heiraten musste, damit er …«
»Bei mir ist das Netz total langsam«, moserte Chloe dazwischen.
»Was daran liegt, dass wir diese Verteiler noch nicht angeschlossen haben. Uwe meinte, sobald wir …« Den Rest verschluckte Sylvia abermals, denn inzwischen hatte sich ihre Tochter in Luft aufgelöst und schlurfte den Flur entlang. Sylvia hingegen spürte, wie von jetzt auf gleich die wütende und zutiefst frustrierte Mutter in ihr das Regiment übernahm. Die war zuletzt des Öfteren wie ein Vulkan explodiert. So auch jetzt: »Wenn das hier genauso werden soll wie in Niebüll, dann kannst du dich warm anziehen, Fräulein! Ich lass mir das nicht länger bieten. Falls du …« Irgendwo knallte eine Tür und machte alles Weitere überflüssig.
Mit hängenden Schultern stand Sylvia in ihrem Wohnzimmer und überlegte, was in ihrem Leben schiefgelaufen war. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, und sie sah sich erneut um. Diese Penthousewohnung – ein wahrer Traum, mit unverbaubarem Ausblick über das Wattenmeer – war wohl der Beweis dafür, dass in ihrem Leben nicht alles schiefgelaufen war. Neue Gelassenheit machte sich in ihr breit, und statt mit sich selbst um die Wette zu schmollen, widmete sie sich kurzerhand dem nächsten Karton.
Eine Stunde später, es ging auf zehn, standen mehrere gefaltete Exemplare neben der Wohnzimmertür. Sie schnappte sich einen weiteren Karton, auf den sie ein paar Tage zuvor mit Filzstift Diverses gekritzelt hatte. Eine Inhaltsangabe, der sie sich viel zu häufig bedient hatte und für die sie nun die Zeche zahlen musste. Als sie den Deckel hochklappte, fand sie obendrauf Handtücher, in die sie ihre besten Gläser gewickelt hatte. Eins nach dem anderen landete in der Vitrine neben dem Fernseher. Sie machte sich bereits Gedanken über den nächsten Karton, da klingelte es an der Tür.
»Machst du mal auf, Chloe?«, rief sie.
Nichts geschah. Vermutlich lag ihre Tochter mit Kopfhörern auf dem Bett. Dann könnte auch die Welt um sie herum untergehen, davon würde sie nicht mal was mitbekommen.
»Chloe!«, brüllte deren Mutter erneut.
Es klingelte abermals. Sylvia hatte einen Verdacht, wer da so spät noch etwas wollte, und freute sich von Herzen. Durch den Spion konnte sie sehen, dass im Treppenhaus Licht brannte. Also zog sie ihre Wohnungstür lächelnd auf und erstarrte sofort zur Salzsäule. Kein Wunder, denn vor ihr stand nicht ihr Bekannter Uwe, sondern zwei Männer, die schwarze Skimasken trugen. Und eins hatte ihr Verstand augenblicklich erfasst: Die waren sicher nicht gekommen, um zu helfen …
Es durchfuhr sie wie ein Stromschlag, als sie ins Hier und Jetzt zurückkehrte. Geknebelt und an einen Stuhl gefesselt. Ihr Unterbewusstsein, das kurz zuvor Feuer gebrüllt hatte, lag mit seiner Einschätzung richtig. Unter ihrer Wohnungstür, der noch eine Leiste fehlte, um die Zugluft fernzuhalten, drang Qualm hervor. Noch waren es dünne Schwaden, die sich wie eine zähe Flüssigkeit auf den weißen Fliesen ausbreiteten. Irgendwo weiter unten im Haus war lautes Krachen zu hören, gefolgt von einer dumpfen Explosion, die die Wände erzittern ließ.
In Sylvia machte sich Panik breit. Sie rüttelte verzweifelt an ihren Fesseln, warf sich von links nach rechts und fiel samt Stuhl auf die Seite. Und schon folgte die nächste Explosion, dieses Mal allerdings in ihrer linken Schulter. Sie keuchte vor Schmerzen, einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen.
Doch dann war da plötzlich ein Laserstrahl, der die Dunkelheit in ihrem Kopf mühelos durchbrach und dort ein einziges Wort hinterließ: Chloe!
Während sich einer der Kerle um Sylvia gekümmert hatte, war der andere zielstrebig davonmarschiert und in Chloes Zimmer garantiert auf einen unverändert bockigen Teenager gestoßen. Den zu überwältigen und ebenfalls zu fesseln, glich sicher einem Kinderspiel. Danach waren die Typen einfach verschwunden. Hatten die Wohnungstür auf Nimmerwiedersehen ins Schloss gezogen … eine Mutter und deren Tochter ihrem Schicksal überlassen.
Trotz Knebels versuchte Silvia, etwas herauszuschreien. Es blieb bei einem lächerlichen Laut, den nicht mal sie selbst hätte identifizieren können.
Sie musste etwas tun!
Sofort!
Wenigstens Chloe retten!
Mit ihren gefesselten Gliedmaßen rudernd, brachte sie auf dem glatten Fußboden eine halbe Wende zustande und konnte danach den Wohnungsflur sehen. Mittlerweile drang immer mehr Qualm durch den Schlitz unter der Tür, und sie ärgerte sich fürchterlich, dass sie sich darauf eingelassen hatte, auf eine Baustelle zu ziehen.
Egal … du musst was tun!, brüllte eine Stimme in ihrem Kopf.
Wie eine Schildkröte in Rückenlage kam sie sich vor, als sie es – wie zuvor mit Armen und Beinen rudernd – bis zu einem Stapel Kartons schaffte. Auf dem obersten lag ihr Smartphone. Sie wusste zwar nicht, wie sie in ihrem Zustand einen Notruf abschicken sollte, aber ihr würde schon etwas einfallen.
Wieder und wieder zog sie die Knie an und nahm sogar ihren Kopf zu Hilfe, um dem untersten Karton zuzusetzen. Dessen eine Längsseite war inzwischen erheblich lädiert und nach innen gewölbt, sodass der Turm immer mehr in Schräglage geriet. Sylvia wusste nicht, was sich im Karton ganz oben befand. Hoffentlich nichts Schweres, wie Bücher, CDs oder Vasen.
Nach einer finalen Attacke – mit beiden Knien und Kopf gleichzeitig – gewannen die physikalischen Gesetze. Sylvia verfolgte, wie sich die oberste Kiste zunächst absurd weit zur Seite neigte, um dann Opfer der Erdanziehungskraft zu werden.
Als der Karton samt Inhalt auf sie herunterkrachte, meinte sie, mit einem Güterzug kollidiert zu sein. Und während sie sich noch fragte, ob Chloe Ziegelsteine sammelte und die heimlich eingepackt hatte, landete der Gegenbeweis direkt vor ihrer Nase: ein gebundenes Exemplar der Bibel, in das sie seit dem Kauf, der etliche Jahre zurücklag, nie einen Blick geworfen hatte.
Mittlerweile war der Qualm bis ins Wohnzimmer vorgedrungen. Ihre Augen und die Nase brannten. In ihrem Kopf drehte sich alles, und sie wähnte sich auf der Einbahnstraße in Richtung Ohnmacht. Irgendwo unten im Haus explodierte wieder etwas. Womöglich eine Gasflasche, denn im Erdgeschoss war man mit den Bauarbeiten noch lange nicht fertig.
Die Panik in Sylvia erreichte gerade einen ungeahnten Zenit, als sie Geräusche aus dem Flur hörte. Eben noch ein Krachen, klang es jetzt, als wäre ein Kerzenständer umgefallen. Im nächsten Moment war Chloes Kopf zu sehen. Sie hatte es auf die gleiche robbende Weise wie ihre Mutter bis zur offenen Wohnzimmertür geschafft.
Chloe war ebenfalls geknebelt. Mit einem Kuscheltier namens Zipfel, das Sylvia ihrer Tochter kurz nach deren Geburt gekauft hatte. Und auch wenn dieser Generation so gut wie alles peinlich war, hatte Zipfel den Kampf gegen Popstars und Influencer unter einer bunten Wolldecke am Fußende überlebt.
Chloe hatte knallrote Augen und offenbar schon wesentlich mehr Qualm eingeatmet, denn sie versuchte ständig, unter dem Knebel zu husten. Ihr tränenverschleierter Blick fand den ihrer Mutter. Ein Austausch von Panik und regelrechter Hysterie, der in synchrones Kopfschütteln mündete.
Ein Fazit, mit dem sich Sylvia keinesfalls abfinden wollte. Alles nutzend, was ihre vor Schmerzen schreienden Gliedmaßen noch hergaben, schaffte sie es bis zur Wohnzimmertür und blieb beinahe wie tot neben ihrer Tochter liegen.
Erneut trafen sich ihre Blicke. Jetzt war es ein Austausch von Liebe und Wärme, von dem Sylvia in den vergangenen Jahren nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Und wie gern hätte sie die letzten Momente mit ihrer Tochter Auge in Auge verbracht, aber das fühlte sich plötzlich irgendwie falsch an. In einem finalen Kraftakt drehte sich Sylvia auf die Seite, tastete nach Chloes Händen und umfasste sie mit ihren eigenen. Obwohl ihre Lungen jeden Augenblick den Dienst versagen würden, ließ die Panik in ihr ein wenig nach. Ihr Schicksal stand unumstößlich fest, aber selbst wenn es verrückt klang: Sie hatte sich ihrer Tochter noch nie so nahe gefühlt wie in dieser Sekunde …
2
Mordkommission Niebüll, am Montagmorgen darauf
»Und? Wie siehts aus? Hast du endlich alles beisammen?«, fragte Ole sofort, nachdem er das Büro betreten und seine Habseligkeiten auf seinem Schreibtisch verteilt hatte.
Sein Kollege Ralf stöhnte genervt. »Ich bin den halben Samstag von einem Herrenausstatter zum nächsten. Am Ende hab ich mich für einen dunkelbraunen Anzug und eine relativ schlichte Krawatte entschieden. Ist gerade in Mode, meinte der Verkäufer.«
»Dunkelbraun … ›in Mode‹?« Ole kämpfte tapfer mit einem Grinsen und konnte sich noch zusammenreißen. »Hast du zufällig ein Foto?«
»Der Verkäufer hat eins gemacht, als ich in voller Montur vor dem Spiegel stand.« Sichtbar widerwillig fischte Ralf sein Smartphone aus der Tasche, wischte kurz und hielt es Ole dann entgegen.
Der machte ein paar Schritte, beugte sich nach vorne und verlor nun den vorherigen Kampf. Es blieb allerdings nicht bei einem Grinsen, denn irgendwann keuchte er vor Lachen.
»Was ist denn daran so witzig? Ich bin eben kein typischer Anzugträger.«
Ole richtete sich auf, zeigte auf das Display und bekam zumindest wieder einigermaßen Luft. »Das Foto erinnert mich an meinen Opa, als der vor tausend Jahren geheiratet hat. Ich glaube, er hatte auch ’nen dunkelbraunen Anzug an.«
»Wenn das wirklich vor tausend Jahren war, hat der eher ein Fell getragen und keinen –«
»Ich hab dir doch angeboten, dass ich mitkomme«, unterbrach Ole. »Wie kann man sich so was andrehen lassen? Deine Chefin wird am Samstag nicht beerdigt, sie heiratet!«
»Wahrscheinlich hätte ich auch Urlaub einreichen sollen«, murmelte Ralf frustriert. »Und egal, wie ich aussehe – ich wäre einfach auf der Hochzeit erschienen und hätte mir erst dann deinen Blödsinn anhören müssen.«
Ole winkte ab und setzte sich in Bewegung. Als er hinter seinem Schreibtisch saß, lächelte er süffisant. »Ich habe mich für einen Smoking entschieden. Der Verkäufer hat mir gezeigt, wie man eine Fliege bindet, und … schätze, ich sehe auf jeden Fall besser aus als der Bräutigam.«
Anstelle von Worten ließ Ralf Taten sprechen. Er funkelte seinen Kollegen wütend an und hielt ihm gleich beide ausgestreckten Mittelfinger entgegen.
Ole wollte schon reagieren, doch plötzlich flog die Bürotür nach innen auf. Als er sah, wer einen Atemzug später mitten im Raum stand, konnte er es gar nicht fassen. Entsprechend klang seine Stimme: »Du hast am Freitag hoch und heilig geschworen, dass du dich diese Woche hier nicht blicken lässt! Kannst du dich nicht wenigstens einmal an dein Wort halten?«
Hannah tat ganz unschuldig, zuckte zunächst nur mit den Schultern.
Ole dagegen sprang auf, sein Gesicht leuchtete rot vor Wut. »Du hast es versprochen, Hannah! Ralf und ich kriegen alles problemlos ohne dich hin. Also … was willst du hier?«
Noch immer verzichtete Hannah auf Worte und machte stattdessen ein paar Schritte, die hinter ihrem Schreibtisch endeten. Sie zog an der obersten Schublade und atmete erleichtert aus. Im nächsten Moment wedelte sie mit ihrer Geldbörse.
»Hättest du ja auch gleich sagen können«, maulte Ole. Er schaute zu Ralf, doch der starrte mit todernster Miene auf seinen Bildschirminhalt.
»Habt ihr wieder Streit?«, fragte Hannah.
»Wir haben gerade über deine Hochzeit geredet und darüber, wer was anzieht.« Ole wuchs spontan um mindestens zehn Zentimeter. »Als dein Trauzeuge muss ich schließlich was hermachen.«
Hannah nickte und sah jetzt ebenfalls in Ralfs Richtung.
Der spürte offenbar den Blick seiner Chefin und erwiderte ihn. Sein Gesicht verzog sich reumütig. »Ich war den halben Samstag unterwegs und hab mich letztendlich für einen dunkelbraunen Anzug entschieden.«
»Klingt gut. Frank trägt auch einen in der Farbe. Wahrscheinlich, weil er genau weiß, dass ich drauf stehe.«
»Ernsthaft?« Ralf sprang auf, eilte zu seiner Chefin und hielt ihr sein Smartphone vors Gesicht.
»Sieht doch richtig cool aus!«, lobte Hannah. »Die Krawatte ist auch ein echter Hingucker. Ich hoffe nur, am Samstag kommt niemand im Smoking – so was erinnert mich immer an solche albernen Cocktailpartys.«
Während Ole ein paar Meter entfernt unverständliches Zeug grunzte, war Ralf drauf und dran, vor Lachen zu platzen.
Mit ihrer nächsten Frage nahm Hannah ein wenig Druck heraus: »Gibts auch irgendwas in Sachen Arbeit oder langweilt ihr euch hier um die Wette?«
Ralf blieb das Lachen im Halse stecken. »Ich finde, Sie sollten wirklich mal ’ne Woche Urlaub machen, Chefin. Und Ole hat recht: Wir schaffen das auch ohne Sie.«
»Was ist los?«, setzte Hannah nach und durchbohrte ihre Kollegen nacheinander mit Blicken.
Ole zuckte mit den Schultern. »Ich hab keine Ahnung, bin eben erst gekommen.«
Hannah fokussierte sich wieder voll auf Ralf. »Raus mit der Sprache, Herr Jansen! Ich erfahre es doch sowieso.«
»Wir haben einen neuen Fall von Brandstiftung«, erklang es in einem Ton, als hätte Ralf selbst gezündelt.
»Davon hast du mir ja gar nichts erzählt«, beschwerte sich Ole postwendend.
»Wie denn, wenn du reinkommst und dich gleich über meinen Anzug lustig machst?«
Hannahs Stirn lag in Falten. »Warum? Was ist denn mit Ihrem Anzug nicht in Ordnung?«
Ralf winkte ab. »Dieses Mal hat es einen fast fertigen Neubau oben in List erwischt, erste Adresse und bestimmt nichts für den schmalen Geldbeutel.«
»Und was macht ihr dann noch hier?«, fragte Hannah ihre Kollegen. »Wir waren uns doch einig, dass der Sylter Feuerteufel höchste Priorität hat. Oder wollen wir warten, bis jemand ums Leben kommt?«
Während Ralf immer heftiger den Kopf schüttelte, blieb Ole völlig unbeeindruckt. Er lag inzwischen fast hinter seinem Schreibtisch und hatte die Füße auf dessen Platte geparkt.
Bevor dieses Gehabe zum zwangsläufigen Anschiss führte, fuhr Ralf einfach fort: »Der Anruf kam vor ’ner halben Stunde rein. Die Feuerwehrleute hatten beim Löschen Riesenprobleme, weil sie nur von außen rankonnten. Ich hab vorhin mit dem Einsatzleiter vor Ort telefoniert. Der meinte, die erste Begehung des Brandorts findet frühestens in zwei Stunden statt, weil zunächst ein Statiker grünes Licht dafür geben muss. Da will schließlich niemand, dass ihm das Dach überm Kopf zusammenfällt.«
»Dann habt ihr ja noch etwas Zeit«, freute sich Hannah. Sie schaute auf die Uhr und nahm danach Ole ins Visier. »Braucht der feine Herr ’ne Extraaufforderung oder …?«
»Der feine Herr hat um elf einen Gerichtstermin in Flensburg, als Zeuge der Staatsanwaltschaft.« Ole lächelte genüsslich. »Steht in deinem Terminkalender und in Ralfs genauso. Ich weiß gar nicht, wozu ihr einen habt, wenn ihr nie reinschaut.«
»Ich wusste von seinem Termin«, erklärte Ralf an Hannah gerichtet. »Und machen Sie sich keine Sorgen, Chefin, ich bin alt genug, um das auch allein hinzukriegen. Wenn alles wie bei den letzten Bränden ist, geht es nur um Sachschaden und –«
»›Nur‹ ist gut!«, platzte Hannah dazwischen. »Ist Ihnen klar, dass die Buchungen für Ostern nach den Bränden ziemlich mau aussehen? Die meisten Herbergen auf Sylt beklagen sich sogar schon über eine Stornowelle.«
»Daran wirst du im Laufe dieser Woche auch nichts ändern«, kommentierte Ole schnippisch. »Oder willst du die Hochzeit abblasen, weil irgendwo einer beschließt, lieber auf Amrum, statt auf Sylt Urlaub zu machen?«
Hannah schüttelte nachdenklich den Kopf. »Frank wartet übrigens draußen im Auto. Wir wollen nach Husum und ein bisschen shoppen, bevor der ganze Hochzeitsstress losgeht.«
Ole erhob sich stöhnend und trottete seiner Chefin entgegen. »Ich bring dich raus. Dann kann ich Frank schnell Hallo sagen und mich auf den Weg nach Flensburg machen.«
Genau in diesem Moment klingelte das Telefon. Ralf nahm das Gespräch an, meldete sich übertrieben förmlich und lauschte eine Weile in den Hörer. Gleich darauf verabschiedete er sich eilig, wobei ihm jede Farbe aus dem Gesicht wich.
»Was ist denn los?«, fragte Hannah.
»Das war der Lister Wehrführer. Die sind immer noch am Löschen und inzwischen mit ’ner Drehleiter von außen ins Penthouse …«
»Ja und? Sie hatten doch von ’nem Rohbau gesprochen.«
»Sieht so aus, als wäre es dieses Mal anders …«
»Und was heißt das genau? Reden Sie Klartext, Herr Jansen!«
»Man ist bei den finalen Löscharbeiten auf zwei Leichen gestoßen.«
Da es Hannah zunächst die Sprache verschlagen hatte, hakte Ole nach: »Könnten das Bauarbeiter gewesen sein?«
Ralf schüttelte bereits den Kopf. »Wohl nicht.«
Hannah trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Nach ein paar Schritten stand sie am Fenster, von wo aus sie den Parkplatz vor dem Revier überblicken konnte.
»Komm nicht auf die Idee, Frank nach Hause zu schicken!«, explodierte Ole postwendend. »Ihr fahrt schön nach Husum und geht in Ruhe –«
Hannah stoppte ihn mit einer Handbewegung. »Du machst dich lieber auf den Weg nach Flensburg, erfüllst deine Pflicht als Zeuge, und wir kümmern uns um den Rest.«
Ole schnaubte vor Wut. »Das ist nicht dein Ernst, Hannah! Wie willst du jemals eine Ehe hinbekommen, wenn du …?«
»Mach dich gefälligst auf die Socken! Und wenn ich dich in fünf Sekunden noch hier sehe, dann suche ich mir einen anderen Trauzeugen!«
Unverändert wütend stürmte Ole kurz darauf aus dem Büro und verzichtete auf jeglichen Abschied. Ralf stand mitten im Raum und zog bei seiner nächsten Frage den Kopf ein Stück ein. »Halten Sie das wirklich für richtig, Chefin?«
»Was genau?«
»Na ja, das mit Ihrem Verlobten und –«
»Fangen Sie jetzt etwa auch schon an, sich meinen Kopf zu zerbrechen?«, fauchte Hannah dazwischen.
»Das nicht, aber vielleicht ist es besser, wenn Sie –«
»Stimmt! Und falls Sie nicht sofort ’ne andere Platte auflegen, dann fahr ich allein rüber nach Sylt. Ist das angekommen, Herr Jansen?«
3
Erst vor der Autoverladung in Niebüll traute sich Ralf, wieder etwas zu fragen: »Finden Sie meinen Anzug wirklich gut?«
Hannah, die ihren Dienstwagen gerade hinter einem riesigen SUV aus Düsseldorf abgestellt hatte, sah zur Seite. »Können Sie mit der Wahrheit umgehen?«
»Logo! Ich bin Kummer gewohnt und kann mit allem leben.«
»Und ich hasse braune Anzüge – die sind was für Beerdigungen und Opas. Aber wenn sich mein Zukünftiger nicht dafür interessiert, müssen Sie es erst recht nicht. Zufrieden?«
Ralf nickte. »Und wieso mögen Sie keine Smokings? Oder war das vorhin nur Spaß?«
Bevor sie antwortete, grinste Hannah wie ein Honigkuchenpferd. »Ole war am Wochenende mit seiner ältesten Schwester einkaufen. Danach hat sie mich angerufen und mir brühwarm erzählt, wie er in dem Laden umherstolziert ist. Angeblich hat er sich wie ein Gockel aufgeblasen. Fast so, als würde er am Samstag selbst heiraten.«
»Dann wollten Sie ihn also bloß ärgern. Ganz schön gemein!«
»Aber lustig.«
Ralf nickte abermals. Jetzt wurde er dienstlich: »Wenn der Brand dieses Mal tatsächlich zwei Todesopfer gefordert hat, dann reden wir ab sofort von einer völlig neuen Dimension.«
»Dieser verdammte Feuerteufel hält Sylt schon seit Monaten auf Trab. Mittlerweile ist ein Wachdienst unterwegs, der regelmäßig sämtliche Baustellen abklappert, um das Schlimmste zu verhindern.«
»Hat anscheinend auch nicht geholfen.«
»Sieht so aus, aber …« Hannah verstummte mitten im Satz. Notgedrungen, weil Ralfs Handy klingelte.
Er hielt es ihr hin und lachte. »Da will wahrscheinlich einer wissen, wie’s mit Ihrem Zukünftigen gelaufen ist.«
»Dann gehen Sie ran und erzählen ihm, was Sie wollen.«
»Na, Ole … was gibts denn?«, meldete sich Ralf.
Hannah war zum Zuhören degradiert und erlebte eine Märchengeschichte, die Ralf ziemlich überzeugend verkaufte. »Ja, die Chefin ist raus und hat es ihm gesagt. Ich hatte den Eindruck, als wäre Herr Förster am liebsten Amok gelaufen.« Es folgte eine längere Pause, selbst Hannah vernahm Oles aufgeregte Stimme. Dann war Ralf wieder an der Reihe: »Die Chefin hat es nicht ausdrücklich gesagt, aber ich schätze, das mit der Hochzeit am Samstag können wir vergessen.« Erneut eine Unterbrechung, inzwischen war Ole auch ohne Lautsprecher problemlos zu verstehen. Ralf schnitt ihm rigoros das Wort ab: »Hör zu! Wir machen uns jeden Moment auf den Weg zur Bahnverladung. Ich muss auflegen, die Chefin ist im Anmarsch. Wir reden heut Nachmittag noch mal.«
Damit war das Gespräch beendet.
»Sie nehmen doch hoffentlich keine Drogen, Herr Jansen?«, fragte Hannah.
»Noch halte ich es ganz gut ohne aus. Sie meinten doch, ich darf ihm erzählen, was ich will.«
Hannah nickte nachdenklich und grinste dann. »Vermutlich kriegt unser Ole ’nen Herzkasper, bevor er in Flensburg eintrudelt.«
»Soll ich ihn anrufen und lieber …?«
»Auf keinen Fall!« Hannah zeigte nach vorne, wo sich der Schlagbaum vor einer Autoschlange öffnete. »Das klären Sie frühestens auf, wenn wir in Westerland angekommen sind …«
»Sie sind wirklich gemein, Chefin.«
»Und Sie eben?«
Jetzt war es an Ralf zu grinsen. »Von wem ich das wohl gelernt habe …«
* * *
Inzwischen kursierten im Internet die ersten Fotos vom Brand in List. Er saß am Küchentisch und studierte die aktuellen Nachrichten auf einem zerkratzten Tablet.
Das beinahe fertiggestellte vierstöckige Wohnhaus sei den Flammen restlos zum Opfer gefallen, hieß es in einem Post, der von Inselschwalbe1968 stammte. Dieselbe Nutzerin glaubte auch zu wissen, dass bei diesem neuen Inferno zum ersten Mal Menschen zu Schaden gekommen seien. Angeblich wären die Feuerwehrleute im Penthouse auf zwei durch das Feuer entsetzlich verstümmelte Leichen gestoßen. ›Wobei es sich bislang nur um Gerüchte handelt‹, fügte Inselschwalbe1968 sicherheitshalber hinzu.
Er lehnte sich zurück, verschränkte die Hände vor der Brust und betrachtete eine ganze Weile zufrieden das Foto auf dem Tablet.
»Saubere Arbeit«, murmelte er nach einer gefühlten Ewigkeit. »Geht zwar besser, aber das war nicht schlecht.«
Sein Smartphone meldete sich mit der Titelmelodie von Star Wars und wanderte summend über den Küchentisch. Er ließ es wieder und wieder klingeln, hoffte insgeheim, der Anrufer würde irgendwann aufgeben. Da das nicht der Fall war, nahm er das Gespräch mit einem Wisch an und lauschte einfach ins Telefon.
»Bist du dran?«
Ein Grunzen sollte als Bestätigung ausreichen.
»Bist du völlig bescheuert? Ich hab dir tausendmal gesagt, du sollst nichts auf eigene Faust unternehmen. Ich kann mich auch nicht dran erinnern, dir die Adresse genannt zu haben oder …«
»Das war doch saubere Arbeit«, brummte er dazwischen. Eine Feststellung, wie er sie schon kurz zuvor und nur für sich selbst getroffen hatte.
»Ich glaube, du kapierst da was nicht! Es heißt, bei dem Brand wären Menschen umgekommen! Willst du für den Rest deines Lebens im Knast landen, du Vollidiot?«
Er überlegte, ob es Sinn machte, sich zu rechtfertigen oder gar zu verteidigen. Das Resultat war ein Kopfschütteln. Sein Daumen fand das rote Hörersymbol und beendete die unerfreuliche Hetztirade.
Als sein per Knopfdruck zum Schweigen verdammtes Smartphone wieder auf dem Küchentisch lag, erwachte beim nächsten Anruf lediglich das Display.
Seelenruhig klappte er das Tablet auf und betrachtete erneut das Foto von einer fast vollständig geschwärzten Brandruine. »Saubere Arbeit … Kann man nicht anders sagen.«
4
Vor dem Ergebnis dieser ›Arbeit‹ waren Hannah und Ralf ein paar Minuten zuvor eingetroffen. Seitdem diskutierten die Ermittler mit dem Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr List, die noch in voller Besetzung am Einsatzort versammelt war.
Hannah kannte den Mann persönlich, entsprechend vertraut ging es zu: »Hör mal, Torben … ich weiß genau, was ihr in den letzten Monaten mitgemacht habt, und ich will dir bestimmt nicht ins Handwerk pfuschen.«
»Aber?«, fragte dieser Torben. Ein schmächtiger Zeitgenosse, der Ralf eher wie ein typischer Buchhalter als wie ein Feuerwehrhauptmann vorkam. Einzig die volle Einsatzmontur verlieh ihm ein wenig Autorität.
Hannah zeigte die geschwärzte Hausfassade empor zum Penthouse. »Ich muss da rein und mir alles mit eigenen Augen ansehen.«
»Du spinnst wohl! Mal davon abgesehen, dass es da oben aussieht, als wäre ’ne Bombe explodiert. Bevor jemand reingeht, brauchen wir die Freigabe vom Statiker. Oder glaubst du, ich lege Wert auf weitere Tote?«
»Wie seid ihr überhaupt auf die beiden Leichen gestoßen?«
»Von außen sind wir nicht an die Glutnester rangekommen. Also haben wir es, als der Leiterwagen aus Westerland endlich da war, von oben probiert. Die Kameraden auf der Leiter haben ’ne komplette Fensterfront pulverisiert, sind rein und …«
»Ich dachte, niemand dürfte das Gebäude betreten«, hielt Hannah mit schrägem Lächeln gegen.
»Falls der Einsatz es erfordert und die Einschätzung sagt, dass keine Gefahr für Leib und Leben besteht, gibt es auch Ausnahmen.« Feuerwehrmann Torben schloss sich Hannahs Lächeln an, seins war sogar noch schräger. »Tu nicht so blöd, du weißt doch ganz genau, was in der Praxis abgeht!«
»Womit wir beim Thema wären«, lenkte Hannah ein. »Kannst du schon irgendwas über die Brandursache sagen?«
»Du meinst, ob es wieder Brandstiftung war?«
Hannah beließ es bei einem Nicken.
»Mit ziemlicher Sicherheit, ja. Das Feuer ist wahrscheinlich im Erdgeschoss rechts ausgebrochen. Die Wohnung dort hat’s am heftigsten erwischt – war dem Aussehen nach noch Baustelle.«
»Habt ihr Spuren von Brandbeschleunigern gefunden?«
Eine Frage, die Empörung zur Folge hatte. »Wir haben gerade erst angefangen, und die Sachverständigen sind bis jetzt nicht mal vor Ort. Lass die erst mal in Ruhe ihre Arbeit machen, und spätestens in ein paar Tagen weißt du mehr. Aber es gibt was, das dich interessieren wird …«
»Und zwar?«
»Unter den Schaulustigen waren Nachbarn, die gestern beobachtet haben, wie den halben Tag ein Umzugswagen vor der Tür stand. Die wollen reichlich Packer gesehen haben und nebenbei eine Frau und ein junges Mädchen.«
»Wie alt in etwa?«, wollte Ralf wissen.
»Keine Ahnung! Aber wenn die ein Mädchen erkannt haben, dann …«
»Ist schon klar«, unterbrach Hannah. Sie drehte sich um und schaute mit sorgenvoller Miene hinauf zum Penthouse. »Wie lange, bis wir selbst einen Blick riskieren dürfen?«
»Mindestens eine Stunde – eher zwei. Am besten vertreibt ihr euch die Zeit mit ’ner ausgedehnten Mittagspause oder mit dem da.« Feuerwehrmann Torben zeigte auf einen hochgewachsenen Anzugträger, der wie ein Derwisch zwischen Pumpen und Schläuchen umherlief und Anstalten machte, jeden Moment in die ausgebrannte Ruine zu stürmen.
»Wer ist das?«, fragte Ralf.
Die Antwort übernahm Hannah: »Ein alter Bekannter. Und vielleicht so viel, Herr Jansen: Wenn wir gleich mit ihm reden, wundern Sie sich nicht, falls es handgreiflich wird … aber halten Sie mich unbedingt vom Schlimmsten ab.«
* * *
Ole hatte die Strecke von Niebüll nach Flensburg in Rekordzeit hinter sich gebracht und das Gerichtsgebäude im Südergraben viel zu früh betreten. Seit einer Viertelstunde hockte er auf einer Bank im Wartebereich, sah Menschen kommen und gehen. Gerade gähnte er herzhaft und lehnte sich zurück, als sein Handy klingelte. Kieler Nummer.
»Friedrichsen«, meldete er sich ein wenig verschlafen.
»Andrea hier, LKA … ich erreiche deine Chefin nicht.«
»Was ich auch nicht ändern kann«, erwiderte Ole lachend. »Wo brennt’s denn, Andrea?«
»Damit solltest du momentan lieber keine Späße machen. Aber ernsthaft: Hannah hat mich letzte Woche um Informationen über vorbestrafte oder vermeintliche Brandstifter gebeten, die auf Sylt und im näheren Umkreis leben. Insbesondere Kandidaten, die jüngst aus der Haft entlassen wurden, noch auf ihren Prozess warten oder …«
»Schon verstanden! Hat die Suche einen Treffer ergeben?«
»Deshalb rufe ich an. Vielleicht handelt es sich sogar um einen Volltreffer.« Ole stockte der Atem. Er fand keine Gelegenheit für eine weitere Frage, weil die Kollegin vom LKA nahtlos fortfuhr: »Es geht um einen gewissen Nico Sander. Sagt dir der Name was?«
Ole wühlte erfolglos in seinem Gedächtnis. »Nö, sollte er?«
»Vor knapp zwanzig Jahren wurde Krefeld von einer bis dahin beispiellosen Brandserie heimgesucht. Die Ermittler dort haben Ewigkeiten gebraucht, um Sander am Ende auf frischer Tat zu ertappen. Der Prozess dauerte fast anderthalb Jahre und endete mit vierzehn Jahren Urlaub hinter Gittern.«
»Klingt, als wäre der ›Urlaub‹ inzwischen vorbei.«
»Bingo! Sander wurde vor sieben Monaten wegen guter Führung entlassen und ist am selben Tag zu seiner Mutter gezogen …«
»Die auf Sylt lebt?«
»Wieder richtig! Dort ist er auch ordnungsgemäß gemeldet und erfüllt brav sämtliche Auflagen. Ich hab eben mit seinem Bewährungshelfer telefoniert. Dessen Informationen zufolge zeigt er sich mustergültig und denkt aktuell über ’ne Umschulung zum Berufskraftfahrer nach.«
»Hoffentlich zündelt er hinterher nicht an Lkws herum. Wie alt ist denn unser Phoenix aus der Asche?«, fragte Ole.
Andrea lachte kurz auf. »Wird nächstes Jahr fünfzig.«
»Schickst du mir seine Adresse? Ich bin hier noch in Flensburg, könnte aber heute Nachmittag mal bei Sander und seiner Mutter vorbeifahren und den beiden auf den Zahn fühlen.«
»Geht klar. Sagst du mir Bescheid, falls dabei was rauskommt?«
»Gerne … kann ich dich auch um was bitten?«
»Mach dir keine Hoffnungen, ich bin glücklich vergeben!«
Ole stutzte. Er brachte lediglich ein Stammeln hervor: »Wie kommst du darauf, dass ich …?«
»Na ja, du hast schon einen gewissen Ruf in Polizeikreisen.«
Bei diesem Stand wollte es Ole vorsichtshalber belassen und kam zu seinem eigentlichen Anliegen: »Bist du so nett und lässt Hannah erst mal außen vor.«
»Warum? Braucht da etwa jemand einen schnellen Ermittlungserfolg? Hast du Scheiße gebaut und musst Buße tun?«
»Hannah hat Urlaub und heiratet am Samstag!«, erklärte Ole wesentlich energischer. »Und ich weiß ganz genau, dass sie sich umgehend auf diesen Sander stürzt, wenn sie Wind von der Sache bekommt.«
»Dann lassen wir das wohl lieber«, kam es kichernd zurück. »Bist du am Samstag auch auf der Hochzeit?«
»Ich bin einer der Trauzeugen!«
»Ups! Dann grüß Hannah schön und wünsch ihr alles Gute von uns Kielern.«
5
Inzwischen waren die Feuerwehrleute damit beschäftigt, Schläuche aufzurollen und ihr sonstiges Löschequipment in Fahrzeugen zu verstauen. Ralf folgte Hannah artig, hielt sich jedoch bewusst ein Stück im Hintergrund. Nun musste er mit ansehen, wie ihnen ein Mann, den er auf Anfang siebzig schätzte, entgegenkam. Dieser hochgewachsene Zeitgenosse begann schon in einiger Entfernung mit der Begrüßung und öffnete dabei die Arme, als wollte er Ralfs Chefin an sich drücken.
»Das nenne ich mal ’ne Überraschung. Was hast du denn hier verloren, Hannah?«
Weil die wie angewurzelt stehen blieb und ihre Arme nutzte, um den Pseudo-Angreifer auf Abstand zu halten, veränderte sich dessen Stimme augenblicklich.
»Bist du immer noch sauer?«
»Aus gutem Grund! Das reicht bis in die nächste Steinzeit.«
Auf diesem Statement kaute der Mann kurz herum. »Seltsam … ich dachte, es wären langsam genug Jahre vergangen, damit die Familie Lambert das Kriegsbeil begräbt. Wie gehts deiner Mutter?«
Hannah zuckte mit den Schultern.
»Hat sie nach dem Tod deines Vaters eigentlich einen neuen Mann ke…«
»Ich bin nicht zum Plaudern hier, Klaus!«, fiel ihm Hannah rabiat ins Wort. Sie deutete zur Brandruine. »Ist das dein Prachtbau?«
Dieser Klaus fokussierte sich überraschenderweise voll auf Ralf. »Gehören Sie auch dazu?«
Ralf ließ seine Rechte nach vorne wandern. »Jansen, Kripo Niebüll. Frau Lambert ist meine Chefin.«
»Klaus Buchwald. Der Vater Ihrer Chefin und ich waren früher beste Freunde.«
Das wollte Hannah partout nicht unkommentiert lassen. »Ihr habt euch ganz gut gekannt und
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Thomas Herzberg
Cover: MT-Design
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2024
ISBN: 978-3-96714-421-5
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